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Demokratischer Sozialismus als linker Reformismus Die programmatische Entwicklung der SPD — dargestellt an der Diskussion über den „Orientierungsrahmen 85" auf dem Parteitag in Hannover 1973 | APuZ 23/1973 | bpb.de

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APuZ 23/1973 Artikel 1 Demokratischer Sozialismus als linker Reformismus Die programmatische Entwicklung der SPD — dargestellt an der Diskussion über den „Orientierungsrahmen 85" auf dem Parteitag in Hannover 1973

Demokratischer Sozialismus als linker Reformismus Die programmatische Entwicklung der SPD — dargestellt an der Diskussion über den „Orientierungsrahmen 85" auf dem Parteitag in Hannover 1973

Peter Glotz

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Zusammenfassung

Die auf dem Parteitag der SPD in Hannover geführte Diskussion über den „Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973— 1985" wird in diesem Beitrag anhand der folgenden Schwerpunktthemen dargestellt: gesamtgesellschaftliche Analyse, Wachstum, Investitionskontrolle, außenpolitische Bündnisse, Klassenkampf, Konflikt und Bürgerinitiativen. Der Autor konstatiert dabei ein in Umrissen erkennbares Konzept des . linken Reformismus'und eine darauf zur Einigung bereite . neue Mehrheit'. Die Einsichten, daß die Partei nicht von einer auf axiomatischen, letzten Wahrheiten beruhenden . verbindlich gemachten Analyse'ausgehen könne, daß ferner der . Problem-druck' einen stärkeren Einfluß des demokratischen Staates auf wirtschaftliche Entscheidungen verlange, der Markt andererseits aber nicht durch eine bürokratische Zentral-planung ersetzt werden dürfe — diese Einsichten werden als in der Partei nicht strittig dargestellt. Konsens bestehe auch darüber, daß eine undifferenzierte Wachstumseuphorie durch das Streben nach qualifiziertem Wachstum ersetzt werden müsse, daß die Suche nach einem neuen System kollektiver Sicherheit in Europa das Machtgleichgewicht zwischen den Blöcken nicht gefährden und schließlich darüber, daß die kalkulierte Klassen-auseinandersetzung in der Bundesrepublik nicht durch eine existenzialistische Konflikt-strategie ersetzt werden dürfe, die mit Krise und Bürgerkrieg spekuliere. Die Entwicklung zerstöre die alte innerparteiliche Links-Rechts-Struktur in der SPD. Der Autor ist um eine sozialpsychologische Analyse der Gruppenbildung innerhalb der Partei bemüht und plädiert für eine neue innerparteiliche Koalition.

I.

Spaltet sich die SPD ? Nach dem Hannoverschen Parteitag vom April 1973 kann man diese — übrigens gerade vom politischen Gegner oft mit scheinheiliger Besorgnis gestellte — Frage eindeutig verneinen Spalten sich bestimmte — linke oder rechte — Gruppen von der SPD ab ? Diese Frage wird ein seriöser Beobachter der politischen Szene in der Bundesrepublik noch nicht beantworten wollen. Eines ist jedenfalls sicher: die SPD hat mit dem Hannoverschen Parteitag ihre programmatische Plattform erweitert und neu abgestützt. Die verschiedenen Strömungen in der Partei beginnen sich auf neuer Problemhöhe auf ein sicherlich noch nicht in sich abgeschlossenes, aber doch schon in den Umrissen erkennbares Konzept einzupendeln, das ich als „linken Reformismus" charakterisieren würde. Unbestreitbar ist, daß dieser neue, natürlich immer von Konflikten bedrohte Konsensus auf Zeit noch längst nicht von allen Untergruppierungen, Nebenströmungen und Freundeskreisen getragen wird; dies wird auch niemals zu erreichen sein. Aber es sieht so aus, als ob sich in der SPD eine „neue Mehrheit" formierte. Ob sie wirklich zustande kommt, tragfähig und politisch schöpferisch wird, ist zu diesem Zeitpunkt offen.

Bei der Vorbereitung des Parteitags waren in der ganzen Bundesrepublik gewaltige publizistische Strohfeuer angefacht worden. Walter Kröpelin kommentierte am Tag der Eröffnung des Parteitages die aufgeregten Erwartungen mit den Worten: „Selten wurde ein Parteitag im vorhinein mit so viel Hoffnungen wie Befürchtungen überfrachtet wie der Parteitag in Hannover. Vor allem die in der Bundesrepublik dominierende konservative und rechtskonservative Presse malte ein Zerrbild einer von Zerreißproben und ideologischen Zeitbomben bedrohten Partei Und Horst Ehmke begann seine Parteitagsrede — in der Diskussion zum Einleitungsreferat des Vorsitzenden — mit den Worten: „Wenn ich auf einem Parteitag hier die etwas schrillen Töne der Ouvertüre zu diesem Parteitag noch einmal in Erinnerung rufe, werde ich besonders nachdenklich. Ich bin sicher: viele auswärtige Besucher sind hierhergekommen, ohne ganz sicher zu sein, ob hier die . Götterdämmerung'oder , Viel Lärm um nichts'auf dem Spielplan steht."

Und er fuhr dann fort: „Beides ist nicht eingetreten. Auf dem Spielplan hier in Hannover wie des Landes steht der Demokratische Sozialismus. Wir haben in der Debatte gesehen: es gibt Linke und Rechte, Junge und Alte, Theoretiker und Pragmatiker. Aber von Spaltung ist nicht die Rede."

Das öffentliche Interesse, ja die öffentliche Aufregung, waren natürlich keineswegs unbegründet. Kröpelin hat recht: zu einem Teil war sie verursacht vom konservativen politischen Gegner, in dessen Interesse es natürlich liegt, den Sozialdemokraten die neuen Mittelschichten aus dem Dienstleistungsbereich, denen einschneidende ökonomische Veränderungen zur Zeit gar nicht oder kaum vermittelt werden können, abspenstig zu machen. Die Besorgnis kam aber nicht nur von der konservativen Seite. Auch die liberale Öffentlichkeit — ich erinnere an die Kommentierung etwa der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" oder der „Süddeutschen Zeitung" — befürchtete, daß die Vertreter der „humanistischen Linken" in der SPD ein allzu großes Stück Macht für sich erringen könnten. Zwar war man froh darüber gewesen, daß die Sozialdemokratie die „neue Linke" bei sich aufnahm und so vom spektakulären Protest auf der Straße wegbrachte; wenn dieser Integrationsvorgang dann aber innerhalb der Partei Probleme mit sich brachte und nur mit un-überhörbarem Knirschen vor sich ging, war das Verständnis geringer. Aber gut: Zeitungen sind nicht dazu da, Verständnis zu haben, sie sind kritische Instanzen.

Festgehalten werden muß nur, daß Kritik und Besorgnis nicht nur aus dem konservativen Lager kamen. Selbstverständlich: Viele der in Gliederungen der SPD oder Arbeitsgemeinschaften verabschiedeten Anträge und viele der in der Zeit vor dem Parteitag gehaltenen Reden schienen auch eine scharfe Kurskorrektur der deutschen Sozialdemokratie anzudeuten So formulierte — um zwei profilierte Vertreter der Jungsozialisten zu zitieren — der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungsozialisten, Johanno Strasser, in seinem Beitrag zur Strategiediskussion auf dem Jungsozialistenkongreß im März: „Es wäre sicherlich müßig, sich in endlose Streitigkeiten darüber verwickeln zu lassen, wer den richtigeren Begriff von Sozialismus besitzt, solange wir in Westeuropa noch nicht einmal die unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus, nämlich die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, auch nur ansatzweise verwirklicht haben."

Und Karsten D. Voigt sagte auf demselben Kongreß:

„Der amerikanische Dollarimperialismus ist nicht nur ein Problem der dritten Welt, er ist ebenso ein Problem Westeuropas. Wir Jungsozialisten wollen diesem Dollarimperialismus nicht einen konkurrierenden EG-Imperialismus zur Seite stellen, deshalb müssen wir die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der europäischen Gemeinschaft fordern."

Der Hannoversche Parteitag hat viele solcher Forderungen abgelehnt, manche präzisiert, andere als Fragen akzeptiert. Er hat die Grundentscheidungen des Godesberger Programms von 1959 bestätigt. Er hat aber auch noch deutlich gemacht, daß all die Forderungen und Fragen, die in der SPD vor dem Parteitag gestellt worden waren, nicht aus Lust am Untergang oder purem Über-mut aufgekommen waren, sondern daß sie der Erkenntnis oder (bei manchen auch)

der Ahnung entstammten, daß die 70er und 80er Jahre mit den Antworten von 1959 allein nicht zu bestehen sein werden. Sicherlich hat sich manch einer, von diesem Problem geschreckt, in eine dogmatisch-marxistische Terminologie geflüchtet und hat statt Lösungsvorschlägen radikale Benennungen angeboten. Aber selbst dies — so wenig es weiterhilft — ist doch eine Reaktion auf das, was Jochen Steffen später in der Debatte des Parteitags den „Problemdruck" genannt hat, der schneller steige als die materiellen Mittel zu seiner Lösung und die technischen Lösungsmöglichkeiten Ehmke und Eppler haben diesen Begriff in der Debatte dann aufgenommen — und Horst Ehmke hat hinzugefügt:

„Die Lösungslücke wird größer, trotz allem, was wir machen, die Probleme wachsen schneller als die Lösungsmöglichkeiten, die wir anbieten können."

