Politische Geographie und Geopolitik Ihre historisch-politisch bedingte Entwicklung und neue Forschungsansätze am Beispiel der Vergroßstädterung | APuZ 12/1973 | bpb.de
Politische Geographie und Geopolitik Ihre historisch-politisch bedingte Entwicklung und neue Forschungsansätze am Beispiel der Vergroßstädterung
Detlef Herold
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Zusammenfassung
Die Geopolitik ist aufgrund ihrer teilweise unkritischen Anlehnung an die nationalsozialistische Politik („Lebensraum") diskreditiert. Darüber hinaus halten einige ihrer Methoden wissenschaftlicher Kritik nicht stand (Biologismus, Determinismus). Sie ist wissenschaftlich „tot", aber im journalistischen Sprachgebrauch „lebendig". Die politische und wissenschaftliche Ächtung der Geopolitik hat auch die wissenschaftliche „Lebenskraft" ihrer Basiswissenschaft — der Politischen Geographie — empfindlich getroffen. Letztere gehört zwar weiterhin zum Kanon der geographischen Teildisziplinen, führt aber ein wissenschaftliches Schattendasein. Als Kriterien einer zeitgemäßen Politischen Geographie werden vom Verfasser vorgeschlagen: Das Objekt der Politischen Geographie ist die Politik. Entscheidend — und unterscheidend zu den anderen Wissenschaften, die Staat und Politik untersuchen — ist dabei die Methode, d. h. die raumanalytische Sichtweise. Die Politische Geographie erforscht sowohl die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf Struktur und Entwicklung des Raumes als auch die Beeinflussung der Politik durch die im Raum wirksamen Kräfte. Die Vergroßstädterung (im Sinne eines wachsenden Anteils der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Gebietes) ist der quantitative Ausdruck eines sozioökonomischen Prozesses, der in den beiden letzten Jahrzehnten weltweite Dimensionen angenommen hat und der die gesellschaftliche, wirtschaftliche und räumliche Struktur der Staaten grundlegend verändert. Für die nähere Zukunft ist keine Abschwächung des globalen Verstädterungs-und Vergroßstädterungsprosesses zu erwarten. Im Jahr 2000 werden nach mittlerer Schätzung in den Städten der Welt (mit 20 000 und mehr Einwohnern) statt der gegenwärtig (1970) rd. 1 120 Mio. bereits rd. 2 120 Mio. Menschen leben. Während heute die Entwicklungsländer aber ebenso wie die Industrieländer eine städtische Bevölkerung von rd. 560 Mio. Menschen haben, werden es dann rd. 1 260 Mio. zu rd. 860 Mio.sein. Als wesentlichste Folge-und Begleittrends werden die sich vorläufig nicht abschwächende „Bevölkerungsexplosion" und das wachsende weltwirtschaftliche Nord-Süd-Ungleichgewicht gesehen. Umweltverschmutzung und Finanzmisere sind weltweite großstadtspezifische Zentral-probleme. Eine latente Gefahr ist die Krisenanfälligkeit. Für die Industriestaaten ist zusätzlich der innerstädtische Verkehr und für die Entwicklungsländer sind die Arbeitslosigkeit, das Ausbildungsproblem und das Wohnungselend in den großen Städten als weitere Problembereiche hervorzuheben.
I. Entwicklung und Stand der Politischen Geographie und der Geopolitik
Würde heute eine Meinungsumfrage darüber veranlaßt werden, welcher der Begriffe „Geopolitik" oder „Politische Geographie" in der Öffentlichkeit besser bekannt ist — zweifellos könnte die Geopolitik ein größeres Maß an Popularität für sich verbuchen. Und das, obwohl sie weder gelehrt wird, noch die einzige einschlägige Zeitschrift („Zeitschrift für Geopolitik") eine bemerkenswerte Resonanz hat. Das einprägsame Wort „Geopolitik" wird durch seine Weiterverwendung im anglo-amerikanischen Bereich und seine allgemeine Verbreitung in den 20er bis 40er Jahren in Deutschland zumindest als Begriff lebendig gehalten. Geographie dagegen wird an nahezu allen Universitäten und Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland gelehrt. Die Politische Geographie führt jedoch gegenwärtig nicht nur im Bewußtsein der Öffentlichkeit, sondern auch in der westdeutschen wissenschaftlich-geographischen Literatur und Diskussion ein Schattendasein. Sie wird zwar stets im Kanon der geographischen Teildisziplinen aufgeführt, es erscheinen hin und wieder Abhandlungen und selbständige Publikationen; sie wird — zumindest in West-Berlin, Bochum und Würzburg — gelehrt, aber im eigentlichen Sinne wissenschaftlich lebendig ist die Politische Geographie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr.
Anders ist die Situation im anglo-amerikanisehen Bereich. In den USA setzte eine stärkere Entwicklung der Politischen Geographie (unter Berücksichtigung der Geopolitik) erst mit und nach dem Zweiten Weltkrieg ein; die wissenschaftliche Diskussion ist lebhaft und beachtenswert, immer wieder werden Lehrbücher herausgegeben und neu aufgelegt. Ch. A. Fisher kennzeichnet diese Lage der Politischen Geographie in der westlichen Welt wie folgt: „In Germany itself it seemed that political geography ... had committed suicide, and in virtually all other Western countries except the United States, where its relevance to the new American role in world affairs was at least partially recognized, it remained under a cloud of suspicion which has by no means wholly dispersed even today."
Die Frage, wie es zu diesen unterschiedlichen Entwicklungen kommen konnte, stellt sich damit fast von selbst. Neben den zeitgeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Ursachen ist aber auch zu untersuchen, ob trotzdem wissenschaftstheoretische Fortschritte zu verzeichnen sind, die für einen zeitgemäßen Neuansatz übernommen werden könnten. Diese Analysen und insbesondere die resultierende Synthese stellen gleichzeitig die Grundgedanken dar, von denen aus die Vergroßstädterung als politisch-geographisches Problem untersucht werden soll. 1. Die politisch bedingte Belastung der Politischen Geographie und der Geopolitik Seit ihrer Begründung durch Friedrich Ratzel war die Politische Geographie bis 1945 ein lebendiges und viel diskutiertes Teilgebiet der wissenschaftlichen Geographie. Dabei arbeiteten Geographen wie F. von Richthofen, A. Hettner, O. Maull u. a. nicht unberührt von der aktuellen Politik, sie nahmen wie Richthofen mit seiner Schantung-Arbeit (1898) sogar Einfluß auf politische Entscheidungen. Doch mit der Aufgeschlossenheit für politische Fragen und für die geistige Zeitströmung ist eine Wissenschaft stets auch der Gefahr ausgesetzt, ihren objektiven Standpunkt nicht behaupten zu können und selber zum Objekt der Politik zu werden. So erging es im Dritten Reich auch der Politischen Geographie durch die Geopolitik, ihren „entarteten Sproß".
Beide, Politische Geographie und die sich aus ihr in den 20er Jahren entwickelnde Geopolitik, erhielten wesentliche Impulse durch die infolge des Ausgangs des Ersten Weltkrieges entstandenen nationalen Probleme: Verlust der Kolonien, neue Staatsgrenzen Ver und -lust von Teilen des Staatsgebietes. Die Geopolitik mehr Fahrwasser jedoch immer in das der Politik und übernahm seit Beginn der -30er Jahre zunehmend nationalsozialisti sches Gedankengut. Die Geographen bemerkten die Gefahr und zogen sich von der Geopolitik zurück — und in der Folge auch von der Politischen Geographie.
Der eigentliche Begründer der Geopolitik in Deutschland war Karl Haushofer. Mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen hat er seine „Kunstlehre" vertreten und verbreitet. Er lehrte als Professor der Geographie von 1921 bis 1939 in München. Sein Sohn Albrecht Haushofer, der seit 1940 Professor für Politische Geographie in Berlin war und im Zusammenhang mit der Widerstandsbewegung des 20. Juli im April 1945 von der Gestapo erschossen wurde, charakterisiert die Entwicklung und Fehler der Geopolitik wie folgt:
„Angeregt von Ratzel wie von Kjellen, entscheidend angetrieben durch die Erfahrungen des Weltkrieges und der Friedensverträge von 1919, hat sich dann die neueste Politische Geographie und Geopolitik in Deutschland entwickelt. Geographen ursprünglich naturwissenschaftlicher Schule, wie Penck, Supan, Sieger und Hettner, Obst, Maull und Lautensach, wandten sich politisch-geographischen Fragestellungen zu; die politische Selbstbehauptung des deutschen Volkes forderte zweckbestimmte Arbeit der Wissenschaft in der Auseinandersetzung um Grenzen und Lebensraum. In ihrem Dienst wurde der Begriff Geopolitik durch Karl Haushofer übernommen, an Hand asiatisch-pazifischer Beispiele ausgebaut und in enge Verbindung mit außen-und kulturpolitischen Aufgaben gebracht. ... Doch entging die Geopolitik nicht völlig jenen Gefahren, denen jede neuartige Lehre mit starkem äußeren Erfolg und beträchtlicher unmittelbar-politischer Wirkung gegenübersteht ... : Einseitigkeiten der Betrachtungsweise etwa im Sinne eines übersteigerten geographischen Determinismus oder jener ... Organismus-Theorie des Staates wurden nicht immer vermieden . . . Endlich führte die Übernahme schlagkräftiger, von der Geopolitik entwikkelter oder geprägter Ausdrücke (z. B. „Lebensraum") in den außenpolitischen Tages-kampf und damit zu weltweiter, wenn auch nicht mehr wissenschaftlicher Auswirkung da -hin, daß ein notwendiges Verfeinern ihrer Anwendung gerade bei den wichtigen Grundbegriffen unterblieb." Die Geopolitik paßte sich immer mehr „den Bedingungen politischen Wollens" an und verlor zunehmend die Mitarbeit der wissenschaftlichen Geographie
Einer der Antipoden K. Haushofers war der Berliner Geograph und Wehrwissenschaftler O. von Niedermayer, der als gemeinsamen Ausgangspunkt für Politische Geographie und Geopolitik den je nach der Problemlage wechselnden Lagewert sieht: „Weil
die aus der physischen Erdkunde hervorgegan-gene politische Geographie zu wenig dem politischen Wechsel Rechnung trug, zu sehr statisch war und geblieben ist, setzte Haushofer sich in seiner Geopolitik von ihr ab, um in seiner Lehre die Wandelbarkeit politischer und militärischer Raumwerte, das dynamische Element besser zum Ausdruck bringen zu können." Es kommt also entscheidend „auf die politische Ausgangslage" an, „ob bestimmte geographische Objekte und welche unter ihnen . . . eine Rolle spielen". In der Wertung der geographischen Faktoren und des Einflusses menschlicher Willenshandlungen lag die entscheidende Fehlerquelle vieler falscher Aussagen der Politischen Geographie und der Geopolitik.
Niedermayer will dem „Politischen Geographen" dagegen nur zugestehen, daß er das Recht habe, zu warnen, „wenn eine Über-schätzung menschlicher Willenshandlungen zu einer Unterschätzung erdräumlicher Gegebenheiten, zu einer Außerachtlassung des Verhältnisses von Raum, Zeit und menschlicher Kraft führen . . . ; er wirkt aber nicht überzeugend und schadet seiner eigenen Sache, wenn er einseitig geographische Einflüsse in den Vordergrund stellt und erdräumliche Eigengesetzlichkeiten nachzuweisen sucht“ Damit können wir als wesentliche Ursachen des Scheiterns der Geopolitik festhalten:
Der solide wissenschaftstheoretische Ausbau wurde im Interesse kurzfristiger tagespolitischer Effekte vernachlässigt, die kritisch-objektive Distanz gegenüber politischen „Erfordernissen" nicht eingehalten. Geographischer Determinismus und die Lehre vom Staat als Organismus entsprachen zwar vorzüglich politischen Zielen des Nationalsozialismus, disqualifizierten aber die Geopolitik als Wissenschaft.
Wie groß der Einfluß der Geopolitik auf die nationalsozialistische Politik wirklich war, ist bisher nicht geklärt worden. G. Fochler-Hauke schreibt dazu: „Die fehlgeleitete Geopolitik hat . . . zwischen 1933 und 1945 nie die Stellung eingenommen, die ihr von manchen ausländidischen Kritikern zugeschrieben wurde, wie auch K. Haushofer nie einen tieferen Einfluß auf die nationalsozialistische Politik besessen hat." Tatsache aber ist, daß die Geopolitik nach 1945 von den Siegermächten unisono geächtet wurde und die Geographen auch die anrüchig gewordene Politische Geographie „wie eine heiße Kartoffel" fallen ließen, sofern sie sich nicht schon vor 1945 von ihr ab-gewandt hatten. Die Geographie zog sich in den humboldtschen Elfenbeinturm der zweck-freien Wissenschaft zurück. Die gegenwärtige Politische Geographie hat sich von diesen zeitbedingten Belastungen noch nicht befreien und zu einem neuen Anfang finden können. Sie ist gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit der Geopolitik, dem historisch-geographischen sowie dem wissenschaftshistorischen Ansatz und die geringe Bereitschaft der Geographen, sich mit der Politischen Geographie überhaupt zu befassen. Für dieses mangelnde Interesse nimmt Schöller den „Abbruch der Wissenschaftstradition" und die „psychologische Abneigung bei den Jüngeren" sowie den Ausbau der Kulturgeographie einschließlich der Sozialgeographie als Gründe an Zu ergänzen ist diese Aufzählung durch die sich erneut etablierende Raumforschung und die in ihren Ursachen bereits dargestellte „psychologische Abneigung bei den Älteren", denn zumindest bis Ende der 60er Jahre erfolgten die Entscheidungen über die Programme von Forschung und Lehre durch die Älteren und nicht durch die Jüngeren oder Lernenden. Denn daß bei den Letzteren ein sehr großes Interesse an der Erforschung politischer Vorgänge vorhanden war, zeigt das Aufblühen der Politischen Wissenschaft. Gerade die Frage, warum die Geopolitik scheiterte, wäre ein methodologisch und zeitkritisch weiterführender Ansatz gewesen. 2. Geopolitik heute Unter den zeitgenössischen Vertretern der Geopolitik ist zunächst O. Maull zu nennen. Geopolitik ist nach Maull „Angewandte Allgemeine und Spezielle Politische Geographie" Sie ist „die Lehre von den politischen, staatlichen Raumerfordernissen. Mit dieser Wendung zu dem Praktischen hebt sie sich in entscheidender Weise ab von der Politischen Geographie, der Lehre von den Raumgegebenheiten des Staates, die sie nach seinen Elementen ebenso statisch wie dynamisch analysiert, so daß in der Hinsicht kein Unterschied zwischen Politischer Geographie und Geopolitik besteht." Doch sind die Raumgegebenheiten wie Lage und Wirtschafts-
Struktur noch nicht geopolitisch. „Erst wenn die einfachen Gegebenheiten auf Grund politisch-geographischer Erkenntnisse mit einem bestimmten Wert in eine politische Rechnung eingesetzt werden, gewinnen sie geopolitische Bedeutung." Ihre Erkenntnisse dienen einem Staat, der als Raumwesen, als Raumorganismus verstanden wird, da er eine „Bindung mit dem Raum" eingegangen sei. Als Organismus habe dieses Raumwesen die Eigenschaft, zu wachsen, dabei stößt es auf das Wachstums-streben der anderen Staaten, wodurch es zum „Kampf der Räume" kommt und „eigentümliche Raumkampfgestalten" entstehen Es ist nicht zu leugnen, daß sich dieser angesehene Geograph auch nach 1945 aus den Schlingen des Determinismus und Biologismus nicht lösen konnte.
