Die amerikanische Präsidentenwahl 1972. Nixons Wahlsieg - Beginn einer neuen Ära im amerikanischen Parteiensystem?
Rainer-Olaf Schultze
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Zusammenfassung
Richard Nixon erzielte am 7. November 1972 bei seiner Wiederwahl zum Präsidenten einen der eindrucksvollsten Siege in der Geschichte amerikanischer Wahlen. Sein Stimmenvorsprung vor seinem demokratischen Gegner, George McGovern, betrug mehr als 18 Millionen Stimmen. Dieses außergewöhnliche Wahlergebnis scheint ein deutliches Indiz dafür, daß sich das amerikanische Parteiengefüge im Wandel befindet; ein Parteiensystem, in dem seit den dreißiger Jahren die Demokraten die Mehrheits-, die Republikaner die Minderheitspartei stellten. Die programmatische und ideologische Basis dieser Periode amerikanischer Politik bildete das Konzept des neo-liberalistischen „New Deal" Roosevelts. Es war zugleich der maßgebliche Bezugspunkt für das Wählerverhalten und begründete damit die Vorherrschaft der Demokraten im Parteiensystem. Die Wahl von 1972 scheint nun eine neue Phase einzuleiten. Anhand der von der amerikanischen Wahlforschung formulierten Kriterien „kritischer Wahlen", die kurz dargelegt werden, untersucht dieser Beitrag einige der Faktoren, die für den Wandel konstitutiv sind: die Auflösung der traditionellen demokratischen Wählerkoalition, die Implikationen der innerparteilichen Reformen der Demokratischen Partei, den Erfolg McGoverns im Nominierungsprozeß, seine deutliche Niederlage in der allgemeinen Wahl sowie die politische und ideologische Polarisierung bzw. Neuorientierung der amerikanischen Wählerschaft. Alle diese Faktoren sind Ausdruck eines tiefgreifenden sozioökonomischen Wandels. Sie reflektieren zugleich die Konfrontation zwischen den sozialen Minderheiten und , Middle America'— der von ausgeprägt konservativen Wertvorstellungen bestimmten weißen Bevölkerungsmehrheit. Nixons Wahlsieg ist ein unübersehbares Anzeichen dafür, daß sich diese Konfrontation parteipolitisch zu verfestigen beginnt; die Wahl von 1972 dürfte damit die tiefe Krise der amerikanischen Gesellschaft nur noch mehr verschärft haben.
Einleitung
Im November 1962, nach zwei aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen -— zunächst um die Präsidentschaft im Jahre 1960, dann, zwei Jahre danach, um das Amt des Gouverneurs von Kalifornien — schien Richard M. Nixon am Ende seiner politischen Karriere angelangt. Unmittelbar unter dem Eindruck seiner zweiten Niederlage bei der Gouverneurswahl schien er selbst den Schlußstrich zu ziehen; resigniert äußerte er sich in der Wahlnacht gegenüber Journalisten: „You won’t have Richard Nixon kick around anymore".
Zehn Jahre danach, im November 1972, erzielte derselbe Richard Nixon bei seiner Wiederwahl zum Präsidenten einen der eindrucksvollsten Siege in der fast zweihundertjährigen Geschichte amerikanischer Präsidentenwahlen. Bei seiner ersten Wahl nur mit 510 000 Stimmen Vorsprung vor dem Bewerber der Demokraten, dem damaligen Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey, und auch nur infolge der Kandidatur von George Wallace mit einer relativen Stimmenmehrheit von 43, 7 Prozent zum „Minderheitspräsidenten" gewählt votierten dieses Mal 61, 3 Prozent der Wählerschaft für Richard Nixon; sein Stimmenvorsprung vor dem demokratischen Gegenkandidaten George McGovern betrug über 18 Millionen Stimmen. Er gewann die Wahlmänner-stimmen von 49 der 50 Bundesstaaten (521 von insgesamt 538); allein der Staat Massachusetts und der District of Columbia (Washington) fielen an McGovern, der insgesamt nur 37, 3 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Vom Ergebnis her ist die Wahl vom 7. November 1972 — wenn überhaupt — nur mit den ähnlich einseitigen, im Amerikani-sehen treffend als „landslide" (= Erdrutsch) bezeichneten Wahlen von 1920, 1936 und 1964 vergleichbar. Gemeinsam mit dem Republikaner Warren G. Harding (1920) sowie den Demokraten Franklin D. Roosevelt (1936) und Lyndon B. Johnson gehört nun auch Richard Nixon zu dem exklusiven Kreis derjenigen Präsidenten der USA, die sich auf das Vertrauensvotum von mehr als 60 Prozent der Wähler stützen konnten.
Bereits die hier nur sehr verkürzt angeführten Saldozahlen des Wahlergebnisses machen den außergewöhnlichen Charakter dieser Wahl deutlich, den wir untersuchen wollen. Einer umfassenden Analyse der zahlreichen Faktoren, die das Wahlergebnis konstitutieren, soll damit nicht vorgegriffen werden. Die dazu erforderlichen empirischen Untersuchungen über die Veränderungen im Wählerverhalten liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt, drei Monate nach der Wahl, noch nicht in ausreichendem Umfange vor. Ziel des Beitrages ist es, das Außergewöhnliche des Präsidentenwahljahres in einigen Aspekten zu beleuchten. Eine vertiefende Analyse der Wahl zeigt dabei sehr bald, daß es eine Reihe von Phänomenen gibt, die von dem klaren Wahlergebnis verdeckt werden, die aber für die längerfristigen Entwicklungstendenzen amerikanischer Wahlen aussagekräftiger sind.
In dieser historischen Dimension wird danach gefragt, ob die vielfältigen Erscheinungen des Wahljahres 1972 die Struktur des amerikanischen Parteiensystems maßgeblich verändern werden. Die amerikanische Wahlforschung hat dafür einige theoretische Maßstäbe entwickelt, die zu Beginn des Beitrages dargelegt werden. Sodann ist vor allem auch auf die innerparteilichen Entwicklungen der Demokratischen Partei einzugehen und der Erfolg George McGoverns im Nominierungsprozeß sei-19 ner deutlichen Wahlniederlage in der allgemeinen Wahl des November gegenüberzustellen. Nur der gegenwärtige innerparteiliche Zustand der Demokraten, die seit 1932 das amerikanische Parteiengefüge als Mehrheitspartei entscheidend bestimmt haben, kann Aufschluß darüber geben, in welche Richtung sich das Parteiensystem entwickelt. Auf die sich anschließende Analyse einiger Faktoren, die das Wahlergebnis konstituieren, folgt dann eine kurze Darstellung derjenigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die von der nur wenig repräsentativen Alternative Nixon-McGovern überlagert wurden. Abschließend wird dann eine Antwort auf die Frage versucht, ob die Präsidentenwahl von 1972 das Parteiengefüge entscheidend verändert hat und ihr somit als „critical election" besondere Bedeutung im Hinblick auf die zukünftigen politischen Strukturen zukommt.
I. Kriterien „Kritischer Wahlen"
Abbildung 3
Tabelle 11: Zur Periodisierung der amerikanischen Parteiensysteme
Tabelle 11: Zur Periodisierung der amerikanischen Parteiensysteme
überschaut man die Entwicklungsstadien des amerikanischen Parteiensystems, so fällt auf, daß das Parteiengefüge und mit ihm das gesamte politische System von mehreren, jeweils längerfristigen Perioden der Präponderanz einer Partei bestimmt worden ist
Auf nationaler Ebene — und diese Einschränkung muß hervorgehoben werden — be-stand so mit einer Ausnahme jeweils für etwa die Dauer einer Generation eine starke Asymmetrie zugunsten einer der beiden großen Parteien, Demokraten oder Republikaner. Während dieser Perioden sind Parteiidentifikation und Wählerverhalten der amerikanischen Wählerschaft dabei relativ konstant geblieben Deutlicher als bei Präsidenten-wahlen, die nicht zuletzt aufgrund des personal-plebiszitären Charakters der Wahl von größeren Abweichungen im Wahlverhalten geprägt sind, wird dies bei der Analyse des Stimmen-und Mandatsanteiles der beiden Parteien bei den Kongreßwahlen, insbesondere den Wahlen zum Repräsentantenhaus. Ohne in diesem Zusammenhang hierauf näher eingehen zu wollen, mag das Verhältnis von Präsidenten-und Kongreßwahlen am Beispiel der fünfziger und sechziger Jahre, also während des V. Parteiensystems, kurz dargestellt werden Obgleich die Republikaner mit Dwight D. Eisenhower (1953— 1961) und Richard Nixon seit 1969 während 12 (bzw. 16) der letzten 20 (bzw. 24) Jahre den Präsidenten stellten, befanden sie sich dennoch stets in der Position der Minderheitspartei. Die Wahl-siege Eisenhowers führten nicht dazu, daß sich die Parteipräferenzen der Wählerschaft grundlegend wandelten. Vielmehr setzte sich die „Wählerkoalition" fort, wie sie unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und unter Führung von Franklin D. Roosevelt entstanden war. Sie umschloß die konservative weiße Wählerschaft der Südstaaten, die Liberalen und die weißen Minoritätsgruppen des Nordens, die Arbeiter der Industriezentren, die Negerbevölkerung im Süden und Norden. Soziologisch reflektierte die demokratische Wählerkoalition so vor allem die Mittel-und Unterklasse der amerikanischen Industriegesellschaft. Die Demokraten blieben Mehrheitspartei mit einem Wählerpotential auf nationaler Ebene von durchschnittlich 52 bis 53 Prozent. Das „Splitting" wurde zum Kennzeichen des Wahlverhaltens politisch-institutionell bewirkte dies, daß sich die republikanischen Präsidenten Eisenhower und Nixon einem (mehrheitlich) demokratischen Kongreß gegenübersahen
Dieser offensichtliche zyklische Ablauf von langfristiger Kontinuität und kurzfristigem grundlegendem Wandel im Wahlverhalten und Parteiensystem veranlaßte die amerikanische Wahlforschung — ausgehend von dem wegweisenden, im Jahre 1955 veröffentlichten Aufsatz von V. O. Key, „A Theory of Critical Elections" —, sich intensiv speziell mit denjenigen Wahlen zu beschäftigen, die den Ausgangspunkt für die jeweilige Regruppierung im Parteiengefüge („critical realignment") bildeten. Wie in Tabelle II angegeben, waren es insbesondere die Wahlen von 1800, 1828,. 1860, 1896 und zuletzt von 1932, sämtlich Präsidentenwahlen, die die Präponderanz der einen (Mehrheits-) Partei beendeten und die Ablösung durch die andere (Minderheits-) Partei zur Folge hatten. Die vergleichende Analyse dieser „Übergangswahlen" führte zur Erarbeitung einer Reihe von Kriterien, die diesen Wahlen, allen oder doch zumindest einigen, gemeinsam sind und generalisierend als Indikatoren für die Veränderungen zunächst im Wahlverhalten und dann auch im Strukturbild des Parteiensystems angesehen werden können.
Einige dieser Kriterien „kritischer" amerikanischer Wahlen gilt es (in Anlehnung an die Definitionen Walter Dean Burnhams) zu erörtern, um an ihnen dann die besonderen Merkmale des Präsidentenwahljahres 1972 zu überprüfen „Critical elections" sind in der Regel gekennzeichnet: 1. von einem kurzfristigen, dafür aber um so stärkeren Bruch im traditionellen Wählerverhalten; 2. große Wählergruppen, teilweise zwischen einem Fünftel bis zu einem Drittel der Gesamtwählerschaft, ändern dabei ihre Partei-präferenz; 3. dadurch bedingt, bilden sich in ihrer soziologischen Struktur neue Wählerkoalitionen, die dann in der Folgezeit die Parteianhängerschaft der neu entstandenen Mehrheits-bzw. Minderheitspartei ausmachen;
4. von dem meist kurzfristigen Auftreten von Drittparteien, in dem die Unfähigkeit (zumeist) der Mehrheitspartei zum Ausdruck kommt, die für die amerikanischen Parteien als heterogene Koalitions-oder Konsensus-Parteien charakteristische Integrationsfunk-tion weiterhin zu erfüllen. Bevor die neuen Wählerkoalitionen sich endgültig formieren, äußert sich die Unzufriedenheit bestimmter Wählergruppen in den relativen Wahlerfolgen von Drittparteien.
5. „Critical elections" sind ferner geprägt von einem außergewöhnlich hohen Grad politischer Partizipation;
6. dies führt zum Anstieg der — vor allem im Vergleich mit europäischen Wahlen — in der Regel niedrigen Wahlbeteiligung. So stieg etwa während der Übergangsphase vom IV. zum V. Parteiensystem die Partizipation bei Präsidentenwahlen von 48, 9 (1924) bis auf 61, 0 bzw. 62, 5 Prozent (1936 bzw. 1940) an.