Worin bestehen diese Probleme? Ich sehe, wenn ich den Ablauf des Parteitags analysiere, drei Fragenkomplexe, die für die Zukunft dieser Gesellschaft besonders wichtig sind und die — wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichem Problembewußtsein — auf dem Parteitag in Hannover aufgegriffen wurden. Es sind dies erstens die ökologische Krise, zweitens die Wachstumswidersprüche in unserer Wirtschaft, also das Ungleichgewicht zwischen Makroproduktionsstruktur und Makroeinkommensverteilung und drittens das Problem der Loyalitätssicherung durch Verteilung und Partizipationsangebote Bei der Lösung aller dieser drei Probleme stößt die Politik heute allerdings an die Grenzen des ökonomischen Systems der Bundesrepublik. Deshalb mußte es in die Diskussion geraten. 1. Die ökologische Krise Diese Problematik, in der Wissenschaft seit einigen Jahren diskutiert, ist erst in der letzten Zeit, in der Bundesrepublik erst seit 1972, in eine weitere Öffentlichkeit gedrungen. Robert L. Heilbroner formuliert sie so: „Das Leben auf unserem Planeten ist eine zerbrechliche Angelegenheit, eine Art wunderbarer mikrobischer Aktivität, die auf der dünnen Haut aus Luft und Wasser und verfallendem Gestein gedeiht, die das unbewohnbare Erdinnere von der Leere des Weltraums trennt. Die meiste Zeit in der Geschichte der Menschheit hat man das Vorhandensein dieser Umwelt als selbstverständlich angesehen und die Anstrengungen des Menschen haben sich ihrer . Zähmung'gewidmet, das heißt der Veränderung dieser lebensnotwendigen dünnen Schale auf verschiedene Weise, um uns so ein leichteres Überleben zu sichern. Nun sind wir mit betäubender Plötzlichkeit zu der Erkenntnis gekommen, daß die Umwelt keineswegs als selbstverständlich hingenommen werden kann, daß wir uns vielleicht sogar am Rande eines nicht wiedergutzumachenden Verschleißes befinden. Denn wenn die Berechnungen einer Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Physikern korrekt sind, braucht es nur weitere 50 Jahre des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Expansion mit den augenblicklichen Zuwachsraten, um zu einem Zusammenbruch unserer lebenserhaltenden Umwelt zu führen, was eine Massenhungersnot in einigen Gebieten, den industriellen Zusammenbruch in anderen, eine drastische Verkürzung der Lebenserwartung beinahe überall mit sich bringen würde."

Die von Heilbroner zitierten Berechnungen sind bekanntlich in ihren Prämissen und in ihren Ergebnissen umstritten. Dieser Streit wurde auch auf dem Parteitag ausgiebig ausgetragen. Unumstritten aber ist, daß mit dem Bewußtwerden der ökologischen Krise vordergründiger Wachstumsoptimismus ebenso in Frage gestellt wurde wie das Bruttosozialprodukt als Indikator für Lebensqualität. Die Analyse wird zeigen, daß der Parteitag sich den Thesen der Antiwachstumsschule keineswegs angeschlossen hat. Daß das Problem des ökologischen Gleichgewichts aber ökonomische und strategische Fragen gerade im Zusammenhang mit dem Orientierungsrahmen 85 aufwerfen mußte, ist klar. Wie dringend die Probleme sind und wie notwendig es war, daß die deutschen Sozialdemokraten sie in ihren Meinungsbildungsprozeß aufnahmen, zeigt gerade der Aufsatz von Heilbroner, der sich im Unterschied zu den Vertretern der Antiwachstumsschule mit den Problemen der Durchsetzung beschäftigt hat. Er ist der Meinung, daß die notwendigen Reaktionen in unserem politischen System nur „über das entsetzliche Erscheinen der Anfangsstadien der ökologischen Katastrophe" herbeizuführen sein werden. „Eine Temperaturumkehr, durch die einige tausend Menschen in New York oder Tokio umkommen, kann veranlassen, daß Autos und Rauch aus diesen Städten verbannt werden; eine erschreckende Steigerung der Kindersterblichkeit, die auf Kunstdünger auf Nitratbasis zurückzuführen wäre, könnte Verbote für chemische Bodenzusätze bringen. Außer wenn wir durch solch furchtbare Dinge angespornt werden, glaube ich nicht, daß die Geschwindigkeit des industriellen Wachstums aus Gründen des Umweltschutzes entscheidend verlangsamt oder daß die Überbelastung der Umwelt entscheidend verringert wird."

Der Hannoversche Parteitag der SPD ist der erste groß angelegte Versuch einer deutschen Partei, diese Probleme vielleicht doch noch ohne jene von Heilbroner prognostizierte Katastrophe zu lösen. Daß dabei dann die Frage der öffentlichen Kontrolle privater wirtschaftlicher Entscheidungen in den Mittelpunkt der Diskussion rücken muß, ist selbstverständ-lieh. Selbst der gemäßigte Amerikaner Heilbroner prophezeit eine „Ausdehnung der öffentlichen Kontrolle ... , die alles, was man bis jetzt im sozialistischen oder kapitalistischen Westen kennt, weit übersteigen wird"

Der Parteitag war hier vorsichtiger; er hat zuerst Fragen formuliert und sie an die neue „Kommission Orientierungsrahmen" weitergereicht. Jedenfalls hat er die Problematik in die deutsche Diskussion auf Ebene politischer mit Nachdruck eingeführt. 2. WachstumsWidersprüche 1 Die wirtschaftliche Entwicklung im entwikkelten und demokratischen Kapitalismus geriet aber nicht nur im Hinblick auf die Bewältigung des Umweltproblemes, sondern auch in ihrer eigenen Dynamik, in ihren Bedingungen für Gleichgewicht oder Krisen in die Diskussion. Dabei wurde allerdings eines sehr deutlich: Das Problembewußtsein ist bei diesem Fragenkomplex weit weniger ausgeprägt als bei der ökologischen Krise. Aktuelle Anlässe, dieses Thema zu diskutieren, sind vor allem die Arbeitskräfteknappheit und damit zusammenhängend das Problem der ausländischen Arbeitnehmer sowie die in der ganzen westlichen Welt um sich greifende inflationäre Entwicklung. Es geht um die Frage, inwieweit und ob im Kapitalismus eine Harmonisierung von Makroproduktionsstruktur und Makroeinkommensverteilung ohne Zerstörung des Marktes durch indirekte Finanz-instrumente möglich ist. Die These liegt auf dem Tisch, daß unter den heutigen Bedingungen in den wachsenden Volkswirtschaften der westlichen Welt nicht mehr die klassische Überproduktionskrise, die noch Marx diagnostiziert hat, das eigentliche Problem ist, sondern daß die „moderne" Form in der „Nachfrageinflation" besteht.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß meinem Eindruck nach diese gesamte Problematik auf dem Parteitag nur sehr viel vager diskutiert worden ist als die ökologische Krise. Das Inflationsproblem hat eigentlich nur Helmut Schmidt selbst aufgegriffen und — bisher noch ohne Resonanz — behandelt Die Diskussion setzte meist sehr allgemein beim berühmten „Grundwiderspruch" zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung an und führte nur in eini gen Beiträgen über die Fragestellungen de; späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinaus zu einer Analyse der im entwickelten Kapitali und frühen 20. Jahrhunderts hinaus zu einer Analyse der im entwickelten Kapitalismus gegebenen Probleme. Die wichtigsten Beiträge lieferte hier die Debatte um eine Vollsozialisierung der Produktionsmittel. Es sind also noch keine Ergebnisse sichtbar, und selbst die Fragen sind noch nicht mit ausreichender Präzision formuliert. Aber das Thema ist auf die Tagesordnung der deutschen Politik gesetzt und wird nach diesem Parteitag auch in der SPD auf einer höheren Stufe, also jenseits der plumpen Alternative „Anarchie kapitalistischer Produktion" oder „zentrale Planung bei Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln", ansetzen müssen. 3. Loyalitätssicherung Die demokratisch organisierten Industriegesellschaften stehen, wollen sie die demokratischen Grundfreiheiten nicht dispensieren, vor dem Problem, sich politische Massenloyalität zu sichern — und dies in einer Situation, in der diese Loyalität immer schwerer zu haben ist. Einerseits entsteht angesichts der komplizierter und für den einzelnen immer ungreifbarer werdenden sozialen und politischen Zusammenhänge bei vielen Menschen ein „Verlust subjektiver sozialer und politischer Rationalität" 17); das Legitimationspotential der Regierung wird vermindert, es bilden sich Oppositionsgruppierungen mit ganz neuen Wertorientierungen, der Anarchismus lebt wieder auf etc. Anderseits wird der Weg der „distributiven Pazifierung" 18) immer ungangbarer; einmal wird es notwendig sein, das ständige Wachstum des privaten Konsums zu drosseln, um die Umweltgefährdung abzuschwächen und die Entwicklung der Gesellschaft einigermaßen in den Griff zu bekommen, zum anderen könnte es in der Tat sein, daß „die Überzeugungskraft einer Wohlstandsökonomie jenseits einer bestimmten Sättigungsschwelle" 19) versagt, das heißt, daß die materielle Ausstattung bestimmter sozialer Schichten so gut ist, daß eine weitere Besserung der materiellen Situation sie vor rigorosen Sinnfragen, vor rigorosem Protest gegen die technische Zivilisation nicht mehr zurückhält. Gleichzeitig entsteht das Problem, daß die Demokratisierung der gesellschaftlichen Institudonen nicht im selben Maße vorangetrieben werden kann, wie die Legitimationsbasis bei bestimmten Gruppierungen schwindet. Die objektiven Schwierigkeiten einer Demokratisierung von Industriebetrieben, Hochschulen, Redaktionen etc. bei gleichzeitiger Erhaltung (oder jedenfalls: nicht allzu starker Verminderung) der Funktionsfähigkeit sind nicht von heute auf morgen zu überwinden. Im übrigen stößt die Verwirklichung von Partizipation auf den härten Widerstand betroffener Interessengruppen, auf den Widerstand wirtschaftlicher Macht. So kann es in der Tat zu einer Situation kommen, „in der wachsender Legitimationsbedarf und vermindertes Legitimationspotential immer weiter auseinanderklaffen"