Für A. Grabowsky ist der Raum eine Geschichtskraft. Er will den Raum nicht nur als Objekt („Raumüberwindung"), sondern vor allem „als Subjekt, als die historische Entwicklung eminent beeinflussende Kraft" gesehen wissen „Die Geopolitik, zur wissenschaftlichen Politik, nicht zur Geographie gehörig, untersucht den bewegten Staat im Verhältnis zum bewegten Raum, untersucht das Politik und Geschichte angehörige Raumschicksal, dem der Staat entweder unterliegt, oder das er überwindet. Als Methode . .. zum Verständnis des Staates betrachtet sie ihn von der räumlichen Seite, aber es ist der ruhelose Raum, der Raum in seiner Dynamik" Geopolitik ist für Grabowsky eine historische Methode, mit „naturwissenschaftlichem Grundcharakter", die in „wissenschaftlichem Geiste" zu betreiben sei. Dagegen sei Politische Geographie eine rein deskriptive Wissenschaft. Auch bei Grabowsky schimmert die Idee des Staates als Raumorganismus durch, wenn er meint, „alle Staatsentfaltung steht unter dem Gesetz des Fortschreitens von engen zu weiten Räumen ..."
Letztlich gipfeln aber „alle geopolitischen Einsichten ... in der Lehre von den Schicksals-und Deckungsseiten der Staaten"; es geht dabei um das Problem, „wo die entscheidenden Konflikte mit der Außenwelt drohen und wo .. .demgegenüber Schutz und Sicherheit" zu finden sind Aus dieser Lehre folgt politisch die vom Druck und Gegendruck, militärisch die der Aufmarschpläne. Hieraus wiederum muß sich die Geostrategie ergeben.
Diese wenigen Zitate mögen genügen, um zu zeigen, daß auch Grabowsky sich von den bereits erwähnten Grundfehlern der Geopolitik nicht lösen kann: zu einseitige machtpolitische Sichtweite des Staates, Organismustheorie, raumdeterministische Sichtweise. Dabei sind diese Gedanken natürlich nicht schlichtweg falsch, sondern ihre Verabsolutierung führt zu falschen Akzenten und Kausalitäten. Jeder souveräne Staat treibt heute wie früher auch Machtpolitik, ohne Macht kann Politik nicht realisiert werden. Desgleichen sind beispielsweise Raumlage und naturgeographische Raumfaktoren (Bodenschätze, Klima usw.) wesentliche Grundlagen für Wohlstand und Entwicklungsmöglichkeiten eines Staates, ohne aber mehr als eben „Möglichkeiten" zu eröffnen. Und schließlich verändern sich immer wieder Grenzen von Staatsräumen, doch sie müssen keineswegs nur expansiven Trends unterliegen.
Wiederholt hat sich P. Schöller mit der Geopolitik auseinandergesetzt. Er lehnt den Begriff „Geopolitik" — da er zu sehr vorbelastet sei — und deren Methoden und Ziele ab. „Die Geopolitik wird heute weder als eigenes Fach noch als Wissenschaft anerkannt. Dabei ist nicht zu bestreiten, daß sich aus einer vertieften geographischen Betrachtung der Staaten-welt und des politischen Lebens Erkenntnisse auch für die Politik selbst gewinnen lassen. Erkenntnis bedeutet jedoch nicht Gesetzmäßigkeit. Der falsche Ansatz der Geopolitik liegt darin, daß sie die Naturfaktoren, die immer nur indirekt über Zwischenglieder vermittelt zum — keineswegs bestimmenden — Ausdruck kommen, in direkte Beziehung zum Staat und politischen Leben setzt, überbewertet und dabei nach Gesetzmäßigkeiten und Richtlinien des politischen Handelns strebt. In jedem Anspruch der Geopolitik, zwangsläufiges Geschehen vorauszusagen, enthüllt sich ein Determinismus, den die Politische Geographie längst überwunden hat und dessen gefährliche Tendenzen zu bekämpfen sind."
Schöller sieht als „entscheidende Grenze zwischen Politischer Geographie und Geopolitik ... nach wie vor die Scheide zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktisch-propagandistischer Anwendung, Tendenz und Prognose"
C. Troll schließt sich Lautensachs und K. Haushofers Unterscheidung an, wonach die Denkweise „in der Politischen Geographie mehr statisch auf Zustände, in der Geopolitik dynamisch auf die Vorgänge gerichtet" sei Letztlich lehnt aber auch Troll die Geopolitik für die Gegenwart ab: „Die großen politisch-geographischen Probleme der Völker und Staaten werden sich auch durch die bewährten Methoden der Staats-, Gesellschafts-und Wirtschaftswissenschaften, der Geschichte, Geographie und Völkerkunde bewältigen lassen und für Fragen, die so alt sind wie die Geschichte der Staatenbildung, keines neuen Schlagwortes bedürfen."
Die Geopolitik wird — soweit sie unkritisch unter dem Einfluß des Nationalsozialismus stand — von allen genannten Autoren abgelehnt. Doch nicht alle gehen in ihrer Kritik so weit wie Schöller u. a., vielmehr versuchen A. Haushofer, Troll, Fochler-Hauke u. a. stärker zu differenzieren.
Gerade in der Gegenwart bemüht sich die Geographie um ein neues, praxisnäheres Selbstverständnis und um eine dynamische Betrachtungsweise — und eben das strebte auch die Geopolitik an, da sie bei der Politischen Geographie nur eine statische und deskriptive Betrachtungsweise des Staatsraumes vorfand. Damit käme der Geopolitik eine gewisse Aktualität zu, sie könnte anregend wirken. Aber auch das Scheitern der Geopolitik kann von der (Politischen) Geographie als Positivum gesehen werden: es sollte ihr eine Warnung, aber keine Abschreckung sein. Eine Warnung vor der Gefahr, durch zu konse-quente Anlehnung an die Tagespolitik den wissenschaftlich-objektiven Status zu verlieren, aber keinesfalls eine Abschreckung vor der notwendigen Entscheidungshilfe durch raumanalytische Untersuchung politischer Probleme. 3. Politische Geographie heute A. Haushofer nannte sein 1951 als Nachlaß erschienenes Werk programmatisch „Allgemeine Politische Geographie und Geopolitik". Bedauerlicherweise blieb es ein Torso, der gleichwohl schon als solcher mehr Aufmerksamkeit seitens der geographischen Wissenschaft verdient hätte, als ihm zuteil wurde.
Haushofer versucht eine Synthese zwischen den beiden verfeindeten Forschungsgebieten herbeizuführen, indem er als den „Wesenskern" beider die Fragestellung nach den „Wechselbeziehungen zwischen der räumlichen Umwelt des Menschen und seinen politischen Lebensformen" herausstellt. Er löst sich vom zu engen Begriff des Staates als Objekt der Politischen Geographie, denn dieser sei nur eine der politischen Lebensformen. Dabei sollen die Probleme der reinen Wissenschaft von der Politischen Geographie und die der angewandten Wissenschaft von der Geopolitik erarbeitet werden. „Eine strenge Scheidung im Ausdruck wird sich niemals durchführen lassen."
Die politischen Lebensformen entstehen aus den menschlichen Gruppen und Gemeinschaften. Die wichtigsten gruppenbildenden Merkmale sind die des Blutes (Rassen); des Alters und der Zeit; der Sprache; der Wirtschaft; der Sitte, des Rechts und der Herrschaft; des Glaubens. „Jede geschichtliche Lage hat eine oder mehrere Gliederungsformen des menschlichen Lebens, die dominant (vorwaltend) sind." Die überdeckten können weiterleben und zu anderer Zeit und/oder in anderem Raum hervortreten und herrschen. „Die jeweils vorwaltenden Gliederungsformen . . . (werden) . .. als politische Lebensformen empfunden . . . Sie sind politische Lebensformen, weil (und soweit) sie als normensetzende, für Vielheiten von Menschen verpflichtende Ordnungen empfunden werden."
Aufgabe wissenschaftlicher Betrachtung sei es, die Wechselbeziehungen zwischen diesen politischen Lebensformen und ihrer räumlichen Umwelt zu untersuchen. Dabei sind die „TeilUmwelten" im Rahmen des gesamten Lebensraumes der Erde zu sehen. Stets war die Erde als Ganzes der Lebensrahmen und Lebensraum der Menschheit. Soweit A. Haushofer, der diese noch heute als zeitgemäß zu wertenden Gedanken bereits Anfang der 40er Jahre entwickelte.
Nach O. Maull sind „Allgemeine und Spezielle Politische Geographie ... Grundlagenforschung, die den Staat und die Staaten ohne jede andere Absicht nach geographischen Methoden untersucht" Die Politische Geographie hat „den Staat im Raum und in seiner Erdbezogenheit zu untersuchen, modern gesehen den Staat in der Landschaft, als Landschaftsgestalter und schließlich auch als umfassendes, übergeordnetes Landschaftsbild zu betrachten ..." Im einzelnen soll die Politische Geographie erforschen: die „physischen Wurzeln des Staates"; die „Träger des Staates und seine Kulturlandschaft"; den Staat als „eine der gestaltenden Kräfte der Kulturlandschaft"; die Bedeutung einzelner Kulturlandschaftselemente für den Staat; die Entstehung einer Nation und ihrer kulturbedingten Lebensformen; Rassengegensätze; übernationale Zusammenschlüsse; die Binnengliederung der Bundesstaaten. Vor allem aber sollen Monographien geschrieben werden, in denen die Grenz-, Hauptstadt-und Raumordnungsprobleme besondere Beachtung finden müssen
Für P. Schöller ist die Politische Geographie ein „Teilgebiet der geographischen Wissenschaft"; besonders eng sieht er ihre Bindung an die „Sozial-und Kulturgeographie, der sich die Politische Geographie als legitimes Teil-gebiet einordnet" Ohne eine ausgesprochene „sozial-geographische Bindung" befürchtet er sogar „das Ende einer Politischen Geo-graphie" — in diesem Fall ist Maulls Buch von 1956 gemeint „Das Zeitalter des Nationalismus . . . vernachlässigte die geistigen und vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Gruppen und Klassen in ihren räumlichen Bezügen und Auswirkungen. Die funktionale und dynamische Betrachtungsweise der modernen Geographie sieht jedoch gerade in der Erforschung dieser bisher nur unzureichend berücksichtigten sozialgeographischen Elemente die besondere Forderung der Zeit."
Durch diese neue Orientierung wird die „Erforschung der physio-geographischen Grundlagen und Bedingungen mit ihren Möglichkeiten und Anreizen im Hinblick auf die Staatenwelt ... an Gewicht verlieren müssen ... Die eigentliche Auseinandersetzung des Staates ... bezieht sich vor allem auf schon geschichtlich geprägte Lebens-und Organisationsräume der Menschheit .. . Wandlungen von Lagewerten und geschichtlichen Schwerpunkten, Umstrukturierungen im Wirtschaftspotential, Wertveränderungen im Gefüge der Länder und Landschaften, Auswirkungen geistiger Bewegungen und vieles andere werden dabei Dynamik und Beharrung erkennen lassen und die Frage nach den treibenden Kräften stellen, .. . die besonderen zeitlichen und räumlichen Ausdrucksformen des , Staatsvolkes'und des . Kulturvolkes'sowie ihr Verhältnis zur Staatsidee zu erforschen und sie mit den anderen soziographischen Elementen in Beziehung und Vergleich zu setzen."
Schöller stellt wie Maull Hassingers Gedanken vom „Staat als Landschaftsgestalter" (1932) heraus: „Nicht in erster Linie den Staat und das politische Handeln gilt es geographisch zu deuten, sondern die auf die Kulturlandschaft einwirkenden politisch-geographischen Kräfte zu erfassen und ihre landschaftsgestaltenden und funktionalen Auswirkungen zu erforschen."
Diese Überlegungen baut er in seine Vorstellungen einer zeitgemäßen Politischen Geographie ein. Sie soll sich in einen allgemeinen und einen regionalen Zweig gliedern: „Ebenso wie Grenzen, innerstaatliche Gliederung und Hauptstädte gehören zum Arbeitsgebiet der Allgemeinen Politischen Geographie die Erforschung staatlicher Lagebeziehungen, Kern-und Randlandschaften, Relikt-, Entwicklungs-und Ergänzungsgebiete, der Wechsel der politischen Schwerpunkte, die Berücksichtigung militärischer Anlagen und Wirtschaftsbeziehungen sowie Gesichtspunkte einer politisch bestimmten Verkehrsgeographie und länderkundliche Analysen von Staatsräumen . . . Ziel der regionalen Politischen Geographie wird es schließlich sein, die politisch organisierten Räume genetisch, strukturell und funktional zu erforschen, in der Vereinigung ihrer charakteristischen politisch-geographischen Merkmale als Ganzheiten zu erfassen und für die Länderkunde fruchtbar zu machen."