7. Die verstärkte Politisierung wirkt sich dann zugleich auch innerhalb der Mehrheitspartei aus, vor allem im Hinblick auf den Nominierungsprozeß des Präsidentschaftskandidaten. Die zuvor akzeptierten Spielregeln werden in Frage gestellt, möglicherweise auch grundlegend verändert. Die innerparteilichen Machtzentren können sich auf andere Gruppen innerhalb der Partei und deren Führungseliten verlagern.
8. „Critical elections" und Phasen des Wandels im Parteiensystem sind sodann insbesondere gekennzeichnet von einer erheblichen Zunahme programmatisch-ideologischer Polarisation zunächst innerhalb der Parteien, dann zwischen den beiden Parteien. Die programmatischen Gegensätze verschärfen sich; die Distanz der Parteien vergrößert sich. Dies trägt entscheidend zur Formierung der neuen Wählerkoalitionen von Mehrheits-und Minderheitspartei bei; in einer Art Rückkoppelungseffekt bestimmt andererseits die relative Stärke der neuformierten Gruppen innerhalb der Parteien jedoch auch die programmatisch-ideologische Ausrichtung maßgeblich mit.
„Kritische Wahlen" haben so dauerhafte Konsequenzen auf die Grundaussagen der Parteien; sie sind Wegweiser für die zukünftige gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Unter diesem Gesichtspunkt ist etwa die sozial-politische Konzeption von Lyndon B. Johnsons „Great Society" aus der Mitte der sechziger Jahre im wesentlichen „nur" eine Fortschreibung des 30 Jahre zuvor — zu Beginn des V. Parteiensystems — formulierten Rooseveltschen New Deal 9. Letztlich bedarf es zur Induzierung aller oder auch nur einiger dieser Faktoren „kritischer Wahlen" einer starken Erschütterung der Gesamtgesellschaft, die der Wählerschaft in drastischer Weise den oder die Widersprüche zwischen dem traditionellen Bewußtsein und der „objektiven" politischen und/oder sozio-ökonomischen Situation der Gesellschaft offenkundig werden läßt. Solche auslösenden Momente können vornehmlich ökonomischer — wie etwa während der Depression der neunziger Jahre oder der Weltwirtschaftskrise —, aber auch politischer Natur — wie vor und während des Sessionskrieges („civil war") — sein
Generalisierend läßt sich feststellen, daß sich in den Wahlen jeder Übergangsphase die Anpassung der Parteien und des Parteiensystems an die im wesentlichen bereits gewandelten Grundbedingungen der amerikanischen Gesellschaft vollzogen hat.
II. Innerparteiliche Reformen der Demokraten
Abbildung 4
Tabelle III: Vergleich der Stimmenanteile von Demokraten und Republikanern bei Präsidenten-und RepräsentantenhauswahlenQuelle: Zusammengestellt nach Statistical Abstract of the United States, jeweiliger Jahrgang; für 1972: Congressional Quaterly (vgl. Tabelle I).
Tabelle III: Vergleich der Stimmenanteile von Demokraten und Republikanern bei Präsidenten-und RepräsentantenhauswahlenQuelle: Zusammengestellt nach Statistical Abstract of the United States, jeweiliger Jahrgang; für 1972: Congressional Quaterly (vgl. Tabelle I).
Vorschlag und Wahl bilden eine Einheit Dies gilt in besonderem Maße für die Wahlen in den USA, was vordergründig bereits aus der Tatsache deutlich wird, daß der Prozeß der Präsidentenwahl ca. 10 bis 12 Monate andauert. Der Wahlkampf setzt praktisch zu Beginn des Kalenderjahres ein und erstreckt sich bis zum Wahltag Anfang November. Das System der „primaries" (Vorwahlen), das in allen 50 Bundesstaaten bei der Bestellung fast sämtlicher wählbarer Ämter, einschließlich der Senatoren und Abgeordneten des Kongresses, angewandt wird, stellt dabei nicht nur das komplizierteste, sondern wohl auch das offenste Verfahren der Kandidatenauswahl und Nominierung dar Die Partizipationsmöglichkeit ist in der Regel an dieselben wahlrechtlichen Normen wie zur allgemeinen Wahl im November gebunden, wenngleich der Wähler zumeist nur an der Vorwahl einer der beiden Parteien teilnehmen kann. Hinzukommt, daß sich das primary-System infolge des mit der Wahl weitgehend identischen „procedere" durch einen hohen Grad von
Transparenz auszeichnet; die Kandidatenauswahl in den USA unterliegt in einem Ausmaß der Kontrolle der öffentlichen Meinung, wie dies in keinem anderen bürgerlich-demokratischen Verfassungssystem der Fall ist.
Der Auswahlprozeß der Präsidentschaftskandidaten weicht jedoch von der Norm der Nominierung durch Vorwahlen ab Wenngleich den primaries auch entscheidende Bedeutung zukommt, stellen sie doch nur ein Element des ganzen Verfahrens dar. Nominiert werden die Kandidaten von den Delegierten des Bundeskonventes („national Convention") der Parteien die — und hierin besteht die Abweichung in erster Linie — durch verschiedene Verfahren bestellt werden. Zu unterscheiden sind ganz generell drei Typen: 1. die Bestellung der Delegierten durch primaries, wobei vier in Funktion, Bedeutung und Wirkung grundsätzlich verschiedene Varianten existieren 2. die Bestellung der Delegierten durch einzelstaatliche Parteikonvente, deren Mitglieder wiederum über verschiedene geographische, aber auch parteiorganisatorische Ebenen indirekt bestellt werden; 3. die Bestellung der Delegierten durch die einzelstaatliche Parteiorganisation unter Einschluß von ex-officio-Delegierten
Diese Kombination von primaries und parteiinterner Bestellung der Delegierten des Bundeskonvents ist im Grundsatz auch 1972 bei dem Auswahlprozeß des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten beibehalten worden. Reformiert wurden im Vergleich zu früheren Wahlen jedoch die Regelungen der drei Bestellungsmodi selbst. Zudem gingen eine Reihe der Einzelstaaten vom bisher angewandten Verfahren ab; das Gewicht hat sich 1972 deutlich zugunsten der primaries verschoben. Durch diese Detailveränderungen ist der Nominierungsprozeß der Demokraten einem grundlegenden Wandel unterzogen worden. Sollten die im Jahre 1972 erstmals angewandten Reformen auch in Zukunft bestehen bleiben, so ist Austin Ranney zuzustimmen, daß die „ ... reforms constitute the most significant change in the organizational structure of American political parties since the birth of national conventions over a Century ago"
Chicago 1968 — der Ausgangspunkt Den Ausgangspunkt für die Reformen des Jahres 1972 bildete der Bundeskonvent der Demokraten von Chicago 1968 Mit der Abschaffung der sog. „unit rule" beschloß der Konvent eine erste bedeutsame Änderung selbst und setzte zudem zwei Reformkommissionen ein: 1) die mit den Verfahrensregeln des convention befaßte „Commission on Rules"; 2) die mit der Reform der Bestellungsmodi der Delegierten beauftragte „Commission on Party Structure and Delegate Selection"
Die politisch-institutionellen Entwicklungen waren indes nur die eine Seite des Aspektes: „Chicago '68" — das waren auch die Demonstrationen der Straße, Stinkbomben, die alle Grenzen sprengende brutale Gewalt der Polizei sowie die politische und emotionale Zerrissenheit der Partei. Nicht nur bei den unmittelbar Beteiligten, sondern bei vielen Amerikanern wurde „Chicago 68" — vom Fernsehen live übertragen — zum Trauma und erschütterte das Vertrauen in den demokratischen Prozeß im allgemeinen und in die Art, wie die Demokratische Partei ihren Präsidentschaftskandidaten nominierte. Die Ereignisse der Straße und die innerparteilichen Reformen der Demokraten stehen ohne Zweifel in enger Beziehung zueinander. Erst die Angst, 1972 in Miami ein zweites Chicago zu erleben, hat die Bereitschaft zur Reform bei vielen demokratischen Parteiführern geweckt. Die weitgehende Anwendung der von einer nationalen Kommission ausgearbeiteten Reformrichtlinien durch die einzelstaatlichen Parteiorganisationen — angesichts des ausgeprägten föderalistischen Selbstbewußtseins der Einzelstaaten bereits ein außerordentliches Phänomen — dürfte ohne dieses psychologische Moment kaum zu erklären sein.
Der Bundeskonvent von Chicago bildete auch insofern den Ausgangspunkt für die Reformen, als die McGovern-Fraser-Commission die kritische Analyse der Bestellungsweise dieses Konvents zur Grundlage ihrer Richtlinien machte. Einige Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme seien hier kurz erwähnt: 1) 1968 bestellten 15 Bundesstaaten und der District of Columbia die Delegierten durch primaries; insgesamt waren nur 40, 7 Prozent der Delegierten gewählt oder in ihrer Entscheidung zugunsten eines Kandidaten gebunden; 2) 39 der insgesamt 55 Bundesstaaten und Territorien bestellten 59, 3 Prozent der Delegierten durch einzelstaatliche Konvente und/oder die einzelstaatlichen Parteiorganisationen (46, 4 Prozent durch Konvente; 12, 9 Prozent durch die Organisation); 3) 970 der insgesamt 2 622 stimmberechtigten Delegierten (38 Prozent) waren lange vor dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes, zum Teil mehr als zwei Jahre zuvor, bestellt worden. Politisch bedeutete dies, daß rund 40 Prozent der Delegierten zu einem Zeitpunkt ausgewählt waren, als die politischen Streitfragen des Jahres 1968, insbesondere der Vietnam-Krieg, nicht im Vordergrund der Diskussionen standen und damit keine Entscheidungskriterien für die Auswahl bildeten. Zudem hatte der Auswahlprozeß der Delegierten in allen bis auf 12 Staaten begonnen, als Lyndon B. Johnson am 31. März 1968 auf seine Kandidatur verzichtete. Da in der Regel ein amtierender Präsident ohne große Schwierigkeiten von seiner Partei erneut nominiert wird, waren damit bereits eine ganze Reihe von Pro-Johnson-Delegierte bestellt. Viele von ihnen gingen dann auch zu dem von Johnson unterstützten Vizepräsidenten Humphrey über. Andererseits waren fast ein Drittel der Delegierten schon nominiert, als Eugene McCarthy seine Alternativ-Kandidatur zur offiziellen Kriegspolitik Johnsons ankündigte Die Schlußfolgerung des Kommissionsberichtes macht die politische Relevanz der frühzeitigen Delegiertenauswahl deutlich: „By the time the issues and candidates that characterized the politics of 1968 had cleorly emerged, therefore, it was impossible for rank-and-file Democrats to influence the selection of these delegates." 4) Die Partizipation einfacher Parteimitglieder am Auswahlprozeß war durch vielfältige organisatorische Mängel stark eingeschränkt: Fehlen schriftlich fixierter Regelungen und mangelhafte Veröffentlichung der Termine des Auswahlprozesses; hohe Bewerbungsgebühren bei der Kandidatur zu primaries; die Anwendung der „unit rule"; „proxy-voting" (Stimmabgabe durch Stellvertretung); etc. 26) All dies erschwerte nicht nur die Partizipation; es gestattete gleichfalls in vielerlei Hinsicht Manipulationsversuche der Parteieliten. 5) Letztlich stellte die McGovern-Fraser-Commission ein krasses Mißverhältnis zwischen Bevölkerungsstruktur, demokratischer Wählerschaft und soziologischer Zusammensetzung des Konvents fest. Sie stieß damit auf das Grundproblem jedes Repräsentativsystems — die fast zwangsläufig eintretende Diskrepanz zwischen der soziologischen Struktur von Repräsentierten und Repräsentanten. Insbesondere die ethnischen Minderheiten (Schwarze, die immerhin ca. 20 Prozent der demokratischen Wählerschaft ausmachen, Chicanos (Spanisch-Amerikaner), etc.), aber auch ganz allgemein die sozial Schwachen, sodann die Frauen und die junge Generation waren, wie Tabelle IV zeigt, im Gegensatz zu 1972 im Jahre 1968 deutlich unterrepräsentiert. Die Kommission kam zu dem Schluß: „The delegates to the 1968 Democratic National Convention were predominantly white, male, middle-aged, and at least middle-class."
Demokratisierung des Nominierungsprozesses
An die Reform dieser Mängel ging die McGovern-Fraser-Commission mit drei Zielvorstellungen heran: 1. die Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten einfacher Parteimitglieder („the opportunity to participate"); 2. die Abbildung von Wählerschaft und Gesellschaft in der numerischen und soziologischen Zusammensetzung des Convention („descriptive representation"); 3. die Gewährleistung einer fairen Repräsentation der verschiedenen personellen und programmatischen Alternativen auf dem Convention („preferential representation").
Die vornehmlich technischen Richtlinien der Kommission zur Erleichterung der Partizipation auf den verschiedenen Auswahlebenen — so wichtig diese Detailreformen auch sind — brauchen hier nicht im einzelnen erwähnt zu werden Es genügt festzustellen, daß die Richtlinien von den einzelstaatlichen Parteiorganisationen weitgehend eingehalten wurden. Im Großen und Ganzen waren die organisatorischen Behinderungen dadurch beseitigt. Offensichtliche Manipulationen durch die Partei-eliten fanden bei dem Auswahlprozeß des Jahres 1972 nicht mehr statt.
