Vom Wandel des Polenbildes in Deutschland (1772-1972)
Hans-Adolf Jacobsen
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Zusammenfassung
Die deutsch-polnischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart sind nicht zuletzt durch die Perzeption (Bild vom Nachbarn) bzw. Misperzeption in hohem Maße beeinflußt worden. Wenngleich darüber bis heute auch noch keine systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegen, so lassen sich in der Tendenz doch ganz bestimmte Phasen vom Wandel des Polenbildes in Deutschland erkennen. Nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert hat der Freiheitskampf der polnischen Adelsnation lange Zeit als Vorbild nationaler Freiheitsbewegungen und politisch-sozialer Neuordnung in Deutschland gewirkt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem nach der Reichsgründung, setzte jedoch eine zielstrebige innen-und außenpolitisch motivierte Germanisierungspolitik gegenüber den Polen ein, die den langwierigen, erst 1945/49 endenden Volkstumskampf zwischen Polen und Deutschen mit steigender Intensität und wechselnden Rollen einleitete. Nach Wiedererrichtung des polnischen Staates und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurde Polen zum eigentlichen Nationalfeind der Deutschen hochstilisiert. Dieses „Feindbild" wurde zu Beginn der NS-Epoche zwar durch eine Partnerschaft aus Gründen der Staatsräson überlagert, doch spätestens 1939 ließen Hitler und seine engsten Anhänger erkennen, daß sie aus machtpolitischen und ideologischen Gründen gewillt waren, den polnischen Staat auszulöschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Polenbild in beiden Teilen Deutschlands zunächst weitgehend Resultat des „Kalten Krieges" und damit des gesellschaftspolitischen Antagonismus. Erst Ende der fünfziger Jahre begann ein Prozeß der Differenzierung und Objektivierung desselben in der BRD, wenngleich auch nach wie vor die Informationen über Polen sehr zu wünschen übrig lassen. Die im Zeichen der Entspannung angestrebte deutsch-polnische Kooperation wird in Zukunft wahrscheinlich erst dann einen echten Beitrag zur Gestaltung des Friedens in Europa leisten können, wenn es gelingt, das traditionelle „Feindbild" durch ein Nachbarbild zu verdrängen. Dazu müssen auf beiden Seiten noch immer latent vorhandene Vorurteile und Klischees der Vergangenheit zielstrebig weiter abgebaut werden.
Die beiden nachfolgenden Beiträge von Prof. Dr. H. -A. Jacobsen (Bonn) und Dr. M. Tomala (Warschau/Den Haag) sind einem in Kürze im Droste Verlag, Düsseldorf, erscheinenden Sammelband entnommen, der im Rahmen eines der ersten Kooperationsprojekte zwischen Geisteswissenschaftlern der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages von 1970 publiziert wird. Dabei wurde vereinbart, daß Dr. Tomala in alleiniger Verantwortung die polnischen Artikel auswählt bzw. einführt und Prof. Dr. Jacobsen die deutschen; das Buch soll auch in einer polnischen Ausgabe veröffentlicht werden. Sicherlich wird jede Seite manches an der Darstellung und den Thesen der anderen Seite auszusetzen haben. Das gilt aus deutscher Sicht im besonderen für den hier abgedruckten Aufsatz von Dr. Tomala. Doch zunächst kam und kommt es darauf an, die polnischen und deutschen Ansichten gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen und durch stetig zu verbessernde Kommunikation zwischen Ost und West zu versuchen, die beiderseitigen, zweifellos immer noch vorhandenen Vorurteile und Klischees aus der Vergangenheit weiter abzubauen. Daß dafür auch in Zukunft noch viel guter Wille, Geduld und Zeit erforderlich sein werden, wird durch diese deutsch-polnische Anthologie erneut verdeutlicht. Die Redaktion
Zur Rolle von Nationenbildern
Zweifellos haben in den Köpfen der Deutschen die Bilder, die sie von ihren Nachbarn hatten, gerade im Hinblick auf die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert, eine wichtige, z. T. verhängnisvolle Rolle gespielt. Gemeint damit ist die Summe der mehrheitlichen kollektiven oder individuellen Vorstellungen und Urteile in Deutschland über den polnischen Staat und das polnische Volk, die verhaltens-und entscheidungssteuernd gewirkt hat. Diese Bilder mannigfacher Schattierungen sind wahrscheinlich unabhängig von den objektiven Kenntnissen der betroffenen Personen und Sachverhalte entstanden. Meist handelt es sich dabei um subjektiv gewertete, von ganz besonderen Traditionen geprägte und selektiv wahrgenommene Leitbilder. Diese können auch als Stereotype bezeichnet werden, die aufgrund des eigenen Rollenverständnisses mit gewissen Eigenschaften behaftet sind und vielfach einseitigen, grob simplifizierenden Bildern von der Wirklichkeit gleichen. Letztere dürften einer empirischen Überprüfung nur in recht begrenztem Umfange standhalten. Derartige Bilder sind fraglos Resultanten spezifischer Interessenlagen, besonderer struktureller Faktoren (z. B.der Organisation von Massenmedien) und sozioökonomischer Bedingungen, unterschiedlichen Informiert-3 seins, variabler Wertvorstellungen der eigenen ethnischen Gruppe und schließlich der Wechselwirkungen mit mehr oder minder emotionaler Beteiligung*). Sie dienen dazu, äußerst komplexe Sachverhalte in das eigene, durch den sozialen Lernprozeß bereits vorgeprägte „System von Wahrnehmungseigenschäften" einzuordnen. Dadurch gewähren sie feste Orientierungshilfen und kanalisieren aufgestaute Gefühle in gleichlaufende Bahnen. Außerdem üben sie eine gewisse Entlastungsfunktion aus, d. h., sie können eigene Schwächen und Fehler entschuldigen. Schließlich erleichtern sie die Zuordnung zu dem eigenen Konformitätsmodell, denn sie wirken integrativ und stärken die Kohärenz. Die Qualität des anderen wird häufig am Selbstbildnis gemessen, wobei erfahrungsgemäß die eigene Gruppe besser abschneidet als die Außengruppe, mögen die unangemessenen Verallgemeinerungen über das Objekt partiell auch sinnvolle bzw. zutreffende Aussagen enthalten.
Bei den Bildern in Deutschland, die stets von der spezifischen Lage Polens zwischen Deutschland und Rußland und den offenen Grenzen mitgeprägt worden sind, trifft sicherlich zu, was Hofstätter einmal in einem allgemeinen Zusammenhang hervorgehoben hat, daß nämlich die Unterschiedsempfindlichkeit der Wahrnehmung des anderen abnehme, je größer die soziale Distanz sei und um so stärker typisiert werde, je „ferner uns eine Menschengruppe in sozialer, geographischer oder historischer Hinsicht" stehe. So haben z. B. Schlesier, Pommern und Ostpreußen die Polen anders erlebt als etwa Nord-, West-und Süddeutsche W. Lippmann hat überdies auf ein besonderes Phänomen hingewiesen, das für unsere Fragestellung — cum grano salis — ebenfalls Gewicht hat. Die Menschen würden in den „meisten Fällen" definieren, ehe sie sehen, und nicht sehen, ehe sie definierten. Aus der „unendlich bunten Vielfalt" der die Menschen umgebenden Welt griffen diese meist das heraus, „was von der Kultur schon definiert" worden sei-, sie pflegten es dann auch in dieser ihnen „überlieferten stereotypen Form" wahrzunehmen
Neuere Forschungen in den fünfziger und sechziger Jahren auf dem Gebiet der Kommunikationswissenschaft, der Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft haben verdeutlicht, in welchem Maße Bilder von der internationalen Umwelt aufgrund lückenhafter oder fragmentarischer Lageberichte zu politischem Fehlverhalten führen können, vor allem dann, wenn Handlungen des Gegenüber oder des Nachbarn von dem Bild abweichen, das man selbst von ihnen hat. Die Gefahr wächst, daß die beiderseitigen Beziehungen von gegenseitigen Mißverständnissen, ja von zunehmendem Haß und wachsender Angst-psychose begleitet werden, zumal wenn eine negative Interpretation des anderen Verhaltens und tendenziöse Selektion der Information hinzukommen. Bei entsprechenden Interessengegensätzen und forcierten Rückkoppelungsprozessen kann sich eine solche Entwicklung zu einem immer bedrohlicheren „Feindbild" steigern und schließlich in offene Aggression münden. Dabei ist es möglich, eigene Schuldgefühle und Frustrationen auf den anderen abzuwälzen
Wer versuchen will, die oben angedeuteten Gesichtspunke der Perzeption auf das Polen-bild der Deutschen zu übertragen, wird sich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen. Er wird zu der Erkenntnis kommen müssen, daß trotz beachtlicher Leistungen der Historiographie und Politikwissenschaft entscheidende beiderseitige Interaktionen im Hinblick auf ihre politische Relevanz noch gar nicht hinreichend untersucht worden sind. Die nachfolgenden Ausführungen können und wollen nicht den Anspruch erheben, diese Lücke zu füllen. Auch kann es nicht die Aufgabe derselben sein, die vielschichtigen Probleme der Modernisierung Polens unter der Herrschaft der drei europäischen Großmächte, die Entwicklung Polens im europäischen Staatensystem und die zahlreichen wissenschaftlichen Kontroversen über das deutsch-polnische Verhältnis in der Vergangenheit zu erörtern. Dies ist an anderer Stelle mit großer Sachkenntnis, beachtlichem Einfühlungsvermögen und stetem Streben nach Objektivität geschehen. Erinnert sei hier nur an die grundlegenden Arbeiten der deutschen Historiker G. Rhode, W. Conze, H. Laeuen, M. Hellmann, M. Broszat und H. Roos, um die wichtigsten aufzuführen, und an die verdienstvollen Bemühungen der deutsch-polnischen Schulbuchkommission
In dem nachfolgenden Überblick sollen lediglich einige der tendenziell bedeutsamen Aspekte und Phasen von den Bildern in deutschen Köpfen über Polen und deren Wirkungen, sicherlich nicht immer differenziert genug, skizziert werden.