Auf dem Parteitag wurde dieser Problemkomplex virulent, nicht nur bei der Diskussion (und Ablehnung) von Maßnahmen „negativer Disziplinierung" — beim Ministerpräsidentenbeschluß, sondern auch in den Diskussionen um die Rolle des Staates und um die Strategie, das heißt also um das Problem Klassenkampf, Bürgerinitiativen, politische Beteiligung, Demokratisierung etc. Hier wurden am ehesten Themen angeschlagen, die schon auf den vergangenen Parteitagen im Mittelpunkt der Diskussion standen. Die Grundsätzlichkeit, mit der das Problem aufgegriffen wurde, zeigt aber, daß mit der theoretischen Diskussion, von der jetzt ein paar Jahre geredet wurde, nun ernst gemacht /wird.

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: die Probleme, die hier gestellt sind, sind natürlich nicht etwa nur Probleme der sozialdemokratischen Partei; es sind Probleme der deutschen Gesellschaft. Nach dem Parteitag von Hannover kann man sagen: Die SPD hat sich diesen Problemen gestellt. Das heißt nicht, daß sie überall glaubhafte Lösungen anzubieten hätte. Aber sie hat die Diskussion um diese Themen aufgenommen, während die konservative Seite sich darauf beschränkt, schon diese Diskussion „shocking" zu finden. Die Mobilisierung der Ängste des unteren Mittelstandes wird aber nicht ausreichen, um jenen „Problemdruck" zu bewältigen. Herrman Kahn hat wohl recht, wenn er konstatiert: „Es hat den Anschein, als ob der historische Konservativismus sowohl in seiner ehrwürdigen agrarischen, religiösen und hierarchischen , Tory'-Spielart als auch in seiner bürgerlichen, industriellen, durch das Laissez-faire bestimmten , Whig‘-Form des 19. Jahrhunderts in allen jenen westlichen Ländern eine Niederlage erlitten hat, wenn eine bestimmte Stufe in der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht wurde, deren Kennzeichen die Massenproduktion ist.“

Man kann hinzufügen: Es hat den Anschein, daß die Wahlniederlage der Konservativen am 19. November 1972 in der Bundesrepublik auch eine geistige Niederlage manifestiert. Die trotzige Behauptung von Franz-Josef Strauß: „Wir haben recht gehabt. Wir haben nur nicht recht bekommen !" ist eher eine ironische Bestätigung dieser Tatsache.

Im folgenden will ich nun versuchen, die programmatischen Ergebnisse dieses Parteitags am Beispiel der Debatte um den „Orientierungsrahmen 85" zu rekapitulieren. Dazu versuche ich zuerst eine Rekonstruktion der — verstreuten, immer wieder unterbrochenen, für den entfernteren Beobachter schwer zusammenfügbaren — Diskussion der drei eben herausgearbeiteten Grundprobleme an fünf Beispielen: Am Beispiel der Diskussion um die notwendige „gesellschaftspoltische Analyse", die der Neufassung des Orientierungsrahmens beigegeben werden müsse, am Problem Wachstum, am Problem Investitionskontrolle, am „außenpolitischen Bündnisproblem" und an der Strategiefrage: Konflikt, Bürgerinitiativen, Klassenkampf (Teil II). In Teil III bemühe ich mich um eine Einordnung der Ergebnisse und um einen Vergleich der Beschlüsse mit den Ergebnissen des Godesberger Parteitags von 1959. Teil IV versucht eine Analyse des labilen Kräftegleichgewichts innerhalb der Partei. Es geht um die Frage: Wie geht es weiter, wo liegt die neue Mehrheit?

Methodisch ist noch zu sagen: Natürlich analysiert hier kein Unbeteiligter den Parteitag der SPD. Ich war einer der Mitautoren des bayrischen Antrags zum Orientierungsrahmen, der noch in drei anderen Bezirken Diskussionsund Beschlußgrundlage war. Ich war Mitglied der Antragskommission Orientierungsrahmen 85. Und ich war, als Delegierter der Bundestagsfraktion, an der Debatte des Parteitags selbst beteiligt. Meine Analyse ist also subjektiv, möglicherweise bestimmt von meinen Wünschen, sicher begrenzt von meinen Vorurteilen.

II.

In der Diskussion um den „Orientierungsrahmen 85" oder aber um das „Langzeitprogramm" — schon der Streit um den Namen ist bezeichnend — bündelte sich im vergangenen Jahr die theoretische Auseinandersetzung innerhalb der SPD. Sie gab die Möglichkeit, die sozialphilosophischen und strategischen Grundfragen einmal auszudiskutieren — und nicht nur in die Diskussion konkreter Einzelkonzepte (zur Medienpolitik, zur Bodenpolitik, zur Vermögenspolitik) implizit einfließen zu lassen. Deshalb läßt sich an der Diskussion um den Orientierungsrahmen die programmatische Entwicklung der SPD auch am ehesten darstellen.

Natürlich war das „Langzeitprogramm", als es auf dem Saarbrücker Parteitag der SPD 1970 in Auftrag gegeben wurde, ursprünglich als Disziplinierungsmittel konzipiert — als Mittel zur notwendigen Disziplinierung einer Partei, die in allen möglichen Sachbereichen ebenso sinnvolle wie teure Anträge stellte, die insgesamt das vorhandene Sozialprodukt zu übersteigen drohten oder überstiegen. Insofern markiert der Beschluß von Saarbrükken den endgültigen intellektuellen Übergang der SPD von der Opposition zur Regierungspartei — obwohl die Partei damals bereits vier Jahre an der Regierung beteiligt war. Besonders der Konflikt über Forderungen der Bildungspolitiker, einen bestimmten Anteil des Bruttosozialproduktes für das Bildungswesen zu reservieren, führte notwendig zu der Folgerung, gesellschaftliche Bedürfnisse insgesamt zu katalogisieren, zu bewerten und auch in eine finanziell ausdrückbare Relation zueinander zu bringen. Genau hier setzte aber der Konflikt in der Partei ein, der sich später an der Oberfläche im Streit um den Namen — Orientierungsrahmen oder Langzeitprogramm — manifestierte. Im Grunde geht es um die erkenntnistheoretische Frage, wie und mit welchen Mitteln die Bewertung der menschlichen Bedürfnisse vor sich gehen soll. Hier setzte der Streit um die Analyse ein, der dann die Monate vor dem Parteitag beherrschte, die Analyse der Gesellschaft nämlich, die dem „technokratischen" Entwurf der Schmidt-Kommission fehle. Die scheinbar vordergründige Auseinandersetzung hat also ihre Wurzel im alten Widerspruch von rationa stischer und marxistischer Erkenntnistheori Der Gedanke, man könne ein umfassendes R chenwerk über die möglichen und notwend gen Staatsausgaben und die Gesamtentwicl lung des Sozialproduktes vorlegen, ohne d: programmatischen Grundentscheidungen de Godesberger Programms neu in die Disku; sion zu ziehen, mußte scheitern. Einmal scho aus methodischen Gründen: Die Frage, waru man der Bildung Priorität geben will, ve langt eben Wertentscheidungen, die ma zwar mit dem Grundwertekatalog von Godes berg begründen kann, bei denen man dan aber den hohen Allgemeinheitsgrad (und di geringe Präzision) dieses Grundwertekatalog sehr schnell zu spüren bekommt. Und es gib auch noch einen zweiten, einen psychologi sehen Grund, warum die Programmdiskussio: nicht ausgeklammert bleiben konnte: Weil na türlich jemand, der die Gesellschaft veränder will und dabei auch das ökonomische Sv stem in den Veränderungswillen mit einbe zieht, eine Projektion auf 1985 nicht aushält wenn in ihr nicht auch Systemänderungen die er anstrebt, angesprochen sind. So wurde die Diskussion um den Orientierungsrahmen eine programmatische Diskussion — manch mal, zugegebenermaßen, eine Diskussior um das Programm herum, in den guten Augenblicken der Auseinandersetzung abei durchaus eine echte Programmdiskussion.