Sodann gingen eine Reihe der Einzelstaaten, der Empfehlung der Komission folgend, vom „Convention System" (der Bestellung der Delegierten durch Parteikonvente) zum primary über. Insgesamt fanden 1972 23 presidential primaries statt, wodurch fast zwei Drittel der 3 016 Delegierten des Konvents gewählt oder in ihrer Entscheidung zugunsten eines Kandidaten gebunden waren. Im Gegensatz zu früheren Parteikonventen der Demokraten war es damit für die Präsidentschaftskandidaten erstmals unmöglich, ohne erfolgreiches Abschneiden in der überwiegenden Mehrzahl der primaries eine Majorität unter den Delegierten des Konvents und somit die Nominie-rung zu gewinnen. Zudem richteten sich vor allem die Einzelstaaten, die die primaries erst nach der Verabschiedung der Richtlinien institutionalisierten (u. a. Florida, Michigan, North Carolina, Tennessee) im wesentlichen auch nach der zweiten und dritten Zielvorstellung der Kommission. Auf sie ist wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung im folgenden etwas näher einzugehen.
Während über die Öffnung der Partei und die Erleichterung der Partizipation unter den 28 Mitgliedern der Kommission weitgehend Übereinstimmung herrschte, gingen die Meinungen in der Frage, wie und in welchem Ausmaß dies zu realisieren sei, deutlich auseinander. Die Kommission war in zwei fast gleichstarke Gruppen gespalten Mit äußerst knappen Mehrheiten, teilweise von nur einer Stimme, setzte dabei die Majorität die grundsätzlichen Entscheidungen über die zweite und dritte Zielvorstellung, zugunsten von „descriptive and preferential representation" durch. Etwas überspitzt formuliert heißt dies, unter Ausnützung des Mehrheitsprinzips institutionalisierte die Majorität Elemente des proportionalen Repräsentationsprinzips. Dieses Faktum war und ist ausgesprochen wichtig, denn es bestimmte den tatsächlichen Verlauf des Auswahlverfahrens und die Nominierung George McGoverns mit und bleibt von maßgeblicher Bedeutung im Hinblick auf das Schicksal der Reformen in der Zukunft.
„Descriptive Representation"
Ausgehend von dem krassen Mißverhältnis zwischen Bevölkerungsstruktur und soziologischer Zusammensetzung des Konvents im Jahre 1968 setzte die Mehrheit der Kommission das durch, was hier (in Anlehnung an Hanna F. Pitkin) als „descriptive representation" bezeichnet werden soll Durch die Richtlinien A-l und A-2 veranlaßte sie die einzelstaatlichen Parteien, „. . . to encourage minority group partizipation, including representation of minority groups on the national convention delegation in reasonable relationship to the group's presence in the population of the state" (A-l) .... „to encourage representation on the national convention de-legation of young people — defined as people of not more than thirty nor less than eighteen years of age — and women in reasonable relationship to their presence in the population of the State" (A-2) 32).
Wenngleich die McGovern-Fraser-Commission ausdrücklich betonte, daß dadurch keinerlei feste Kontigentierung („quotas") eingeführt werden solle — tatsächlich machte sie keinerlei exakte prozentuale Festlegung darüber, wie stark die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen jeweils repräsentiert sein sollten —, so wollte die Kommission doch die Abbildung von Wählerschaft und Gesellschaft in der numerischen und soziologischen Zusammensetzung der einzelstaatlichen Delegationen und damit folglich
Wenngleich die McGovern-Fraser-Commission ausdrücklich betonte, daß dadurch keinerlei feste Kontigentierung („quotas") eingeführt werden solle — tatsächlich machte sie keinerlei exakte prozentuale Festlegung darüber, wie stark die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen jeweils repräsentiert sein sollten —, so wollte die Kommission doch die Abbildung von Wählerschaft und Gesellschaft in der numerischen und soziologischen Zusammensetzung der einzelstaatlichen Delegationen und damit folglich des gesamten Parteikonventes erreichen. Dies bedeutete aber nichts anderes als die Einführung des Proporzprinzips. Vor allem die Auswahl-praxis der Delegierten bestätigte dies nachhaltig.
Die Präsidentschaftskandidaten entsprachen bei der Zusammenstellung der Delegiertenlisten dem Proporzgedanken der McGovern-Fraser Commission vor allem, um Anfechtungen von Delegierten-Mandaten („challenges") zu entgehen. Dennoch kam es zu zahlreichen Anfechtungen; insbesondere die sog. „Illinois Challenge" muß hier genannt werden Das „Credentials Committee“ (Mandatsprüfungsausschuß des Parteikonventes) und dann auch der Konvent selbst verweigerten der im primary vom 21. März in Chicago als sog. „uncommitted delegates" (= an keinen Präsidentschaftskandidaten gebundene Delegierte) gewählten Delegiertenliste das Mandat. Sie lehnten diese unter Führung von Richard J. Daley, dem Bürgermeister von Chicago und einem der letzten traditionellen Parteibosse, stehende Liste ab, da auf ihr zu wenig weibliche, junge und Minderheiten-Delegierte vertreten waren. Das Mandat vergaben sie vielmehr an die in der Vorwahl unterlegene Delegiertenliste, die den Richtlinien der Kommission in sozialstruktureller Hinsicht eher entsprach. Credentials Committee und Convention stellten damit die Einhaltung der Reformen und des Proporzes über die Wahlentscheidung der wahlberechtigten Bevölkerung in der Vorwahl.
„Prefrential Representation"
Führte die Mehrheit der Kommission mit den Richtlinien A-l und A-2 den gesellschaftlichen Proporz ein, so sprach sie sich zumindest im Grundsatz auch für den politischen Proporz aus: „The Commission believes that ä full and meaningful opportunity to participate in the delegate selection process is precluded unless the presidential preference of each Democrat is fairly represented at all levels of the process. Therefore, the Commission urges each State Party to adopt procedures which will provide fair representation of minority views on presidential candidates . .." 34).
Diese Richtlinie B-6 stellte für den Nominierungsprozeß des Jahres 1972 nur eine Empfehlung an die einzelstaatlichen Parteien dar;
die Kommission unterließ es, den Proporz als alleiniges Repräsentationsprinzip fest zu institutionalisieren. Nicht nur aus diesem Grunde soll hier von „preferential representation" gesprochen werden, d. h. die Gewährleistung einer fairen Repräsentation der verschiedenen personellen und programmatischen Alternativen auf dem convention. Vornehmlich die Überzeugung, daß dies 1968 nicht möglich gewesen sei (vor allem in der kontroversen Frage des Vietnam-Krieges), veranlaßte die Kommission zur Formulierung dieser Zielvorstellung. Sie beinhaltet dabei nicht nur die Forderung nach Chancengleichheit für die verschiedenen Präsidentschaftskandidaten, sondern zielt insbesondere auch auf die Berücksichtigung der programmatischen Alternativen. Die innerparteilichen Differenzen sollen vom Konvent reflektiert, die politischen Streitfragen auf ihm zur Diskussion und Entscheidung kommen 35). Darin äußerst sich zugleich ein graduell verändertes Verständnis von den Aufgaben des Konvents. Seine Funktion wird nicht mehr ausschließlich darin ge-sehen, unabhängig von den innerparteilichen Diskussionen einen Präsidentschaftskandidaten hervorzubringen, dem die besten Chancen eingeräumt werden, den republikanischen Gegner in der allgemeinen Wahl des November zu besiegeln. Vielmehr soll der Kandidat nominiert werden, der zunächst einmal den personellen und programmatischen Vorstellungen der Partei am ehesten entspricht.
Um ihre Zielvorstellung von „preferential representation" zu verwirklichen, empfahl die Kommission den Staaten mit primaries zwei institutionelle Reformen:
Für den Fall, daß die Delegierten im ganzen Staat bestellt werden („at-large“), sollten im Gegensatz zu dem früher allgemein üblichen „winner-take-all" die Delegierten den Präsidentschaftskandidaten proportional zu deren im erhaltenen Stimmenanteil primary zugewiesen werden.
Als zweite Möglichkeit sah die Kommission die Bestellung der Delegierten auf Wahlkreisebene („congressional district") an. In diesem Falle eines dezentralisierten Wahlgebietes könne dann über die Zuweisung der Delegierten an die Präsidentschaftskandidaten auch nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden, d. h.dem im Wahlkreis siegreichen Kandidaten fallen sämtliche Delegierten-Stimmen des Wahlkreises zu.
In der Praxis wurden 1972 nach der zweiten Möglichkeit u. a. die Delegierten der Staaten Massachusetts und Florida gewählt Florida z. B. stellte auf dem Konvent insgesamt 81
Delegierte; sie waren sämtlich in ihrer Stimmabgabe auf dem Konvent an das Wahlergebnis des presidential primary gebunden; die 20 im gesamten Staat (at-large) gewählten Delegierten mußten für den Präsidentschaftskandidaten stimmen, der im ganzen Staat, die 61 Wahlkreis-Delegierten für denjenigen, der in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hatte. Auf George Wallace entfielen so insgesamt 75 Delegierte (die 20 „at-large" sowie 55 Wahlkreis-Delegierte), während Hubert Humphrey als Sieger in einem Wahlkreis 6 Delegierte zugewiesen erhielt.
Nach Verhältniswahl, der ersten Reformempfehlung der Kommission, bestellten u. a. die Staaten Michigan, New Mexico und North Carolina ihre Delegierten Das Wahlsystem North Carolinas soll hier als Beispiel kurz dargestellt werden: Die insgesamt 64 Delegierten waren in ihrer Stimmabgabe auf dem Konvent gleichfalls an das Wahlergebnis des presidential primary gebunden; sie wurden proportional an die maximal vier Präsidentschaftskandidaten aufgeteilt, die bei dem auf Staatsebene abgehaltenen primary mehr als 15 Prozent der Stimmen erhalten hatten. Bei tatsächlich drei Kandidaten erzielte George Wallace 50, 3, Terry Sanford 45, 9 und Edmund Muskie 3, 8 Prozent der Stimmen. Auf Wallace entfielen damit 37, auf Sanford 27 Delegierte.
Gesellschaftliche Implikationen der Reformen
Mit ihren beiden Zielvorstellungen von „descriptive and preferential representation" setzte die Mehrheit der McGovern-Fraser-Commission — wenn auch mit Einschränkungen, aber doch in erheblichem Ausmaß — Elemente des proportionalen Repräsentationsprinzips durch. Ohne hier in eine Diskussion über die politische und gesellschaftliche Zweckmäßigkeit des Mehrheits-oder Verhältnisprinzips eintreten zu wollen, sollte doch betont werden, daß insbesondere in stark fraktionierten Gesellschaften der Proporz eher in der Lage sein kann, zur politischen und sozialen Integration beizutragen, als das die Fraktionierung möglicherweise vertiefende Mehrheitsprinzip Eines muß in unserem Zusammenhang aber deutlich hervorgehoben werden; das proportionale Repräsentationsprinzip ist dem amerikanischen politischen System, das seit bald zwei Jahrhunderten fast ausschließlich auf dem Mehrheitsprinzip beruht, völlig fremd. Experimente mit der Verhältniswahl in einigen wenigen Städten blieben Episoden. Demokratie wird als Mehrheitsentscheid begriffen. Dies ist um so bedeutsamer, als der Proporz-gedanke auch einigen zentralen Ideen des amerikanischen Wertsystems zuwiderläuft Das maßgeblich von der individuellen Leistung, vom „achievement" -Begriff geprägte Selbstverständnis einerseits und der Proporz, die Beteiligung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gemäß ihrem prozentualen Anteil andererseits, schließen einander aus. Ob der „achievement" -Begriff und der komplementär gesehene Wert der „equality" heute nur noch Ideologie und Fiktion sind, oder ob sie der gesellschaftlichen Realität tatsächlich entsprechen, soll hier nicht beurteilt werden; wichtig ist vielmehr, daß große Teile der amerikanischen Bevölkerung von der Richtigkeit und Gültigkeit dieser Werte unverändert überzeugt sind.
Die dem traditionellen Wertsystem der Amerikaner widersprechenden innerparteilichen Reformen der Demokraten reflektieren aber auch das immer bedeutsamer werdende Problem der amerikanischen Gesellschaft: die Integration von Minoritäten. Die Mitglieder zahlreicher Minderheiten (nicht notwendigerweise ausschließlich ethnische oder rassische, sondern ebenfalls Gruppen, die als sozial schwach charakterisiert werden können) werden sich in ständig wachsendem Maße ihrer gesamtgesellschaftlichen Position bewußt und handeln zunehmend kollektiv als Gruppe. Das individualistische Wertsystem akzeptieren sie nicht mehr, zumindest nicht in seiner bisherigen Totalität. Die Minderheiten versuchen vielmehr, die ihnen bislang vorenthaltene angemessene Beteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen als Gruppe zu erreichen. Dabei gehen sie gegen das Mehrheitsprinzip an und sehen im Proporz — wie er in der McGovern-Fraser Commission von diesen Gruppen mehrheitlich durchgesetzt wurde — das logische institutionelle Hilfsmittel zur Veränderung ihrer Situation.