Opfer europäischer Großmachtpolitik (1772— 1815)
Polen hatte bis zum 18. Jahrhundert eine eigentümliche, von den absolutistischen Monarchien der Neuzeit weitgehend unterschiedliche, eigenständige Entwicklung durchgemacht, die frühzeitig die Herausbildung demokratischer Verfassungsnormen begünstigt hat. Zwischen gewähltem König und Adelsnation war ein Gesellschaftsvertrag zustande gekommen, der Gleichheit und Freiheit aller Edelleute innerhalb der Nation und ein konstitutionell verankertes Widerstandsrecht garantiert und der als Lehrstück moderner Staatstheorien die heraufkommende Aufklärung beträchtlich beeinflußt hat
Die Vereinigte Polnische Republik umfaßte damals ein Territorium von 730 000 qkm mit 11, 4 Millionen Einwohnern, von denen rd. 1 Million Angehörige zur Adelsgesellschaft („szlachta"), d. h. etwa 8 °/o zählten, die Wähler und wählbar zugleich für alle Ämter w °/o zählten, die Wähler und wählbar zugleich für alle Ämter waren und die über untertänige Bauern polnischer, ruthenischer und litauischer Sprache herrschten. Das Bild der letzteren war vom Blickpunkt deutscher Beobachter vornehmlich durch eine elende gedrückte Lebenshaltung und „selbstgenügsame Bedürfnislosigkeit" gekennzeichnet 7). Fraglos war Polen ein Land krasser sozialer Gegensätze. Die polnische Aristokratie war absolut und auch relativ (nach der Dichte der Bevölkerung) die „numerisch stärkste Trägerschicht einer ständischen Verfassung im neuzeitlichen Europa" 8). Ihr war die Polonisierung nach Sprache und Kultur zu verdanken, d. h. die Vaterlandssprache, die neben der katholischen Konfession eine der wesentlichen Klammern der „adligen Nation" bildete, d. h. einer „Aristokratie ohne Nation", die den Anspruch erhob, die gesamte polyethnische Einwohnerschaft der Republik zu repräsentieren. Wenn auch die kaum noch überschaubare Vielfalt einzelner Herrschaften nicht zur staatlichen Zersplitterung wie im Heiligen Römischen Reich geführt hatte, so hat doch die „oligarchische Zerrissenheit der Hoheitsverfassung" im Ausland Anlaß zur Kritik gegeben und eine Motivation für die Teilung geboten. Katharina die Große von Rußland hatte von der „glücklichen Anarchie" gesprochen, die es zu erhalten gelte. Friedrich II., der Große, beur-teilte die innerstaatliche „Anarchie" des Nachbarstaates als „sittliche Schwäche"; für ihn war Polen die „elendste Nation Europas", ja die „ganze Gesellschaft auf .. . ki" eine in jeder Hinsicht „verächtliche Nation" Mochte in diesem Urteil auch etwas von der tiefen Kluft zwischen dem modernen Staatsideal aufgeklärter Monarchien des 18. Jahrhunderts und einer antiquierten republikanischen Adelskonföderation mit ihren patriarchalischen Strukturen und ihren besonderen Codices zum Ausdruck kommen, in dieser grundsätzlichen Geringschätzung der Polen, auch als Folge des traditionellen Kulturgefälles von West nach Ost und damit des unterschiedlichen Bewußtseinsund Wirtschaftszustandes, manifestierte sich eine der Einstellungsweisen der Deutschen gegenüber den Polen.
Wahrscheinlich hat M. Broszat recht, wenn er in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, daß gerade dieser „entgegengesetzte Stil preußischer und polnischer Staatsgestaltung und -auffassung“ eine der Ursachen dafür gewesen sei, daß das „Aufeinandertreffen von preußischer Staatsverwaltung und polnischer Nation", das mit der Teilung Polens begann, in so starkem Maße „die Gestalt einer Fremdherrschaft" angenommen hat So konnten sich schon frühzeitig gegensätzliche stereotype Vorstellungen vom „polnischen und preußischen Wesen" ausbilden und verfestigen. Während die politischen Eliten Preußen-Deutschlands primär etatistisch dachten und handelten und daher in den „anarchischen" Verhältnissen Polens ihr „Anti-Bild" sahen, waren die Polen mehr gesellschaftspolitisch-„volklich" orientiert; für sie war das preußische Staatswesen der eigentliche Landesfeind. Ende des 18. Jahrhunderts nutzten die drei europäischen Großmächte Rußland, Preußen und Österreich die innere Schwäche Polens aus. Sie beschleunigten den Niedergang der polnischen Herrschaft und erweiterten ihre eigene Machtbasis, indem sie Polen in drei Etappen untereinander aufteilten. Auf diese Weise wurde Polen das Opfer europäischer Großmachtpolitik.
Vorbild nationaler Freiheitsbewegungen und politisch-sozialer Neuordnung (1830/1863).
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es zunächst unterschiedliche Impressionen und Berichte einzelner Literaten, Wissenschaftler und Publizisten in Deutschland, die, bedingt durch Erfahrungen, soziale Lage und politische Entwicklung, eine im ganzen recht wohlwollend-positive Einstellung in den gebildeten Ständen Deutschlands gegenüber den Polen erzeugten. So hatte z. B.der junge H. Heine 1822 den preußischen Teil Polens durchstreift und dabei Land und Leute kennengelernt. Obgleich er offen zugegeben hat, daß die allgemeinen Charakteristika von Menschen die „Quelle aller Übel" sei — denn es gehöre mehr als ein Menschenalter dazu, den Charakter eines einzigen zu ergründen —, entwarf er Skizzen vom Typus des polnischen Edelmannes, Bauern, Juden und von den „Weibern", die dank seiner ausgeprägten Begabung für scharfe Natur-und Lebensbeobachtungen ebenso farbig wie realistisch waren. Bedingt durch die „Barbarei im Osten", die „eindringende Überkultur des Westens" und das lange Landleben war der polnische Adelige für ihn vor allem „gastfrei, stolz, mutig, geschmeidig, falsch (dieses gelbe Steinchen dürfe nicht fehlen), reizbar, enthusiastisch, spielsüchtig, lebenshungrig, edelmütig und übermütig", überdies sei dieser vom Nationalstolz, der durch die Idee der Gleichheit gefördert werde, von Vaterlandsliebe und großem Freiheitswillen durchdrungen, ohne allerdings Anstalten zu machen, seine Bauern zu emanzipieren. Nach seinen Eindrücken war der polnische Bauer dem Trinken übermäßig zugetan, „von gutem Körperbau", „starkstämmig von soldatischem Aussehen", dabei freilich von einer erstaunlichen Sorglosigkeit und geradezu „empörenden Unterwürfigkeit" gegenüber dem Edelmann. Dennoch bezweifelte Heine, daß der in z. T. beschämender Armut lebende Bauer wirklich unglücklich sei, denn der Begriff des Glücklichseins müsse in seiner Relativität auf-gefaßt werden. Scharf kritisierte dieser wohl bedeutendste deutsche Lyriker zwischen Romantik und Realismus jene Journalisten, die, ohne Mitgefühl für die politischen Leiden der Polen zu haben, das Schicksal Polens allein mit der Uneinigkeit des Volkes motivierten. Nach seiner Meinung verschuldete kein Volk, „als Ganzes gedacht", etwas. Vielmehr verfolge die Geschichte auch mit Völkern ihre eigenen „großen Zwecke". Die Polen, „ein slawisches Grenzvolk an der Pforte der germanischen Welt", schienen ihm durch ihre Lage geradezu dafür prädestiniert zu sein, gewisse Aufgaben in den „Weltbegebenheiten" zu erfüllen
Nur wenige Jahre später sammelte ein anderer Deutscher, bald nicht minder prominent, seine Erfahrungen im Umgang mit den Polen: H. v. Moltke Er ließ in seinen Briefen und Schriften, die jedoch ohne nennenswerten Einfluß auf das öffentliche Bewußtsein geblieben sind, noch ein tiefes Verständnis für das polnische Wesen erkennen, wenngleich es auch vorwiegend die reichen und vornehmen Bekanntschaften waren, die ihn beeindruckten und die er als äußerst angenehm empfunden hatte. Er hatte „Güte und Artigkeit", Bildung, Unterhaltung und Fröhlichkeit der Polen schätzen gelernt und bei aller Sympathie für seine Gastgeber zugleich ein feines Gespür für die Unterschiede zwischen diesen und den Deutschen bewiesen. Ihm war nicht nur die Unausgeglichenheit des polnischen Charakters aufgefallen, sondern auch die besondere Freiheitsauffassung der Polen, die in dem Verhältnis der Adeligen zu den öffentlichen Institutionen zum Ausdruck kam und die in einem offensichtlichen Gegensatz zur preußischen Staatsethik stand.
Nachhaltiger wurde indessen das Polenbild in Deutschland durch die revolutionären Ereignisse der Jahre 1830'31, 1848 und 1863 beein-flußt Die polnische Erhebung im soge-nannten Kongreßpolen gegen die russische Herrschaft 1830 und damit gegen den „Gendarm Europas" und das Bollwerk der Reaktion — eine Antwort auf den systematischen Abbau der den Polen 1815 zugestandenen verfassungsmäßigen Freiheiten durch die Politik Alexanders I. und Nikolaus I. — hatte den Anspruch der polnischen Nation, d. h.den seiner Eliten, auf Unabhängigkeit verdeutlicht. Aber schon im September 1831 war der Aufstand zusammengebrochen. Große Teile der Armee mußten ins Ausland flüchten. Viele Polen führten seitdem nur noch ein Emigrantendasein.
Fraglos ergriff in diesen Monaten eine Welle des Enthusiasmus weite Teile Deutschlands für die polnische Sache. In Zeitungsberichten, Artikeln, Büchern nd Gedichten von Journalisten, Historikern, Dichtern und Lyrikern wurden die polnischen Rechte verteidigt, der Leidensweg dieser Nation manchmal recht schwärmerisch geschildert und der Helden-mut des Freiheitskampfes gepriesen, wobei die Wiedererrichtung eines polnischen Staates als stimulierendes Beispiel für den Kampf der Liberalen um ihre konstitutionellen Freiheiten im eigenen Lande betrachtet wurde. Möglicherweise haben damals mehr als 300 fortschrittlich gesinnte Deutsche, die von den Ursachen und Zusammenhängen der „polnischen Tragödie" wahrscheinlich nur ziemlich oberflächlich etwas wußten, den Kampf der Polen gegen ihre Unterdrücker mit der Feder unterstützt. Andere haben die von Ort zu Ort durch Deutschland reisenden, flüchtigen Polen (über 3 000) gastlich versorgt.