Wir sehen, daß Schöller auf Hassinger und Maull aufbaut, aber auch geopolitische bzw. wehrgeographische Gedanken („Wandlungen von Lagewerten und geschichtlichen Schwerpunkten") übernimmt. Ein besonderes Anliegen ist ihm „die innere Durchdringung von sozialgeographischer, landeskundlicher und politisch-geographischer Problemstellung in Einzeluntersuchungen"
Unter den Nachkriegs-Geographen hat neben Schöller auch W. Czajka den direkten Versuch gemacht, die „ziemliche Verwirrung" des „wissenschaftlichen Arbeitsfeldes der Politischen Geographie" durch eine theoretische Grundlegung zu klären. Er sieht den Ansatz für den Neubau der Politischen Geographie in der „Analyse des Ratzeischen Werkes und seiner Weiterwirkung" Czajka meint, Ratzels biologisierende Methode, die noch ganz dem Evolutionismus verhaftet war — Staat als Organismus, Wachstum und Bewegung von Staaten —, sei heute nicht mehr tragfähig. Insbesondere führe die „Anwendung des Evolutionismus auf die Staatswesen" zum falschen „Entwicklungsdeterminismus"
Czajka lehnt auch den Rückgriff auf die Geschichte als Methode ab. „Die Politische Geo-graphie ist durch die völkerrechtlichen Bezüge der Staaten soweit an normative Voraussetzungen gebunden, daß die geschichtliche Auf-sammlung von Tatsachen als Beweismaterial methodisch einen groben Mißgriff darstellt." Er lehnt also Folgerungen aus der Geschichte für die Gegenwart ab, bejaht aber die Untersuchung geschichtlicher Vorgänge unter geographischer Fragestellung und weist sie der (politisch-) historischen Geographie zu. Meist würde es aber Universalgeschichtsschreibung oder „geographische Geschichte" sein.
Insgesamt urteilt Czajka über Ratzels politisch-geographisches Werk: „Das Werden des Staates erscheint als evolutive Notwendigkeit; dies war zudem durch Multiplikation der Tatsachen auf geschichtlichem Wege hinreichend durch beweisende’ Beispiele belegt; der physische Determinismus war ... an sich ausgeschaltet, aber durch den wissenschaftlich viel bedenklicheren Entwicklungsdeterminismus ersetzt worden. Durch die Anschauung des 19. Jahrhunderts in jeder Beziehung abgestützt, war Ratzels Politische Geographie ein durchaus systematisches Werk von hohem, wenn auch stark normativem Ideengehalt und daher eine Zeichnung des politischen Bildes seiner Zeit unter räumlichen Gesichtspunkten."
Dieser Analyse läßt Czajka Anregungen für die Politische Geographie folgen: „Wenn Politische Geographie einen Gegenwartssinn haben soll, so hat sie ihr Interesse auf Gegenwartsaufgaben auszurichten, beispielsweise auf die Entschärfung des indirekten (wirtschaftlichen) Imperialismus bzw. die Liquidierung der wirtschaftlichen Nachwehen des kolonialen Zeitalters, soweit diese Probleme wegen ihrer Volk-Raum-Bezüge geographisch beleuchtet werden können." Vor allem soll sie Grenz-und Minderheitenfragen in politisch-geographischen Monographien und regionalen politisch-geographischen Abhandlungen nachgehen. Eine allgemeine Politische Geographie hält Czajka für entbehrlich. Sie ist für ihn „mehr eine eingeschlossene, grundsätzlich zu beachtende Fragestellung als ein Abschnitt der Allgemeinen Geographie"
M. Schwind hat in einem kürzlich publizierten Beitrag den Inhalt der Politischen Geographie stark eingeschränkt. Er macht Hassingers Gedanken vom „Staat als Landschaftsgestalter" zum Kernproblem seiner „Politischen Geographie in neuer Sicht", die nurmehr eine „Geographie der Staaten" ist: „Der Staat als ein von geographischen, sozialen und wirtschaftlichen Potenzen erfüllter Raum und der Staat als kulturlandschaftlicher Faktor ..." Doch den ersten Teil dieser „kürzesten Formel für den Inhalt einer Staatengeographie" beachtet Schwind später kaum; denn seiner Meinung nach begreift die Politische Geographie „die geographische Umwelt als Herausforderung an den Staat, und sie erforscht die Antworten, die der Staat in seinen wechselnden historischen Situationen seiner Landschaft anheimgegeben hat" Die einzig typisch echte politisch-geographische Fragestellung ist für Schwind „in welcher Weise sich die vom Staat gegebenen Antworten auf die Herausforderung der geographischen Umwelt landschaftlich, physiognomisch und funktional auswirken" Letztes Ziel soll eine „Typisierung der Staaten nach ihrer landschaftsprägenden Kraft" bzw. eine „Dominantenlehre" der Staaten „nach der Intensität ihrer landschaftlichen Prägekraft" sein.
Bei diesem Diskussionsstand symptomatischer Beiträge wissenschafts-systematisch verwandter Autoren scheint es geboten zu sein, eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen. Schon bei der Geopolitik mußten wir erkennen, daß eine kritische Weiterentwicklung nicht stattgefunden hat. Bei der Politischen Geographie scheint es — trotz der unvergleichlich besseren materiell-geistigen Voraussetzungen (geographische Forschung und Lehre) — nicht prinzipiell besser zu sein. Denn ein neuer originär politisch-geographischer Ansatz ist nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil, die Sichtweise ist retrospektiv. Zum Beispiel versucht man sich wissenschaftshistorisch an Ratzel zu orientieren, nimmt die Anregungen der neu entstandenen Sozialgeographie auf und erklärt Hassingers Gedanken vom „Staat als Landschaftsgestalter" letztlich zum Hauptinhalt der Politischen Geographie. Allenfalls in der Aufzählung der von der Politischen Geographie zu behandelnden Probleme tauchen neue, aktuelle Anregungen auf. Sicherlich, Bausteine sind vorhanden, aber ein systematisch zusammengesetztes Mosaik und die empirische Realisierung und Überprüfung der theoretischen Ansätze fehlen. Deswegen kann auch trotz der erwähnten Beiträge nicht von der Geographie als eines lebendigen Zweiges der wissenschaftlichen Geographie gesprochen werden. 4. A. Kühns Konzeption der Politischen Geographie Kühns Gedanken über eine „gegenwartsnahe Politische Geographie" nehmen — wie sich noch zeigen wird — innerhalb der westdeutschen Diskussion einer Sonderstellung ein. Sie haben ihren Ursprung in seiner Tätigkeit am „Institut für allgemeine Wehrlehre" der Universität Berlin, dessen Gründer und Leiter der Geograph von Im Ritter O. Niedermayer war.
geistig-wissenschaftlichen Selbstverständnis stand dieses Institut im Gegensatz zur Geopolitik und „außerhalb der ideologischen und politischen Zeitströmungen" und hatte echten interdisziplinären Charakter. „Hier wurden auf der Grundlage exakter Potentialanalysen die Voraussetzungen für eine wertfreie wehrpolitische Forschung gelegt. Die Untersuchungen fußten auf den Ergebnissen der Wehrgeographie, einer Fortbildung der .. . Politischen Geographie ... Dem wehrgeographischen Daten-system wurden eine oder mehrere . wehrpolitische Lagen'gegenübergestellt und aus der Kombination der Merkmale und der Beurteilung der Lösungsvarianten Erkenntnisse und Grundsätze für die praktische Wehrpolitik abgeleitet."
Als Charakteristika der Niedermayerschen politisch-geographischen Systematik können wir festhalten: interdisziplinäres Denken und multimethodisches Vorgehen; Wehrgeographie als normative, angewandte Politische Geographie, die ihre Normen einer angenommenen oder tatsächlichen Lage entnimmt; die wehr-geographische Untersuchung soll über eine „dynamische Synthese" mit „wehrpolitischen Schlußfolgerungen" abschließen; Determinismus und Biologismus sind überwunden.
Für Kühn ist die Politische Geographie „mehr als nur eine geographische Staatenbeschreibung", mehr als „eine beschreibende und erklärende Erkenntniswissenschaft". Sie „erforscht und lehrt die Zusammenhänge zwischen den räumlichen Gegebenheiten und den politischen Zuständen, politischen Vorgängen und politischen Entwicklungen". Sie ist „eine normative Wissenschaft und als solche imstande, der politischen Führung wie auch der politischen Schulung weiter Kreise zu dienen. Sie bedarf der Anwendung unterschiedlicher Methoden (Methodenpluralität) und der engen Zusammenarbeit mit den einschlägigen Nachbarwissenschaften, insbesondere mit der Politischen Wissenschaft, den Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, der Wehrwissenschaft und der Raumforschung."
Die „räumlichen Forschungsobjekte" der Politischen Geographie „können sowohl systematischer Art (z. B. allgemeiner Vergleich von Grenzen und Grenzsäumen) als auch regionaler Art" sein. Die „Raumobjekte" variieren von Gemeinden (lokale Untersuchungsgebiete), Landschaften und Regionen bis zu nationalen, internationalen und supranationalen, kontinentalen und globalen Dimensionen. Außerdem „umfaßt das Arbeitsfeld der modernen Politischen Geographie entsprechend der Aufgliederung der Politik in zahlreiche Sachbereiche — die sämtlich unmittelbar oder doch mittelbar raumbezogen sind" — diese „und deren Zusammenhänge, Beziehungen und Auswirkungen, z. B.der Innen-und der Außenpolitik, der Wirtschafts-, Verkehrs-und Agrarpolitik, der Bildungspolitik, der Landesverteidigung etc." Die „wirklichkeitsnahe Systematik" der Politischen Geographie geht von der Tatsache aus, „daß sich alles Leben im Raum und in der Zeit und als Entstehung, Entwicklung und Verbrauch von Kräften und Energien vollzieht". Somit „bilden Raum, Zeit und Kraft die konstitutiven Grundelemente" der Politischen Geographie.
Die Kategorie Raum gliedert sich in — Raumlage, — Raumgröße und Gestalt, — Physiogeographische Raumbeschaffenheit, — Anthropogeographischen Rauminhalt und — Raum-Synthese.
Zeit ist für die Politische Geographie vor allem „Zeitablauf; sie ist Vergangenheit (Gewordenes), Gegenwart (Zustand) und Zukunft (Entwicklung)" — „wobei die Politische Geographie sowohl die historische Betrachtung (Historische Politische Geographie) als auch die Zukunftsforschung als immanenten Bestandteil ihres Wesens betrachtet". Sie unterscheidet dabei die nahe, die mittlere und die ferne Zukunft. „Außerdem hat sie die Auswirkung des Zeitablaufs zu berücksichtigen: Entwicklung und Zuwachs und Verbrauch und Verzehr von Kräften."
Unter Kraft (Kräfte) versteht die Politische Geographie — die Bevölkerung und ihre Verteilung im Raum, die sie nach biologischen (Zahl, Altersaufbau, Bevölkerungsbewegung u. a.), sozio-ökonomischen (Berufsgliederung, Wanderungen u. a.) und völkerpsychologischen (Nationalitäten, Stämme u. a.) Gesichtspunkten betrachtet; — die Wirtschaft in ihren primären und sekundären Erscheinungsformen, ihrer Verteilung im Raum, nach Uberschuß und Zuschußgebieten; — die tertiären Wirtschafts-und Verwaltungsformen (Verkehr, Versorgung, Verwaltung einschließlich Ermittlung von Aktiv-und Passivräumen, Banken, Handel, Fremdenverkehr usw.); — die öffentlichen Finanzen in ihrer räumlichen Auswirkung;
— die kulturellen Gegebenheiten;
— die auswärtigen Beziehungen (Bündnisse, Wirtschaftsgemeinschaften usw.).
Alle diese Faktoren sieht die Politische Geographie „in ihren Beziehungen zum Raum, also in geographischer Betrachtungsweise". „Zweckmäßigerweise wird sich die Politische Geographie vor allem der logischen und der ontologischen Methoden, der Analyse und Synthese in Forschung und Darstellung bedienen und außerdem folgende pragmatische Gesichtspunkte anwenden": a) Ausgang von einer bestimmten — vorhandenen oder angenommenen — politischen Ausgangslage, die sich von der Forschungsaufgabe her bestimmt;
b) Auswahl der politisch relevanten Geofaktoren (im Gegensatz zur , reinen Geographie', die eine vollständige Beschreibung und ursächliche Erklärung erstrebt);
c) Vergleich der gewonnenen Erkenntnisse mit ähnlichen oder unterschiedlichen Verhältnissen; d) Wertung durch eine möglichst objektive Beurteilung der Daten, Gegegebenheiten und Entwicklungstendenzen;
e) Berücksichtigung des Wertwandels in der Zeit;
f) Prognose durch Anwendung moderner Methoden der Wahrscheinlichkeitsberechnung mit dem Ziel der Erkenntnis alternativer Entwicklungsmöglichkeiten.
Kühns Neuansatz ist als erster Versuch einer umfassenden systematischen Grundlegung einer modernen Politischen Geographie in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Kriege zu werten. Alle Vorgänger beschränkten sich bisher auf Anregungen; einzig Schöller ging darüber hinaus, allerdings ohne eine abgerundete Systematik zu liefern. Ein Mangel an Kühns Konzeption ist, daß sie ebenfalls noch nicht an konkreten Objekten überprüft wurde. Auch Kühn baut auf Grundsätzen auf, die vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden. Sie haben allerdings den Vorteil, zeitgemäß zu sein, denn Normativismus und Pragmatismus finden inzwischen als Wissenschaftsmaximen stärkere Beachtung als vor dem Krieg. 5. Geopolitics und Political Geography Die Entwicklung der anglo-amerikanischen Geopolitik und Politischen Geographie setzt später ein als die in Deutschland, Zunächst wird durch die deutsche Geopolitik und durch die folgende Auseinandersetzung mit dieser in den USA die „geopolitics“ initiiert. Sie wurde während des Zweiten Weltkrieges an den Hochschulen heimisch. Durch den Nationalsozialismus wird sie aber auch in den USA diskreditiert, so daß sich nach dem Krieg die „political geography" verstärkt herausbildet. Beide sind jedoch viel enger miteinander verbunden als in Deutschland; schon durch die Existenz der „political science" ist man geopolitischen Fragestellungen gegenüber aufgeschlossener. Die Politische Geographie ist als selbständiges Teilgebiet der Geographie etabliert.