Die von der Kommission initiierten innerparteilichen Reformen haben zweifellos zu einer Öffnung des Auswahlprozesses des demokratischen Präsidentschaftskandidaten geführt. In seiner soziologischen Struktur wie auch in der Offenheit der Diskussionen unterschied sich der Konvent von Miami deutlich von seinen Vorgängern So waren nur 11 Prozent der Delegierten von 1968 auch in Miami vertreten; 85 Prozent der 3 016 Delegierten nahmen überhaupt zum ersten Mal an einem Bundeskonvent teil. Der Einfluß der „alten" Parteieliten, wie z. B.der Funktionäre der Gewerkschaften, insbesondere der AFL-CIO, auch der demokratischen Gouverneure der Bundesstaaten, traditionell die Führungsspitze der einzelstaatlichen Parteiorganisation, oder der Kongreßmitglieder war deutlich reduziert. Zum Teil beruhte dies direkt auf den veränderten Bestellungsmodi; es lag aber andererseits auch im tatsächlichen Verlauf des Auswahlprozesses begründet. Ähnlich wie bei der Ablösung des caucus durch den Konvent, die während des Über-gangs vom I. zum II. Parteiensystem durchgesetzt wurde, und bei der Einführung der primäries um die Jahrhundertwende, bewirkten die Reformen eine Verbreiterung der Partizipationsbasis und ermöglichten den gesellschaftlichen Gruppen, die bislang unterrepräsentiert waren oder majorisiert wurden, erstmals eine angemessene Beteiligung am Entscheidungsprozeß des nationalen Konvents der Demokraten. Der Proporz ermöglichte eine Demokratisierung der Repräsentation, wenn auch das Prinzip aus den dargelegten Gründen umstritten blieb. Die heftige Debatte um die sog. „quotas" während des Wahlkampfes machte dies sehr deutlich. Freilich spiegeln die Entwicklungen in der Demokratischen Partei die Krise des amerikanischen Selbstverständnisses wider; der Konsensus mit dem traditionellen Wertsystem und die darauf aufbauenden Institutionen ist erschüttert. Erinnern wir uns an die oben aufgeführten Kriterien „kritischer Wahlen", so ist die Reform des Nominierungsverfahrens ein deutliches Indiz für eine Phase der Veränderung des amerikanischen Parteiensystems.
Nicht zuletzt hiervon dürfte auch das Schicksal der innerparteilichen Reformen abhängen.
Wird das in ihnen zum Ausdruck kommende Gesellschaftskonzept von einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung als richtig und notwendig akzeptiert, so dürften die Reformen bestehenbleiben. Der historische Vergleich mit der Ablösung des caucus bzw.der Einführung der primaries zeigt die Prämissen auf: Die Demokratisierung des Nominierungsverfahrens dürfte Bestand haben, wenn erstens die Reformen nicht verwässert oder gänzlich abgeschafft werden; wenn zweitens die Demokraten Mehrheitspartei bleiben oder aber die Gruppen, die die Reformen 1972 durchgesetzt haben, die maßgeblichen Kräfte einer neuen, als Mehrheitspartei anzusehenden Wählerkoalition bilden.
III. Der Verlauf der demokratischen , Primaries
Abbildung 5
Tabelle IV: Zur soziologischen Zusammensetzung der demokratischen Bundeskonvente von 1968 und 1972
Tabelle IV: Zur soziologischen Zusammensetzung der demokratischen Bundeskonvente von 1968 und 1972
Die innerparteilichen Reformen schufen für alle Gruppen in der demokratischen Wähler-koalition eine gleiche, wenn auch veränderte Ausgangsposition. Dennoch bestimmten sie das Ergebnis des Nominierungsprozesses maßgeblich mit. Sie trugen dazu bei, daß im Jahre 1972 mit George McGovern zum ersten Mal ein Bewerber die demokratische Präsidentschaftskandidatur erhielt, der vor Beginn der primaries von der öffentlichen Meinung nicht als Favorit angesehen wurde. Der „frontrunner" Edmund Muskie hingegen stellte bereits Ende April, nach sechs der insgesamt 23 primaries, seine aktive Kandidatur ein und besaß nur noch die vage Hoffnung, daß sich der Konvention im Falle einer Pattsituation auf ihn als Kompromißkandidaten einigen würde.
Die primaries des ersten Monats (1972: New Hampshire, Florida, Illinois, Wisconsin) bringen in jedem Präsidentenwahljahr eine erste Klärung über die Stärkeverhältnisse der Kandidaten, die von vorentscheidender Bedeutung sein können. Nur diejenigen Bewerber, die in Relation zu den ihnen in der öffentlichen Meinung eingeräumten Aussichten von den ersten primaries bestätigt werden, erhalten den notwendigen personellen Zulauf, um ihre Organisation ausbauen, und die finanzielle Unterstützung, um den Millionen Dollar verschlingenden primary-Wahlkampf finanzieren zu können. Zu diesem von den Amerikanern als „momentum" bezeichneten Phänomen kommt ein drittes Element hinzu Nur erfolgreiche Kandidaten sind für die Massen-medien, insbesondere die Fernsehgesellschaften interessant und werden in den nationalen Nachrichtensendungen in dem Maße berücksichtigt, das erforderlich ist, um in der öffentlichen Meinung eine Rolle zu spielen. Nur wer aus den ersten primaries als sog. „viable candidate" (= wörtlich: lebensfähiger; im übertragenen Sinne: erfolgreicher Kandidat) hervorgeht, hat Chancen, den gesamten, sich von Mitte Februar bis Ende Juni hinziehenden primary-Wahlkampf durchzustehen.
Edmund Muskie — die Niederlage des „frontrunners'Edmund Muskie — wenngleich Sieger in zwei primaries (New Hampshire und Illinois) — büßte vor allem deshalb seine führende Position ein. Sein mit 46, 4 Prozent — das mag paradox klingen — nur mäßiger Stimmenanteil in New Hampshire, wo er als hoher Favorit galt, zumal als Senator aus dem benachbarten Neuengland-Staat Maine, erschütterte seine Stellung als irontrunner. New Hampshire erwies sich für ihn als psychologische, von den Massenmedien dann auch so dargestellte Nie-derlage Zudem blieb er im Stimmenanteil in den Vorwahlen Floridas und Wisconsins hinter Humphrey zurück und belegte jeweils nur einen enttäuschenden 4. Platz. Für Georg McGovern andererseits bedeutete sein alle Erwartungen übertreffender Stimmenanteil von 37, 1 Prozent in New Hampshire den notwendigen psychologischen Anfangserfolg. Nach seinem Sieg in Wisconsin mit 30 Prozent der Stimmen war er in der öffentlichen Meinung endgültig als „viable candidate" anerkannt. Hingegen zeigten die Vorwahlen in Florida, die George Wallace bei 11 Kandidaten mit erstaunlichen 41, 6 Prozent der Stimmen gewann, und im Nordstaat Wisconsin, die Wallace als zweiter mit 22 Prozent beendete, erneut das große Wählerpotential, über das der Kandidat der Rechten gegenwärtig in der amerikanischen Bevölkerung verfügt.
Nach den ersten vier primaries war der Ausgang des Nominierungsprozesses wieder völlig offen; es ergab sich dabei folgende Konstellation in der Basis der demokratischen Wählerschaft: Wallace (rechts/konservativ), Muskie/Humphrey (Mitte), McGovern (links/liberal).
In der Geschichte amerikanischer Präsidentenwahlen war es in der Regel der Kandidat der Mitte, der die verschiedenen Gruppen der heterogenen Wählerkoalitionen zu integrieren vermochte. Exponenten der Parteiflügel besaßen hingegen — als „radicals" oder „extremists" während des Wahlkampfes von den gemäßigten Gegenkandidaten zudem polemisch abqualifiziert — nur äußerst selten Chancen, eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden Vor allem diese historische Erfahrung und die Ergebnisse der demoskopischen Umfragen begründeten vor Beginn der Vorwahlen die führende Position Muskies.
Sein Wahlkampf ging dann auch von dieser Prämisse amerikanischer Wahlen aus, wobei er gar nicht erst den Versuch unternahm, sich eine spezifische Gruppenbasis in der demokratischen Wählerkoalition zu schaffen. Aus der Überzeugung heraus, der logische Kandidat der Demokraten zu sein, auf den sich die verschiedenen Gruppierungen würden einigen können und werden, führte er seinen Wahlkampf während der Vorwahlen stets mehr gegen Richard Nixon, den republikanischen Gegenkandidaten im November, als gegen seine unmittelbaren Mitkonkurrenten. In seinen programmatischen Aussagen war er — wie die New York Times es formulierte — „cautious to the point of indecision" Sein Werbeslogan „Trust Muskie" exemplifizierte dabei das Bemühen, ohne konkrete Festlegungen möglichst sämtliche Gruppen der Demokratischen Partei personal zu integrieren.
Muskie führte zudem auch in organisatorischer Hinsicht einen traditionellen Wahlkampf. Er bemühte sich — außerordentlich erfolgreich — um die Unterstützung („endorsements") der alten Parteieliten, der Kongreßabgeordneten, Gouverneure, einzelstaatlicher und lokaler Parteivorsitzender, um seine fehlende gruppenspezifische Massenbasis durch Rückhalt in der Parteiorganisation auszugleichen. In der Vergangenheit hatte diese traditionelle Strategie oft zum Erfolg einer Kandidatur maßgeblich beigetragen. Die Demokratisierung des Nominierungsverfahrens schloß 1972 jedoch erstmals aus, daß einige wenige Parteiführer die Delegation eines Staates en bloc auf dem Konvent einem Kandidaten zuführen konnten. Die „endorsements" durch die Parteielite erwiesen sich als weitgehend irrelevant Für die Muskie-Kandidatur war dies um so bedeutsamer, als er sich im Gegensatz zu seinen Konkurrenten aufgrund seiner Stellung als frontrunner verpflichtet glaubte, in allen primaries aktiv kandidieren zu müssen. Er verzettelte so z. B.seine Kräfte in Pennsylvania und Massachusetts, deren primaries an einem Tag stattfanden, während sich Humphrey nur auf Pennsylvenia, McGovern nur auf Massachusetts konzentrierten. Als Folge blieb für Muskie nur der 2. Platz hinter McGovern in Massachusetts, in Pennsylvania sogar nur der 4. Platz hinter dem Sieger Humphrey und den dort nicht aktiv in den Wahlkampf eingreifenden Wallace und McGovern. Daraufhin stellte Muskie am 27. April seine aktive Kandidatur ein. Politisch wie institutionell erwies sich damit, daß die traditionelle, auf Integration gerichtete Strategie der Mitte, früher die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Kandidatur, im Jahre 1972 nicht zum Ziel führte. Dies lag dabei nur in zweiter Linie in der Person Muskies und seiner mit Mängeln behafteten Wahlkampfführung begründet. Sein Scheitern ist vielmehr ein Ausdruck dafür, daß soziologisch wie programmatisch die traditionelle Wählerkoalition der Demokraten im Wandel begriffen ist.
McGoverns 'Primary'-Kandidatur
Im Gegensatz zu Edmund Muskie besaßen die Kandidaten auf den beiden Parteiflügeln, George Wallace und George McGovern, ein soziologisch und politisch festes Wählerpotential. Zudem richteten beide Bewerber ihre programmatischen Aussagen während der primaries ganz bewußt auf die Mobilisierung dieser Gruppen aus; Wallace u. a. mit dem „busing issue" (s. u.); McGovern u. a. mit seinen Forderungen nach drastischen Rüstungsbeschränkungen, Steuerreform, etc.
Die Ausgangsbasis McGoverns bildete jedoch die im wesentlichen intakt gebliebene Koalition der Vietnam-Kriegsgegner, zu deren Sprecher er nach 1968 avanciert war. Sodann konnte er sich auch auf die Gruppen stützen, denen die Reformkommission unter seiner Leitung durch die Öffnung der Partei eine aktive Einflußnahme ermöglicht hatte. Ähnlich wie Wallace auf dem rechten Flügel des ideologischen Spektrums der Demokraten wurde McGovern, insbesondere nach seinen Anfangserfolgen in New Hampshire und Wisconsin, zum Protestkandidaten Als Anti-Establishment-Alternative sammelten sich um seine Kandidatur die gesellschaftlichen und politischen Minderheiten der demokratischen Wählerkoalition. Etwas vereinfachend formuliert, kam damit eine Koalition zustande, die sich (in David Apters Terminologie) aus den Schichten der „technologically superfluous" und „technologically competent") zusammensetzte McGoverns Wählerpotential be-stand einerseits aus Angehörigen der untersten sozialen Schicht; andererseits gehörten ihm große Teile der fortschrittlichen weißen Bildungselite (insbesondere die College-Jugend) an. Vor allem letztere, die sich aufgrund ihres Bildungsvorsprunges der enormen gesellschaftlichen Veränderungen stärker bewußt ist, glaubte in der McGovern-Kandidatur den Motor gefunden zu haben, den sozialen Wandel in ihrem Sinne beeinflussen zu können.