Nüchterner, z. T. ablehnender haben demgegenüber Regierungskreise und offizielle Presseorgane in Deutschland den polnischen Freiheitskampf beurteilt. Aus ihren Argumenten sprachen die Staatsräson und eine wohl etwas realistischere Beurteilung des Charakters der Erhebung. Nach ihrer Auffassung hatte nicht ein ganzes Volk für seine Unabhängigkeit gekämpft, sondern vorwiegend jene Kräfte, die an der Wiederherstellung der polnischen Adelsnation von 1795 interessiert waren Auch die späteren Freiheitsbewegungen (1846/48 und 1863), nach deren Scheitern eine längere Phase der Ernüchterung und Resignation bei den Polen einsetzte, verbunden mit einem zunehmenden Arrangement der führenden Schichten mit den Teilungsmächten, fanden in der öffentlichen Diskussion Deutschlands lebhaften Widerhall und weckten erneute Sympathien für Polen. Jedoch haben diese zu keiner Zeit den reaktionären Kurs der Regierungen zu ändern vermocht; zu ungleich waren damals noch die Kräfte-verhältnisse
Zu den politisch interessierten Persönlichkeiten, die die Vorgänge in Kongreßpolen und Europa sorgfältig registrierten (zweifellos ein überaus kleiner Prozentsatz der deutschen Bevölkerung), zählten u. a. auch K. Marx und F. Engels Sie haben sich zeit ihres Lebens intensiv mit der polnischen Frage auseinandergesetzt. Freilich taten sie dies weniger, weil sie etwa eine besondere Vorliebe für Polen besaßen, sondern weil sie in der Wiederherstellung eines polnischen Staates ein wichtiges Mittel zur revolutionären Veränderung in den Staaten sahen. Eine solche lag ganz einfach im praktischen Interesse der internationalen demokratischen Bewegung. Die nach dem polnischen Januaraufstand 1863 geschlossene Alvenslebener Konvention zwischen Rußland und Preußen, die fraglos die Niederwerfung der polnischen Patrioten begünstigt hat, war denn auch in ihren Augen gar nichts anderes als ein „deutscher Verrat" an Polen, zugleich ein Verrat an Deutschland und Europa. Sie forderten daher von der deutschen Arbeiterklasse, die „Wiederherstellung Polens in Flammenzügen auf ihre Fahne" zu schreiben, zumal der bürgerliche Liberalismus „diese glorreiche Parole von seiner Fahne wieder weggestrichen" habe
Schon 1848 hatten die beiden Theoretiker des Sozialismus die polnischen Revolutionäre als die natürlichen Bundesgenossen der deutschen Nationalbewegung bezeichnet, die gemeinsam die raktionären Kräfte in Österreich, Rußland und Preußen bekämpfen müßten. In der „Neuen Rheinischen Zeitung" stellten sie am 20. 8. 1848 lapidar fest: „Die Wiederherstellung eines demokratischen Polens ist die erste Bedingung der Herstellung eines demokratischen Deutschland" Schließlich trug das Scheitern des polnischen Auf-standes von 1863 wesentlich zur Gründung der I. Internationalen Arbeiterassoziation bei.
Mochten Marx und Engels über den territorialen Besitzstand eines künftigen polnischen Staates z. T. auch widersprüchliche Aussagen gemacht haben — zeitweilig traten sie für die Grenzen von 1771 ein unter der Bedingung einer Agrarrevolution —, für sie blieb das ganze Problem primär eine Funktion revolutionärer Veränderungen, d. h.der Synthese von internationaler Solidarität und nationalem Befreiungskampf. Der von ihnen wiederholt geäußerte strategische Gesichtspunkt, nämlich ein polnischer Staat würde ein künftiges demokratisches Deutschland vor Rußland sichern, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle
Objekt wilhelminischer Germanisierungspolitik (1871— 1914)
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Polen, nicht zuletzt infolge ihres wachsenden Nationalbewußtseins, für die meisten konservativen Führungseliten Preußen-Deutschlands in zunehmendem Maße die Funktion eines (subjektiv empfundenen) Bedrohungsfaktors erfüllt. Letztere lehnten die Wiedererrichtung eines selbständigen Polen ab, weil sie dies als wesentliche Schwächung und Gefährdung ihrer eigenen Nationalinteressen betrachteten. Die Politik der Polen im Deutschen Reich schien darüber hinaus die innere Sicherheit in Frage zu stellen. So wurde denn auch der bewußt forcierte Prozeß der Germanisierung der Polen, wohl in erster Linie der höheren sozialen Gruppen, damit begründet, dieser sei zur Wahrung preußisch-deutscher Staatsräson und zur Erhaltung der Reichseinheit notwendig.
Aus außenpolitischen Gründen sollte ein selbständiges Polen verhindert werden, um die Beziehungen zu Österreich und Rußland nicht allzu stark zu belasten. Innenpolitisch war die antipolnische Assimilierungspolitik zugleich eine Waffe Bismarcks im Kultur-kampf, verknüpft mit dem latenten Gegensatz: deutsch-evangelisch und polnisch-katholisch Ungeachtet des sicherlich bemerkenswerten Modernisierungsprozesses, der auch den Polen unter deutscher Herrschaft zugute kam — so z. B.den Bauern, den Gewerbe-und den Handeltreibenden —, leiteten die Vertreter des Kaiserreiches eine Reihe harter Maßnahmen ein, mit denen sie die Masse der Polen dem geistlichen und politischen Einfluß des polnischen Klerus und der nationalistischen Agitation des Adels zu entziehen suchten. So wurden z. B. die Schulen zum offenen Kampfinstrument der Entnationalisierung denaturiert, als 1873 in den polnisch besiedelten deutschen Ostgebieten Deutsch als offizielle Unterrichtssprache eingeführt wurde. Um dort das Anwachsen der polnischen Bevölkerung zu unterbinden oder, wie es häufig formuliert wurde, aus Sorge vor der „Überschwemmung durch das Slawentum", wurden Massenaustreibungen von Polen (1885-87) angeordnet (über 26 000). Dieses Vorgehen löste zwar innerhalb des Deutschen Reiches, so unter deutschen Katholiken, Liberalen und Sozialisten in Presse, Parlament und bei Kundgebungen, empörte Proteste aus, jedoch änderten diese an dem offiziellen Regierungskurs kaum etwas.
Um den polnischen Adel zurückzudrängen und gleichzeitig deutsche „Erbpächter" anzusiedeln, wurde ein systematischer Ankauf von Boden (1886) eingeleitet. Die offiziöse Begründung lautete: Die Polen wollten gar kein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Deutschen, sie würden entweder nur „Hammer oder Amboß" sein können; sie könnten daher nicht als loyale Staatsbürger gelten. Diese und andere drakonische Verfügungen, wie die des späteren Enteignungsgesetzes und des Verbots der polnischen Sprache bei öffentlichen Versammlungen (die aber z. T. mehr demonstrativen Charakter hatten), erfüllten jedoch den erhofften Zweck nicht. Es erwies sich vielmehr als eine Fehlspekulation anzunehmen, Deutschland würde es nach Ausschaltung der polnischen Führungsschicht nur noch mit einem unterwürfigen, gefügigen polnischen Volkstum, dem das Polnische als Heimsprache zugestanden wurde, zu tun haben. Mit der sich steigernden Entfremdung zwischen Deutschen und Polen wuchs der nationale Widerstand der Unterdrückten und Diskriminierten, deren häufige, hitzige nationalistische Parolen wiederum Wasser auf die Müh-B len deutscher Ostmarkenpropaganda leiteten
Der Wandel in der Beurteilung der polnischen Frage kam u. a. auch in Werken der deutschen Literatur zum Ausdruck. Der in Schlesien geborene G. Freytag, der bald zu einem der Lieblingsautoren im deutschen Bürgerhaus zählte, hatte in seinem Roman „Soll und Haben" (der Ende des Jahrhunderts bereits in der 50. Auflage erschien) seinen antipolnischen Affekten freien Lauf gelassen. Polnische Mißwirtschaft („polnische Wirtschaft" war auch ein von Bismarck gebrauchter, gängiger Begriff, der bis in die Gegenwart hinein für das Bild der Polen in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung bestimmend blieb), Liederlichkeit und Falschheit verkörperten das böse Prinzip, während in der Gestalt des Anton Wohlfahrt die „untadelige Tatkraft" eines bürgerlichen deutschen Siegfried glorifiziert wurde. Mit Recht ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, daß darin zum Teil, wenngleich auch noch „biedermeierlich-sentimental" gemildert, der „Kanon späterer grenzdeutscher und bürgerlicher Ostmarkenideologie" vorgezeichnet worden sei
Diese systematische Germanisierungspolitik, die allerdings in Deutschland nicht unwidersprochen blieb, führte zu jenem schweren, wechselvollen Volkstumskampf zwischen beiden Seiten, der nach Wiedererrichtung des polnischen Staates am Ende des I. Weltkrieges unter umgekehrten Vorzeichen fortgesetzt und erst mit der Vertreibung und Umsiedlung von Millionen Deutschen nach 1945 sein eigentliches Ende gefunden hat
Vom Nationalfeind zum „Rassefeind" (1919— 1945)
Dem 1918 wiedererstandenen polnischen Staat wurde durch den Versailler Vertrag im Westen Posen, Westpreußen und Teile von Oberschlesien zugesprochen. Diese Entscheidung wandelte das Polenbild in Deutschland quantitativ und qualitativ Wir wissen, daß bestimmte antipolnische Vorurteile in fast allen Schichten der deutschen Gesellschaft verwurzelt waren, aber doch wohl vorwiegend in bürgerlich-intellektuellen Kreisen.