Godesberg ist in seinen Grundentscheidungen bestätigt worden. Diese Feststellung konnte man und karin man bis zum Überdruß von allen hören; trotzdem ist sie richtig. Godesberg ist mit Hannover, die Entscheidungen des Godesberger Parteitags 1959 sind mit den Entscheidungen des Hannoverschen Parteitages 1973 aber auch weiterentwickelt und präzisiert worden. Ich rekonstruiere und kommentiere die Debatte an den fünf meiner Meinung nach entscheidenden Problemkomplexen. Daß schon die Auswahl dieser Probleme subjektiv ist, muß hier nicht noch einmal besonders betont werden. 1. Die gesamtgesellschaftliche Analyse I. Auf den Stellenwert dieser Diskussion habe ich eben schon hingewiesen. Steffen hat Karl R. Popper als „geistig methodischen Vater" des Orientierungsrahmens bezeichnet. Sein Kommentar dazu: Das ist sicher ein Fortschritt gegenüber eivem unreflektiertem Pragmatismus oder der Methode, die Quersumme der artikulierten Forderungen der organisierten Gruppen in den Rang von Gesellschaftspolitik zu erheaen. Es ist kein Ersatz für eine Sozialtheorie, deren Inhalt auch aus Sinngebung und Gestaltungsrichtung besteht."

Nun steckt schon in dieser Charakterisierung ein Irrtum; denn selbstverständlich würde auch der kritische Rationalismus in der Tradition Poppers oder Alberts eine solche „Sozialtheorie" nicht ausschließen; er würde nur vorschlagen, die zentralen Grundsätze dieser Sozialtheorie kritisch an der Wirklichkeit zu überprüfen — was Steffen, wie er seinerseits auf dem Parteitag klargemacht hat, genauso will. Das Problem stellt sich anders: Einerseits muß man nämlich fragen, ob die (von vorneherein vorausgesetzte) Sozialtheorie des Godesberger Programms ausreichte, um die Vorschläge des Orientierungsrahmens hinreichend zu begründen. Und andererseits muß man analysieren, ob die vielfach erhobene Forderung nach „Analyse" nicht oft die verklausulierte, mehrheitsfähig gemachte Formulierung für die Forderung nach „strikt marxistischer" Analyse war — einer Analyse nämlich, aufgebaut auf axiomatischen Wahrheiten des „wissenschaftlichen Sozialismus", die ihrerseits nicht mehr in Frage gestellt werden dürften.

Das Thema „Analyse" wurde, wie überhaupt die meisten theoretischen relevanten Fragestellungen, schon in der Einleitungsrede des Vorsitzenden angesprochen. Brandt ging, wie vor ihm schon Helmut Schmidt, aus von dem berühmten Zitat aus einer Schumacher-Rede über die Pluralität der Motivationen, aus denen man Sozialdemokrat sein könnte: „Kurt Schumachers Wort, an das wir schon gestern erinnert wurden, es sei gleichgültig, ob jemand durch die Methoden marxistischer Wirtschaftsanalyse, ob er aus philosophischen oder ethischen Gründen oder ob er aus dem Geist der Bergpredigt Sozialdemokrat geworden sei, dieser Satz wurde 1959 zu einem tragenden Bestandteil des Godesberger Programms; er muß unverändert weitergelten. Ich adressiere dieses Zitat an einige, die heute wieder Theorie sagen und in Wirklichkeit Ideologie meinen, nämlich ein geschlossenes

System der Welt-und Lebensbetrachtung als Ersatzreligion."

Zwar schafft der in der SPD beliebte Regreß auf dieses Zitat noch keine Klarheit; aus dem Zusammenhang der Schumacherschen Politik gerissen, läßt es sich auch als Eintrittsbillet für „wissenschaftliche Sozialisten" in die SPD mißverstehen Brandt argumentierte aber noch viel konkreter:

„ . . . einige Kritiker meinen, am . System'lasse sich nichts ändern, solange die Produktionsmittel nicht sozialisiert seien. Alle Politik, die den . Grundwiderspruch'nicht abschaffe, wirke letztlich nur . systemstabilisierend'; es sei so nicht möglich, qualitative Änderungen zu bewirken.... Diese Sicht ist nicht neu. Sie ist jedoch nicht die des Godesberger Programms, das auf die, wie ich meine, Illusion verzichtet, mit einer generellen — und schematischen — Änderung der Eigentumsverhältnisse sei der sozialistische Durchbruch zu erzielen oder aus der Abschaffung von Privatbesitz an Produktionsmitteln ergäbe sich automatisch mehr Freiheit für die Menschen."

Brandt konkretisiert dies dann mit dem schon diskutierten Hinweis auf die Grundwerte:

„Wer nicht an den großen einzigen Hebel glaubt und den Sinn der Arbeit in der prakschen Reformarbeit sieht, der muß sich gleichwohl fragen lassen und klar machen, welches die Maßstäbe seines politischen Handeln sind und ob er nach ihnen handelt. Unser Godesberger Programm gibt Antwort auf die Frage nach den Zielen. Es nennt die Grundwerte des demokratischen Sozialismus:

Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Sie sind Maßstab für die Bewertung unserer politischen Einzelentscheidungen."

Brandt räumte in seiner Rede selbst ein, daß eine Präzisierung dieser Grundwerte notwendig sein werde. Wichtig ist vor allem die Ablehnung des „einzigen Hebels", die der Parteitag später auch in seinem Beschluß bestätigt hat. Wolfgang Roth hatte das Thema als erster in der Debatte aufgenommen:

„Was für mich entscheidend ist, was von der überwältigenden Mehrheit der Jungsoziali-sten verstanden und akzeptiert wird, ist die Tatsache, daß das Godesberger Programm auch ein theoretischer Programmkompromiß ist. Das heißt aber, daß das Godesberger Programm die Entwicklung von politischen Konzeptionen auf der Basis marxistischer Analyse ausdrücklich zuläßt ... Ich will damit sagen: die Jungsozialisten versuchen nicht, ihre Analyse — dazu gibt es schließlich auch noch unterschiedliche Auffassungen — zu verabsolutieren, sondern sie versuchen, sie auf der Basis des Godesberger Programms als Teildiskussion innerhalb dieser Partei zu verstehen."

Dies ist sozusagen die Zustimmung zu den Folgerungen aus dem Schumacher-Zitat. Dann geht Roth auch auf das zweite von Brandt in diesem Zusammenhang angepackte Problem, den „Grundwiderspruch", ein:

„Es geht um die Frage der Legitimation der Herrschaft aus dem Privateigentum über hochkonzentrierte Produktionsmittel. Diese Legitimation bestreiten wir. Wir bestreiten sie nicht aus ideologischen und dogmatischen Gründen, sondern weil wir wissen, was in dieser Phase mangelnder gesellschaftlicher Kontrolle hochkonzentrierter Produktionsmittel daraus an Krisenerscheinungen in dieser Gesellschaft resultieren kann. Ich glaube, das ist kein dogmatischer Standpunkt, sondern hier wird versucht, aus den Problemen der Gesellschaft wieder eine traditionelle marxistische Analyse zu entwickeln."

Roth nimmt also die Hypothese von den Widersprüchen, die das Privateigentum erzeuge, auf; er nimmt diesen Grundsatz aber eben als Hypothese auf, und das bedeutet auch, daß diese Hypothese an der Wirklichkeit scheitern kann oder scheitern könnte. Noch deutlicher wird dies in der Debatte durch Hans-Ulrich Klose formuliert:

„Nun hat Wolfgang Roth gesagt — er hat es gefragt —, in dieser Partei müsse doch wohl eine marxistische Gesamtanalyse als Grundlegung des politischen Programms zulässig sein ... Na sicher, kann die Antwort da nur lauten. Aber entscheidend ist doch die Frage, ob uns diese wissenschaftliche Gesamtanalyse weiterbringt. Und da habe ich Bedenken, Ich fürchte nämlich eher, daß uns diese Gesamtanalyse zurückführen könnte zu den Irrtümern eines angeblichen wissenschaftlichen Sozialismus. Man könnte auch von Sackgasse reden. Ich formuliere das im Konjunktiv unc will nur meine Bedenken anmerken und darauf hinweisen, daß, wer eine gesamtgesellschaftliche Analyse fordert, immer auch sager muß, welchen Inhalt sie haben soll und zu welchem Zweck sie erstellt wird . .. Diese gesamtgesellschaftliche Analyse ist nicht Voraussetzung für Zielformulierungen. Die gesamtgesellschaftliche Analyse oder Einzelanalysen sind Hilfsmittel, also Instrumente, um Realisierungschancen und Wege politisch vorformulierter, politisch gewollter Ziele zu ermitteln und zu präzisieren. Anders formuliert: Die Analyse -ist nicht schon die Grundlage der Theoriediskussion, kann die eigentliche Diskussion nicht ersetzen. Die Theoriediskussion muß sich beschäftigen mit dem Ziel."

Mit dieser Kontroverse ist das Problem gestellt. Die weitere Debatte macht es noch deutlicher, klarer. So Steffen:

„Hier geht es darum, die Maßnahme mit der Analyse zu verbinden, d. h., die Analyse zum integralen Bestandteil der Maßnahmen zu machen. Dazu müssen wir einmal folgendes auch rein methodisch feststellen. Wenn Maßnahmen, die lösen sollen, Schritt für Schritt ergriffen werden, dann ist die erste Frage: Wohin? In welchem Prozeß? Wie wird dieser Prozeß verstanden? ... Das sind inhaltliche Fragen, ohne deren Beantwortung und ohne deren Verständnis das Ergreifen von verändernden Maßnahmen einfach eine Leerformel ist."