McGovern verfügte mit diesen Wählerschichten über die Unterstützung der politisch aktivsten und gesellschaftlich motiviertesten Gruppen in der Demokratischen Partei. Zudem kannten er und seine Wahlkampforganisatoren wie keiner seiner Mitkonkurrenten die Möglichkeiten, die die innerparteilichen Reformen boten. Ferner besaß er die weitaus beste Organisation, gebildet aus einem Heer von meist studentischen freiwilligen Wahlkampfhelfern. Diese drei Faktoren, die Reformen, seine Organisation und die außerordentliche Motivation seiner Anhänger, wirkten sich zum Vorteil McGoverns insbesondere in den primaries aus.
Er profitierte dabei u. a. auch von dem Faktor der Wahlbeteiligung, die in Relation zur Partizipation bei Präsidentenwahlen deutlich geringer ist Die durchschnittliche Wahlbeteiligung aller presidential primaries zwischen 1948 und 1968 betrug dabei ungefähr nur 27 Prozent, während sie bei Präsidenten-wahlen im Durchschnitt ca. 62 Prozent erreichte. Zwischen der Partizipation bei prima-ries und Präsidentenwahlen besteht so eine Differenz von etwa 30 Prozentpunkten. Dieses Verhältnis hat sich 1972, wenn überhaupt, nur unwesentlich verändert. Die Wahlbeteiligung stieg im Vergleich zu 1968 nur gering an Politisch ist dieses Faktum von erheblicher Bedeutung, da sich die Angehörigen der höheren sozio-ökonomischen Schichten der Gesellschaft in deutlich stärkerem Maße an primaries beteiligen als der „Durchschnittswähler", der nur an der Präsidentenwahl, nicht aber an den Vorwahlen teilnimmt. In Relation zu den Präsidentenwahlen ergibt sich dadurch eine Verzerrung im politischen Gewicht der Wählergruppen Die Wähler der primaries sind nicht oder nur sehr bedingt ein repräsentativer Querschnitt der Gesamtwählerschaft. Gerade aber die Gruppen der politisch aktiven, sozio-ökonomisch besser gestellten Schichten bildeten einen Hauptbestandteil der Wählerschaft McGoverns.
Ein weiteres Element kommt hinzu. Die Wahlbeteiligung hängt bei amerikanischen Wahlen wesentlich von den organisatorischen Möglichkeiten der Kandidaten ab, von der Fähigkeit, die potentielle Wählerschaft durch persönlichen Kontakt („canvassing") zu erreichen und am Wahltag zur Stimmabgabe zu mobilisieren. Die tausendfach durchgeführte telephonische Aufforderung zur Stimmabgabe durch die zahllosen Wahlhelfer haben maßgeblich mit dazu beigetragen, daß die Anhänger McGoverns in weitaus stärkerem Maße an den primaries partizipierten als die Wählergruppen seiner Mitkonkurrenten.
In den primaries erzielte McGovern etwas über 4 Millionen Stimmen, ca. ein Viertel der insgesamt abgegebenen Stimmen Seine Stimmzahl lag dabei noch knapp unter derjenigen Humphreys. Aufgrund der unterschiedlichen Vorwahl-Arten sind Vergleiche, die von solchen Saidozahlen ausgehen, jedoch oft irreführend. So ergibt sich ein anderes und zutreffenderes Bild, wenn nur die 12 Vorwahlen analysiert werden, die als presidential preference primaries abgehalten wurden und an denen McGovern, Humphrey und Wallace gemeinsam teilnahmen. In diesen Vorwahlen erhielten
McGovern 3 390 000 (31 °/o) Stimmen Humphrey 2 970 000 (27 %) Stimmen Wallace 2 726 000 (25%) Stimmen McGovern erwies sich so zwar als stimmstärkster Kandidat der Demokraten, doch blieb sein Stimmenanteil von einer absoluten Mehrheit weit entfernt. Der etwa gleiche Stimmenanteil der drei führenden Kandidaten in den primaries ist vielmehr ein deutliches Indiz für die Zerrissenheit der demokratischen Wählerkoalition; er dürfte in etwa das tatsächliche Stärkeverhältnis der drei innerparteilichen Hauptgruppen, Rechte, Mitte und Linke, widerspiegeln.
Und dennoch waren es die Ergebnisse der primaries, die McGovern die Mehrheit auf dem Konvent brachten. Dieser (nur scheinbare) Widerspruch liegt vor allem im Doppelcharakter der primaries begründet, zum einen Gradmesser der Popularität der Präsidentschaftskandidaten, zum zweiten Bestellungsmodus der Delegierten des Konvents zu sein. Nur in einigen Vorwahlen sind presidential primary und Delegiertenwahl miteinander verknüpft; in der Mehrzahl der primaries handelt es sich jedoch um zwei, zwar zeitgleich abgehaltene, aber doch separate Vorgänge. Insbesondere hier erreichte McGovern mit Hilfe seiner superben Organisation wesentlich besser als seine Konkurrenten, daß sich die personale Präferenz der Wähler zugleich auch bei der Delegiertenbestellung in der Wahl von McGovern-Delegierten niederschlug. Von den in primaries gewählten oder in ihrer Entscheidung gebundenen Delegierten waren 1 099 McGovern-, 325 Wallace-und 292 Humphrey-Delegierte Während McGovern nur ungefähr ein Drittel der abgegebenen Stimmen auf seine Person vereinigen konnte, waren 55 Prozent der Delegierten, die in primaries bestellt wurden, auf seine Person festgelegt; gemessen an seinem Stimmenanteil eine erhebliche Uberrepräsentation.
McGoverns Nominierung beruhte so auf einer Vielzahl von Faktoren; zu ihnen gehörten vor allem:
— die spezifische Situation eines zunächst vier, dann drei Hauptbewerber umfassenden Kandidatenfeldes;
— eine vergleichsweise starke Ideologisierung der einzelnen Wählergruppen, die nicht zuletzt eine — sicherlich nicht gewollte — direkte Folge der innerparteilichen Reformen ist, da diese den verschiedenen Kräften in der Partei die politische Selbstdarstellung wesentlich erleichterten und die Chancen auf Realisierung ihrer Ziele verbesserten;
— eine stärkere innere Geschlossenheit der einzelnen Gruppen und eine Fixierung auf den jeweiligen Kandidaten war die Folge; eine traditionelle, auf Integration ausgerichtete Strategie der Kandidaten der Mitte war dadurch erheblich erschwert, wenn nicht sogar von Beginn an zur Erfolglosigkeit verurteilt; — eine Erweiterung der Basis des linken Flügels in der Partei als Folge der innerparteilichen Reformen; — schließlich der organisatorische Vorsprung McGoverns gegenüber seinen Mitkonkurrenten. Wesentlich aufgrund dieser Faktoren konnte McGovern die Delegierten-Mehrheit auf dem Konvent der Demokraten erreichen. Zumindest zeitweilig verschob sich damit das Gewicht zugunsten des linken Parteiflügels. Ob die Kräfte, die McGovern 1972 unterstützten, jedoch auch auf längere Sicht die neue Mehrheitsgruppierung in der Partei bilden werden, scheint angesichts der deutlichen Wahlniederlage mehr als fraglich. Der innerparteiliche Erfolg McGoverns vertiefte aber ohne Zweifel die Gräben in der Demokratischen Partei beträchtlich. Dem Wandel des amerikanischen Parteiensystems gingen stets drastische Veränderungen in den Strukturen der Mehrheitspartei voran. Sie bildeten geradezu die Voraussetzung für die Phase „kritischer Wahlen". Vor allem hierin liegt die besondere Bedeutung der innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Präsidentschaftskandidatur des Jahres 1972. Ob dadurch die alte demokratische Wählerkoalition Roosevelts endgültig zerbrochen ist, ist im folgenden aufzuzeigen. Dabei wird zugleich deutlich werden, welche Stellung George Wallace, der ideologische Gegenpol in der Demokratischen Partei, im amerikanischen Parteiengefüge gegenwärtig einnimmt.
IV. McGoverns Programmatik und „Middle America"
Abbildung 6
Tabelle V: Zur Entwicklung des Wahlkörpers in den USA Quelle: Zusammengestellt und errechnet nach verschiedenen Veröffentlichungen des U.S. Bureau of Census; Richard M. Scammon, Amerika at the Polls, America Votes
Tabelle V: Zur Entwicklung des Wahlkörpers in den USA Quelle: Zusammengestellt und errechnet nach verschiedenen Veröffentlichungen des U.S. Bureau of Census; Richard M. Scammon, Amerika at the Polls, America Votes
Ein besonderes Merkmal „kritischer Wahlen" ist in einer verstärkten programmatisch-ideologischen Polarisation der Parteien und der Wählerschaft zu sehen. Nixon wie McGovern sprachen mehrfach davon, daß die Präsidentenwahl von 1972 „the clearest choice of the Century" darstelle In der Tat vertraten beide Kandidaten recht konträre Programme. Objektiv aufgrund seiner programmatischen Aussagen, aber vor allem in der Perzeption der öffentlichen Meinung erhielt McGovern dabei seit seinen in den gesamten USA ausgestrahlten Fernsehdebatten mit Hubert Humphrey vor dem primary von Kalifornien (6. Juni) den Stempel des „extremist" aufgedrückt, der die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft radikal verändern wollte Er erhielt das Image eines Kandidaten, der gegen einige der traditionellen Werte und politischen Grundeinstellungen der amerikanischen Bevölkerung zu Felde zog. Die Diskrepanz zwischen den traditionellen Werten und McGoverns Programm ist kurz zu verdeutlichen
Der Durchschnittsamerikaner teilt unverändert folgende Überzeugungen:
1. Die USA sind eine freiheitliche, demokratisch organisierte Gesellschaft.
McGovern jedoch sprach davon, daß das Land von den Interessen Weniger manipuliert werde. Er erhob für seine Person den idealistisch-moralischen Anspruch, nach seiner Wahl — ähnlich wie Jefferson, Jackson und Roosevelt — „ (to) restore the Government to the people of this country" Im allgemei-nen aber stoßen Kandidaten, die die Grundlagen des Gesellschaftssystems in Frage stellen, auf die emotionale Ablehnung vieler Wähler, insbesondere dann, wenn sie im Bewußtsein der Bevölkerung Mitverantwortung für politische Fehlentwicklungen wecken wollen.
2. Die USA müssen in einer von internationaler Bedrohung geprägten Welt der Garant von Frieden und Freiheit sein und deshalb die militärische Führungsmacht der Welt bleiben.
McGovern schlug vor, den Militärhaushalt von ca. 80 Milliarden auf ca. 55 Milliarden Dollar zu kürzen. Er handelte sich damit den Vorwurf ein, die USA zu einer Militärmacht zweiter Klasse herabsinken lassen zu wollen Hinzukam, daß die in der Rüstungsindustrie Beschäftigten dadurch die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze gefährdet sahen.
3. Die Glaubwürdigkeit der USA in der Welt erfordere, Südvietnam die Selbständigkeit und eine vom Kommunismus freie politische Entwicklung zu garantieren.
McGovern setzte sich ein für ein sofortiges Ende der Bombardierung Nordvietnams, den Rückzug sämtlicher noch in Südostasien am Krieg beteiligter amerikanischer Soldaten innerhalb von 90 Tagen, die Einstellung jeglicher Hilfe für das Regime Südvietnams. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist heute für die Beendigung der amerikanischen Beteiligung am Vietnam-Krieg McGoverns Eintreten für den bedingungslosen Rückzug hinterließ jedoch den Eindruck einer von vielen nicht akzeptierbaren militärischen und politischen Kapitulation eines in seiner bisherigen Geschichte noch unbesiegten Landes, zumal er die Amerikaner wiederholt aufforderte, den Vietnam-Krieg als politische und moralische Verirrung der amerikanischen Nation anzuerkennen.
4. In den USA ist durch die unternehmerischen Eigeninitiativen des kapitalistischen ökonomischen Systems das Beste für die größte Zahl von Menschen erreicht worden.
McGovern verwies auf die wirtschaftliche . Stagflation', 5 Millionen Arbeitslose und die Notwendigkeit, die Arbeitslosigkeit durch staatliche, von der Bundesbürokratie in Washington initiierte Arbeitsbeschaffungsprogramme zu bekämpfen Seine Steuerreformvorschläge, die neben dem Abbau von Steuerbegünstigungen der Industrie u. a. eine drastische Veränderung und Steigerung der Einkommensteuerprogression beinhalteten, verunsicherten auch große Teile der etablierten Facharbeiterschaft und Mittelklasse, die traditionelle Wählerschaft der Demokraten, da sie fürchteten, nach einem Wahlsieg McGoverns höhere Steuern bezahlen zu müssen. 5. In den USA ist jeder seines Glückes Schmied; die USA sind eine offene Gesellschaft, in der jeder entsprechend seinen Fähigkeiten gesellschaftlichen und insbesondere materiellen Erfolg haben kann, wenn er nur will.