Nunmehr erhielten diese neue Nahrung. Die durch die Katastrophe von 1918 tief in ihrem Nationalstolz getroffenen Angehörigen der Diplomatie, des Bürgertums, der Beamtenschaft, der Parteien, der Wissenschaft, der Reichswehr und der Industrie machten aus ihren Gefühlen keinen Hehl. Zahlreiche Vereine und Verbände, die nach Kriegsende gegründet worden waren, um das Deutschtum im Ausland kulturell und wirtschaftlich zu erhalten, bemühten sich, im Staat das Bewußtsein für die verlorenen Gebiete wachzuhalten und das Gemeinschaftsgefühl zwischen allen Deutschen zu pflegen. Zu den militantesten Repräsentanten derselben zählten u. a.der „Ostmarkenverein zur Förderung des Deutschtums", die „Alldeutschen", der „Flotten-Kolonialverein" und die Wehrverbände mannigfacher Provenienz. Psychologische Strukturen führender Persönlichkeiten, die soziale Struktur der Gesellschaft und der jeweils eigene Platz innerhalb derselben, Erfahrungen während des sozialen Lernprozesses und die vorwiegend einseitig perzeptierten Aktionen Polens begünstigten diese weithin antipolnische Stimmung im deutschen Volk und weckten die Bereitschaft zur Tat. Dabei vermischten sich in gefährlicher Weise, wie manchmal bei derartigen Fällen, berechtigte Sorgen um das Schicksal der Brüder und Schwestern draußen in der Ferne mit unverhohlenem Revanchegeist, der nur auf den Augenblick wartete, in dem ein wiedererstarktes Reich seine „gesamtdeutsche Verantwortung" erkannte und zu einer aktiven Revision überging. In Reaktion auf die Niederlage von 1918 wurden die Polen zum Nationalieind der Deutschen schlechthin hochstilisiert, außerdem zum Alliierten Frankreichs, , Störenfried Europas“ und „Unterdrücker“ der deutschen Minderheiten. Die nationale Sicherheit schien in erster Linie durch die Einkreisungspolitik Frankreichs und Polens gefährdet zu sein. Letztere verhinderten mit aller Macht ein Wiedererstarken Deutschlands. Zur Abwehr dieser „Bedrohung" verbündete sich die Republik daher mit der Sowjetunion.
Keine deutsche Regierung der Weimarer Republik war willens, die Ostgrenze des Reiches, etwa ähnlich wie dies in Locarno 1925 mit der Westgrenze geschehen war, anzuerkennen. Nicht nur Presse und Rundfunk weckten Emotionen gegen die polnische Politik, sondern auch die zahlreichen Wanderprediger der Parteien und Wissenschaft. Allerdings waren die Meinungen geteilt in der Frage, mit welchen Mitteln die Revision im Osten realisiert werden müsse. Es gab Repräsentanten der „harten" und „weichen" Lösung. Vor allem in diplomatischen Kreisen und bei den Linken strebten die Eliten eine Änderung der bestehenden Grenzen ohne Waffengewalt, höchstens mit Hilfe wirtschaftlicher Pressionen, an. Ein so prominenter Gelehrter und Politiker wie Otto Hoetzsch sprach von der „temporären Feindschaft", solange das Selbstbestimmungsrecht in den von Deutschland an Polen abgetretenen Gebieten noch nicht verwirklicht worden sei. Aus ähnlichem Grunde hielt der spätere Reichsaußenminister v. Neurath eine Verständigung mit Polen weder für möglich noch für wünschenswert. Innerhalb der Reichswehr zählte vor allem General v. Seeckt zu den prononciertesten Gegnern Polens. Die Existenz Polens war für ihn „unerträglich" und mit den „Lebensbedingungen" Deutschlands unvereinbar, so daß er zeitweilig sogar eine gewaltsame Lösung des Problems in Erwägung zog Eine befriedigende Regelung des deutsch-polnischen Spannungsverhältnisses schien den meisten Diplomaten erst dann möglich zu sein, wenn alle abgetretenen Gebiete, die unentbehrlich für die wirtschaftliche Versorgung des Reiches waren, uneingeschränkt an Deutschland zurückgegeben worden seien.
Bei diesem spezifischen Polenbild in Deutschland — soweit sich ein solches hier zusammenfassen läßt — ist ganz besonders die Wechselwirkung zwischen Wort und Tat der beiden Staaten und im Rahmen der europäischen Politik zu berücksichtigen. Die unter umgekehrten Vorzeichen einsetzende „Entdeutschung", nationalistisch-chauvinistische Parolen und Strömungen in Polen, die Forderungen nach einer angemessenen Vergrößerung durch die Annexion Ostpreußens und der Angliederung Ostdeutschlands bis zur Oder mit dem Ziel, ein Großpolen zu schaffen, wurden von deutschen Extremisten weidlich ausgeschlachtet. Die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zunehmende polnische Politik der Drohungen gegenüber dem Reich und der Wirtschaftskrieg steigerten Radikalität und Mißtrauen auf beiden Seiten. Was Warschau als Selbstbehauptungskampf deklarierte, interpretierte Berlin als Bedrohung seiner Sicherheit und Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts. Argumente und Handlungsweisen des anderen, z. T. willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen und selektiv vermittelt, dienten mehr und mehr zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war das Polenbild in Deutschland mannigfachen Schwankungen unterworfen. Die offiziöse Berichterstattung, gelenkt und manipuliert durch das Propagandaministerium unter Goebbels, hielt sich merklich zurück, besonders in den so heiß umstrittenen Volkstumfragen, um die seit 1934 von Hitler und Pilsudski eingeleitete Phase der Zusammenarbeit mit antisowjetischer Spitze nicht zu gefährden. Polen wurde zum Bündnispartner aus Staatsräson. Oberflächlich betrachtet schien damit der traditionelle Feind dem neuen, systematisch von allen Massenkommunikationsmitteln propagierten Weltfeind Nr. 1 weichen zu müssen: dem Bolschewismus und dem Judentum. Doch blieb das alte nur verdeckt. Gerade die konservativ-bürgerlichen Kreise hielten den Gedanken an die Revision der Grenzen im Osten wach, wenngleich sie auch mehr nach dem Motto handelten: weni-ger davon sprechen, immer daran denken
Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verbesserten sich merklich, verbunden mit einer unverkennbaren Aufwertung des polnischen Regimes, an dessen Spitze seit 1926 der auch in manchen Partei-und Regierungskreisen respektierte, ja sogar teilweise bewunderte Marschall Pil-sudski stand. Ohne Zweifel erfolgten manche Korrekturen an dem alten Polenbild. Das Streben nach größerer Objektivität und der Ton der Berichterstattung nahmen zeitweilig sogar gutnachbarliche Züge an. Es schien eine echte Chance zu bestehen, das langgehegte und emotionsgeladene Vorurteil über den Nachbarn im Osten schrittweise abzubauen und starre Denkkategorien zu überwinden. Aber ein derartiges Erscheinungsbild blieb letzten Endes doch nur äußere Fassade. Die meisten Repräsentanten und Meinungsmacher in Politik, Wissenschaft und in der Volkstumsarbeit waren sich im klaren darüber, daß die offizielle Freundschaft mit Polen höchstens eine Art „Sprachregelung auf Zeit" war.
Ende 1938 begann sich die politische Landschaft zu verändern. Die Gegensätze rückten wieder stärker in den Mittelpunkt, da es den Vertretern des Reiches bei den Geheimverhandlungen mit Warschau in den dreißiger Jahren nicht gelungen war, Polen von den Vorteilen eines gemeinsamen Waffenganges gegen die Sowjetunion zu überzeugen. Als es um die Frage ging, ob Warschau die deutsche Hegemonialstellung in Europa unter Erfüllung gemäßigter deutscher Forderungen respektieren würde, setzte die Eskalation ein. Je unmißverständlicher die Polen dies ablehnten, um so entschlossener wurden Hitler und seine engsten Mitarbeiter, die schwebenden Fragen „so oder so", d. h. notfalls mit Gewalt zu lösen.
Seit dem Frühjahr 1939 reifte in Berlin der Entschluß, Polen zu isolieren und im Zuge der Neugestaltung des osteuropäischen Großraums niederzuwerfen. Unterdessen offenbarte sich von Monat zu Monat mehr der reine Opportunismus in der Polenfrage. Die offizielle Pressepolitik des Dritten Reiches hatte die Minderheitenfrage, den eigentlichen Zank-apfel zwischen beiden Ländern, systematisch heruntergespielt. Immer wieder wurden die deutschen Redakteure angehalten, Ausschreitungen der Polen gegen Volksdeutsche nur registrierend und mit dem Ausdruck des Bedauerns zu vermerken. Dagegen sollte — positiv — Polens Kampf gegen den Kommunismus und die Juden, außerdem die Politik der polnischen Regierung in Europa moralisch unterstützt werden. Als die Nachfolger Pilsudskis Anfang 1939 die deutschen Forderungen ablehnten, wurden die Schrauben angezogen. Im Sommer 1939 machten die „Gewalttaten" der Polen an den Volksdeutschen auf einmal wieder Schlagzeilen. Goebbels heizte Presse und Rundfunk buchstäblich an, um die Volkswut zum Kochen zu bringen. Jetzt sollte die polnische „Assimilierungspolitik", von der Propaganda ins Uferlose gesteigert, den gewünschten Vorwand zum aktiven Eingreifen im Osten bieten
An dieser Stelle scheint es angebracht zu sein, ein paar Gedanken über das militärische „Feindbild“ einzuflechten. Wenn auch zu berücksichtigen bleibt, daß militärische Stäbe gewöhnlich für alle Eventualfälle planen und deshalb nicht immer Prioritäten setzen, so zählten doch die polnischen Streitkräfte in der Weimarer Republik, insbesondere seit Mitte der zwanziger Jahre, zu dem primär denkbaren „Feind". Die deutsche Führung rechnete zunehmend mit der Möglichkeit eines polnischen Gewaltstreiches auf Ostpreußen und Oberschlesien. In Kriegsspielen wurden Spannungen über „illegale polnische Banden-aktionen" bis zum Eingreifen des polnischen Heeres unter Wahrung des Primats der Politik simuliert. Aus dem gleichen Grunde wurden Befestigungen im Osten (Heilsberger Stellung) ausgebaut
Diese militärische Beurteilung der Lage änderte sich erst nach Abschluß des deutsch-polnischen Abkommens von 1934. Polen wurde nun nicht mehr automatisch als Gegner in Betracht gezogen. Jedoch ging die Opera-tionsabteilung von der Annahme aus, daß Polen eventuell bereit sein könnte, sich im Falle einer feindlichen Offensive (etwa von Frankreich und der CSSR lanciert) einen gewissen „Beuteanteil" zu sichern.