Geopolitics und political geography gehen auf die gleichen Anreger zurück wie in Deutschland Geopolitik und Politische Geographie: Ratzel, Mahan, Mackinder, Kj eilen, K. Haushofer. J. Bowman lehrte und schrieb in den USA als erster in Politischer Geographie, gefolgt von D. Whittlesey; wichtig sind weiter S. van Valkenburg und H. Weigert. Für die Zeit seit dem Krieg sind als „leading thinkers" R. Hartshorne, J. Gottmann und St. B. Jones zu nennen.
Wie ein Rückblick auf die in den vorhergehenden Abschnitten umrissenen westdeutschen Publikationen zur Politischen Geographie zeigt, ist Czajkas bereits zitierter Feststellung, das „das wissenschaftliche Arbeitsfeld der Politischen Geographie eine ziemliche Verwirrung widerspiegelt", für die westdeutsche Politische Geographie zuzustimmen. Aus der nordamerikanischen Literatur, — die hier im einzelnen nicht besprochen werden kann —, spricht dagegen ein geschlosseneres Selbstverständnis dieses Zweiges der Geographie, fundiert durch die wegweisenden Theorien von Whittlesey, Hartshorne, Gottmann und Jones.
Letztere bildeten zahlreiche Geographen aus, die inzwischen versuchen, die wissenschaftstheoretischen Systeme ihrer Lehrer weiter zu entwickeln.
Der anglo-amerikanischen Politischen Geographie kommt insgesamt die Bedeutung eines wissenschaftlichen Katalysators zu; schon die Tatsache ihrer lebendigen Existenz ermuntert, über die Entwicklung und den Stand der Politischen Geographie in Deutschland nachzudenken. Die Verwissenschaftlichung des geopolitischen Ansatzes und seine Integrierung in die Politische Geographie scheint weitgehend gelungen zu sein. Potentialbetrachtungen werden allenthalben als Bestandteil politisch-geographischer Abhandlungen angesehen. Zwar wird in der Regel vom Staat als Objekt ausgegangen, doch löst man sich auch schon davon und geht zur Untersuchung politischer Vorgänge und Aktivitäten über (Kristof, Cohen, Jackson, Pounds). Auch die dynamische und funktionale Sichtweise wurde neben der statischen Strukturanalyse allgemein einbezogen (z. B. Wechselbeziehungen Raum — politische Aktivitäten und Systeme bei Jackson und Raum — Staat bei Alexander). Hartshorne, Gottmann und Jones sind auch hier ihrer besonderen Bedeutung wegen gesondert zu nennen. Anregend für die Politische Geographie sollte vor allem auch die intensive Beziehung zur Politischen Wissenschaft und das fast schon auf eine Lösung von der Geographie tendierende interdisziplinäre Selbstverständnis der political geography wirken.
Abschreckend wirkt dagegen vielleicht die selbstverständliche Einbeziehung militär-und geostrategischer Betrachtungen. Macht wird zwar indirekt vom wirtschaftlichen Potential bestimmt, ihre politische Wirkung erhält sie aber auch durch die militärische Macht. Ein negatives Beispiel dafür ist die Bundesrepublik Deutschland die zwar eine erstrangige Wirtschafts-und Handelsmacht ist, infolge politischer, militärischer und wirtschaftlicher Auslandsabhängigkeit und struktureller Empfindlichkeit aber streng genommen — wie viele andere Staaten der Erde — nicht als souve-räner Staat anzusehen ist. Die Machtanalyse eines Staates müßte also auch dessen militärische Stärke oder Schwäche berücksichtigen, zweifellos ein ungelöstes Problem für die Politische Geographie in Deutschland, und doch im Grunde und ausschließlich im Interesse wissenschaftlicher Erkenntnis eine Notwendigkeit. 6. Gedanken zu einer zeitgemäßen Politischen Geographie Will sich die deutsche Politische Geographie neu besinnen, muß sie sich zuerst von ihrem anscheinend einzigen Objekt, dem Staats-Territorium, lösen Den Weg weist ihr eigener Name: Politische Geographie. Der Begriff „Politik" beinhaltet mehr als nur den Raum, von dem die Politik ausgeht oder auf den sie sich bezieht: nach der allgemein anerkannten staatsrechtlichen Definition außer dem Staatsgebiet auch die Staatsgewalt und das Staats-volk Diese drei zusammengehörenden Träger politischer Funktionen sind aber keineswegs in sich homogen, sie bestehen wiederum aus zahllosen funktionalen und regionalen Einheiten, die damit sämtlich Gegenstand politisch-geographischer Forschung sind. Als Objekt der Politischen Geographie müssen wir also die Politik betrachten.
Entscheidend — und unterscheidend zu den anderen Wissenschaften, die Staat und Politik untersuchen — ist dabei die Art der Betrachtung, die Methode: die Politische Geographie sieht ihr Objekt räumlich, sie sieht es von den den Raum erfüllenden natur-und sozialgeographischen Faktoren, den Kräften, her. Die Sichtweite ist dabei nicht einseitig, vom Raum zur Politik, sondern wechselseitig, also auch von der Politik zum Raum.
Die Politische Geographie untersucht die Wechselbeziehungen zwischen den räumlichen Umwelt-Faktoren der Gesellschaft bzw. ihrer Teile und den Politischen Zuständen (Strukturen), Vorgängen oder Funktionen und Entwicklungen. Sie erforscht also sowohl die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf Struktur und Entwicklung des Raumes als auch die Beeinflussung der Politik durch die im Raum wirksamen Kräfte.
Mit dieser Charakterisierung der Politischen Geographie ist ihre Unterscheidung zur Geopolitik hinfällig geworden. Es bedarf allerdings keiner besonderen Betonung, daß die Geopolitik K. Haushofers und seiner Epigonen diskreditiert ist und bleibt. Hier geht es ausschließlich um die Übernahme des dynamischen Elementes aus der Geopolitik. Gegenwärtig ist die Untersuchung der Struktur eines Objektes, ohne den Versuch einer Prognose zu machen oder dessen zeitliche Wandelbarkeit zu berücksichtigen, nicht mehr sinnvoll.
Auch die zumeist der Geopolitik zugerechnete Potentialbetrachtung muß zielbewußt von der Politischen Geographie weitergeführt werden. Die wissenschaftlich fundierte Einschätzung des Potentials von Teilräumen, Staaten oder überstaatlichen Einheiten und Bündnissen ist eine der Möglichkeiten der Politischen Geographie, der praktischen Politik eine Entscheidungshilfe zu geben. Im Gegensatz zur „klassischen" Geopolitik will die Politische Geographie keine (Raum-) „Erfordernisse" oder gar Gesetzmäßigkeiten aufstellen, sondern als possibilistischer Zweig der Geographie allenfalls Möglichkeiten in Gestalt von Alternativen erarbeiten. Wenn die moderne Anthropo-bzw. Sozialgeographie sich aber als eine Sozialwissenschaft versteht, muß ihr auch interdisziplinäre Zusammenarbeit selbstverständlich sein. Raumforschung, Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, Politische Wissenschaft, Geschichte und Futurologie (einschließlich Friedens-und Konfliktforschung sind die wichtigsten Nachbarwissenschaften, deren einschlägige Forschungsergebnisse die Politische Geographie unter Beachtung der ihr eigenen raum-und politikbezogenen Fragestellung übernehmen muß. Gesondert und mit Nachdruck ist auf die methodologischen Hilfswissenschaften Statistik und Operations Research hinzuweisen. Die zu untersuchenden und gegebenenfalls zu beurteilenden „Wechselbeziehungen" wurden bereits als solche „zwischen den räumlichen Umwelt-Faktoren der Gesellschaft bzw. ihrer Teile und den politischen Zuständen (Strukturen), Vorgängen oder Funktionen und Entwicklungen" gekennzeichnet: — Die Umwelt-Faktoren reichen von den Lagebeziehungen des geographischen Raumes über seine naturgeographisch prägenden Geofaktoren bis zu seinen sozio-ökonomischen Strukturen (gesellschaftlich-wirtschaftlicher Komplex). Aktuelle Probeme, die bereits weitgehende politische Auswirkungen haben oder noch haben werden, sind z. B.: die weltweite Bevölkerungsentwicklung und die Verstädterung sowie Vergroßstädterung; Entwicklung der wirtschaftlichen Potentiale von Staaten und Staatengruppen und deren nationale und internationale regionale Differenzierung; Entwicklung wirtschaftlich bedeutsamer Rohstoffvorkommen; internationale Arbeitsteilung, internationale Kooperationen und Fusionen auf dem wirtschaftlichen Sektor; strukturelle Empfindlichkeit gegen absichtliche und unabsichtliche Störungen des Produktionsablaufes in der arbeitsteiligen Wirtschaft sowie deren wachsende Auslandsabhängigkeit; internationale wirtschaftliche Verflechtung als Hebel politischer Einflußnahme; unbefriedigende wirtschaftliche und soziale Strukturen als Ansatzpunkte politischer Veränderungen.
— Politische Zustände sind z. B.: Verwaltungsgliederung, die politische territoriale Einheit; geltende Pakt-und Bündnisverhältnisse; Wahlergebnisse in regionaler Differenzierung;
schwachstrukturierte Regionen; Überschußgebiete; sozioökonomische Strukturen wie Zahl, Altersaufbau, Gliederung und Bildungsstand der Bevölkerung und Typisierung regio-* naler Einheiten nach dem Anteil der Beschäftigten im primären, sekundären und tertiären Bereich (nach Clark/Fourastie); Machtstrukturen in Abhängigkeit sozialer und politischer Strukturen. — Politische Vorgänge sind z. B.: der räumliche Ablauf eines Wahlkampfes; die innerstaatliche Neugliederung; ein Friedensvertrag in seinen räumlichen Auswirkungen; Bildungspolitik in regionaler Betrachtung, staatliche Fördermaßnahmen für bestimmte Regionen; Ablauf einer Revolution in räumlicher Sicht; Wahlbeteiligung und Wahlergebnisse im historischen Ablauf; Wandlung der außenpolitischen Zielsetzung eines Staates, Radikalisierung der politischen Ansichten eines Volkes oder bestimmter Teile desselben, Veränderung der staatlichen Machtposition und -Politik im internationalen Bereich, Wandlung einer Machtstruktur und der zugehörigen sozio-ökonomischen Struktur. — Politische Entwicklungen umfassen die erkennbaren Tendenzen künftiger politischer Veränderungen, z. B.: Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsbewegung; Verstädterungserscheinungen; Ausweitung und intensivere Nutzung des Nahrungsraumes; sozioökonomische Auswirkungen technischer Veränderungen in der Energieversorgung.
Von einer weitergehenderen, detaillierteren Systematik kann hier abgesehen und statt dessen auf die im 4. Kapitel dargestellte Synthese verwiesen werden.
Entscheidend für das Weiterbestehen der Politischen Geographie wird sicherlich die Tatsachenforschung werden. Die Forschungsergebnisse werden darüber entscheiden, ob die Politische Geographie nur einen leeren Anspruch stellt oder aber auch Leistungen erbringt. Anregungen wird sie eher von der Soziologie, der Volkswirtschaft, der Politischen Wissenschaft und methodisch vor allem von der System-Analyse (Operations Research) sowie gegenwärtig noch von der anglo-amerikanischen Politischen Geographie erhalten können als von der deutschen Geographie. Neben die bisher in der Geographie weitaus überwiegende qualitative Betrachtungsweise muß notwendig die Quantifizierung treten, um den spekulativen Anteil in den normativen Aussagen einer angewandten Politischen Geographie zu vermindern.
II. Die weltweite Vergroßstädterung aus politisch-geographischer Sicht
Die Vergroßstädterung (im Sinne eines wachsenden Anteils der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Gebietes) ist der quantitative Ausdruck eines sozioökonomischen Prozesses, der in den beiden letzten Jahrzehnten weltweite Dimensionen angenommen hat und der die gesellschaftliche, wirtschaftliche und räumliche Struktur der Staaten grundlegend verändert. Sie scheint weitgehend autonom zu verlaufen und damit einer jener Basistrends zu sein, die insgesamt gesehen nahezu unabhängig von politischen Systemen und Ideologien ihren Fortgang nehmen. 1. Zum Begriff Vergroßstädterung Zum Terminus Vergroßstädterung und den zugehörigen Begriffen Stadt, Großstadt und Verstädterung soll hier nur kurz Stellung genommen werden, denn die nicht abgeschlossene Diskussion darüber, was eine Stadt ist, ist wohl so alt wie die moderne Geographie selbst.
Als Ausgangspunkt genügt der statistische Großstadtbegriff (100 000 Einwohner), wobei er allerdings noch untergliedert werden muß. In den industrialisierten, dicht besiedelten und mit vielen großen Städten überzogenen Ländern hat eine Stadt mit 100 000 Einwohnern nicht die gleiche Bedeutung für das Umland und den gesamten Staat wie beispielsweise in einem Staat der Dritten Welt, dessen Fläche . vielleicht der der Bundesrepublik Deutschland entspricht, der aber nur wenige Millionen Einwohner hat.
Der sozioökonomische Entwicklungsstand innerhalb des Weltenstaatensystems ist so unterschiedlich, daß eine Unterteilung der Großstädte mit möglichst kleinen Intervallen erforderlich ist, um eventuelle statistische Zusammenhänge zwischen Verstädterung, Vergroßstädterung, Bevölkerungs-und Wirt-Schaftsentwicklung erfassen zu können: Ende der 60er Jahre gab es bereits mindestens 1 645 Städte mit 100 000 oder mehr Einwohnern auf der Erde
Die tatsächliche Einwohnerzahl der großen Städte, d. h. die Zahl derjenigen Menschen, die durch funktionale Bezüge eng mit der betreffenden Stadt verbunden sind und ihren Wohnsitz in ihr oder ihrer unmittelbaren Umgebung haben, ist in der Regel wesentlich größer als die der statistisch erfaßten Einwohner innerhalb der kommunalen Grenzen: Die fehlende Identität der de jure-mit der de facto-Zahl der Großstadtbevölkerung ist eine Binsenweisheit in der Großstadtforschung. Das Großstadtwachstum könnte statistisch oftmals gar nicht erkannt werden, wollte man nur die de jure-Einwohnerzahlen beobachten.