McGovern erschien als Verfechter von quotas (s. o.). Sein „welfare-plan", gemäß dem jedem Amerikaner — beschäftigt oder arbeitslos — vom Staat ein jährliches Mindesteinkommen von 1 000 Dollar garantiert werden sollte, erweckte den Eindruck, daß die arbeitende Bevölkerung für den Lebensunterhalt der „Arbeitsscheuen" aufkommen sollte
In diesen und einer Reihe weiterer Fragen amerikanischer Politik stand McGovern zumindest in der Einschätzung durch den Durchschnittswähler auf der falschen Seite. Zu seinem Image als „radical" trat noch ein zweiter, ebenso wichtiger Negativ-Faktor hinzu, für den die „Eagleton-Affaire" nur ein besonderes offenkundiges Beispiel war 65).
Nachdem bekanntgeworden war, daß sich Thomas Eagleton, der von McGovern zum Vizepräsidentschaftskandidaten ausgewählte Senator von Missouri, während der letzten Jahre dreimal psychatrischer Krankenhausbehandlung unterzogen hatte, unterstützte McGovern ihn zunächst „ 1 000 Prozent", um ihn dann nach einer Woche doch zum Rücktritt
Nachdem bekanntgeworden war, daß sich Thomas Eagleton, der von McGovern zum Vizepräsidentschaftskandidaten ausgewählte Senator von Missouri, während der letzten Jahre dreimal psychatrischer Krankenhausbehandlung unterzogen hatte, unterstützte McGovern ihn zunächst „ 1 000 Prozent", um ihn dann nach einer Woche doch zum Rücktritt von der Kandidatur zu zwingen. Für weite Kreise der Öffentlichkeit erwies die Eagleton-Affaire, daß McGovern nicht in der Lage sei, bei schwerwiegenden politischen Fragen klare Entscheidungen schnell treffen zu können, wie dies für den Präsidenten der USA eine selbstverständliche Voraussetzung sei. Dieser „credibility gap" verstärkte sich zunehmend, da McGovern — bemüht um die Unterstützung auch der traditionellen Demokraten — in einigen seiner programmatischen Aussagen vom ursprünglich im primaryWahlkampf vertretenen Standpunkt abrückte und neue Positionen einnahm. Insgesamt entstand um McGoverns Person der Eindruck der Unsicherheit und Unentschlossenheit, während sein Gegner, Richard Nixon, Entschlußfähigkeit im Laufe der vergangenen vier Jahre als Präsident demonstriert hatte.
Zumindest teilweise liegt hierin der überwältigende Sieg Nixons begründet. Er ist zweifellos eine Reaktion auf die Unfähigkeit McGoverns, während des Wahlkampfes der Wählerschaft ein geschlossenes politisches Konzept darzulegen und den Diskussionen um seine Person wirksam zu begegnen. Wenn McGovern überhaupt je eine echte Chance besessen haben sollte, nach seinem Verhalten in der Eagleton-Affaire war die Wahl für ihn verloren.
Richard Nixon hingegen identifizierte sich bewußt mit den Grundeinstellungen der amerikanischen Mehrheit. Dies fiel ihm um so leichter, als er selbst in gewisser Weise die Personifizierung des Durchschnittsamerikaners ist, der den „American dream", den sozialen Aufstieg aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zur Spitze der Gesellschaft, verwirklichen konnte. Nixon und die Mehrheit der Bevölkerung sind noch immer von der Güte des amerikanischen Systems überzeugt, oder wie Nixon es in seiner Rede auf dem Konvent der Republikaner formulierte: «... I believe in the American System. I have traveled to 80 countries in the past 25 years, and I have seen Communist Systems, I’ve seen Socialist Systems, I have seen Systems that are half-Socialist and half-free (sic!). Every time I come home to America I realize how fortunate we are to live in this great and good country. Every time I am reminded that we have more freedom, more opportunity, more prosperity than any people in the world ..." 66).
In der Diskrepanz zwischen der sozialen Realität und dem Bewußtsein der Mehrheit der Wählerschaft, wie sie hier zum Ausdruck kommt, liegt die tiefe Krise der amerikanischen Gesellschaft begründet. Sie erklärt, zumindest teilweise, das Wahlergebnis von 1972. Im landslide Nixons ist auch die Reaktion der großen Mehrheit der Wählerschaft auf das als radikal aufgefaßte Programm McGoverns zu sehen. Wie die Wähler 1964 den „extremist" Barry Goldwater, den Vertreter des rechten Flügels der Republikaner, mit einem ähnlich einseitigen Wahlerfolg zugunsten Lyndon Johnsons zurückwiesen 67), so bereiteten sie 1972 dem „radical" George McGovern, dem Vertreter des linken Flügels der Demokraten, eine ebenso deutliche Niederlage.
Die Wahl von 1972 scheint damit eine neuerliche Bestätigung für die These zu liefern, daß nur ein Kandidat der Mitte reale Aussichten auf die Präsidentschaft hat. Nur wer die Wählerschaft der Mitte, den Durchschnitts-wähler, auf seiner Seite hat — in Scammons und Wattenbergs soziologischer Typisierung: eine 47 Jahre alte, weiße Hausfrau aus der mittelgroßen Industriestadt Dayton/Ohio, protestantischer Konfession, mit mittlerer Schulbildung, zur Mittelklasse gehörig und die Ehfrau eines manuell arbeitenden Facharbeiters — 68), scheint die amerikanische Präsidentenwahl gewinnen zu können. Tatsächlich ist ein maßgebliches Resultat der Wahl von 1972 die Reaktion der Mitte.
V. Nixons ‘landslide" — die Negativ-Wahl
Abbildung 7
Tabelle VI: Zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Wählerschaft bei den Präsidentenwahlen von 1952— 7972 Quelle: Gallup Poll Index; veröffentlicht am 19. Oktober 1972.
Tabelle VI: Zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Wählerschaft bei den Präsidentenwahlen von 1952— 7972 Quelle: Gallup Poll Index; veröffentlicht am 19. Oktober 1972.
Richard Nixon bemühte sich zwar erfolgreich um die Unterstützung dieser Mitte, doch darf sein außerordentlicher Sieg nicht den Eindruck erwecken, daß sich die große Mehrheit der Wählerschaft mit seiner Person und der von ihm vertretenen Politik identifizierte. Dies würde den Entwicklungen in der amerikanischen Wählerschaft nur sehr bedingt gerecht werden. Es würde u, a. die Tatsache verdekken, daß sich die Einschätzung der Person Nixons in der Öffentlichkeit — wie sie sich in den demoskopischen Umfragen widerspiegelt — vom Wahlergebnis deutlich unterscheidet. Positive wie negative Einschätzung hielten sich während der ersten Amtsperiode Nixons nur in etwa die Waage Wenn auch die Motive in den einzelnen Bevölkerungsgruppen stark variieren, Nixon und seine Politik werden vor einem Großteil der Amerikaner skeptisch beurteilt, wenn nicht gar abgelehnt.
Ein ähnliches Bild liefert die Analyse des Wahlergebnisses selbst. Der von den Zahlen her eindeutige Sieg Nixons erweist sich in mehrerer Hinsicht als eine Negativ-Wahl. Ein erstes deutliches Indiz hierfür stellt die äußerst niedrige Wahlbeteiligung dar; sie erreichte nur 54, 5 Prozent der potentiell wahlberechtigten Bevölkerung über 18 Jahre und lag damit erheblich unter der an sich im Ver-gleich mit Wahlen in europäischen Staaten bereits geringen Partizipation der vorangegangenen Präsidentenwahlen. Von den insgesamt ca. 140 Millionen Wahlberechtigten gingen nur etwas über 76 Millionen zur Wahl; auf Nixon entfielen 46, 6 Millionen Stimmen. Damit votierte nur etwa ein Drittel der Wahlberechtigten für ihn. Zwei Gründe dürften für die besonders niedrige Partizipationsrate maßgebend gewesen sein; erstens stand der Wahlsieg Nixons, von den demoskopischen Umfragen stets vorausgesagt im vorhinein fest; zweitens dürfte die zur Wahl stehende Alternative Nixon—McGovern eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Wahlberechtigten zur Wahlenthaltung veranlaßt haben.
Nixons Stimmenanteil von 61, 3 Prozent kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich eine Vielzahl der Wähler, die sich für ihn entschieden, nicht mit ihm zu identifizieren vermochten. Voll hinter Nixon standen so eigentlich nur diejenigen Wähler, die aufgrund ihrer Parteiidentifikation die Republikanische Partei wählten. Symptomatisch für die Wahl-entscheidung war vielmehr die Haltung, wie sie der Automobil-Facharbeiter Dewey Burton am Tage vor der Wahl formulierte: „I’ve got to choose whether a man I d’ont particularly care for (McGovern) or a man I d’ont care for at all (Nixon) gets elected“ 71). Ein Großteil der Wählerschaft entschied sich damit für das ihrer Meinung nach ger Ein Großteil der Wählerschaft entschied sich damit für das ihrer Meinung nach geringere Übel; eine Konsequenz der programmatischen und personellen Alternative Nixon—McGovern.
Zur Soziologie der Wählerschaften von Nixon und McGovern
Diese Einstellung vieler traditionell demokratischer Wähler findet in der soziologischen Analyse (wenn auch nur vordergründig, wie im Schlußabschnitt noch zu zeigen sein wird) ihre Bestätigung. Tabelle VI gibt im historischen Vergleich die soziale Zusammensetzung der Wählerschaften wieder, wie sie vom Gallup Poll ermittelt wurden. Sie macht in etwa das Ausmaß der Abwanderung der einzelnen Wählergruppen von der demokratischen Partei deutlich. Wie es aufgrund des Gesamtergebnisses der Wahl nicht anders zu erwarten war, verlor McGovern im Vergleich zur Wahl von 1968 in allen sozialen Kategorien. Besonders hoch waren seine Verluste dabei in den beiden Gruppen der Arbeiterschaft; dann auch in der katholischen Wählerschaft. Dies gilt gleichermaßen für einige weitere, traditionell der demokratischen Wählerkoalition angehörige gesellschaftliche Gruppen, die im Gallup Poll nicht einzeln aufgeführt sind, die nicht-schwarzen, ethnischen Minderheiten nämlich. So konnte Nixon seinen Stimmenanteil — wie eine Umfrage der Fernsehgesellschaft NBC ergab — in der jüdischen Wählerschaft, je nach Bundesstaat allerdings unterschiedlich, gegenüber der Wahl von 1968 verdoppeln oder gar verdreifachen. Stimmten 1968 nur 14 Prozent der jüdischen Wähler im Staat New York für Nixon, so wählten ihn 1972 etwa 39 Prozent.
Einigermaßen behaupten konnte sich McGovern so ausschließlich in zwei Wählerkategorien: ersten bei der schwarzen Wählerschaft, die für McGovern 1972 in fast dem gleiche Ausmaß votierte wie 1968 für Humphrey. Die vornehmlich schwarze Bevölkerung Washingtons bewirkte dann auch, daß McGovern die drei Wahlmänner des District of Columbia gewann. Zweitens stimmte auch die Wähler-gruppe,die sich selbst als liberal oder radikal einschätzt, überwiegend für „ihren" Kandidaten. Insbesondere die College-Jugend entschied sich in ihrer großen Mehrheit 73), teilweise bis zu 75 Prozent, für McGovern, wenngleich zumindest einige Studenten, von dem um Ausgleich mit den traditionellen Demokraten bemühten und von seinen ursprünglichen Positionen abrückenden McGovern enttäuscht, auch in ihm am Wahltag nur noch das geringere von zwei Übeln sahen. Insgesamt erzielte McGovern noch in der Altersgruppe der 18-bis 24jährigen mit ungefähr 52 Prozent eine knappe Mehrheit 74); bezieht man — wie im Gallup Poll — die bis 30jährigen Wähler mit ein, ergab sich jedoch bereits ein Übergewicht Nixons. Der nur knappe Vorsprung McGoverns unter den Erstwählern läßt zudem nochmals die Diskrepanz zwischen primaries und Präsidentenwahl deutlich werden. Das Verhalten der College-Jugend, die während der primaries maßgeblich zur Nominierung McGoverns beitrug, erweckte bei vielen den Eindruck, daß die Erstwähler aufgrund der Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre eventuell eine Wahlentscheidung zugunsten McGoverns bewirken könnten. Sie berücksichtigten dabei nicht, daß aufgrund der unterschiedlich starken Wahlbeteiligung durch die aktivere Partizipation der College-Jugend in den primaries ein falsches Bild der politischen Einstellungen der gesamten, an der Präsidentenwahl teilnehmenden Erstwähler entstanden war.