Im großen und ganzen gesehen blieb das militärische Feindbild der deutschen Wehrmacht bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ideologiefrei. Es wurde vornehmlich von der Notwendigkeit zur Sicherung des eigenen Territoriums geprägt. Je konkretere Maßnahmen im Frühjahr 1939 jedoch gegen Polen eingeleitet wurden, desto mehr wurden wieder die alten „bitteren Gefühle" gegenüber dem östlichen Nachbarn wach, vor allem bei den Angehörigen der Weltkriegsgeneration. Diese hatten die strategisch so „unvernünftige Grenzziehung" und die Abschnürung des Reiches von Ostpreußen (der Korridor als „Pfahl im Fleisch") von Anfang an heftig kritisiert. Letztere waren für den in militärischen Kategorien denkenden Soldaten ständiger Anlaß zur Sorge. Allein deswegen einen Angriffskrieg zu führen, lag schon im Hinblick auf die damit verbundenen Gefahren vor einem Mehrfrontenkrieg außerhalb eigener operativer Erwägungen. Erst die neue Lage und die Befehle der politischen Führung zwangen zum Umdenken, dessen Notwendigkeit unter gewissen Voraussetzungen bei vielen älteren Soldaten und bestimmten Teilen der Bevölkerung, ja sogar innerhalb der Militäropposition auf begrenzte Zustimmung stieß Offenbar hatten die meisten von ihnen gegen eine territoriale „Flurbereinigung" keine ernsthaften Bedenken. Erst im Laufe der darauffolgenden Monate mußte die Generalität des Heeres einsehen, daß die nationalsozialistische Führung viel weitergehende Ziele (Erweiterung des deutschen Lebensraumes im Osten) verfolgte als sie selbst angenommen hatte. Sie hatte sich bis dahin von dem traditionellen Operationsziel leiten lassen, die polnische Wehrmacht zerschlagen zu müssen.
Die Einschätzung der polnischen Wehrmacht 1938/39 durch das deutsche Oberkommando verdeutlichte, wie eingehend der mögliche Waffengegner studiert worden war. Berlin glaubte, daß die Schwäche der noch schematisch denkenden und unsicheren polnischen Führung durch „den Fanatismus des Offizierkorps sowie durch die Genügsamkeit,
Härte und Opferbereitschaft des Soldaten" ausgeglichen würde. Der polnische Soldat wurde als „willig, tapfer, hart, anspruchslos und vaterlandsliebend" eingeschätzt. Allerdings würde er wohl kaum zum selbständigen Handeln befähigt sein. Innerhalb des polnischen Offizierkorps erhielten die General-stabsoffiziere die besten Zensuren. Hingebende ernste Arbeit und Verständnis für die ihnen aufgebürdeten Pflichten bewiesen, daß diese von Jahr zu Jahr die ihnen gestellten Aufgaben besser bewältigt hätten. Insgesamt meinte man jedoch zu dem Urteil berechtigt zu sein, daß das polnische Heer infolge ungenügender Bewaffnung und unzureichender Führung einer schweren moralischen Belastung kaum gewachsen sein würde
Mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. 9.
1939 wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst.
Von jetzt ab nahm zumindest das offizielle Bild des östlichen Nachbarn verzerrte Züge an, denn der Krieg wurde nicht etwa im Sinne alter Revisionsvorstellungen mit begrenzter territorialer Zielsetzung geführt, sondern mit dem Zweck, Polen als Staat aufzulösen, seine Bevölkerung zum Rassefeind und damit zu Angehörigen von „Minderwertigen“ zu stempeln und sie einem Helotenschicksal zu überantworten. Dieses barbarische „Teufelswerk", das in seinen Anfängen noch mit den Morden an zahllosen Volksdeutschen („Bromberger Sonntag") motiviert bzw. „gerechtfertigt"
wurde, führte rasch zu den ersten völkischen Ausrottungsmaßnahmen, d. h. zur Liquidierung großer Teile der polnischen Intelligenz, des Adels, der Geistlichkeit und der Juden. Für Hitler und seinesgleichen war Polen überhaupt „keine kulturelle Nation" und verdiente, von der Erde hinweggefegt zu werden. Was folgte, war für Polen ein Inferno ohne Beispiel in seiner Geschichte. Vertreibung, Ausrottung, Rechtsungleichheit, Arbeitseinsatz und Ausschaltung der katholischen Kirche stellten gegenüber der harten Entpolonisierungspolitik des Wilhelminischen Kaiserreiches einen Sprung von der Quantität zur Qualität dar. Auch die nachwachsende Führerschicht Polens sollte sichergestellt und in einem entsprechenden Zeitraum weggeschafft werden. Der seit dem Frühjahr 1943 etwas gemäßigtere einsetzende Kurs deutscher Polenpolitik änderte an diesem Grundprinzip wenig; er war in erster Linie auf die politische Lage zurückzuführen, d. h. taktisch bedingt
Jedoch wird der um Objektivität ringende Wissenschaftler gerade bei diesem Bild zu differenzieren haben. Angesichts der Geheimhaltung und einer total manipulierten Presse-und Medienpolitik im Dritten Reich wird zu fragen sein, wer in Deutschland eigentlich de facto etwas von diesem grausamen Vernichtungswerk gewußt hat. Wer besaß schon hinreichende Informationen von den Verbrechen, die in Auschwitz, in Warschau und an anderen Plätzen verübt wurden und wer hätte sich mit ihnen identifiziert? Eines dürfte sicher sein: die Bilder von den Polen unterlagen wachsender Verzerrung. Gewissenlose Propaganda, Gerüchte, Halbwahrheiten und Einzelerfahrungen am Ort verschmolzen fast unlösbar mit traditionellen Klischees. Und noch etwas weiteres darf angenommen werden: die Verteufelung der Polen war das Werk einer Minderheit, in mancher Beziehung freilich präformiert durch die Ideen und Gedanken eines Treitschkes und anderer Geistesvertreter des Deutschen Kaiserreiches
Verhalten und Reaktion der Mehrheit waren eher durch Passivität und Gleichgültigkeit gekennzeichnet, verbunden mit dem überlieferten Uberlegenheitsgefühl gegenüber den Diskriminierten, aber wohl weniger als Zustimmung zu der NS-Politik auszulegen. Bezeichnend war, daß gerade viele Volksdeutsche, die in Polen z. T. eine schwere Zeit durchlebt hatten, mit Scham und Entsetzen das Wüten der „Goldfasane" und ihrer Helfershelfer im sogenannten Generalgouvernement verfolgten
Fraglos waren die Jahre von 1939-1944 ein bezeichnendes Beispiel für die zunehmende Verzerrung der Wirklichkeit auf deutscher Seite und für das Unvermögen, den östlichen Nachbarn (und seine Verbündeten) aus ihrem Selbstverständnis und ihrer Interessenlage heraus zu analysieren und in das eigene politische Kalkül miteinzubeziehen. Diese grobe Fehleinschätzung oder auch kognitive Dissonanz — vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit, die bestehenden Konflikte zwischen Deutschland und Polen mittels Gewalt zu lösen — waren eine wesentliche Ursache für die Katastrophe Deutschlands im Jahre 1945.