Wenn aber die weltweite Vergleichbarkeit der de jure-Zahlen höchst fraglich ist, dann gilt dieser Vorbehalt erst recht für die Agglomerationen mangels einheitlicher Definitionen. Trotzdem kann dieses Problem nicht ausgeklammert werden. Wichtiger als die statische Strukturanalyse ist in einer Untersuchung der Vergroßstädterung die dynamische Entwicklungsanalyse. Für die großstädtischen Agglomerationen heißt das: ihre internationale Vergleichbarkeit mag oftmals aufgrund unterschiedlicher Abgrenzungsmerkmale kaum gegeben sein, bleiben diese aber je Staat über einen längeren Zeitraum einheitlich, kann zumindest ihre Entwicklung verglichen werden. Auch hier bietet das Demographie Yearbook erste Ansatzpunkte (Definitionen, Einwohner-zahlen). Von grundsätzlicher methodischer Bedeutung sind aber vor allem die in der Veröffentlichung „The World's Metropolitan Areas" angeführten Bemerkungen und Gesichtspunkte
Verstädterung und Vergroßstädterung müssen sowohl als quantitative als auch als qualitative Prozesse verstanden werden Quantitativ-statistisch erfaßt der Begriff „Verstädterung" (Vergroßstädterung) den Teil der Bevölkerung einer territorialen Einheit (Teil eines Staates, Staat, Staatengruppe), der seinen Wohnsitz in „Städten" („Großstädten") hat.
Unter der qualitativ-sozialen Verstädterung wird die (quantitative und regionale) Ausbreitung der städtischen Lebensform („Fremdheit und Anonymität, Versachlichung und Standardisierung" ) verstanden. Das ist zunächst eine Folge der quantitativen Verstädterung, indem die Neubürger der Städte sich ihrer sozialen Umwelt anpassen. Durch moderne Kommunikationsmittel und steigende Mobilität der Bevölkerung wird die Lebensauffassung der Städter auch den Landbewohnern nahegebracht und von diesen zumindest teilweise übernommen. Ein Staat kann also durchaus schneller nach der Lebensweise seiner Bevölkerung verstädtern als nach dem Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung
Die Vergroßstädterung ist eine Steigerung der zuvor besprochenen Verstädterung, d. h. auch sie hat eine quantitative und eine qualitativ-soziale Dimension. Für eine Stadt mit einigen Tausend Einwohnern gilt das Charakteristikum „Anonymität" nur in geringem Maße. Die Anonymität kennzeichnet dagegen vorzüglich die sozialen Beziehungen in der Großstadt. Ob der Unterschied zwischen Verstädterung und Vergroßstädterung nur gradueller oder schon prinzipieller Natur ist, kann generell nicht entschieden werden, da die Spannweite von der Kleinstadt über die Mittelstadt zur Großstadt und bis hin zur Millionenstadt und „Weltstadt" zu groß ist. Politisch-geographisch wichtig ist, daß „städtische, ja auch großstädtische Sitten, Moden, Verhaltensformen, Denkweisen, großstädtische Lebensdeutung und Lebensziele auch außerhalb des großstädtischen Siedlungsbereichs maßgebend werden" können. 2. Die weltweite Vergroßstädterung Einen Eindruck davon, welcher Dynamik wir uns im Vergroßstädterungsprozeß gegenüber sehen, geben folgende Zahlen: Um 1800 betrug die Weltbevölkerung knapp eine Milliarde Menschen, zu Beginn der 60er Jahre dieses Jahrhunderts hatte sie die Drei-Milliarden-Grenze überschritten. Dieses Wachstum um mehr als 200 v. H. in fünf Generationen wird gewöhnlich als „Bevölkerungsexplosion" bezeichnet. Im gleichen Zeitraum stieg die Großstadtbevölkerung von etwa 20 Millionen auf mehr als 500 Millionen Menschen, davon seit 1920 allein um etwa 400 Millionen Menschen. Von 1800 bis zur Gegenwart nahm die Großstadtbevölkerung der Welt also rund zwölfmal stärker zu als die Weltbevölkerung Diese Entwicklung, die mit der Industrialisierung Westeuropas ihren Anfang nahm, hat seit dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Weltbevölkerung erfaßt. Die größten Steigerungsraten ergeben sich für die 50er und 60er Jahre.
Halten wir kurz die wichtigsten Aussagen fest, die sich für die Dekade 1950— 1960 ergeben:
Die Verstädterung setzte sich weltweit verstärkt fort. Der Anteil der in Siedlungen mit mehr als 20 000 Einwohnern lebenden Bevölkerung stieg im globalen Rahmen von 21, 2 auf 25, 4 °/o. Etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung lebte 1960 in Städten mit 500 000 und mehr Einwohnern. Unter den Großstädten weisen die größeren (500 000 und mehr) das stärkste Wachstum auf: sowohl ihr Anteil an der Bevölkerung (von 9, 1 auf 11, 8%) als auch die Zunahme ihrer absoluten Einwohnerzahlen (55 °/o) zeigen die größten Steigerungsraten. Die Weltbevölkerung wuchs um 19 °/o, dabei die der Einwohner in Siedlungen mit unter 20 000 Einwohnern nur mit 13 °/o, aber die der Städte mit 20 000 und mehr Einwohnern um 43 °/o — also 2, 3mal so stark wie die Bevölkerung. Entsprechend dem „Gesetz des Spitzen-wachstums" wuchsen die Großstädte (um 47 °/o) 2, 5mal und die Städte mit 500 000 und mehr Einwohnern (um 55 °/o) sogar knapp 3mal schneller als die Weltbevölkerung.
Eine erste regionale Gliederung ist die in Industrie-und Entwicklungsländer (Zeitraum: 1950 bis 1960): Die Gesamtbevölkerung stieg in den Industrieländern um 14% (118, 7 Mill.) von 857, 8 auf 976, 5 Mill, und in den Entwicklungsländern um fast 22 % (359, 0 Mill.) von 1 657, 7 auf 2 016, 7 Mill. In der gleichen Zeit wuchs die Stadtbevölkerung (Siedlungen mit 20 000 und mehr Einwohnern) in diesen Gebieten um 31 %, also 2, 2mal, bzw. um 64 % oder 3mal so schnell, und die der Städte mit 500 000 und mehr Einwohnern nahmen sogar 2, 6-bzw. 4, 5mal stärker als die Gesamtbevölkerung zu. Und wenn wir schließlich die Verstädterung der beiden sozioökonomischen Gruppen zueinander in Beziehung setzen, so ergibt sich: die Stadtbevölkerung wuchs von 1950 bis 1960 in den Entwicklungsländern doppelt und die der 500 OOOer-Kategorie sogar dreimal so schnell wie die in den Industrieländern.
Als Fazit können wir festhalten: die Wachstumsraten der globalen Verstädterung sind mindestens doppelt so hoch wie die der Bevölkerung. Gleichzeitig aber sind Verstädterungsund Vergroßstädterungsdynamik in den Entwicklungsländern wiederum mindestens doppelt so hoch wie in den Industrieländern. Versuchen wir nun, die nach den vorgenannten Vergleichen und statistischen Analysen wichtigsten grundsätzlichen Aussagen zu formulieren: — Verstädterung und Vergroßstädterung sind weltweite Prozesse, deren Dynamik regional unterschiedlich ist. — Unter den altverstädterten und industrialisierten Teilen der Welt (Europa ohne UdSSR, Nord-Amerika und Ozeanien) zeigt Europa die geringste Verstädterungsdynamik. Aber auch Nord-Amerika und Ozeanien (vornehmlich Australien) haben wesentlich geringere Zunahmeraten als die anderen Teile der Welt, sind allerdings bereits am stärksten verstädtert und vergroßstädtert. Wenn auch der Verstädterungsprozeß in Europa bald sein Maximum erreichen sollte, dürfte die Vergroßstädterung aber noch weiterhin zunehmen. — Latein-Amerika unterscheidet sich von den anderen Entwicklungsländern u. a. hinsichtlich des Verstädterungsprozesses. Gegenüber jenen ist es als altverstädtertes Gebiet anzusehen, dessen Verstädterungsraten eher in der Nähe von denen der Industriestaaten liegen. Da nach Bevölkerungszunahme, Industrialisierungsgrad und anderen Merkmalen LateinAmerika aber eindeutig zu den Entwicklungsländern zu rechnen ist, werden auch die politisch-geographischen Auswirkungen der Vergroßstädterung anders als in den Industrie-ländern sein. Latein-Amerika stellt eine historisch bedingte Modifikation, eine sozioökonomische Individualität unter den Entwicklungsländern — die insgesamt nach der UdSSR die stärkste Verstädterungsdynamik der Welt zeigen — dar. — Die Dynamik des Verstädterungsprozesses in Ost-Asien, Süd-Asien und Afrika ist — zumal wenn man deren hohe Bevölkerungszahlen und sozioökonomischen Entwicklungsstand berücksichtigt — als beängstigend zu bezeichnen. Zwar könnte man die hohen Zuwachsraten mit dem Hinweis auf die niedrigen Ausgangswerte abtun, doch stellen die Quantitäten bei fehlenden „Qualitäten" (Infrastruktur, technologisch-ökonomischer Standard, Ausbildung usw.) die eigentlichen Probleme dar. Ausnahmen bilden hier Japan, Israel und Südafrika. — Die UdSSR zählt zu den Industrienationen, steht aber nach dem städtischen und großstädtischen Wachstum vor den Entwicklungsländern, vor Nord-Amerika, Ozeanien und Europa an der Spitze der Verstädterungsskala in der Welt.
Für die nähere Zukunft ist keine Abschwächung des weltweiten Verstädterungs-und Vergroßstädterungsprozesses zu erwarten: — Die städtische Bevölkerung, die in den 40 Jahren von 1920 bis 1960 um etwa 500 Mill, wuchs, wird in den folgenden 20 Jahren (bis 1980) um 600 bis 750 Mill. Menschen zunehmen. Die Zahl der Einwohner in den „big eitles" (500 000 und mehr Einwohner) wird sich nahezu verdoppeln. — Von 1960 bis 1980 wird die städtische Bevölkerung (20 000 und mehr Einwohner) in den Industrieländern um 40 bis 52 % zunehmen, in den Entwicklungsländern aber um etwa 150%; der Verstädterungsprozeß wird hier also rund dreimal stärker sein. Für die „bigcity-Bevölkerung" lauten die entsprechenden Zahlen sogar 50 bzw. 200 %. — Im Jahr 2000 — d. h. zu einem Zeitpunkt, der ebenso fern bzw. ebenso nah wie das Ende des (in seinen Folgen in der heutigen weltpolitischen Situation noch allgegenwärtigen) Zweiten Weltkrieges ist — werden nach mittlerer Schätzung in den Städten der Welt (mit 20 000 und mehr Einwohnern) statt der gegenwärtig (1970) rd. 1 120 Mio. rd. 2 120 Mio. Menschen leben. Während heute die Entwicklungsländer aber ebenso wie die Industrieländer eine städtische Bevölkerung von rd. 560 Mio. Menschen haben, werden sich die absoluten Zahlen im Jahr 2000 auf rd. 1 260 zu 860 Mio. verschoben haben, d. h. die Zuwachsraten betragen in 30 Jahren 125% gegenüber 54 %
Die Wissenschaft sieht den Verstädterungsund Vergroßstädterungsprozeß einhellig als noch nicht abgeschlossen an. In der fernen Zukunft wird eine Entwicklung erwartet, „bei der vielleicht 80 % der Menschheit in Städten oder stadtähnlichen Gebilden von zum Teil ungeheuren Außmaßen leben werden" Unterschiedliche Meinungen bestehen nur über den Zeitpunkt des Eintritts dieses „Endstadiums"; in Australien, West-und Mitteleuropa sowie den USA soll es noch vor dem Jahr 2000 erreicht werden, in Entwicklungsländern wie Indonesien, Afghanistan und Äthiopien erst weit jenseits der Jahrtausendwende.
Gegen die in diesem Kapitel interpretierten Daten können vielfache methodische Vorbehalte gemacht werden. Doch weder diese Einschränkungen noch die vorerst grobe Datenbasis werden die Realität der explosiven weltweiten Verstädterung und Vergroßstädterung ad absurdum führen können. Die bisherige Entwicklung verleiht dem sich aus der Prognose ergebenden Trend einen hohen Wahrscheinlichkeitsgehalt, wie letztlich auch die weitestgehend übereinstimmenden 1967er und 1969er UN-Statistiken belegen. Es ist zu hoffen, daß sich Wissenschaft und Publizistik dieser Problematik bald mit ebensolcher Intensität annehmen, wie es mit der „Bevölkerungsexplosion" geschah und gegenwärtig mit den „Umweltproblemen" geschieht. Aufgabe der Politischen Geographie wird es sein, diese Entwicklung, ihre Begleiterscheinungen und Folgen in ihrer Bedeutung für die politische Führung systematisch zu untersuchen und zu beurteilen. 3. Begleiterscheinungen, Folgen und Probleme der Vergroßstädterung Bereits im vorhergehenden Kapitel wurde verschiedentlich die globale Bevölkerungsentwicklung erwähnt, ebenso wurde eine erste Verbindung zum wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Staaten hergestellt, indem zwischen Industrie-und Entwicklungsländern un-terschieden wurde. Beide Phänomene sind Ursachen und Begleiterscheinungen der weltweiten Vergroßstädterung.
Jahrtausende lang wuchs die Weltbevölkerung nur langsam. Für die Steinzeit schätzt man die auf der Erde lebenden Menschen auf 10 Millionen. Erst mit merklichen Verbesserungen der wirtschaftlichen Grundlagen und Faktoren (Nutzpflanzen, Haustiere, Ackerbau, Handwerk, Handel und städtische Siedlungen) wuchs auch die Bevölkerung stärker. Zur Zeitenwende betrug die Weltbevölkerung etwa 200 bis 300 Millionen Menschen; die erste Verdoppelung wurde um 1600 bis 1650 (500 Mill.) erreicht, die nächste um 1820 (1 Mrd.). Zwei Mrd. Menschen lebten 1930 auf der Erde, Mitte der 70er Jahre werden es 4 Mrd.sein, und etwa 6 oder gar 7 Mrd. im Jahr 2000. Dieser Trend ist dem interessierten Leser bekannt, er braucht hier nicht weiter differenziert (z. B. „Bevölkerungsexplosion" vor allem in der Dritten Welt) zu werden.