Wenngleich detaillierte Untersuchungen der Wahlsoziologie gegenwärtig noch nicht vorliegen und es sich bei den hier angegebenen Daten damit noch um vorläufige Zahlen handelt, so vermitteln diese doch in der Tendenz ein zureichendes Bild vom Wählerverhalten. Generalisierend ist dabei festzustellen, daß die Kräfte, die McGovern in den primaries zur Kandidatur verhalfen, auch in der allgemeinen Wahl für ihn gestimmt haben. Diejenigen demokratischen Wähler jedoch, die bereits während der primaries für einen seiner Mitkonkurrenten eingetreten waren, denen die neuartigen innerparteilichen Strukturen, die gewandelte soziologische Zusammensetzung und das vom Fernsehen übertragene, äußere Erscheinungsbild des Konvents fremd erschienen, verließen in beträchtlichem Ausmaß ihre traditionelle Partei und wählten die ihnen vertrautere Alternative. Der Wechsel ihrer Parteipräferenz bei der Präsidentenwahl fiel ihnen wegen der Kandidatur McGoverns zwar relativ leicht, doch bedeutet dies nicht, daß sich ihre politischen wie ideologischen Einstellungen mit denen Nixons und der Republikaner decken. Der landslide Nixons ist wesentlich von personal-plebiszitären Elementen bestimmt, die in der Alternative Nixon— McGovern begründet liegen.
Der Kongreß bleibt demokratisch
Hieraus erklärt sich auch das außergewöhnlich hohe Ausmaß des Stimmen-Splitting. Nixon und den Republikanern gelang es nicht, ihren Vorteil bei der Präsidentenwahl auf die vielen anderen Wahlentscheidungen des 7. November zu übertragen. Im Vergleich zu den letzten Kongreßwählen von 1970 erzielten sie im Repräsentantenhaus einen Gewinn von nur 12 Mandaten, was in den meisten dieser Wahlkreise zudem in erster Linie eine Folge der veränderten Wahlkreiseinteilung war. Bei den Senatswahlen gingen sogar zwei Sitze an die Demokraten verloren. Im Repräsentanten-haus verfügen die Demokraten damit über 244, die Republikaner über 191 Mandate; im Senat lautet das Verhältnis 57 zu 43 Mandate zugunsten der Demokraten.
Ohne darauf näher eingehen zu wollen, muß allerdings betont werden, daß sich bei der Heterogenität der amerikanischen Parteien, insbesondere im Repräsentantenhaus von Fall zu Fall ideologisch stärker konservativ ausgerichtete, über die Parteigrenzen hinwegreichende „Kongreß-Mehrheiten" herausbilden können und werden Dennoch steht auch in den kommenden zwei Jahren dem Republikaner Nixon ein demokratischer Kongreß gegenüber, wobei die demokratische Mehrheit nicht nur als eine formale anzusehen ist. Die Demokraten stellen als Mehrheitspartei des Kongresses weiterhin die politisch eminent wichtigen Vorsitzenden in sämtlichen Parlamentsausschüssen beider Häuser. Zudem dürfte Nixon vor allem im Senat, der in seinen ideologischen Grundpositionen liberaler als seine Vorgänger einzuschätzen ist, auf grundsätzliche Opposition stoßen. Wie in den Wahlen zum Kongreß behaupteten sich die Demokraten auch bei den Gouverneurswahlen, gewannen einen Staat hinzu und stellen jetzt in 31 der 50 Bundesstaaten die Exekutive.
Dies führt uns zum Ausgangspunkt der Wahl-analyse zurück. Die Wahlentscheidung war in stärkerem Maße eine Zurückweisung McGoverns denn eine ausdrückliche Bestätigung Nixons. Der Wahlsieg Nixons ist nicht zuletzt negativ als eine konservative Reaktion von „Middle America" auf die prononziert liberale Kandidatur McGoverns zu sehen. Diese Theorie des sog. „vital center" vermag das Wahlergebnis jedoch nur in einigen, wenn auch zentralen Aspekten zu erklären. Ausreichend ist diese Sicht vor allem dann nicht, wenn man darin nur eine Bestätigung dafür sieht, daß die Wahl von 1972 aufgrund der Nominierung des „radical" McGovern nur eine Ausnahme von der Regel bisheriger Wahlen gewesen sei, daß die traditionelle Wählerkoalition der Demokraten unverändert weiterbestehe und sich bei zukünftigen Wahlen sowie einem gemäßigten, an die Mitte der amerikanischen Wählerschaft appellierenden Präsidentschaftskandidaten erneut als mehrheitsfähig erweisen werde Die These verdeckt in ihrer Generalisierung nämlich den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der von der nur bedingt repräsentativen Alternative Nixon—McGovern überlagert wurde, und liefert keine konkreten Hinweise auf die möglichen Bestimmungsfaktoren des sich neu herausbildenden Parteiengefüges, dessen Struktur jedoch wesentlich von den politischen und ideologischen Einstellungen des „Middle America" geprägt werden dürfte.
VI. Faktoren des Wandels im Parteiensystem
In einem seiner Presseinterviews nach der Wahlniederlage meinte McGovern, daß die Wahl vom 7. November ein anderes Ergebnis erbracht hätte, wenn George Wallace nicht durch das Attentat vom 15. Mai zur politischen Neutralität gezwungen worden wäre, sondern wie im Jahre 1968 erneut als Drittbewerber um die Präsidentschaft kandidiert hätte Dies scheint auf den ersten Blick eine offensichtlich vordergründige und sehr einfache Erklärung für seine deutliche Wahlniederlage zu sein-, dennoch kommt ihr tiefere Bedeutung zu; sie ist wahrscheinlich grundsätzlicher als McGovern damit selbst zum Ausdruck bringen wollte.
Die Kandidatur McGoverns ist von Beginn an als eine auf sozialen Wandel zielende Protest-kandidatur aufgebaut gewesen Diese Strategie ging von der zutreffenden Analyse aus, daß in weiten Kreisen der amerikanischen Bevölkerung eine tiefgreifende Unzufriedenheit besteht, die auch der Wahlsieg Nixons nicht verdecken kann. Für die beiden Protestkandidaten auf den Parteiflügeln der Demokraten, Wallace und McGovern, votierten während der primaries immerhin über 50 Prozent der Wähler. McGovern und seine Wahlkampfstrategen unterlagen jedoch einer entscheidenden, in seinem Interview anklingenden Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Situation und politischen Einstellungen der Wählerschaft. Sie glaubten nämlich, die Kräfte, die Mc Govern die Kandidatur einbrachten, aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit in der Bevölkerung um das Wählerpotential von Wallace erweitern zu können und auf diese Weise eine mehrheitsfähige Protestkoalition in der Wählerschaft zu bilden. Daß dies nicht gelang und auch nicht gelingen konnte, zeigte das Wahlergebnis.
McGoverns Analyse ist aber nicht nur in diesem Sinne zu verstehen. Sie gibt zugleich auch einen deutlichen Hinweis auf die Struktur des gegenwärtigen Parteiengefüges. „Kritische Wahlen" sind — wie wir sahen — in der Regel durch relative Wahlerfolge von Drittparteien gekennzeichnet, in denen sich die Unfähigkeit der ehemaligen Mehrheitspartei manifestiert, die sie tragenden Wähler-gruppen zu integrieren. Für die Annahme, daß Wallace im Falle einer Kandidatur seinen Stimmenanteil von 13, 5 Prozent aus dem Jahre 1968 hätte wiederholen können, sprechen dabei eine Reihe von Indizien, die Ergebnisse der primaries, die demoskopischen Umfragen, zudem ein Vergleich der aggregierten Stimmenzahlen von Wallace und Nixon bei der Wahl von 1968 mit dem Stimmenanteil Nixons im Jahre 1972 Wenn jedoch der Drittkandidat Wallace zweimal innerhalb von vier Jahren einen Stimmenanteil von zumindest 15 Prozent erzielen kann — seine potentielle Wählerschaft dürfte eher größer als kleiner geworden sein —, so zeigt dies nur, wie sehr die demokratische Wählerkoalition auseinandergefallen ist; zahlreiche Faktoren weisen daraufhin, daß die alten Strukturen des Parteiensystems bereits endgültig zerbrochen sind 80).
Einige gesellschaftliche Ursachen dafür sind:
1. Massive Bevölkerungsbewegungen seit 1945, die die geographisch-politischen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft in dreierlei Hinsicht maßgeblich gewandelt haben: a) eine stärker als je zuvor sich vollziehende Land-Stadt-Wanderung;
b) dies betrifft nicht zuletzt die schwarze Bevölkerung der Südstaaten, die in die industriellen Ballungsräume des Nordens ging und dort zusammen mit u. a.den Puerto-Ricanern und den Chicanos das Industrie-Proletariat bilden
c) die Wanderung der weißen, allen sozioökonomischen Schichten zugehörigen Bevölkerung aus den cities (Städte) in die suburbs (Vorstädte). 2. Der Wandel der ökonomischen Strukturen, 1. h.der Übergang von der Industrie-zur Technologiegesellschaft, der zu drastischen Veränderungen im sozialen Gefüge führt, zugleich die Unterschiede von arm und reich deutlich vergrößert hat. Die Schere zwischen arm und reich klafft stärker auseinander als je zuvor. Die traditionelle Schichtung der Industriegesellschaft in Ober-, Mittel-und Unterklasse befindet sich im Prozeß der Auflösung; an ihre Stelle tritt eine Sozialstruktur, die gebildet wird aus den
a) „technologically competent" = Bildungselite, Industriemanagement, mittlere wie hö-'here Beamte und Angestellte;
b) „technologically obsolescent“ = große Teile der ehemaligen Mittelklasse, zu der weitgehend auch die Arbeiterschaft zu rechnen ist, deren Existenz durch die steigende Technologisierung und die beiden anderen Gruppen bedroht wird;
c) „technologically superfluous" = diejenigen, denen der sozio-ökonomische Wandel die ökonomische Basis bereits genommen hat, die gegenwärtig über 15 Millionen Wohlfahrtsempfänger, die Arbeitslosen; dann aber auch diejenigen, die als Hilfskräfte unentbehrlich sind. 3. Eine langanhaltende wirtschaftliche . Stagflation', die zwar keine krisenhaften Formen angenommen hat, aber doch u. a. in einer Arbeitslosigkeit von über 5 Prozent, in der bis zur Einführung des Lohn-und Preisstopps (Juli 1971) außerordentlich hohen Inflationsrate, dem nur geringen Anstieg der Reallöhne vor, insbesondere aber nach dem Lohn-und Preisstopp ihren Ausdruck findet. 1 Eine stetig wachsende Diskrepanz zwischen der durch Wandel bestimmten gesellschaftlichen Situation und den Lösungsmögchkeiten einer Politik, deren ideologische end politische Prämissen noch immer auf dem : eo-liberalistischen New Deal Roosevelts auftauen, und die damit auf die gesellschaftlidien Notwendigkeiten nicht mehr zureichend ^agieren, geschweige denn die gesellschaftlichen Prozesse innovativ beeinflussen kann, diesen vornehmlich sozio-ökonomisch bellingten gesellschaftlichen Implikationen tommt erhebliche politische Bedeutung zu. -'er soziale Wandel, der fast alle Bevölkengsgruppen in irgendeiner Form berührt, hat zu einer allgemeinen und tiefen Verunsicherung geführt. Die über 30 Jahre hinweg weithin anerkannte sozialstaatliche Politik des New Deal wird von allen Seiten in Frage gestellt, was sich symbolhaft in einer generellen Kritik an und Unzufriedenheit mit der diese Politik verkörpernden Bundesbürokratie in Washington äußert. Je nach dem gesellschaftlichen Standort ist diese Politik, die von dem Demokraten Johnson wie dem Republikaner Nixon nur in Nuancen differenziert vertreten wurde und wird, dem einen zu wenig, dem anderen zu sehr sozial-oder wohlfahrtsstaatlich orientiert. Die allgemeine Kritik an den Grundlagen der amerikanischen Innen-und Gesellschaftspolitik macht deutlich, daß sich in den USA damit die bald zu treffende Grundsatzentscheidung anbahnt, welche programmatisch-ideologischen Zielsetzungen an die Stelle der neo-liberalistischen Politik des New Deal treten werden. „The End of Liberalism", wie u. a. Theodore J. Lowi es formulierte, scheint gekommen
Objektiv wird man davon ausgehen können, daß die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, insbesondere die Integration der Minoritäten und der sozial Schwachen, eine zwar konzeptionell veränderte, praktisch jedoch auf den Wohlfahrtsstaat hinzielende Politik erfordern. Die Hinwendung zum gesellschaftlichen Proporz im Nominierungsverfahren der Demokraten ist auf einem Spezialgebiet ein erster Ansatz dazu. Jedoch dürfte sich in absehbarer Zukunft in einer Art Gegenrevolution eine eher konservative, den Status quo zumindest wahrende Programmatik durchsetzen. Das Wahlverhalten ist ein deutliches Indiz dafür.