Polen in Europa: Einige Vorstellungen der deutschen Opposition
Wenngleich auch viele deutsche Offiziere, Soldaten und Beamte von dem herkömmlichen preußisch-deutschen Superioritätsgefühl gegenüber der polnischen Bevölkerung durchdrungen sein mochten, was durch Feldpostbriefe während und nach dem Feldzug in Polen 1939 und durch Äußerungen wie die über „Verwahrlosung", „unendliche Armut und Verschlamptheit" des Landes belegt werden kann so gab es unter ihnen doch nicht wenige, die bei Verletzung der anerkannten, selbstverständlichen Gebote der Menschlichkeit im Kriege einzuschreiten gewillt waren. Manche von ihnen litten tief darunter, daß „organisierte Mörder, Räuber und Plündererbanden" in Polen den deutschen Namen besudelten; sie schämten sich ganz einfach, „ein Deutscher zu sein" Und 1944 bekannte z. B. Graf Schwerin von Schwanenfeld vor dem Volksgerichtshof, daß ein entscheidendes Motiv für sein oppositionelles Verhalten die vielen Morde in Polen gewesen seien. über die Stellung Polens in einem zukünftigen vom Nationalsozialismus befreiten und vor dem Bolschewismus bewahrten Europa gab es innerhalb der verschiedenen Gruppen des deutschen Widerstandes gegen Hitler unterschiedliche Auffassungen. Für Sozialisten und preußische Beamte vom Typus eines Th. Haubach und P. van Husen waren die Existenz Polens und die deutsch-polnische Verständigung schon seit den zwanziger Jahren eine wesentliche Voraussetzung für eine dauerhafte europäische Neuordnung Vertreter des Kreisauer Kreises, deren Denken stärker vom europäischen Internationalismus geprägt war, hielten die Wiedergutmachung an Polen für eine der wichtigsten Aufgaben der Nachkriegspolitik. Die Umstrittene Ostgrenze spielte für sie nur eine untergeordnete Rolle. Selbstverständlich für sie war die Wiederherstellung eines freien polnischen Staates (vielleicht in den Grenzen des „alten Polen") im Rahmen eines europäischen Staatenbundes. Schon etwas eingeschränkter forderte A. Trott zu Solz (April 1942), den polnischen Staat „innerhalb seiner Volkstumsgrenzen" wiederzuerrichten Im Geist nationalstaatlicher Traditionen und imperialer Vorstellun-gen des Bismarck-Reiches argumentierten führende Köpfe der mehr konservativ-nationalen „Honoratioren", darunter Goerdeler, Beck und v. Hassell. Sie strebten lange Zeit Deutschlands Führung in Mitteleuropa an, bei der auch Polen in das Einflußgebiet des Reichs fallen mußte, Ohne daß indessen seine politische Eigenständigkeit und sein kulturelles Eigenwesen angetastet werden sollte. Für sie stand an erster Stelle des Katalogs „deutscher Lebensfragen", wie schon nach 1919, die Revision des Versailler Vertrages und damit die Forderung nach den Grenzen von 1914. Möglicherweise konnten Großbritannien und Deutschland die Garantie der polnischen Ostgrenze gegenüber der UdSSR übernehmen, um das Vordringen des Sowjetkommunismus zu verhindern. Das Vereinigte Europa, in dem auch Polen seinen festen, gesicherten Platz haben sollte, war für sie ein Fernziel
Zur territorialen Westverschiebung Polens und Austreibung der Deutschen (1945/49)
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, so haben auch die Entscheidungen und Vereinbarungen der Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges das deutsch-polnische Verhältnis zusätzlich schwer belastet. Im Mittelpunkt aller polnischen Erwägungen in den Jahren von 1939-1945 hatte das Ziel gestanden, nach dem Kriege die Gefährdung Polens durch den deutschen Nachbarn auszuschalten und die Abrundung des eigenen Staatsgebietes durch die Angliederung jener Territorien sicherzustellen, die sich in der Vergangenheit als Konfliktherde zwischen den beiden Völkern erwiesen hatten. Hinzu kam, daß die Sowjetunion aus macht-und sicherheitspolitischen Interessen nicht daran dachte, auf die Gebiete Ostpolens zu verzichten, die sie auf Grund der Verträge mit Deutschland 1939 besetzt und annektiert hatte. Sie trat daher auf den Kriegskonferenzen entschieden für eine Kompensation Polens ein; Polen sollte für seine Verluste durch eine Westverschiebung bis an die Oder-Neiße-Linie zu Lasten Deutschlands entschädigt werden
Obgleich in Potsdam (2. 8. 1945) die Frage der deutsch-polnischen Grenze formal offen-gehalten worden war — die deutschen Ost-gebiete (abgesehen von Königsberg und engerer • Umgebung) wurden der polnischen Verwaltung unterstellt, eine endgültige Festlegung der Grenze sollte einer Regelung auf einer Friedenskonferenz Vorbehalten bleiben —, ließen doch zahlreiche politische Erklärungen und Maßnahmen deutlich werden, daß künftig jeder Rechtsanspruch auf diese Gebiete durch die normative Kraft des Faktischen in Frage gestellt werden mußte. Hierzu zählten in erster Linie die Beschlüsse über die ordnungsgemäße Aussiedlung der Deutschen unter stillschweigender Zustimmung der Westmächte, die seit Februar 1945 von der provisorischen polnischen Regierung eingeleiteten Schritte zur Umsiedlung der eigenen Bevölkerung von Ost nach West zur Bewirtschaftung und verwaltungsmäßigen Einbeziehung des deutschen Vorkriegsterritoriums sowie die im Herbst 1945 getroffenen Kontrollratsvereinbarungen, in denen die Aussiedlung legitimiert wurde. Die Gebietserwerbungen endgültig durchzusetzen und rechtlich zu verankern, blieb denn auch eines der Primärziele polnischer Außen-und Innenpolitik nach 1945 In Konsequenz der hier angedeuteten Entwicklung waren es vor allem die von Haus und Hof vertriebenen Deutschen mit ihren leidvollen Erfahrungen, die als erste nach dem Kriege im Negativen wie im Positiven neue Eindrücke von den polnischen Nachbarn vermittelten. Ihr tragisches Schicksal ist in vielfacher Weise überliefert worden. Stellvertretend für das, was Deutsche und andere in deren Namen den Polen an Unrecht und Grausamkeiten zugefügt hatten, mußten sie einen Teil der furchtbaren Rechnung begleichen
Es war daher nicht verwunderlich, daß in ihren Schilderungen und Briefen vom Ort das Verhalten der Polen einen breiten Raum einnahm, ohne daß die Berichtenden dabei immer Ursache und Wirkung kritisch reflektiert hätten. Und doch kommt es entscheidend darauf an, diese Zusammenhänge richtig zu sehen. Viele der einst ausgebeuteten und verarmten Polen übten auf ihre Weise Vergeltung, während die polnischen Behörden bestrebt waren, die Gebiete bis zur Oder-Neiße rasch zu polonisieren. Dort setzte ein „gewaltsamer Prozeß national-und sozialrevolutionärer Besitzenteignung und Schadloshaltung" ein, der erst allmählich in geregelten Bahnen verlief, um die einheimischen Besitzer durch repatriierte Polen aus dem Osten abzulösen. Fraglos gingen viele Polen mit rigorosen Methoden, insbesondere gegen jene Deutsche vor, die sich anfangs nicht bereit erklärten, für den polnischen Staat zu optieren. Lang aufgestauter Haß gegen die ehemaligen Unterdrücker entlud sich dabei und führte zur Verdrängung der Deutschen aus ihrem Besitz, zu Schikanen, gewaltsamen Übergriffen und Plünderungen durch Miliz-soldaten.
Jedoch gab es in dieser Zeit des radikalen Umbruchs auch zahllose Polen, wie Zeugnisse aus unterschiedlichsten Kreisen belegt haben, deren völkerverbindlicher Geist der Menschlichkeit die Ausgesiedelten immer wieder tief beeindruckt hat. Schlichte Taten der Hilfe und der selbstverständlichen Nächstenliebe an den Mitmenschen, Sinn für Gerechtigkeit und echtes Mitempfinden für das Leid der persönlich meist unschuldigen Opfer waren keine Seltenheit
„Satellit" Moskaus und ideologischer Widersacher (1945— 1956)
Das Bild von dem polnischen Nachbarn, das sich nach 1945 in der Bundesrepublik langsam herauskristallisiert hat, war zunächst fast ganz von den Stereotypen des „Kalten Krieges" überschattet. Bekanntlich hatte sich das durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion beherrschte bipolare Gleichgewicht, das das traditionelle europäische Gleichgewicht ersetzt hatte, mit seinen Schwerpunkten nach Washington und Moskau verlagert. Am Beispiel der Herrschaftspraxis in Ost-und Westeuropa wurden die prinzipiellen Gegensätze der sich antagonistisch gegenüberstehenden Gesellschaftsund Ordnungsvorstellungen sichtbar. Die Struktur des Ostblocks schien sich von der des Westens fundamental zu unterscheiden. Monolithische Geschlossenheit, Gleichschaltung nach sowjetkommunistischem Vorbild, Konsolidierung der Volksdemokratien unter dem Schutz sowjetischer Streitkräfte, hermetische Abgeschlossenheit und die Tendenz zur geistigen Isolierung von der übrigen Welt waren die hervorstechendsten Erscheinungsformen, die in zahlreichen Berichten, amtlichen Nachrichten und Reportagen ihren Niederschlag fanden.
Aufgrund der Entscheidungen des Zweiten Weltkrieges wurde auch Polen in den Sog des Konkurrenzkampfes zwischen den Blökken hineingezogen, der von dem Charakter eines Entweder-Oder durchdrungen zu sein schien. Unerbittlich steigerte sich bis in die fünfziger Jahre der gegenseitige Propaganda-krieg. Jeder Schritt der einen Seite wurde von der anderen als Herausforderung oder Subversion gegen sich selbst und als gegen die eigenen Interessen gerichtet interpretiert. Wenn der Osten von den „imperialistischen Aggressoren" sprach, klagte der Westen die „kommunistischen Weltverschwörer" an. Die Atmosphäre des Verhandelns, auch innerhalb der Vereinten Nationen, in denen die Vertreter der Blöcke meist geschlossen für und wider optierten, war vergiftet und voller Mißtrauen. Theorie und Praxis der in-* ternationalen Beziehungen schlossen einen echten Dialog über Grundfragen menschlichen Zusammenlebens aus. Es war die hohe Zeit der Misperzeption, die zugleich die ideologische Gespaltenheit der Welt widerspiegelte
Vor diesem weltpolitischen Horizont muß auch das völlig einseitige Bild von Polen in der Bundesrepublik Deutschland gesehen und bewertet werden. Ungeachtet spärlicher Kontakte und großer Kommunikationsschwierigkeiten entwickelte es sich nach folgendem Schema: Polen war zu einer Volksdemokratie umgewandelt worden, die ganz von Moskau abhängig blieb und den Prinzipien und Wertvorstellungen des Sowjetkommunismus angepaßt wurde. Angesichts der völkerrechtlich nicht anerkannten Abtretung der deutschen Ostgebiete versuchte Warschau, seine internationale Sicherung durch eine enge Anlehnung an die Sowjetunion zu erreichen. Die Westverschiebung Polens zu Lasten Deutschlands wurde in der BRD mit teilweiser Verbitterung und nur widerstrebend als definitives Faktum hingenommen im Gegensatz zu der Tatsache, daß sich der Nachbar im Osten nunmehr aus einem ehemaligen Nationalitätenstaat zu einem Nationalstaat entwickelt hatte. Aber viel entscheidender fiel die unaufhaltsame Umgestaltung des öffentlichen Lebens nach sowjetischem Vorbild ins Gewicht. Alte Oberschichten hatten nacheinander ihre vorherrschenden Positionen verloren. An ihre Stelle traten neue soziale Schichten, insbesondere die z. T. in Moskau geschulten Parteifunktionäre und die arbeitende Intelligenz. Alle Macht im Staat lag in den Händen der führenden Köpfe des ZK der KPP, nachdem jede legale Opposition im Staate ausgeschaltet und auch der Einfluß der katholischen Kirche wesentlich reduziert worden waren. Tiefgreifende Veränderungen kennzeichneten zudem den Bereich von Wirtschaft, Finanzen, der Agrarpolitik und des Bildungswesens (u. a. die Verstaatlichung der Banken und Industriebetriebe, Enteignung der Großgrundbesitzer, Bodenreform und Organisation der Bildungseinrichtungen nach dem sowjetischen Modell, Einführung des polytechnischen Einheitsschulwesens und des Russischen als Pflichtfach). Diese und andere Ereignisse, verbunden mit der Gleichschaltung der Massenkommunikationsmittel, und die weitgehende Übernahme der Führung der polnischen Streitkräfte durch Offiziere der Roten Armee ließen Polen als Prototyp eines totalitären Systems erscheinen, das in unentrinnbare Abhängigkeit von Stalin und seinem „Statthalter" Bierut geraten war, dessen strategische Lage für den Warschauer Pakt besondere Bedeutung besaß und in dem die Menschen ihrer wesentlichen Freiheiten beraubt worden waren.