Eine weitere grundlegende Begleiterscheinung ist die Wirtschaftsentwicklung. In Europa ging die Verstädterung des 19. Jahrhunderts mit starkem Bevölkerungswachstum und der Industrialisierung einher. Zunächst übernahm die Auswanderung nach Übersee eine gewisse Ventilfunktion, dann setzte als Folge der Industrialisierung die Schaffung neuer industrieller Arbeitsplätze und eine allgemeine Hebung des Wohlstandes, ein, was wiederum die Geburtenrate absinken ließ. Wesentlich unterstützt wurde diese Veränderung des generativen Verhaltens durch die Verstädterung. Dieser Regulationsprozeß scheint heute aber nicht schnell genug wirken zu können. Im 19. Jahrhundert war nur der Teil der Welt davon betroffen, der gerade im Begriff stand, den Rest der Welt durch Kolonialisierung und Besiedelung zu majorisieren. Heute senken hygienische und medizinische Maßnahmen die Sterberaten in der Dritten Welt, und die dadurch wachsenden Menschenmassen wandern zumindest teilweise ebenfalls in die Städte. Dort aber finden sie weder Arbeit noch Ausbildung oder Wohnung, denn die Industrialisierung wird gerade durch das Bevölkerungswachstum erschwert und verzögert, da die niedrige volkswirtschaftliche Produktivität vorerst überwiegend zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse (wie Ernährung) eingesetzt werden muß. Einerseits können also nur langsam neue industrielle Arbeitsplätze geschaffen werden, andererseits hat sich das generative Verhalten der „Entwicklungsvölker" bisher nicht auf die stark zunehmende Lebenserwartung eingestellt. Einen Schlüssel zur allmählichen Aufhebung dieses „Teufelskreises" bildet die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Leistungen der Entwicklungsländer. Die entscheidende Frage ist also, ob und wie sich ihre ökonomischen Grundlagen weiterentwickeln.
Ein Beispiel für diese Art der Betrachtung und ihre hohe politisch-geographische Aussagekraft gibt der Futurologe H. Kahn. Er unterscheidet für das Jahr 2000 sechs wirtschaftliche Gruppierungen: 1. Deutlich nachindustriell: z. B. USA, Japan, Skandinavien, Bundesrepublik Deutschland; 2.früh nachindustriell: z. B. UdSSR, DDR, Israel, Australien; 3. Massenkonsum: z. B. Portugal, Ungarn, Argentinien, Südkorea; 4. voll industrialisiert: z. B. Südafrikanische Union, Mexiko, Türkei, Irak; 5. großes Territorium und teilweise industrialisiert: z. B. Brasilien, VR China, Indien, Nigeria; 6. vorindustriell oder „klein" und teilweise industrialisiert: Rest der heutigen Entwicklungsländer
Die heutigen Entwicklungsländer finden sich in den Gruppen 3 bis 6, die heutigen Industrieländer in den Gruppen 1— 4.
Aus der Kombination von starkem Bevölkerungswachstum, „explodierenden" Großstädten und den erforderlichen Investitionen zur allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung ergibt sich die politische Relevanz dieser drei interdependenten Komplexe, denn diese Aufgaben können allein durch die betroffenen Staaten vor dem Hintergrund der „Revolution der wachsenden Erwartungen" (I. Gandhi) sicher nicht gelöst werden. Vor allem aber ist zu fragen, welche speziellen Probleme und Folgen sich daraus für die Vergroßstädterung ergeben.
Allen diesen Komplexen gemeinsam ist ihre weltweite Verbreitung und Verbindung. Sie sind der Entwicklung der technischen Zivilisation immanent, weisen aber aufgrund unterschiedlicher Entwicklungsstadien in den einzelnen Staaten auch voneinander abweichende Strukturen auf und führen demzufolge zu jeweils anderen Problemen und politischen Prioritäten. Im Zuge der zunehmenden weltwirtschaftlichen und politischen Verpflechtungen und globalen Kommunikationsmittel ergeben sich immer stärkere Interdependenzen — durch die Konfrontation unterschiedlicher sozioökonomischer Entwicklungsstadien aber auch zunehmend Anlässe zu Friktionen, die in der Regel wiederum politische Auswirkungen haben. 4. Zur politisch-geographischen Bedeutung der Vergroßstädterung Der technischen Zivilisation ist der räumliche Kontraktionsprozeß immanent; in den Industriestaaten ist diese Entwicklung am weitesten vorangeschritten. In vielen Entwicklungsländern hat sie mit einem Phasenvorlauf gegenüber der Industrialisierung ebenfalls längst eingesetzt, in den anderen folgt sie im Rahmen der globalen Verstädterung und Vergroßstädterung. Dabei erweist sich die guantitative Vergroßstädterung (als Teil der Verstädterung) als äußerst dynamischer Prozeß, der bis Ende dieses Jahrhunderts mindestens zur Verdoppelung der Zahl der Stadtbewohner (in Städten mit 20 000 und mehr Einwohnern!) auf über zwei Milliarden Menschen führen wird.
Die beiden anderen grundlegenden und in diesem Zusammenhang relevanten globalen Prozesse, die gleichzeitig ablaufen — die „Bevölkerungsexplosion" und der sich erweiternde sozioökonomische Abstand zwischen den Staaten mit bereits hohem technologisch-ökonomischem Standard (Industriestaaten) und den erst am Anfang der Industrialisierung stehenden Ländern (Entwicklungsländer) — sind gleichermaßen Ursache und Begleiterscheinung der Vergroßstädterung, mit der sie in einem engen Systemzusammenhang stehen.
Der Verstädterung einschließlich Vergroßstädterung als einer grundlegenden sozioökonomischen und räumlichen Umstrukturierung ursprünglich agrarischer Gesellschaften unterliegt die Politik nicht nur insoweit, als sie im gesamtgesellschaftlichen Sinne lenkend eingreifen muß, sie wird selber auch davon beeinflußt. Die Politik eines Agrarstaates wird (zumindest teilweise) andere Ziele als die eines Industriestaates verfolgen, sie wird vor allem andere Prioritäten zu setzten haben. Umgekehrt wird die Politik eines industrialisierten Staates, dessen Bevölkerung und Wirtschaft sich auf einem Bruchteil der Staatsfläche zusammendrängt, von anderen Einflüssen und Zielen bestimmt sein als die eines gleichmäßig über die ganze Fläche besiedelten, landwirtschaftlich extensiv bewirtschafteten Landes. a) Die Großstädte als Zentren der Macht In der Regel gab es in allen Kulturen, die auf der Basis der Landwirtschaft weitere Wirtschaftsformen wie Handwerk und Handel entwickelt hatten, bereits städtische Siedlungen, die politisch-soziale Funktionen für ihr Umland ausübten bzw. Sitz entsprechender Funktionsträger waren. Doch ist eine solche Verstädterung zu unterscheiden von der in Industriestaaten — in denen z. B. mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebt —, da die Landwirtschaft trotz des in den städtischen zentralen Orten ansässigen Handwerks und Handels der überragende Träger der volkswirtschaftlichen Produktionskräfte blieb Infolge der Industrialisierung sind die Städte jedoch zum Sitz der wichtigsten Produktionsträger geworden, oder die beispielsweise rohstoffbedingten Industriestandorte wirkten ihrerseits städtebildend. Die Städte blieben Zentren der politischen Macht und die in den Städten konzentrierte Industrie übernahm die Rolle der Landwirtschaft als tragende Basis der Volkswirtschaft.
Die industriestaatliche politische Macht steht deswegen in Interdependenz mit den Städten bzw. Großstädten, die Sitz der meisten regio-nalen und gesamtstaatlichen politischen Institutionen sind; auch politische Macht im weiteren Sinne (zusätzlich vor alem der wirtschaftliche Bereich wie Konzernverwaltungen und Spitzenverbände) konzentriert sich auf die Großstädte Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Vergroßstädterung ein weltweiter Vorgang ist und in wenigen Jahrzehnten schon die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben wird, zeigt dies, daß jenseits aller Bedeutung, die die Großstädte schon jetzt in der Dritten Welt haben, auch dort ihr Einfluß als Zentren der politischen Macht und — sofern die Industrialisierung Erfolg hat — der Produktion nur noch zunehmen kann.
Wir können als Axiom festhalten, daß die Großstädte in den Industriestaaten schon jetzt — in den Entwicklungsländern je nach ihrem jeweiligen technoökonomischen Entwicklungsstand mehr oder weniger — Knotenpunkte und Zentren der politökonomischen Macht sind Mit dem Fortschreiten der Vergroßstädterung wird ihre politische Bedeutung weiterhin wachsen, und für die Spitzenreiter dieser Entwicklung, die Staaten beiderseits des Nordatlantiks sowie Japan und Australien, ist der Zeitpunkt abzusehen, an dem ihr Wohl und Wehe vom Funktionieren der großen Städte, regionalen Verdichtungsräume und Megalopolen direkt abhängen wird.
Die Bedeutung der großen Städte könnte dann wieder — wie im alten Griechenland — mit „Staat und Politik" gleichgesetzt werden. Unter diesen Zukunftsperspektiven ist die Forderung H. -J. Vogels, des ehemaligen Ober-bürgermeistersvon München, daß „das Thema , Stadt'auf der Tagesordnung der nationalen und internationalen Politik endlich an eine zentrale Stelle rückt" durchaus verständlich. Cohen hält eine solche Schwerpunktverlagerung der Politik als Folge der Verstädterung für möglich: „. .. urbanization is breaking down domestic barriers and permitting States to act more cohesively on the supranational plane. For this reason we may, in the near future, find regional organizations operating as , leagues'of great eitles ..." Ansatzpunkte einer solchen Entwicklung gewollt oder ungewollt — könnten die internationale Städtepartnerschaften und die national-staatliche interkommunale Kooperation sein.
In den Entwicklungsländern sind die Großstädte nicht nur formal Sitz der politischen Macht, sie sind darüber hinaus vor allem auch Mittler der sozialen, technischen und ökonomischen Neuerungen. „In many newly developing countries the City is the country — it is the country's window to the world, in both directions." In diesen Staaten muß die Verstädterung gesehen werden „.. . in a two-way context in which urbanization, on the one hand, and the economy, the society, and the culture on the other hand, are inextricably dependent on each other. Certainly it is true, for example, that it is in the cities that the political future of a country may well be determined. Here will be found the theater for the working out of the drama of nationhood. Is there not more than a resounding echo in the contention that, from here on in, whoever Controls the cities Controls the countries?"
Demnach hätten die Städte in vielen Staaten der Dritten Welt nicht nur die Aufgabe, „Fenster zur Welt" zu sein; sie sind gleichfalls Katalysatoren für die Herausbildung der Nationalstaaten und politische Machtzentren. Czajka behauptet entsprechend von Buenos Aires, daß es die nationale Einheit Argentiniens forme
Nach Sandner kommt den Hauptstädten der zentralamerikanischen Länder — und dies gilt ebenso für viele weitere Entwicklungsländer — „für die zukünftige Entwicklung . .. als Transformatoren ererbter Sozialstruktur, als zunächst einzigen Vermittlern neuzeitlicher städtischer Lebensform und als Ansatzpunkt für eine stärkere wirtschaftliche und soziale Gliederung der Bevölkerung eine Schlüsselstellung zu . . . Erst seit wenigen Jahrzehnten wandelt sich die kolonialspanische Struktur mit der landfremden, nahezu parasitären Führungsstadt, auf die Kirche und Adel, Macht und Geld konzentriert waren und die fremd neben der verschlafenen unansehnlichen Kleinstadt als Markt-und Verwaltungsplatz und dem weiten agraren Raum mit seinen sozialen Spannungszuständen stand . . . Die über die Hauptstädte in das Land hineingetragene neuzeitliche Lebensform einer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial aktivierten Gesellschaft ist mit dem Drang zu städtischem Leben und mit einer nicht zu unterschätzenden Mobilisierung der starren sozialen Grenzen verknüpft. Dieser vielschichtige Umbruch verstärkt sich seit wenigen Jahren und wird in allen zentralamerikanischen Ländern das nächste Jahrzehnt beherrschen."
Die Städte sind also als Zentren der Politik, der Macht, der Produktion, der sozialen und ökonomischen Umstrukturierung und des Fortschritts zu sehen. Ihre Funktionsfähigkeit, ihre Probleme und der Grad ihrer Krisenanfälligkeit haben schon heute starke Rückwirkungen auf die gesamtstaatliche Politik, und die sich daraus ergebende Verknüpfung mit der Kommunalpolitik wird noch intensiver werden. b) über das soziale und politische Verhalten der Großstadtbewohner Der Städter ist insbesondere vermehrten Reiz-wirkungen ausgesetzt (Licht, Lärm, Information, Unterhaltung, „Tempo") Neurotische Fehlentwicklungen mit daraus folgenden Organerkrankungen, physische und psychische Acceleration (Reifebeschleunigung), verändertes generatives Verhalten (sinkende Kinderzahl, Kleinfamilie), gesteigertes Erholungsbedürfnis und das sich ändernde Sozialverhalten sind Folgen des städtischen und insbesondere des großstädtischen Lebens. Die sozialen Bezüge umfassen nicht mehr — wie auf dem Lande — die gesamte kommunale Einheit, statt dessen werden nur noch ausgewählte, individuelle „Fern-" und auf die Nachbarschaft sich erstreckende „Nahbeziehungen" gepflegt. Der Stadtbewohner zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück und konzentriert sich auf seine „Privatheit" (Bahrdt). Darunter leidet das soziale und politische Engagement des Städters; vor allem der Bürger der Großstadt wird zum Nur-noch-Einwohner und Konsumenten deformiert. Insbesondere die verstädterten Industrieländer haben aus Gründen der Selbsterhaltung hier eine wesentliche Aufgabe staatsbürgerlicher und politischer Erziehung wahrzunehmen.