Die Analyse wird hier eindeutig nicht verstanden als Deduktion aus letzten Wahrheiten, sondern als Konfrontation von Willens-haltungen — Werten — mit der empirischen Wirklichkeit. Steffen fügt dem noch den Hinweis auf den innermarxistischen Schulstreit hinzu:

„Die Furcht vor der strikt marxistischen Methode — wenn das noch gestattet ist, Genosse Vorsitzender — sollte eigentlich unter Gesellschaftswissenschaftlern nicht bestehen. Denn für Marxisten gilt Mathäus, Kap. 14 doch wohl nicht: Da steht: Der Streit in den Häusern zerstört die Häuser.'Für das Gedeihen des Hauses Marx ist der Streit in demselben, glaube ich, die Voraussetzung. Es gibt ja sehr viele miteinander im Streit liegende marxistische Richtungen. Und wenn man, je nach seinem Marx-Verständnis, ihn von vornherein als ständig revisionistisch begreift, d. h. sich selbst ständig in Frage stellend und verändernd, kann das gar nicht anders sein." 30a)

Der Schulstreit kann zwar auch ein Streit zwischen Dogmatikern sein — eine Scholastik des Marxismus; der Hinweis auf die ständige Revision zeigt aber doch, was Steffen meint: doch wohl Revision im Hinblick auf Entwicklungen und Veränderungen in der Wirklichkeit, die alte Hypothesen bestätigen, aber auch widerlegen können

Das Ergebnis dieser Debatte ist der Beschluß des Parteitages zum Orientierungsrahmen, der auf den Vorschlag der Antragskommission zurückgeht. In diesem — zum Schluß einstimmig akzeptierten Antrag — heißt es: „Das Godesberger Programm ist das gültige Grundsatzprogramm ... Der Orientierungsrahmen hat nicht die Aufgabe, das Godesberger Programm zu ersetzen ..."

Und weiter:

„Der Parteitag geht davon aus, daß die Grundwerte des Godesberger Programms — Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität — im Hinblick auf die seit 1959 neu in Erscheinung getretenen Probleme, Konflikte, Verhaltensweisen und Werthaltungen zu präzisieren und konkretisieren sind. Für den Orientierungsrahmen kommt es darauf an, dies in den einzelnen Bereichen zu verdeutlichen. Es soll gezeigt werden, wie eine Vielzahl einzelner Maßnahmen Schritt für Schritt die Gesellschaftsordnung in Richtung auf mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität verändert."

Genauso deutlich aber wird eine Analyse — wenn auch keine „strikt marxistische" — verlangt: „Ausgehend von den bestehenden Strukturen und den bereits eingetretenen Fehlentwicklungen soll die Kommission analysieren, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu erwarten sind, wenn die gegenwärtig wirksamen Trends fortgeschrieben, also nicht durch bewußte politische Entscheidungen in eine andere Richtung gelenkt werden. Auf der Grundlage dieser Analyse sind Alternativen zu erarbeiten, die — orientiert an den Zielsetzungen und Wertvorstellungen des demokratischen Sozialismus — auf eine Steigerung der Lebensqualität hinzielen. Davon ausgehend sind präzise Aufgaben in den einzelnen Bereichen zu formulieren."

Als Ergebnis der Diskussion ist also folgendes festzuhalten: Einmal hat der Parteitag ohne Zweifel die von der Basis der Partei her erhobene Forderung bestätigt, daß die Diskussion um die Grundwerte des Godesberger Programms und die Diskussion um den Orientierungsrahmen nicht voneinander getrennt werden können. Auf der Basis der Godesberger Grundentscheidungen muß also die „Sozialtheorie", der die SPD folgen will, weiter ausgearbeitet werden. Theorieloses positivistisches Dahinwursteln (das allerdings mit kritischem Rationalismus nach dem Konzept Poppers gar nichts zu tun hat) hat der Parteitag eindeutig verworfen.

Ebenso deutlich sind aber die „verschiedenen Motivationen" bestätigt worden, aus denen heraus man Sozialdemokrat sein kann. Dies heißt, daß nach dem Willen des Parteitages von Hannover eine dogmatisch-marxistische Analyse — die allerdings auf dem Parteitag weder von Steffen noch von irgend einem anderen wichtigen Vertreter des linken Parteiflügels gefordert worden ist — für die Partei keinesfalls verbindlich gemacht werden kann.

Man wird sogar, ohne die Debatte des Partei-tages allzusehr überzuinterpretieren, feststellen können, daß ein Sozialismus, der sich als „wissenschaftliche" Einsicht in den „objektiven" gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß begreift, in der SPD heute keine Chance und Berechtigung hat. Das kann nicht heißen, daß es unter der Million Sozialdemokraten nicht manche gibt, die ein „emotional verwurzeltes Gewissheitsbedürfnis" dazu treibt, bestimmte Hypothesen, etwa von Marx und Engels, kompromißlos zu dogmatisieren. Der Hannoversche Parteitag müßte ihnen aber klargemacht haben, daß sie in der falschen Partei sind.

Thesen und Bekenntnisse wie folgende — hier zitiert aus einer Kollektivarbeit sowjetischer Autoren gegen den „Sozialdemokratismus" — haben in Hannover einhellig Ablehnung erfahren: „Die gerechte Gesellschaftsordnung, der Sozialismus, und das Privateigentum an den Produktionsmitteln sind zwei Dinge, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen, denn gerade das Privateigentum bringt die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital hervor und führt zur sozialen Ungleichheit. Das ist eine axiomatische Wahrheit, die keinerlei besonderer Beweise bedarf.“ (Sic!) 2. Wachstum Einen weiten Raum in der Auseinandersetzung um den Orientierungsrahmen vor dem Parteitag nahm die Frage des Wachstums ein; kurz nach Veröffentlichung des ersten Entwurfs der Schmidt-Kommission war durch das Buch von Denis Meadows die MIT-Studie in der Bundesrepublik bekanntgeworden. Der Vorwurf des Wachstumsfetischismus war deshalb der Kommission mehrfach und unverblümt gemacht worden. Am besten formuliert ist die — in der Partei-diskussion häufig allerdings viel trivialere — Wachstumskritik in der Kritik der Jungsozialisten Dort wird vor allem der Zusammenhang von ökonomisch-privaten Bedingungen und politisch-parlamentarischen Zielsetzungen problematisiert; anders ausgedrückt: es wird darauf hingewiesen, daß der Wachstumsprozeß abhängig von der Investitionsbereitschaft der Unternehmer ist, und es wird die Befürchtung geäußert, daß eine Wachstumsrate, wie sie der Entwurf der Schmidt-Kommission vorsieht, notwendig grundlegende Veränderungen der Gesellschaftsstruktur ausschließe, weil der Staat die Investitionsbereitschaft der Unternehmer bei einer solchen Wachstumsrate nicht gefähren dürfe. So heißt es: „Wenn, wie behauptet wird, die Wirtschaft nur im Wachstum funktioniert, es also keine Alternative gibt, so schafft der Wachstumsprozeß nicht mehr Freiheiten, sondern baut im Gegenteil Freiheit ab, da er zu einem Zwangsprozeß geworden ist."

„Die Zwangsläufigkeit des Wachstums, die Einschränkung der Konsumfreiheit und die Konzentration zeigen im Ergebnis: der Wachstumsprozeß erhöht nicht den individuellen Freiheitsgrad, sondern baut ihn partiell ab." 38a)

„Die Hoffnung, erhöhtes Wachstum führe zu einem sozialen Gleichgewicht, wird zur schönen Illusion."

Und vor allem:

„Wachstum ist die Friedensformel im Verteilungskampf."

Vor allem hier ist ein wesentliches Argument angesprochen: die Pazifizierungsfunktion von Wachstum. Begrüßt man diese „Funktion"? Lehnt man sie ab?

Die Diskussion auf dem Parteitag über dieses Thema war schon wesentlich bestimmt durch eine der Begrüßungsreden. Bekanntlich hatte ja der Deutsche Gewerkschaftsbund eine Wachstumsprojektion — schon vor Veröffentlichung des Entwurfs eines Orientierungsrahmens — publiziert, die noch von höheren angestrebten Wachstumsraten ausging als der Schmidt-Entwurf. Genau darauf ging der DGB-Vorsitzende, Heinz-Oskar Vetter, in seiner Begrüßungsrede ein:

„Ich möchte an dieser Stelle hier doch davor warnen, daß — gewollt oder ungewollt — die Qualität des Lebens gegen die Quantität des Lebensnotwendigen ausgespielt wird. Gegenüber allem Gerede von der Konsum-, Wohlstands-oder gar Überflußgesellschaft habe ich darauf hinzuweisen, daß nach wie vor große Teile der Arbeitnehmerschaft weniger als 1 000, — DM im Monat verdienen. Ich meine, mit einer Verzichtsethik, wie sie von manchen Seiten gepredigt wird, können wir nichts anfangen."