Seit Anfang der fünfziger Jahre zählte Polen in der Bundesrepublik zum Bestandteil des ideologischen „Feindbildes", das als Integrationsfaktor westdeutscher Gesellschaftspolitik diente. Und solange auf politische Fragen in den Hauptstädten Osteuropas als Antwort nur die „Stimme Moskaus" zu hören war, glaubten die meisten Politiker in der Bundesrepublik, kaum eine andere Wahl zu haben, als lediglich mit jenen zu sprechen, deren Wort Gewicht hatte Im übrigen vertraten sie den Standpunkt — darin wesentlich unterstützt von den Vertriebenenorganisationen —, daß die endgültige Grenzregelung mit Polen einem Friedensvertrag vorbehalten und das Selbstbestimmungsrecht sowie das „Recht auf Heimat" im Hinblick auf die verlorenen Gebiete gewährleistet bleiben müßten.
über die „vertiefte sozialistische Bruderschaft" zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik
Die weit-und gesellschaftspolitischen Veränderungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg haben nicht nur zur Teilung Deutschlands geführt, sondern auch zu einem unterschiedlichen Polenbild in den beiden deutschen Staaten. Seit der Gründung der DDR 1949, vor allem nach der Unterzeichnung des
Abkommens mit Polen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze im Juli 1950 — als „histori-scher Wendepunkt“ in der Geschichte der beiden Völker apostrophiert —, haben sich die offiziellen Beziehungen dieser Nachbarn in Anpassung an Theorie und Praxis des proletarischen Internationalismus zunehmend politisch, wirtschaftlich und kulturell gefestigt und vertieft, ohne daß sich gesicherte empirische Aussagen darüber machen ließen, welche differenzierten Bilder in den meisten Köpfen der DDR-Bewohner, und zwar abweichend von der dekretierten Parteilinie, von den Polen, ihren Charaktereigenschaften, ihren Stärken und Schwächen existieren, über möglicherweise noch vorhandene gegenseitige, unterschwellig nachwirkende Ressentiments — zumal ja auch in diesem Teil Deutschlands bestimmte traditionell überlieferte Bilder sicherlich nicht völlig ausgelöscht worden sind — gibt es keine verläßlichen Untersuchungen
In den Anfangsjahren der DDR haben in erster Linie führende Vertreter der Partei, der Regierung und als Multiplikatoren Spitzen der zahlreichen „demokratischen Massenorganisationen", unter ihnen der Volksbildungsminister Wandel, hohe Funktionäre und Wissenschaftler die konsequente Umerziehung der Bevölkerung im Geiste freundschaftlicher Beziehungen zu dem neuen Polen eingeleitet. Als erstes ging es darum, mit Hilfe der Kommunikationsmittel die politische Entscheidung über die Oder-Neiße-Grenze plausibel zu machen. Im Vordergrund der weiteren Bemühungen standen die Integration der Umsiedler in die sozialistische Gesellschaft, mannigfache Freundschaftstreffen, gegenseitige Besuche und Austausch von Delegationen sowie die Steigerung der Wirtschaftshilfe im „Zeichen fortschreitender Arbeitsteilung innerhalb des sozialistischen Weltsystems". Allerdings wurde der gegenseitige Reiseverkehr erst Anfang 1972 erleichtert. Der umfassenden Aufklärungsarbeit nahmen sich auch die „Helmut-von-Gerlach52 Gesellschaft" (später umbenannt in „Deutsch-Polnische Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft") und die sich 1956 konstituierende deutsch-polnische Historikerkommission an Letztere sollte entsprechend den Direktiven der SED die Freundschaft bzw. das solidarische Zusammenwirken zwischen den polnischen und deutschen Demokraten und Humanisten im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts herausarbeiten und den gemeinsamen Kampf der beiden Arbeiterparteien gegen die imperialistischen Unterdrücker verdeutlichen, wobei wiederholt auf die Bedeutung des nationalen Befreiungskampfes der Polen für ein demokratisches Deutschland im Denken von K. Marx und F. Engels hingewiesen wurde
Zahlreiche Übersetzungen aus dem Polnischen auf dem Gebiet der Literatur und Geschichtswissenschaft informierten die Bürger der DDR über die Leistungen, kulturellen Traditionen und die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen des Nachbarn im Osten. Insbesondere engagierte Schriftsteller der DDR nahmen sich der polnischen Frage an. Bis Ende der sechziger Jahre haben rund 500 von ihnen in Reportagen, Dramen, in der Belletristik und Lyrik einen beachtlichen Beitrag zu einem realistischeren, zugleich „fortschrittlichen" Polenbild geleistet, dem verschiedentlich vielleicht allzu stark ideologische Züge anhafteten Dabei analysierten viele den Umschwung, der sich in der „Psyche des Deutschen beim näheren Kenneniemen der polnischen Arbeiter und Intelligenzler vollziehen" mußte. Im Mittelpunkt der Darstellungen stand immer wieder die Anerkennung für den gleichrangigen Partner in Arbeit und Beruf, die Bewunderung für die Leistungen, Wirtschaftlichkeit und Gastfreundschaft der Polen sowie die Kennzeichnung der Oder-Neiße als Friedensgrenze. Mit diesen im ganzen gesehen sicherlich erfolgreichen Bemühungen der DDR verband sich freilich die Tendenz, den „westdeutschen Revanchismus und Imperialismus" anzuprangern. Das heißt,daß das ehemalige nationale „Feindbild" im Grunde umprojeziert wurde. Während die Polen im ideologischen Selbstverständnis der DDR die Rolle des sozialistischen Partners und Bruders übernahmen, wurden sie gleichzeitig — wie die DDR selbst — in der offiziellen Sprachregelung Ost-Berlins zum Objekt bundesrepublikanischer „Aggressivität"
hochstilisiert. Ein solches simplifiziertes „Feindbild" — Konsequenz des gesellschaftspolitischen Antagonismus — hatte naturgemäß auch eine spezifische Funktion im Inneren zu übernehmen, nämlich integrierend zu wirken zugunsten einer größeren Geschlossenheit und Effektivität der Gemeinschaft der sozialistischen Staaten unter sowjetischer Führung
Wie immer auch das Polenbild in der DDR heute im einzelnen beurteilt werden mag, soviel dürfte feststehen, daß die Politik der DDR, — die in dem Vertrag von 1967 über Zusammenarbeit, Freundschaft und gegenseitigen Beistand zwischen den beiden Staaten noch einmal deutlich bekräftigt Worden ist — die Vorstellungen und Urteile über die Geschichte Polens und die deutsch-polnischen Beziehungen entscheidend korrigiert hat. Vor allem aber hat dieses Verhalten, dessen Rückkoppelungseffekt u. a. in einer zunehmenden Unterstützung der DDR in der Frage der völkerrechtlichen Anerkennung durch Polen lag, in der DDR große Teile der Bevölkerung wahrscheinlich von alten überheblichen Wahnvorstellungen einer angeblich deutschen Mission im Osten geheilt und damit der friedlichen Verständigung zwischen beiden Völkern einen nicht zu unterschätzenden Dienst geleistet
Auf der Suche nach dem Partner im Zeichen antagonistischer Kooperation — BRD und Volksrepublik Polen (1956— 1972) —
Mit den aufsehenerregenden innenpolitischen Veränderungen in Polen 1956, die im Westen anfangs wohl allzu optimistisch beurteilt worden sind, und den weltpolitischen Wandlungen zu Beginn der sechziger Jahre begann in der Bundesrepublik ein bemerkenswerter Prozeß des Umdenkens, der das Polenbild im Laufe von 17 Jahren bei weiten Teilen der Führungseliten und der meinungsbildenden Öffentlichkeit stark differenziert und objektiviert hat Die Bilder nahmen wieder individuellere Züge an und ließen gewisse nationalstaatliche Eigenheiten der östlichen Nachbarn hervortreten. Polen wollte, wie es schien, offenere Gespräche mit dem Westen führen Und eine etwas eigehständigere Rolle bei der Gestaltung des europäischen Friedens übernehmen. Die darauf reagierende deutsche Ostpolitik wurde mehr und mehr zu einem Diskussionsthema auch außerhalb der Parteispitzen und der Regierung. Monolithische Antihaltungen wurden schrittweise aufgeweicht und das deutsch-polnische Verhältnis realistischer eingeschätzt; das alte Freund-Feind Schema wurde weitgehend überwunden. Fast sprunghaft nahm die Zahl der Denkschriften, Memoranden, Grundsatzerklärungen, Fernsehsendungen, Wochenendseminare und Symposien aller Art über das „neue Polen" zu. Immer nachdrücklicher wurde der Geist der Versöhnung zwischen den beiden Völkern beschworen. Der unmittelbare Einfluß dieses wachsenden staatsbürgerlichen Engagements auf die amtliche Bonner Politik ist zwar nach wie vor schwer abzuschätzen, zumal darüber noch keine verläßlichen empirischen Untersuchungen vorliegen, dennoch dürften diese Manifestationen ohne Zweifel zu einer Versachlichung der Streitfragen und einer allmählichen Bewußtseinsveränderung beigetragen haben Das traf ebenso für die Vertriebenen zu, die jahrelang ein gewisses Maß an Realitätsblindheit hatten erkennen lassen und die über eine isolierte Selbstdarstellung ostdeutscher Kulturarbeit nicht nennenswert hinaus-gekommen waren. Jetzt häuften sich individuelle Äußerungen, in denen der Verzicht auf Rückkehr in die alte Heimat ausgesprochen wurde (im Gegensatz zu organisierten Erklärüngen der Verbände), während alte Bilder verblaßten. Dennoch hielten viele von ihnen aus berechtigten Gründen das Bewußtsein von der Bedeutung und den Leistungen der Deutschen im Osten wach. Sie bemühten Sich indessen, alte Denkkategorien der Konfrontation abzubauen und die Kulturarbeit neu zu profilieren, ohne dabei in emotionale „Freundschaftseuphorie" zu verfallen
Nach Bildung der Großen (1966) und schließlich der sozialliberalen Koalition (1969/72) wurde immer deutlicher, daß Bonn gegenüber Warschau zu einer bilateralen Grenzregelung bereit war. Einen Friedensvertrag wollte es damit allerdings nicht präjudizieren. Die Einsicht hatte sich durchgesetzt, daß die ehemalige Zwischenstellung Polens — einmal Verbündeter, zum anderen Gegner — der Vergangenheit angehörte. Polen war einfach kein „Saisonstaat" mehr; schon alleine aus Sicherheitsgründen lagen seine nationalen Interessen wahrscheinlich mehr im Bündnis mit der Sowjetunion. Das bedeutete, daß in Zukunft die Beziehungen Bonn—Warschau nicht auf Kosten der Verhältnisses Polen—UdSSR und Polen—DDR entwickelt werden konnten. Die Stabilität des polnischen Regierungssystems war gewachsen, und weite Teile der Bevölkerung — obgleich nicht im strikten Sinne kommunistisch — hatten sich offenbar im Bewußtsein mit den wesentlichen Elementen der kommunistischen Verfassungswirklichkeit abgefunden Im übrigen argumentierten die Repräsentanten und Intellektuellen des Systems weit weniger dogmatisch als viele derselben in anderen sozialistischen Ländern.