Ausgangspunkt solcher Bemühungen muß die Tatsache der rationalen, kritischen und aufgeschlossenen Grundhaltung des Städters sein. Schäfer attestiert dem Großstädter einen regen „Geist des Widerspruchs" und eine „höhere geistige Durchschnittsentwicklung" Nach Hellpach sind die intellektuellen Funktionen auf Kosten der vitalen gesteigert Maull sieht im Städter „das geistig beweglichere, fortschrittlichere, aber auch leicht revolutionäre Element" Diese aus psychischen und sozioökonomischen Gründen abweichende Intellektualität und politische Einstellung des Städters und Großstädters vom Landbewohner schlägt sich direkt in seinem politischen Verhalten nieder.
Vergroßstädterung und die sozioökonomischen Konsequenzen des technischen Fortschritts be-günstigen (zumindest in der Bundesrepublik Deutschland) „links" orientierte Parteien. Sie können diesen für sie vorteilhaften Trend wahltaktisch besonders effektiv durch intensiven Wahlkampf in den Großstädten unterstützen, da sie dort einen immer größeren Bevölkerungsanteil erreichen — der reformerischen Überlegungen gegenüber ohnehin aufgeschlossen ist — und von der politischen Ausstrahlung der Großstädte profitieren. Allerdings ist die Definition von „links" und „rechts" im zeitgeschichtlichen Ablauf Modifikationen unterworfen. Wir sollten deswegen allgemeingültiger formulieren, daß politisch konservative, am Hergebrachten festhaltende Gruppierungen in den Großstädten der Industriestaaten weniger Widerhall finden als politisch progressistische, die reformerische Ziele und gesellschaftspolitische Veränderungen anstreben.
Prinzipiell gilt diese Unterscheidung auch für die Großstädte der Entwicklungsländer. Czajka spricht für Buenos Aires von einer „politischen Radikalisierung innerhalb der Bevölkerungsagglomeration" Doch da der volkswirtschaftliche, politische und bildungsstrukturelle Entwicklungsstand in diesen Staaten überwiegend noch nicht die demokratische Staatsform ermöglicht, ist die demagogischplebiszitäre Komponente der Bevölkerungsagglomerationen, die „zu einem nahezu ständig möglichen Plebiszit durch Akklamation politisch genutzt werden kann" politisch wichtiger. Als historisches Beispiel sei an das alte Rom erinnert. Die für revolutionäre Umstürze nötige Masse ist in den Großstädten wesentlich schneller zu mobilisieren als auf dem Lande, wo fehlende Infrastruktur und schlechtere Kommunikationsmöglichkeiten die Entstehung „akuter Massen" erschweren. Die gegenwärtig laufend erfolgenden Machtwechsel in Staaten der Dritten Welt beschränken sich zumeist auf die Haupt-und Großstädte;
das Land wird davon erst durch die politischen Folgen berührt. Bresses These: „In many newly developing countries the city is the country ..." ist machtpolitisch gesehen also nur zu bestätigen. c) Probleme und Folgen der Vergroßstädterung Da die Großstädte sowohl in den Industrie-als auch in den Entwicklungsländern von kardinaler (und infolge der Vergroßstädterung weiter zunehmender — wenn auch aufgrund des jeweiligen sozioökonomischen Entwicklungsstandes von qualitativ unterschiedlicher —) politischer Bedeutung sind, ist die Frage nach Art und Größe der zu lösenden großstädtischen Probleme von entsprechender Wertigkeit. Ver-und Entsorgung Obwohl eine fühlbare Verringerung der „Bevölkerungsexplosion" erst ab Mitte der 80er Jahre zu erwarten ist (Baade), dürfte die Nahrungsmittelversorgung quantitativ bereits im Laufe der 70er („Grüne Revolution") und qualitativ („Eiweißlücke") gegen Anfang der 80er Jahre wesentlich verbessert sein. Problematisch bleiben aber noch Transport und Lagerung der Nahrungsmittel, hierfür sind kostenintensive Investitionen (Infrastruktur, Lagerräume) nötig. Arbeitsteilung und Spezialisierung führen auch bei der Nahrungsmittelversorgung zu langen Transportwegen und zur Abhängigkeit der Großstädte von einem großen Umland und zu steigender Auslandsabhängigkeit. Dieser Trend gilt auch schon für die Entwicklungsländer, deren Großstädte nicht mehr in jedem Fall aus dem unmittelbaren Umland mit Nahrungsmitteln versorgt werden können. Treten Versorgungsengpässe auf, so werden aus politischen Gründen (Unruhen) Nahrungsmittel zuerst für die Großstadtbevölkerung bereitgestellt (z. B. in Indien). Die Möglichkeit von aus Hunger entstehenden Konflikten bzw. gar eines weltweiten Krieges wird von Jahr zu Jahr geringer werden. Doch trotz der möglichen Verlangsamung des Bevölkerungswachstums ab Mitte der 80er Jahre wird die Vergroßstädterung sich fortsetzen, wird die „Revolution der wachsenden Erwartungen" die Landbevölkerung zur Wanderung in die Städte veranlassen, werden dort aber ca. 20 °/o der arbeitsfähigen Einwohner keine gesicherten, regelmäßigen Einkünfte haben. Ob das politische Bewußtsein dann immer noch allein mit Nahrungsmitteln zu beruhigen sein wird, kann heute noch niemand sagen. Die Möglichkeit einer politisch-revolutionären Bewußtseinsänderung sollte jedenfalls einkalkuliert werden.
Die Wasserversorgung der Großstädte in den Industrieländern ist in der Regel ausreichend, es besteht aber ein hoher Ausbaubedarf, und der Trend zu überörtlichen Verteilersystemen, d. h. zum großräumigen Verbund von Wassermangel-mit Wasserüberschußgebieten, zeichnet sich ab. Insbesondere die großen Verdichtungsräume müssen aus immer ferneren Arealen über Fernleitungen mit Wasser versorgt werden. In den Entwicklungsländern ist die Wasserversorgung bereits gegenwärtig selten ausreichend, der Nachholbedarf ist groß und steigt ständig infolge der Vergroßstädterung.
Die Probleme der Abfall-und Abwasserbeseitigung sind weder in den Industrie-noch in den Entwicklungsländern gelöst. In den Großstädten der Entwicklungsländer fehlt oft noch jede geregelte Abfallbeseitigung, die Abwässer werden häufig — wenn überhaupt — in offenen Gräben abgeleitet. Beide Probleme sind — gemessen am sonstigen zivilisatorischen Standard — in den Industriestaaten von gleicher Dringlichkeit. So wird z. B. in der Bundesrepublik Deutschland nicht einmal die Hälfte aller Abwässer ausreichend in Kläranlagen gereinigt. Der Nachholbedarf ist von größter Kostenintensität, da sich die Kosten je Meter normaler Netzstrecke bei den Ver-und Entsorgungsleitungen verhalten wie 60 (Elektrizität) : 100 (Gas) : 154 (Wasser) : 255 (Abwasser) (nach Kaltofen). Dabei steigt der Abfall-und Abwasseranfall in den Großstädten nicht nur durch das Bevölkerungswachstum, sondern auch relativ je Einwohner infolge der sich — vor allem in den Industrieländern — verbessernden zivilisatorischen Lebensumstände.
Die sich daraus und aus anderen Ursachen (Verkehr, Industrie, Landwirtschaft) ergebende Verschmutzung der Umwelt summiert sich in den Großstädten einschließlich ihrer Umgebung und ist in den Industriestaaten bereits zu einem gesamtstaatlichen und internationalen Problem und damit auch zum Gegenstand der internationalen Politik geworden. Am Beispiel der kommunalen Daseinsvorsorge zeigt sich der fließende und sich verkleinernde Unterschied zwischen Kommunal-und Staatspolitik, der sich rein logisch schon aus dem räumlichen Kontraktionsprozeß in den Industriestaaten ergibt.
Zusammenfassend läßt sich über räumliche Er-streckung und politische Bedeutung der großstädtischen Ver-und Entsorgung sagen, daß mit steigender Spezialisierung, Arbeitsteilung und Vergroßstädterung auch das für die Daseinsvorsorge der Großstädte nötige Umland wächst. Wenn die Bevölkerung gleichmäßig über die (homogene) Staatsfläche verteilt lebt, kann sie sich jeweils aus dem engeren Umland versorgen. Wenn sie sich jedoch in einzelnen Regionen und darin liegenden großen Städten verdichtet, muß sie nicht nur aus einem entsprechend großen Umland versorgt werden. Es besteht darüber hinaus die Gefahr der nicht regenerierbaren Umweltbelastung, die im Extremfall zu einer existentiellen Gefahr für die betroffenen Großstädte werden kann.
Noch eine weitere Folge dieser Entwicklung hat staatspolitische Bedeutung: je größer ein großstädtisches Versorgungsgebiet ist, desto störempfindlicher ist das Versorgungssystem. Da die Bevölkerung von Störungen auf dem Ver-und Entsorgungssektor (Energie, Wasser, Abwasser, Abfall, Nahrungsmittel) direkt betroffen wird, hätte ein potentieller Gegner wirksame Pressionsmöglichkeiten, denen deswegen eine staatliche Krisenvorsorge vorbeugen muß. Durch die Ausdehnung der Versorgungssysteme steigen demnach der Zwang zur interkommunalen, innerstaatlichen und internationalen politischen Zusammenarbeit und die innerstaatliche strukturelle Empfindlichkeit.
Slums — Ausbildung — Verkehrsstruktur In den Großstädten aller Staaten wachsen die sozialen (und politischen) Gegensätze — gemessen an der Wohnraumstruktur — mit der Stadtgröße. Die private Armut konzentriert sich in den Slums, die sich durch die Zuwanderung der Landbevölkerung laufend ausdehnen. Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalttätigkeit steigen, Betriebe und Wohlhabende ziehen an den Stadtrand und die kommunale Steuerkraft sinkt. Für die altindustrialisierten Staaten sind die amerikanischen Großstädte und insbesondere New York Beispiele; in den Großstädten der Entwicklungsländer sind Slums typische Strukturmerkmale, die manchmal sogar schon „Bild und Struktur der Stadt bestimmen" (Sandner). Bis zu zwei Dritteln der Großstadtbevölkerung leben dort in Slums. Die Polarisierung und Separierung (Ghettos) der extremen sozialen Gruppen hat bisher aber nur in den USA und Irland militante Formen angenommen. In Manila sind die Wohnviertel der Reichen bewacht, das Stadtgebiet ist nach sozialen Klassen parzelliert. Diese Stadt ist'ein Symptom für die allenthalben befürchteten Gewalttätigkeiten des in den Slums lebenden revolutionären Bevölkerungspotentials. Zwar gab es noch keine längerdauernden kollektiven, politisch-sozial motivierten Gewaltaktionen, doch können sie durch Agitation evtl, eher erreicht als die Slums beseitigt werden. Potentiell reiche Staaten wie Brasilien und Kolumbien versuchen, Abhilfe durch sozialen Wohnungsbau zu schaffen. In vielen Staaten der Dritten Welt werden die Großstädte dazu aber nicht aus eigener Kraft in der Lage sein.
Die Bevölkerungsexplosion hat den Ausbau des Schulsystems in den Entwicklungsländern überholt, weitere Anstrengungen und Geldmittel sind für die Alphabetisierung und Fachausbildung als Grundlage industriestaatlicher Entwicklung nötig. Der Ausbildungsstand ist in den Großstädten besser als auf dem Land, aber noch keineswegs ausreichend. Generell sind die Ausbildungsmöglichkeiten in den Städten effektiver einsetzbar als auf dem Land. Die Großstädte können Schrittmacher des Fortschritts werden, wenn es gelingt, die Städte als Ausstrahlungszentren zu nutzen. Es müßte also gerade dem in den Entwicklungsländern zu beobachtenden Trend, daß die Städte überproportional viele Akademiker und Ausgebildete anziehen und das Land „aussaugen", entgegengewirkt werden. Vor allem müssen die Großstädte als Zentren der Bevölkerungsaufklärung über Empfängnisverhütung dienen, denn noch ändern nicht einmal die Zuwanderer ihr generatives Verhalten, noch zeigt sich keine „Schädigung der Fortpflanzungslust durch die Stadtzivilisation" (Hellpach). Diese zentrale Aufgabe, die im Vergleich zu den anderen anstehenden Problemen relativ geringe Kosten verursacht, aber von entscheidender Bedeutung für die Hebung des Lebensstandards bzw. für das überleben überhaupt ist, kann in den Großstädten mit einer besseren Kosten-Nutzen-Relation als auf dem Lande ansetzen
Das wichtigste Verkehrsproblem der Zukunft ist in den Industriestaaten der Großstadtverkehr; seine Struktur wird sich in den nächsten Jahren weiter verschlechtern. In den Entwicklungsländern ist der Ausbau des allgemeinen Verkehrssystems zusätzlich von großer Bedeutung für die Landesentwicklung. Eine Paralyse des Großstadtverkehrs ist von existentieller Gefahr für die Großstädte, da sie durch den Verkehr leben. Während das großstädtische Verkehrschaos in den Industrieländern in der dem Anwachsen des motorisierten Verkehrs nicht angemessenen Straßenkapazität seine wichtigste Ursache hat, fehlen in den Entwicklungsländern neben wetterfesten Straßen auch Verkehrsinfrastruktur, Massenverkehrsmittel und Verkehrsentmischung. Die Verkehrsinfrastruktur für die technisierte, arbeitsteilige Volkswirtschaft muß erst geschaffen werden. Die Kosten für den Ausbau der Verkehrssysteme (insbesondere Straßenbau und Massenverkehrsmittel) sind hoch.
Wirtschaftsstruktur — Bodenknappheit — Gebietsreform In den industrialisierten Ländern sind die Großstädte in der Regel Industriestandorte, werden aber auf dem Wege zur „Tertiären Zivilisation" immer stärker Dienstleistungszentren und damit „Angestellten-Metropolen". Die Arbeitsplätze sind dadurch konjunktur-unempfindlicher, d. h. in den Großstädten, die nicht noch in besonderem Maße und sektoral spezialisierte, strukturanfällige Industriestandorte sind (z. B. im Ruhrgebiet), gibt es in Konjunkturkrisen weniger Arbeitslosigkeit als auf dem Land. Dies gilt nicht für unterprivilegierte Minderheiten (katholische Bevölkerung in Nord-Irland, Neger in den USA). In den schwarzen Ghettos der amerikanischen Großstädte ist die Arbeitslosenrate doppelt so hoch wie bei der weißen Bevölkerung.