Man kann überspitzt sagen: Dabei blieb es. Schon Jochen Steffen — als erster Diskussionsredner nach Willy Brandt — wirft das Thema auf; aber nicht im Sinne einer strikten Antiwachstumsschule, sondern differenziert, kritisch gegenüber einem bloß quantitativen Wachstumsprozeß, hinweisend auf die Notwendigkeit von qualitativem Wachstum: „ Warum wollen und müssen wir ... die Machtfrage in dieser Gesellschaft stellen und die Frage auch nach der Qualität, nämlich nach der Demokratisierung? Weil wir, glaube ich, alle erlebt haben, daß wir mit dem quantitativen Wachstum eines technischen oder kapitalistischen Kapitalverwertungsprozesses zwar viele alte Probleme lösen konnten — das soll ja auch nicht verkleinert werden —, daß wir aber gleichzeitig neue und bedrükkende Probleme für die Menschen und ihre Existenz als Menschen erzeugen. Und da haben wir nun einige dieser Probleme zu nennen: Die fortwirkende Tendenz zu riesigen 3allungsgebieten mit Wohnlandschaften, die menschenunwürdig zu werden drohen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die Entstehung von zu dünn besiedelten oder gar verlassenen Gebieten. Gleichzeitig haben wir den drohenden Kollaps unseres jetzigen Verkehrssystems zu sehen. Wir haben zu sehen die existentielle Bedrohung der Menschen durch die Vergiftung von Wasser, Boden und Luft. Wir haben das Problem der Gastarbeiter mit der Tendenz, daß sich daraus ein neues Unterproletariat entwickelt, wie wir es in der fortschrittlichsten Industrienation beobachten können. Auch darauf ist hier hingewiesen worden. Und wir haben zu sehen die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der Rohstoffe."

Die Antworten kamen vor allem vom Arbeitnehmerflügel; sie hielten sich auf der gleichen Linie: differenziertes Wachstum. So Herbert Ehrenberg, früher der Theoretiker der Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden (heute Bundestagsabgeordneter):

„Trotzdem muß gerade hier auf diesem Parteitag davor gewarnt werden, nach der überzogenen Wachstumseuphorie der 50er Jahre jetzt in eine Art Antiwachstumsfetischismus, ja fast so eine Art Zurück-zur-Naturbewegung zu verfallen ... die beispiellose Rekordbilanz der Verbesserung der sozialen Sicherung in diesem Lande .. . wird sich nur dann halten lassen, wenn wir die Vollbeschäftigung aufrechterhalten. Die Vollbeschäftigung wird sich aber nur bei kräftigem wirtschaftlichem Wachstum aufrechterhalten lassen. Das kann nicht heißen: Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Es muß sogar heißen: Ein differenziertes, immer mehr auf öffentliche Bedürfnisse abgestelltes wirtschattli ches Wachstum. Aber mit dieser Differenzierung müssen wir diese Diskussion führen, und es muß deutlicher, als es in der Wachstums-diskussion oft zum Ausdruck kommt, gesagt werden, daß öffentliche Investitionen mindestens genauso wachstumswirksam sind wie viele private Investititionen, ja daß sie häufig sogar noch wachstumswirksamer sind. Auch der Bau von Kläranlagen und Luftfiltern, von Laboratorien zur Erforschung neuer Elektromotoren sowie die Forschung für einen besseren Nahverkehr sind notwendige Bestandteile des wirtschaftlichen Wachstums. Daher kann es in unserer Wirtschaftspolitik nicht darum gehen, das Wachstum zu begrenzen, sondern wir müssen Jahr für Jahr neu versuchen, die Wachstumsmöglichkeiten voll auszuschöpfen . . . : weg von den privaten Investitionen, hin zu einer Vergrößerung des Anteils der öffentlichen Investitionen."

Und Helmut Rohde, Vorsitzender des Arbeitnehmerbeirates der SPD:

„In die Überlegung über das Wachstum ist auch unsere handfeste Erfahrung einzubeziehen, die wir gemacht haben, daß nämlich mit Wachstumsprozessen von uns auch ständig Prozesse sozialer Reformen verbunden werden konnten. Bei Nullwachstum oder gar bei Minuswachstum hat stets die Gefahr der sozialen Demontage bestanden. Eindrucksvoll war dafür das Beispiel der Rezession, in der Vollbeschäftigung und soziale Sicherungen demontiert worden sind."

Am Schluß der Debatte konnte Helmut Schmidt feststellen, „daß die Mißverständnisse, die sich vor dem Parteitag bei der Wachstums-debatte eingeschlichen hatten, weitgehend ausgeräumt sind" Das Fazit des Parteitages, beschlossen aufgrund des Vorschlags der Antragskommission, lautet: „Wachstum ist kein Selbstzweck, Wachstum ist ein Mittel zur Durchsetzung unserer Politik. Ein schlüssiges Programm sozialer Reformen kann auf wirtschaftliches Wachstum nicht verzichten; ohne wirtschaftliches Wachstum wäre unser Programm zum Scheitern verurteilt. Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen muß im Interesse der sozialökonomisch schwächeren Schichten unseres Volkes gesteigert werden. Der Wunsch der arbeitenden Menschen nach vermehrter Freizeit ist berechtigt. Die bishe-rige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hat jedoch immer schärfere Grenzen und Gefahren, z. B. Luftverpestung, Verkehrs-Infarkt der Städte, Vergiftung der Gewässer, in den Vordergrund gerückt, die eine ausschließliche Orientierung an einem bloß quantitativen Wachstum mit sich bringen würde. Die natürlichen Rohstoffe und Hilfsquellen sind begrenzt. Produktion und Konsum müssen unter bestimmten Umständen zugunsten z. B.der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Durchsetzung einer humaneren Arbeitswelt zurücktreten. Die Kommission soll deshalb prüfen, welche Formen wirtschaftlichen Wachstums, insbesondere welche Steigerungen der Produktivität der höheren Lebensqualität dienen."

Mit der Ablehnung der Thesen der Antiwachstumsschule war aber das Problem der neu zu schaffenden Instrumente zur Beeinflussung des Wachstums mit um so größerer Dringlichkeit gestellt. Auf dem Parteitag wurde es unter dem Stichwort Investitionskontrolle diskutiert. 3. Investitionskontrolle Brandt griff das Thema selber auf:

„Godesberg nennt die Investitionskontrolle als Mittel der Kontrolle des Machtmißbrauchs der Wirtschaft. Dieses Thema, über dessen Schwierigkeit wir uns nicht täuschen sollten, ist immer wichtiger geworden."

Brandt verweist dann auf den Vorschlag der Antragskommission, der später auch verabschiedet wurde, und fährt fort: „Dabei denkt die Kommission — und das ist sehr bedeutsam — nicht an eine Detailplanung der privaten Investitionen, sondern daran — ich zitiere wieder —, , den Investitionen steuernde Rahmenbedingungen vorzugeben’. Investitionslenkung — wir beginnen ja nicht auf der grünen Wiese — praktizieren wir heute in der regionalen Strukturpolitik, beim Umweltschutz und beim Wohnungsbau, bei der Forschung, beim Bergbau, in der Landwirtschaft. Es geht also längst nicht mehr um ein grundsätzliches Ja oder Nein zur Frage der Investitionssteuerung; es handelt sich nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie."

Die ausführliche Debatte zu diesem Punkt, die immer wieder und an den verschiedensten Stellen aufkam, kann hier nicht nachgezeichnet werden; die Rekapitulation der Argumente und Gegenargumente würde viele Seiten beanspruchen. Entscheidend ist dies: Unter dem Begriff „Investitionskontrolle" verbirgt sich der zentrale Dissens, der auch nach dem Parteitag von Hannover zwischen der Mehrheit und einer Minderheit weiter bestehen wird. Für die Minderheit verbirgt sich hinter dem Begriff Investitionskontrolle eine weitgehende Aufhebung der privaten Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und weitgehende Möglichkeiten zu zentraler Detailplanung 48a). Bei der Parteitagsmehrheit gibt es solche, die die Auffassung vertreten, daß die Möglichkeiten zur Setzung von Rahmenbedingungen für die privaten Investitionen schon durch die Regionalpolitik, durch Baugenehmigungen etc. weitgehend ausgeschöpft sind; andere hoffen, daß weitere Instrumente entwickelt werden können.

Aber man muß sich klar sein, daß der Godesberger Formelkompromiß zur Investitionskontrolle in Hannover nur erneuert und in einen Auftrag an die neue Kommission gekleidet worden ist; eine Klärung konnte nicht stattfinden. Was allerdings unbestreitbar stattgefunden hat, ist dies: „Der Parteitag" hat das Thema, das in der Ära Schiller ein Jahrzehnt lang heruntergespielt worden war, energisch wieder in den Vordergrund gerückt. Obwohl also keine neuen Entscheidungen über Godesberg hinaus fielen, hat die Diskussion des Orientierungsrahmens in Hannover doch erreicht, daß dieses Thema wieder auf die Tagesordnung des demokratischen Sozialismus. in der Bundesrepublik gesetzt worden ist.