Im Zusammenhang mit dieser Neuorientierung, die leider wiederholt durch polemische Ausfälle Warschaus gegen die Politik der Bundesrepublik im westlichen Bündnis erschwert wurde müssen vor allem zahlreiche Initiativen erwähnt werden. Wissenschaftler (u. a. W. Markert, G. Rhode, H. Roos, A. Dross, G. Eckert), bekannte Literaten (Dedecius, G. Grass), Journalisten (J. Neven du Mont, J. Stehle, Gräfin Dönhoff u. a.), Vertreter der Kirchen, Akademien, Verbände und verschiedene Gesprächskreise (Göttingen, Hamburg u. a.) haben ebenso ihren Teil zu der sich anbahnenden Normalisierung der Beziehungen und damit zur Korrektur des Polenbildes in der Bundesrepublik beigetragen wie eine Reihe bekannter Exilpolen, die sich um die Aussöhnung beider Völker verdient gemacht haben
Uber das neue Bild Polens in der BRD geben einige Umfrageergebnisse Aufschluß, wenn auch der wissenschaftliche Aussagewert derselben nach wie vor umstritten sein mag Immerhin lassen sich an ihnen einige für den Wandel des öffentlichen Bewußtseins relevante Tendenzen ablesen. In der Frage, ob die Deutschen sich mit der jetzigen Oder-Neiße-Linie als Grenze abfinden sollen, änderte sich die Meinung zunächst sehr langsam-, allerdings hat die westdeutsche Bevölkerung, von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, von Anfang an Gewalt (Krieg) als ein Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele entschieden abgelehnt. 1951 sprachen sich nur 8 °/o für die Anerkennung der deutschen Ostgrenze aus (80% = nein) und 1959 12% (67% == nein). Unter dem Einfluß innen-und außenpolitischer Faktoren trat jedoch im Laufe der sechziger Jahre ein Wandel ein. Im Frühjahr 1966 waren bereits 27 % der Befragten bereit, die Grenze zu akzeptieren (54 % = nein). Wenige Monate vorher hatten 34% auch das Heimatrecht für die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geborenen Polen bejaht (35 % = nein; 31 % = unentschlossen).
Nach der Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau äußerten im Oktober 1971 44 % und im August 1972 50% ihre Zustimmung zu der getroffenen Grenzregelung. Diesem Trend entsprach auch die zunehmend optimistischere Beurteilung einer Aussöhnung mit Polen. Im August 1969 hielten 34% diese für „gut möglich", im Dezember 1970 59 % und im April 1972 62 %. Der Wahlsieg der sozialliberalen Koalition vom 19. 11. 1972 war im übrigen ein weiterer Beweis dafür, daß die Friedens-und Ostpolitik Willy Brandts und Walter Scheels von der. Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung vollauf bejaht wurde.
Nichtsdestoweniger lassen die Kenntnisse in der Bundesrepublik über Polen nach wie vor noch sehr zu wünschen übrig. Das mag u. a. auf eine in anderen Ländern ebenso zu beobachtende, weitverbreitete apolitische Haltung der Bevölkerung zurückzuführen sein (in der Mitte der sechziger Jahre hatten z. B. fast 50 % nicht einmal etwas von der Evangelischen Denkschrift zur Polenfrage gehört), aber auch darauf, daß der im Unterricht der Schulen (bzw. in anderen Bildungseinrichtungen) angebotene Stoff, meist weitverstreute Daten, die in den Gang der europäischen und deutschen Geschichte eingeordnet sind, nicht im entferntesten ein Gesamtbild von dem östlichen Nachbarn vermittelt hat. Bei einer im August 1972 durchgeführten Repräsentativ-umfrage konnten nur 27 % Namen bekannter Polen benennen. Von diesen entfielen auf Go-mulka 11 %, auf Chopin 8 %, Pilsudski 3, 9 % und auf Gierek 2, 2 %. Hinzu kommt, daß zwischen beiden Ländern nur mangelnde Kontakte bestehen. Ende 1963 konnten lediglich 17% aller Befragten angeben, schon einmal in Polen gewesen zu sein bzw. einen Polen kennengelernt zu haben.
Symptomatisch sind überdies Befragungsergebnisse über die Einschätzung von Polen. Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre waren rund 24/24 % überwiegend positiv, 12/23 % ambivalent bzw. neutral und 36/18% negativ den Polen gegenüber eingestellt. Bei den negativen Kriterien dominierten Verschlagenheit, Falschheit und Unzuverlässigkeit (12%) und bei den positiven Fleiß, Intelligenz, Zuverlässigkeit (5%), Freiheitsdrang, Nationalstolz und Patriotismus der Polen (7 %). Anfang der sechziger Jahre hatten Schülerbefragungen (13— 15jährige) ergeben, daß die meisten bei der Zuordnung von Eigenschaften bei den Polen „schmutzig" und „faul" angeführt hatten. Eine im Februar 1967 durchgeführte Untersuchung in neun Hamburger Volksschulen (freilich mit äußerst begrenztem Wert für eine Verallgemeinerung) war zu dem Resultat gekommen, daß die Kinder nach den Russen die Polen zu den mehr „unsympathischen Völkern" zählten, wobei sie dies ähnlich begründeten wie Teile der Bevölkerung in den Umfragen von 1959/1963 (s. o.). Politische Argumente spielten hierbei offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Am wenigsten wußten die Kinder über Erdkunde, Politik und Geschichte Polens auszusagen. Bei vielen von ihnen bestand die Neigung, Polen als „kleines und unbedeutendes Nachbarland Rußlands" zu betrachten
Diese Ergebnisse sind ein Teilbeweis dafür, wie stark noch gewisse traditionelle Stereotypen,'Konsequenz des West-Ostgefälles und antislawischer Vorurteile aus der Vergangenheit, in der Bundesrepublik verankert sind und überliefert werden.
Wenn die Politik intersystemarer Zusammenarbeit in Zukunft den Frieden in unserer Welt festigen soll, so wird es nach den Er-fahrungen der Vergangenheit im besonderen darauf ankommen, die Bereitschaft auf beiden Seiten zu fördern, das eigene Bild vom Nachbarn nur als Teil der Wirklichkeit zu verstehen, den Nachbarn in seinem Eigenwert zu begreifen und durch einen sorgfältigen dauerhaften Informationsprozeß — begleitet von korrigierender Rückkoppelung — Verfälschungen und Verzerrungen auf ein politisch annehmbares Ausmaß zu reduzieren; es gilt, sich von der „Herrschaft der Schlagworte" zu befreien. Diese Aufgabe sollte jedoch nicht mit jener noch häufig propagierten sog.
„Entlarvungsideologie" verwechselt werden, die lediglich die andere Ideologie entlarven möchte, die eigene dabei jedoch ausklammert
Seit den sechziger Jahren befindet sich die Bundesrepublik auf der Suche nach einer dem Frieden nutzenden Partnerschaft mit Polen. Wie das neue Miteinander konkretisiert werden kann und auf welchen Wegen, ob der politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Zusammenarbeit der Vorrang gebührt, wird erst die Zukunft lehren können. Allerdings dürfte heute schon zweierlei feststehen: Eine solche Politik kann nur dann mit Aussicht auf Erfolg geführt werden, wenn beide Seiten die Prinzipien antagonistischer Kooperation mit systemstabilisierender Tendenz respektieren und alle Konflikte — welche auch immer bestehen oder sich künftig entwickeln mögen (so z. B. im Hinblick auf die Familienzusammenführung und die Umsiedlung von Deutschstämmigen) — mit friedlichen Mitteln regeln
Hans-Adolf Jacobsen, Dr. phil., o. Prof., Direktor des Seminars für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn, geb. 1925. Veröffentlichungen u. a.: Zahlreiche Studien und Dokumentationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges; Nationalsozialistische Außenpolitik 1933— 1938, 1968; (Hrsg.) Hans Steinacher. Erinnerungen, 1970; Mißtrauische Nachbarn. Deutsche Ostpolitik 1919— 1970; (Mithrsg.) Bibliographie zur Politik in Theorie und Praxis, 1970; Ergänzungsbd. 1973; (Mithrsg.) Im Dienst der Friedenssicherung. General de Maiziere, 1972; (Mithrsg.) Wie Polen und Deutsche einander sehen, 1973; (Mithrsg.) Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), 1973; Sowjetische Außenpolitik 1928— 1938, in: Osteuropa-Handbuch. Sowjetische Außenpolitik, hrsg v. D. Geyer, 1973.
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