Die Alternativ-Kandidaturen Wallace-McGovern während der primaries, Nixon-McGovern in der allgemeinen Wahl geben zudem einen Hinweis auf die politische Polarisation der gesellschaftlichen Kräfte: Die sozialen Gruppen der „technologically competent" und „technologically superfluous" sind aufgrund ihrer gleichlaufenden gesellschaftlichen Interessen natürliche Verbündete. Die McGovern-Kandidatur wurde maßgeblich von diesen Kräften getragen, wodurch sich der Auflösungsprozeß der alten demokratischen Wählerkoalition beschleunigt hat.
Die zweite und zahlenmäßig gegenwärtig größte Gruppe der im Entstehen begriffenen neuen sozialen Schichtung, die „technologically obsolescent", befindet sich als Mittel-gruppe in einer doppelten Abwehrposition. Wallace wie Nixon repräsentierten sie im Wahljahr 1972. Die Einstellungen dieser Kräfte werden insbesondere aus den radikaleren programmatischen Formulierungen von Wallace deutlich, in denen sich die Haltung eines erheblichen Teiles der Wählerschaft widerspiegelt. Denn ohne Frage war Wallace der erste, der die Implikationen des sozialen Wandels erkannte und zugleich politisch erfolgreich zu artikulieren vermochte Wie 1968 war sein Wahlkampf „organized around neo-populist themes: in addition to the racism which was at its center, it emphasized hostility to the „centers" of American life — the federal government, intellectuals, and urbancosmopolitan liberalism"
Bedeutung des Rassengegensatzes
Hier soll nur auf das Rassenproblem etwas näher eingegangen werden, dem unverändert zentrale Bedeutung nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Struktur des Parteiengefüges zukommt.
Die Abwanderung der schwarzen Bevölkerung aus den Südstaaten hat die geographisch-politischen Strukturen zunächst im Süden, aber nicht nur dort, grundlegend verändert. Der seit dem Bürgerkrieg in der Mitte des vorigen Jahrhunderts fast ausschließlich demokratische Süden existiert nicht mehr. Nirgends wird die Spaltung der Wählerkoalition der Demokraten so offenkundig wie in den 11 Staaten der „Confederacy" Zwar wählt der Süden bei Kongreß-und auch einzelstaatlichen Wahlen noch immer „demokratisch", bei Präsidentenwahlen aber hat der Kandidat der Demokratischen Partei seit 1964 nur noch in wenigen, 1968 in einem, 1972 in keinem eine relative Stimmenmehrheit erzielen können. Die Abwanderung der schwarzen Bevölkerung hat bewirkt, daß ein auf der Basis des liberalistischen New Deal kandidierender Demokrat dort keine mehrheitsfähige Wählerkoalition mehr bilden kann In den Südstaaten sind die Demokraten überspitzt formuliert — zu einer konservativ reaktionären „Demokratischen Partei" im Sin ne der von Wallace vertretenen Programma tik geworden, deren ideologische Grundein Stellung Sektionalismus und Rassenvorurtei bilden Zwar konnte Nixon 1972 infolge der Nicht-Kandidatur von Wallace sämtliche Südstaaten gewinnen, doch bedeutet dies kei neswegs, daß dadurch der Süden der USA automatisch zu einer Bastion der Republikane werden wird. Die weiße Wählerschaft des Südens wird sich in Zukunft auf nationaler Ebene der Partei zuwenden, die ihrer konservati ven Haltung am weitesten entgegenkommt Die Abwanderung der schwarzen Bevölke rung aus dem Süden hat die Konfrontatior von Schwarz und Weiß auch in den industriellen Ballungsräumen des Nordens verschärft. Die Sozialpolitik von Johnsons „Grea Society" hat dabei die Fronten eher verhärtet, ohne die beabsichtigte soziale Integration der Minoritäten zu erreichen. Zusammen mit der endgültigen rechtlichen Gleichste! lung der Neger durch den 24. Verfassungszu satz und den „Voting Rights Acts" stärkte sie nämlich das Bewußtsein der Schwarzen, die zunehmend eine eigenständige politische und gesellschaftliche Identität finden und ihren sozialen Status durch kollektives Handeln zu verändern suchen. Vor allem traten sie jedoch im Wirtschaftsprozeß in Konkurrenz zu der weißen Bevölkerung, deren Arbeitsplätze sie in verstärktem Maße gefährden. Insbesondere unter der einfachen weißen Arbeiterschaft, denen die Bildungsvoraussetzungen zum sozialen Aufstieg fehlen, hat dies zu einer erheblichen Gegenreaktion und Mobilisierung geführt. Diese Wählergruppen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht; ihre Einstellungen verfestigen sich zu einer zunehmend anti-liberalen Haltung, die sich derjenigen der weißen Bevölkerung der Südstaaten angleicht. Ihre Abwehrreaktion richtet sich dabei gleichermaßen gegen die schwarze Bevölkerung, von der sie sich direkt bedroht glaubt, wie auch gegen diejenigen, die diese sozialen Veränderungen eingeleitet haben, nämlich die liberale, weitgehend mit der Demokratischen Partei identifizierte Bundesbürokratie sowie die Bildungselite Der direkten Konfrontation versuchte die weiße Bevölkerung zumindest räumlich durch die Wanderung von den cities in die suburbs zu entgehen. Die formal überwundene Rassentrennung hat sich damit in veränderter Form räumlich perpetuiert. Die Schulen der Städte werden deshalb überwiegend von schwarzen Kindern, die der Vorstädte von weißen Kindern besucht. Zur Durchsetzung des Gemeinschaftsunterrichts erklärte daraufhin der Supreme Court den Bustransport von Kindern (busing) als verfassungsrechtlich zulässig Zahlreiche untergeordnete Bundesgerichte (Federal Courts, die von der Administration in Washington ernannt werden) haben daraufhin die lokalen (von der Bevölkerung gewählten) Schulverwaltungen veranlaßt, daß weiße Kinder aus den Vororten in Schulen der Stadtzentren, schwarze Kinder aus den Städten in Schulen der Vororte unterrichtet und zu diesem Zweck per Bus auch über größere Entfernungen hinweg transportiert werden. Teilweise wurden per Gerichtsbeschluß auch getrennte Schulbezirke zusammengelegt. Die vom busing betroffenen weißen Eltern brachten ihren Unmut in zahlreichen Städten u. a. durch teilweise langanhaltende Schulboykotte zum Ausdruck
Wichtig ist der emotionale „busing issue" in unserem Zusammenhang vor allem deshalb, weil er die politische Polarisierung maßgeblich verschärfte. Im Hinblick auf die Struktur des Parteiengefüges kommt damit der Kandidatur von Wallace, der in den demokratischen. primaries nicht zuletzt aufgrund einer strikten Ablehnung von „busing" gewählt wurde, die gleiche Funktion wie der McGovern-Kandidatur zu. Beide haben 1972 zur Auflösung der traditionellen demokratischen Wählerkoalition erheblich beigetragen. Die primary-Erfolge von Wallace gerade auch in den Staaten des Nordens sowie zahlreiche wahlsoziologische Untersuchungen zur Wählerschaft von Wallace bei der letzten Präsidentenwahl von 1968 haben deutlich erwiesen, daß Wallace bei den existentiell von zwei Seiten bedrohten weißen Bevölkerungsgruppen, in der unteren Mittelklasse, der verunsicherten Arbeiterschaft etc., über ein sehr breites Wählerpotential verfügt Große Teile der ehemals demokratischen Wähler-koalition sind auch im Norden dabei, die Demokratische Partei endgültig zu verlassen; oder anders formuliert: Vieles spricht dafür, daß Wallace gegenwärtig mit seiner einerseits rassistischen, andererseits anti-liberalen und populistischen Programmatik die demokratische Wählerschaft zumindest in dem gleichen Ausmaß repräsentiert wie McGovern. Eine Verbindung beider Flügel zu einer mehrheitsfähigen Koalition, die eine Generation lang das amerikanische Parteiensystem prägte, erwies sich 1972 als nicht möglich; sie dürfte auch bei zukünftigen Wahlen aus den dargelegten gesellschaftlichen Implikationen nicht mehr möglich sein. Der demokratischen Wählerkoalition fehlt dazu die ideologische und programmatische Basis; sie dürfte endgültig zerfallen sein.
Wie stark der Rassengegensatz die Einstellungen von Middle America prägt, kann hier an einer der politischen Streitfragen, dem „busing issue", kurz exemplifiziert werden. Er ist zudem für das Wahlergebnis von 1972 von besonderer Bedeutung, da Wallace die Ablehnung von „busing" zum zentralen Thema seines primary-Wahlkampfes machte und daraufhin sich auch Nixon entschieden gegen „busing" aussprach.
VII. Zur Struktur des entstehenden Parteiengefüges
Was bedeutet dies für die zukünftige Struktur des amerikanischen Parteiensystems? Unterschieden werden muß zunächst einmal zwischen einer kurz-und längerfristigen Perspektive. Längerfristig dürfte eine Koalition der „technologically competent" mit den „technologically superfluous“, wie McGovern sie 1972 repräsentierte, zur Mehrheitsbildung durchaus in der Lage sein. In Gebieten, wo der Wandel der Sozialstruktur besonders weit vorangeschritten ist, erwies sie sich bereits als mehrheitsfähig. Die Wahl von John Lindsay zum Bürgermeister von New York im Jahre 1969 ist ein Beispiel dafür Auf nationaler Ebene verfügt eine solche Koalition gegenwärtig jedoch noch über keine Mehrheitsbasis in der amerikanischen Wählerschaft. Sollte sie sich dennoch endgültig herausbilden, dürfte sie sich zumindest in der nahen Zukunft eindeutig in der Position der Minderheitspartei befinden. Mehrheitspartei dürfte hingegen die Partei werden, die sich in ihrer Programmatik am konsequentesten auf die anti-liberalen und konservativen Einstellungen von Middle America ausrichtet.
Die Frage, welche der beiden Parteien dies sein wird, ob Republikaner oder Demokraten, dürfte noch offen sein. Einiges spricht jedoch gegenwärtig dafür, daß sich tatsächlich parteipolitisch eine republikanische Mehrheit formiert, wie dies bereits für die Wahl von 1968 formuliert worden ist Wenngleich Nixon als Kandidat zur Wiederwahl an der Spitze der Washingtoner Exekutive stand, gelang es ihm doch, sich in der Perzeption der Wählerschaft von seiner Administration und den gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu lösen. Der . Amtsinhaber'Nixon präsentierte sich der Wählerschaft erfolgreich als Antagonist des traditionellen Liberalismus, wobei er nicht zuletzt von der Nicht-Kandidatur von George Wallace profitierte, der ihm diese Position sicherlich in der allgemeinen Wahl hätte streitig machen können. Nixon übernahm dann auch während des Wahlkampfes in einigen der politischen Streitfragen, wie etwa dem „busing issue", sehr geschickt dessei Programmatik. Ob er jedoch seine politische! Entscheidungen in seiner zweiten Amtsperio de der konservativen Grundhaltung voi Middle America in einem solchen Maße an passen wird, daß sich die Wähler, die siel 1972 wesentlich aufgrund der Alternative Ni xon—McGovern in einer Art Negativ-Wah für ihn entschieden haben, dadurch veranlaß sehen, ihre Parteipräferenz endgültig zugun sten der Republikaner zu verändern, bleib abzuwarten
Andererseits ist es aber auch mehr als fraglich, ob die Kräfte, die McGovern zur Kandidatur verhalfen, sich weiterhin als Mehrheitsgruppierung in der Demokratischen Partei werden behaupten können. Allerdings verfüg!
die liberale Gruppierung nicht zuletzt ir den von ihr durchgesetzten innerparteilicher Reformen über eine institutionelle Absicherung, die eine Wiederholung ihres Nominierungserfolges auch in Zukunft möglich erscheinen läßt. Sollten sich die Demokraten tatsächlich zu einer Wählerkoalition der „technologically competent" und „technologically superfluous" umbilden, würde dies zweifellos zu einer republikanischen Mehrheit im Parteiensystem führen. Aber auch hier sprechen eine Reihe von Anzeichen dafür, daß sich die Demokraten, die gegenwärtig vornehmlich von den Kongreßfraktionen beider Häuser repräsentiert werden, der mehrheitlich konservativen Grundstimmung der Wählerschaft anpassen. Die Auseinandersetzung um die innerparteilichen Reformen, ihr Bestand oder ihre Aufhebung, werden Aufschluß darüber geben, in welche Richtung sich die Demokratische Partei und damit auch das Parteiengefüge entwickelt
Rainer-Olaf Schultze, geb. am 6. Oktober 1945, Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Die Wahl der Parlamente". 1971/1972 Forschungs-und Studienaufenthalt an der Harvard University, Cambridge/Massachusetts. Veröffentlichungen: Verschiedene Beiträge zum Handbuch „Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane", hrsg. von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Redaktion von Dieter Nohlen, Bd. I: Europa, 2 Halbbände, Berlin 1969; gemeinsam mit Bernhard Vogel und Dieter Nohlen „Wahlen in Deutschland. Theorie—Geschichte—Dokumente, 1848— 1970", Berlin/New York 1971; gemeinsam mit Dieter Nohlen „Die Bundestagswahl 1969 in wahl-statistischer Perspektive", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 51— 52/1969.
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