In den Entwicklungsländern sind Massenarbeitslosigkeit, verdeckte Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung Symptome der gegenwärtigen Wirtschaftsstruktur. In den Großstädten soll die durchschnittliche Arbeitslosenrate bei 15 v. H. liegen — und dies bei steigender Tendenz, obwohl die Großstädte eine Sonderstellung einnehmen, da sie stärker als das Land industrialisiert sind. In Lateinamerika ist die Arbeitslosenrate etwas geringer als in Asien und Afrika.
Ein weiteres Charakteristikum der Wirtschaftsstruktur der Großstädte in den Entwicklungsländern ist der hohe Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor (bis zu 70 v. H.). Die Dienstleistungsberufe sind in den Großstädten als Folge der Funktion als Verwaltungs-und Handelszentren und des Fehlens gewerblicher Arbeitsplätze überbesetzt, die Tätigkeiten oft unproduktiv (z. B. Kleinhandel) und nur eine spezifische Form der Arbeitslosigkeit. Die Zuwandernden sind als Industriearbeiter ungeeignet — sofern überhaupt industrielle Arbeitsplätze vorhanden sind.
Diese hohe Arbeitslosigkeit enthält ein Element der Unruhe. Eine krisenhafte Zunahme der Arbeitslosigkeit wird seitens der UNO bis zu Beginn der 80er Jahre erwartet. Die Schaffung von Arbeitsplätzen in Großstädten muß ein Hauptanliegen wirtschafts-und entwicklungspolitischer Maßnahmen werden.
Die Entwicklung der Bodenpreise ist Ausdruck wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik. Allerdings ist die wissenschaftliche Beobachtung der Bodenpreise sehr schwierig, da der Baulandmarkt einer Großstadt in viele Teilmärkte zerfällt. Der Zusammenhang Baulandpreise — Stadtgröße, d. h. daß die Baulandpreise mit der Stadtgröße wachsen, gilt nur für sehr global zu fassende Mittelwerte: z. B. für die Gemeindegrößenklassen der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen kann auch nur allgemein anhand der Baulandpreisentwicklung gefolgert werden, daß die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik in der Regel mit der Stadt-größe wachse.
Typisch dafür ist die Bodenknappheit in den Großstädten der Industrieländer. Für die Entwicklungsländer konnte Bodenknappheit nur in besonders dynamischen Großstädten (z. B. Rio de Janeiro, Mexiko City) festgestellt werden, in den anderen stehen dagegen noch Baulandreserven zur Verfügung — und somit dürften die Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung auch nicht als dynamisch zu bezeichnen sein (Arbeitslosigkeit!). Hat aber in einer Stadt bereits Bodenknappheit eingesetzt, so muß sich die Stadtverwaltung in privatwirtschaftlich strukturierten Ländern mit höchst unliebsamen Folgen auseinandersetzen: Bodenbedarf für öffentliche Zwecke kann oft nicht rechtzeitig, nicht ausreichend oder nur sehr teuer befriedigt werden, und dadurch können wieder städtebauliche Maßnahmen behindert und verteuert werden. Insgesamt ist die Bodenknappheit ein Problem, dem gegenwärtig in der öffentlichen, städtebaulichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland größte Aufmerksamkeit gezollt wird.
Ein weltweit ungelöstes Problem ist die fehlende Kongruenz zwischen kommunalen und funktionalen Großstadtgrenzen. Eine vorausschauende Planung muß sich auf die funktionalen, sozioökonomischen Raumstrukturen abstützen können, diesen müssen die kommunalen Gebietskörperschaften angepaßt werden. Der Zwang zur interkommunalen Zusammenarbeit, zur stadtüberschreitenden Planung ist weltweit nachzuweisen, da die kommunalen Grenzen für Ver-und Entsorgung und Planung bei der gegenwärtigen Vergroßstädterungsrate häufig zu eng gezogen sind. Nur die schwarzafrikanischen Großstädte haben noch häufiger Raumreserven als die anderen Städte der Dritten Welt oder gar der Industriestaaten. Da jede Gebietsreform die politischen Machtstrukturen verändert, wird dieses Problem jedoch trotz seiner Dringlichkeit nur äußerst behutsam angefaßt.
Finanzbedarf Als aktuelle, ungelöste Probleme der Vergroßstädterung wurden bisher behandelt:
— Ver-und Entsorgung, Umweltverschmutzung (Nahrungsmittel, Wasser, Abwasser, Abfall), — Wohnraumstruktur und Elendsviertel, — Alphabetisierung und Ausbildung, — Verkehr, — Wirtschaftsstruktur und Arbeitslosigkeit, — Bodenpreise und kommunale Gebietsreform. Der größte gemeinsame Nenner aller dieser anstehenden Aufgaben ist — neben dem Boden-bedarf — der Finanzbedarf, denn finanzielle Mittel sind zur Lösung aller Probleme nötig. Der Analyse der Finanzstruktur der Großstädte — die indirekt über die Behebung der anderen Probleme mitentscheidet — kommt deswegen eine Schlüsselstellung zu. Vor allem darf nicht vergessen werden, daß mit Geld Politik gemacht wird.
Zwei Aspekte der Entwicklung der Gemeindefinanzen scheinen in der Bundesrepublik Deutschland politisch besonders aussagekräftig zu sein: — Bei der Entwicklung der unmittelbaren Ausgaben (Aufgabenerfüllung) der Gebietskörperschaften in den 60er Jahren haben Bund und Gemeinden die höchsten und im Prinzip gleichen Steigerungsraten. Hiernach dürften in Zukunft eher die Gemeinden als die Länder die politische Gegenkraft des Bundes werden. — Gleichzeitig aber sind die Gemeinden am höchsten verschuldet und vom vertikalen Finanzausgleich abhängig. Die Gemeinden können also die politische Macht, die ihnen nach ihrer Finanzmasse zukommen müßte, nicht realisieren, da ihre finanziellen Eigenmittel nicht ausreichen und sie auf die Zuweisungen anderer Gebietskörperschaften angewiesen sind. In Wirklichkeit gewinnt also gegenwärtig hauptsächlich der Bund zusätzliche politische Macht und vor allem die eigentlichen föderalistischen Gegenkräfte, die Länder, büßen sie ein — gemessen am Indikator Finanzwirtschaft.
Die Großstädte haben unter den Gemeinden wohl noch die beste finanzwirtschaftliche Position, da sie Industriestandorte sind (Gewerbesteuer). Doch durch die stark steigenden Investitionen wächst ihre Verschuldung laufend. Bei steigender Tendenz erfolgen gegenwärtig bereits rund 50 °/o der Investitionen der öffentlichen Gebietskörperschaften durch die Gemeinden. Die Zunahme der mittleren jährlichen Verschuldung je Einwohner liegt bei den kreisfreien Städten bei 20 °/o, die tragbare Verschuldungsgrenze ist im Durchschnitt fast erreicht. Die Diskussion um die Neuverteilung der Steuern zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist, was die Gemeinden betrifft, mit der Gemeindefinanzreform nicht beendet. Letztere war nur ein Schritt, um der laufenden Umstrukturierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, deren Ausdruck die Vergroßstädterung ist, finanzwirtschaftlich Rechnung zu tragen. Dieser Anpassungsprozeß muß und wird weitergeführt werden. Die Wachstumsprobleme der Großstädte werden immer mehr ein gesamtstaatliches Anliegen.
Doch die Verschuldung der Großstädte ist wiederum kein Problem, das die Bundesrepublik Deutschland allein betrifft. Die kommunale Verschuldung und Abhängigkeit von staatlichen Zuweisungen ist in anderen Staaten noch größer: Italien, die Niederlande, Großbritannien, New York und Istanbul sind dafür Beispiele. Diese finanzwirtschaftlichen Probleme folgen allerdings auch zwingend aus den zuvor erörterten weltweiten Wachstumsproblemen der Großstädte, die bei ausreichenden finanziellen Mitteln nicht so kraß in Erscheinung treten würden.
Die Rolle der Großstadt in Krisen und Konflikten Für die 70er Jahre zeichnet sich eine multipolare, instabile Mächtekonstellation ab, die ihre Interessengegensätze in der Dritten Welt austragen wird, welche ihrerseits aufgrund der gegebenen sozioökonomisch-politischen Strukturen sehr krisenanfällig ist. Die Strukturmängel der Großstädte sind dafür symptomatisch, sie können leicht zum auslösenden Faktor werden. Doch die Industriestaaten sind auf das Funktionieren des weltwirtschaftlichen Systems (Welthandel) angewiesen, weswegen sie ihre Außenpolitik, in den Existenzfragen im Sinne einer Weltinnenpolitik (Weizsäcker) vermehrt koordinieren müssen. Die durch die Industrialisierung bedingte Auslandsabhängigkeit wächst weiterhin und führt zur Bedeutungszunahme außenpolitischer Probleme.
Die Industriestaaten werden sich aber auch innenpolitisch vom liberalen „Laissez-faire, Laissez-aller" stärker lösen und statt dessen insbesondere Krisenvorsorge gegen die großstadtbedingte strukturelle Empfindlichkeit treffen müssen. Der Produktionsausfall einiger Großstädte würde sich lähmend auf den gesamten Wirtschaftsablauf und die innerstaatliche Stabilität auswirken.
Darauf basiert auch die Bedeutung der Großstädte in der Nuklearstrategie, denn die Zer-Störung von 50 v. H.der Industriekapazität und der Zusammenbruch des Organisationsnetzes würden bereits das überleben als Industriegesellschaft unmöglich machen. Für diesen Effekt genügen in einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland zehn nukleare Sprengkörper von je zwei Megatonnen TNT Sprengkraft. Der auf diesen makabren Folgen beruhende Abschreckungsmechanismus garantierte bisher den Frieden. Er muß durch ein Krisenmanagement ergänzt werden, da „zivile" Krisen immer leichter auslösbar werden und die Gefahr der Eskalation in sich tragen. Diese Krisenanfälligkeit der vergroßstädterten Staaten macht sich die Stadtguerilla zunutze. Dabei war ihr bisher aber nur Erfolg beschieden, wenn sie aus der Mitte von sozioökonomisch benachteiligten, in Ghettos wohnenden Minderheiten heraus operieren konnte (Uruguay, Brasilien, Irland). Gelingt es der Staatsmacht, die Entstehung solcher Ghettos zu verhindern, ist der Stadtguerilla eine wesentliche Voraussetzung entzogen.
III. Ausblick
Die generalisierte Darstellung der Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen der Vergroßstädterung zeigte, daß — die Bevölkerungsexplosion sich noch immer ungehemmt vollzieht;
— das weltwirtschaftliche Nord-Süd-Ungleich-gewicht eher zu-als abnimmt;
— das Welthungerproblem lösbar geworden ist;
— der Umweltverschmutzung und — der Finanzmisere der Großstädte weltweit hohe politische Priorität zukommen müßte; — in den Industriestaaten der innerstädtische Verkehr und — in den Entwicklungsländern die Arbeitslosigkeit, das Ausbildungsproblem und das Wohnungselend als kardinale Probleme hinzukommen.
Es soll nun keineswegs der Eindruck erweckt werden, der Verfasser hinge Gedanken ä la Spenglers „Untergang des Abendlandes" nach, etwa mit der Variante: „Untergang der Menschheit". Die Vergroßstädterung ist ein der technischen Zivilisation immanenter weltweiter und irreversibler Prozeß, raumstruktureller Ausdruck der technisch-sozioökonomischen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Sie beeinflußt die Politik und die Politik ihrerseits muß unausgesetzt versuchen, negative Folgen der Vergroßstädterung zu verhindern. Da die Großstädte — wie wir zuvor gesehen haben — die politischen und zivilisatorischen „Nervenzentren" (Maull) der Gegenwart sind, erschien es dem Verfasser lohnend, ihre unge-lösten Probleme in regionaler Betrachtung zu untersuchen Es hilft nicht weiter, sich emphatisch für oder gegen die große Stadt auszusprechen, wichtiger ist es, ihre politische Bedeutung zu erkennen und auf ihre sich abzeichnenden Schwächen hinzuweisen, um ihre weitere wissenschaftliche Erforschung zu provozieren und evtl. Anstöße zu politischem Handeln zu geben. „Denn die Zukunft der Menschheit liegt nicht im Weltraum und nicht in der atomaren Auseinandersetzung mit interkontinentalen Raketen, sie liegt nicht in den Dschungeln, Meeren und Wüsten. Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten und Stadtregionen von morgen, und es wird nur in heilen Städten eine hoffnungsvolle Zukunft sein." Diese Sätze des vormaligen Kommunalpolitikers Vogel mögen überspitzt formuliert sein, doch den Kern der Aussage kann der Verfasser nur bekräftigen. Die gedeihliche Fortentwicklung der großen Städte müßte schon als Folge der Vergroßstädterung aus quantitativen Gründen ein zentrales Thema der Politik werden; sie muß es darüber hinaus auch aus qualitativen Gründen werden, da in der Vergangenheit die Stadt zum Träger der technischen Zivilisation wurde, in der Gegenwart aber immer struktur-empfindlicherer wird.
Detlef Herold , Dr. rer. nat., geboren 1940 in Berlin; Studium der Geographie, Politologie und Leibeserziehung in Berlin (West) und Freiburg i. Br., Staatsexamen 1965; bis 1967 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Angewandte Geographie der FU Berlin; seither im Bundesministerium der Verteidigung, derzeit Planungsstab. Veröffentlichungen u. a.: Zum Problem „Raum und Gesellschaft" aus der Sicht der Geographie und der Soziologie, in: Wirtschaftsgeographie, 13. Jg. (1969), H. 2, S. 42— 50; Industrie-, Wirtschafts-und Machtpotentiale im internationalen Vergleich (gemeinsam mit W. Schultes), in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, 20. Jg. (1970), H. 5, S. 251— 263; Die weltweite Vergroßstädterung, ihre Ursachen und Folgen aus der Sicht der Politischen Geographie. = Abhdln. d. 1. Geogr. Instituts d. FU Berlin, Bd. 19, Berlin 1972 (Diss. zur Zeit im Druck).
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