Allerdings: Der eben konstatierte Dissens existiert nicht etwa zwischen dem, was man im allgemeinen — und oberflächlich — „linker Flügel", „Mitte" und „rechter Flügel" nennt. Das Interessante ist gerade, daß — ohne daß irgend jemand Lösungen anbieten könnte — sowohl von Oertzen und Eppler als auch Vogel und Klaus-Dieter Arndt, die eine oberflächliche Tagespublizistik gern zu gänzlich verschiedenen Gruppierungen in der SPD zählt, in dieser Frage gleiche, differenzierte Positionen vertraten. Diese Positionen lassen sich so kurz zusammenfassen: Die Entwicklung weiterer Instrumente zur Steuerung privater Investitionen ist notwendig; die Entscheidungen über Investitionen müssen aber weiterhin dezentral fallen: Sozialisierungen mögen im Einzelfall sinnvoll sein, sind aber keine Patentlösung; eine bürokratische zentrale Planung für Investitionen wird abgelehnt;

der öffentliche Korridor der Staatsausgaben — und damit der öffentliche Einfluß auf Investitionen — wird entscheidend erwei- tert.

So Horst Ehmke in der Diagnose:

»Eine Gesellschaftsordnung, in der jeder Privatmann, möglichst noch mit Euro-Dollars, beliebige Investitionen machen kann, Verschleißproduktion, umweltfeindliche Produktion usw. und dann, wenn die Konjunktur überschäumt, werden die öffentlichen Mittel für Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser gestrichen — eine solche Gesellschaftsordnung ist weder gerecht noch vernünftig

Und in der Abgrenzung nach links:

»Ich glaube, wir dürfen uns nicht vormachen, es sei ein historischer Zufall, daß totale Planungssysteme bisher nur in Einparteien-Diktaturen versucht und praktiziert worden sind, sondern wir müssen uns überlegen, wie man mehr Lenkung insgesamt mit mehr Mitbestimmung an der Basis vereinbaren kann. ”

Jochen Vogel zur Vollsozialisierung:

»Das Godesberger Programm nennt die Begründung von Gemeineigentum als eine von mehreren Möglichkeiten, wenn mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der 'wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann. Daran ist nicht zu rütteln. Ebensowenig aber ist daran zu rütteln, daß die totale Vergesellschaftung der Produktionsmittel seit Godesberg kein Ziel unserer Bewegung mehr sein kann, und zwar auch kein Fernziel. Der Glaube, nur so könne der angebliche Grundwiderspruch unserer Gesellschaft beseitigt und allen Übeln und Mißständen unserer Zeit radikal abgeholfen werden, ist unter den konkreten Erfahrungen vieler Jahrzehnte verblaßt, ja geradezu widerlegt worden ... Es ist auch nicht wahr, daß Gesellschaftsordnungen mit voller Vergesellschaftung der Produktion, in welcher Form auch immer, auf die Herausforderungen unserer Zeit bessere Antworten zu geben vermögen, als es andere Ordnungen tun. Ist bei ihnen etwa die Umweltgefährdung und die Neigung, der Produktion zuliebe die natürlichen Reserven zu zerstören, geringer? Ist das Verstädterungsproblem weniger drückend? Sind die Fixierung auf das Wachstum und der daraus folgende Leistungszwang etwa weniger stark als in anderen Ordnungen? Nichts von alledem. Die Industrie verschmutzt auch dort die Seen. Man baut die überflüssigen Überschallflugzeuge weiter, die andere Länder eingestellt haben ...“

Und ganz ähnlich Peter von Oertzen:

. Laßt mich in diesem Zusammenhang noch einmal die Gefahr, daß Gegensätze in unserer Partei nicht ernst genommen werden, an einem Beispiel verdeutlichen, und zwar an dem Beispiel der programmatischen Äußerungen, die auf dem letzten Bundeskongreß der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten gemacht worden sind. Dort hat der Genosse Johanno Strasser in seinem Strategiereferat in einer Auseinandersetzung mit nichtdemokratischen Tendenzen erklärt, die Aufhebung, ich sage die Auihebung, des Privateigentums an Produktionsmitteln sei für ihn die unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus. Genossinnen und Genossen, vom Standpunkt eines konsequent marxistisch verstandenen Sozialismus ist das eine völlig klare und folgerichtige Aussage ... Es ist aller Ehren wert, ihn so klar zu vertreten, und es muß, wenn er als Begriff einer demokratischen Gesellschaftsordnung vertreten wird, erlaubt sein, diese Auffassung von Sozialismus in unserer Partei frei und ohne Scheu zu diskutieren und zu vertreten. Zugleich aber müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dieser Begriff des Sozialismus, nämlich der umfassenden Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, nicht der Sozialismusbegriff unseres gegenwärtigen Grundsatzprogramms ist. Das muß mit aller Deutlichkeit festgestellt werden." Auch Eppler grenzt sich gegenüber Tendenzen zu einer Planungsbürokratie ab. Im Zusammenhang mit der Diskussion über die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die ein Wirtschaftssystem befriedigen muß, sagt er:

„Wir müssen nur aufpassen, daß niemand draußen den Eindruck bekommt, hier solle irgend eine wissende Elite oder gar noch eine Bürokratie dekretieren, was Lebensqualität und was Bedürfnisse seien."

Die Gegenposition ist auf dem Parteitag — angesichts der in diesem Zusammenhang klaren Mehrheitsverhältnisse — nicht immer so klar geworden, wie in manchen Debatten vor dem Parteitag. Trotzdem wurde sie nicht etwa aus taktischen Gründen einfach verschwiegen. So sagte Adalbert Wiemers:

„Der kapitalistische Produktionsprozeß beruht auf der freien Investitionsentscheidung der Kapitaleigner, die damit die größtmögliche Rendite erzielen wollen. Diese chaotische, da nicht koordinierte, nicht an den Gesamtinteressen orientierte Methode der Kapitaleigner erzeugt neue und nur von der Gesellschaft zu lösende Probleme-, Beispiel: Umweltschutz, Wohnungsbau, Verkehrspolitik. Eine vernünftige Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ist in diesem kapitalistischen System auf die Dauer unmöglich. Unsere Aufgabe als Sozialdemokraten ist es, die privaten Investitionen am volkswirtschaftlichen Nutzen zu messen.“

Und Heinz Kopp sagte in der Debatte zu Willy Brandts Grundsatzreferat:

„In dem Referat von Willy Brandt ist der Satz gefallen, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sei nicht schon an sich die Lösung des Problems. Diesem Satz stimmen wir völlig zu. Nur, ohne Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist letzten Endes fundamentale Demokratie nicht möglich und letzten Endes auch nicht . absolute Friedenssicherung möglich. Denn Kriegspolitik und Rüstungspolitik haben immer unmittelbar etwas mit den ökonomischen Interessen der Rüstungsindustrie und den Herrschenden und Mächtigen in kapitalistischen Gesellschaften zu tun."

Die Entscheidung des Parteitages war eindeutig. Die Ziff. 18 des Antrags der Antrags-kommission(einstimmig beschlossen!) zitiert zuerst nochmals den berühmten Kompromiß des Godesberger Programms, in dem Investitionskontrollen, Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen, Gemeineigentum, aber auch freie Konsumwahl, freier Wettbewerb, und freie Unternehmerinitiative nebeneinander stehen. Dieses Zitat, also die Wiederaufnahme der Godesberger Formulierung in den Beschluß des Hannoverschen Parteitags, stammt aus dem bayerischen Antrag. Der Versuch, der noch auf dem bayerischen Landesparteitag gemacht worden war, dieses Zitat — eben wegen der Nennung der freien Unternehmerinitiative, des freien Wettbewerbs und der freien Konsumwahl — zu streichen, wurde in Hannover schon gar nicht mehr wiederholt. Es kam — wie übrigens auf dem Godesberger Parteitag mit dem damali-gen Antrag 138 — ein Antrag von Hessen-Süd, den Rudi Arndt begründete. Dieser Antrag verlangte diesmal aber keine Streichung, sondern lediglich eine Präzisierung Im übrigen verlangt der Beschluß eine genaue Prüfung, wie Investitionskontrollen institutionalisierbar seien.

Der Beschluß des Parteitages lautet in seinem Punkt 18:

„Das Godesberger Grundsatzprogramm hat Investitionskontrollen, Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen und — wo notwendig— Gemeineigentum im Bereich der Großwirtschaft als Mittel zur Bändigung wirtschaftlicher Macht und vereinbar mit freier Konsum-wahl, freiem Wettbewerb und freier Unternehmerinitiative gekennzeichnet. Die Kommission wird daher beauftragt, zu untersuchen, — wie das Instrumentarium der Planung und Koordinierung aller wichtigen privaten Investitionsentscheidungen unter sektoralen und regionalen Gesichtspunkten ausgebaut werden kann, um den Allgemeininteressen Vorrang vor einzelnen Interessen zu sichern. Dazu müssen den privaten Investitionen steuernde Rahmenbedingungen vorgegeben werden. Es kommt darauf an, gesellschaftlich unerwünschte Ergebnisse des marktwirtschaftlichen Selbststeuerungsprozesses zu verhindern, ohne seine Vorteile — Flexibilität und Vielfalt, Initiative und Dynamik — zu gefährden, — wo das Privateigentum an Produktionsmittel durch den überwiegenden Übergang der Verfügungsgewalt an Manager, die ihrerseits anonymen Mächten dienen, seine Verfügungsgewalt verloren hat und eine Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum zweckmäßig ist, — wie durch Normen für Qualität, Sicherheit und für den Schutz der Umwelt privatwirtschaftliche Investitionen gesteuert werden können. Im übrigen kommen für die Beeinflussung privatwirtschaftlicher Investitionsentscheidungen unter anderem folgende Instrumente in Betracht: Steuervariationen, Abschreibungsregelungen, sonstige Investitionserleichterungen, gezielte Arbeitsmarkt-und Wirtschaftsstrukturpolitik. Darüber hinaus sollen die Einschränkungen steuerlicher Absetzbarkeit der Werbung und, für eine Reihe von Produktionszweigen (z. B. Arzneimittel, Zigaretten), ein generelles Werbeverbot geprüft werden, — in welcher Form die Menschen über Ziele und Zwecke wirtschaftlicher Entscheidungen demokratisch bestimmen können." 4. Das außenpolitische Bündnisproblem Gesellschaftspolitische Veränderungen können nicht sinnvoll diskutiert werden ohne eine Reflexion der außenpolitischen Bündnis-frage; diese viele Jahre vernachlässigte Tatsache rückt in allernächster Zeit stärker in den Blick. Deswegen ist es notwendig — wenn man sozialdemokratische Programmatik auf gesellschaftspolitischem Feld richtig beurteilen will —, zur Diskussion um den Orientierungsrahmen auch Elemente der außenpolitischen Diskussion hinzuzuziehen, also die gesellschaftspolitischen Diskussionen um den Orientierungsrahmen nicht isoliert zu analysieren. Auch hier setzte Willy Brandt selbst die Akzente in seiner Einführungsrede. Er wies den pauschalen Antiamerikanismusverdacht der Opposition, der gegen die SPD und vor allem gegen die Jungsozialisten gerichtet worden war, zurück und erinnerte an die vielen Bürger, die in den Vereinigten Staaten selbst gegen die Vietnam-Politik ihrer Regierung protestierten. Ein Aufnehmen dieses Protestes in Europa könne nicht als Antiamerikanismus gekennzeichnet werden

Dann aber sagt er klar:

„Das atlantische Bündnis ist mit der europäischen Gemeinschaft die feste Basis unserer Politik nach außen, und sie bleibt es ... Ohne Präsenz Amerikas könnte über europäische Sicherheit nicht realistisch verhandelt werden. Wer die Bundesrepublik Deutschland aus dem Bündnis des Westens zu lösen versuchte, bringt in Wahrheit das Werk unserer Entspannungspolitik nach Osten und damit der aktiven Friedenspolitik zum Einsturz . . . Das , Ja‘ für unsere Außenpolitik heißt auch, daß die Bundeswehr für die Organisation des Friedens und für die Verhandlungen um Sicherheit in ganz Europa notwendig ist." Genau dies wurde später — um es vorwegzunehmen — vom Parteitag auch beschlossen. Ausgeklammert blieb — leider — eine Diskussion über die notwendige Strategie im europäischen Raum, die die Jungsozialisten anhand eines Referats von Karsten Voigt auf ihrem Bundeskongreß geführt hatten. Der Parteitag beauftragte aber eine Kommission mit der Erarbeitung von Thesen zu diesem Fragenkomplex. Sie wird in der programmatischen Diskussion der nächsten Jahre eine wichtige Rolle zu spielen haben. Wo die innerparteiliche Kritik und der innerparteiliche Dissens hinsichtlich des außenpolitischen Bündnisproblems ansetzt, machte auf dem Parteitag zuerst Jörg Jordan deutlich. Er setzte bei der Diskussion um die NATO an und präsentierte dem Parteitag folgende Analyse: „Man muß auch über die Frage der Rolle der NATO neu nachdenken, und man muß wohl auch akzeptieren, daß die Jungsozialisten darüber neu nachdenken, daß sie das, was da bisher ist, in Frage stellen ... Diese sind in unserer Einschätzung der Politik und der Rolle der NATO nun einmal zu neuem Nachdenken veranlaßt worden, nachdem wir gesehen haben, was die USA als Führungsmacht dieser NATO zum Beispiel in Santo Domingo, also beim Sturz des gewählten Präsidenten Bosch, oder zum Beispiel in der Schweine-bucht oder zum Beispiel in Griechenland oder zum Beispiel in Brasilien und schließlich und endlich natürlich auch in Vietnam geleistet haben. Das ist doch unser Problem, daß di« amerikanische Bündnis-und Militärpolitik vielfach nicht der Sicherheit und der Bevölkerung, sondern ganz handfesten kapitalistischen Interessen dient und daß sie vielfach nicht zur Stärkung, sondern zur Verhinderung von Demokratie und Sozialismus eingesetzt wird ... Weil wir auch sehen, daß die NATO zum Beispiel eine der großen Stützen der portugiesischen oder griechischen Diktaturen ist, empfinden viele von uns dieses Bündnis nicht als Schutz, sondern als latente Bedrohung einer von uns erstrebten sozialistischen Demokratie,"

Diesem Problemaufriß Jordans wird man in vielen Punkten nicht widersprechen können. Tatsächlich ist es so, daß in der amerikanischen Außenpolitik private Kapitalinteressen stark durchschlugen und auch heute noch immer wieder durchschlagen. Ohne Zweifel sind aber sozialistische Transformationsstrategien — ganz abgesehen von ihrer immanenten, gesellschaftspolitischen Überzeugungskraft — meist deshalb naiv, weil sie außenpolitisch nicht reflektiert sind, weil sie nicht deutlich genug zeigen, daß die gesinnungsethisch motivierte Abwendung vom eigenen Bündnis-partner eine mittlere Macht wie die Bundesrepublik dem Einfluß einer anderen Macht unterwirft oder unterwerfen kann, deren Außenpolitik man mit der gleichen'öder größerer Berechtigung ablehnen muß. Steffen hat dies — wenn auch nicht auf dem Parteitag — treffend formuliert:

„Richtig ist auch, daß kein moderner Industriestaat — außer den drei Supermächten USA, UdSSR und China — für sich allein total aus den politischen und wirtschaftlichen Bindungen ohne schwere Folgen für seine materiellen Grundlagen herausspringen kann. Wer es trotzdem versucht, tauscht die alte Abhängigkeit gegen eine neue von zumindest einer der Supermächte ein."

Das Interessante ist nun, daß diese Einschätzung Steffens auf dem Parteitag, auch von den Protagonisten des „Frankfurter Kreises", formuliert wurde. Voigt beispielsweise, der die politische Präsenz der Vereinigten Staaten „auf lange Sicht auch als gefährlich"

betrachtet, Verlangte nicht etwa eine Aufkündigung dieses Bündnisses-, er stritt sich mit Hingebung über die Frage, ob in den Satz „die politische und militärische Präsenz der USA ist für die Bewahrung eines ausgeglichenen Kräfteverhältnisses in Europa unerläßlich" die Einschiebung „nach den derzeitigen Bedingungen" sinnvoll sei oder nicht. Er regte beispielsweise an, die Bundesrepublik in die Zone der Entspannung einzubeziehen, aus der alle fremden Truppen, insbesondere die Truppen der USA, aber auch die der UdSSR, abzuziehen wären. Einer „leichtfertigen, einseitigen Abrüstung" redete er aber nicht das Wort. Wie seine Position aussieht, hatte er — in einer ganz anderen taktischen Situation — auch auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten deutlich gemacht: „In diesem Zusammenhang muß nach den bisherigen Erfahrungen mit den USA die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Westeuropa als ständige Bedrohung für sozialistische Transformationsstrategien angesehen werden. Die Jungsozialisten wollen allerdings auch keine sozialistische Transformation in Westeuropa unter der Anwesenheit oder dem militärischen Druck sowjetischer Truppen durchführen, da ein auf diese Weise installierter Sozialismus nicht ihren Zielvorstellungen entsprechen könnte. Eine Anwesenheit amerikanischer Truppen ist in Westeuropa aber auch für die Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich dann überflüssig, wenn von der UdSSR und den Warschauer-Pakt-Staaten insgesamt weder eine militärische Intervention noch ein militärisch-politischer Druck droht. Daß die Warschauer-Pakt-Staaten auch nach Abzug der US-Truppen aus Westeuropa keine militärische Intervention oder einen militärisch-politischen Druck planen, müssen sie allerdings nicht nur in Worten, sondern durch ihre eigene gegenwärtige Militär-und Rüstungspolitik und durch ihre Haltung bei den Abrüstungsgesprächen durch Taten der Mehrheit der Bevölkerung beweisen."

Selbstverständlich gibt es gar keinen Zweifel darüber, daß in der Beurteilung der Vereinigten Staaten zwischen Voigt und der Mehrheit des Parteitags ein Dissens vorhanden ist. Andererseits muß man aber auch feststellen, daß die in der Sozialdemokratie immer existierende pazifistische Unterströmung früherer Prägung zur Zeit kaum relevante Befürworter besitzt. Die Erkenntnis, daß eine demokratische Ent-Wicklung der Bundesrepublik unter einem möglichen militärischen Druck des Warschauer Pakts nicht garantiert werden kann, hat jedenfalls eine breite Mehrheit in der SPD. Damit ist nicht gesagt, daß sich überall in der Partei eine realistische Außenpolitik durchgesetzt hat. Aber das Nachdenken über die Entwicklung von möglichen kollektiven Sicherheitssystemen, in denen eine Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa überflüssig werden könnte, muß ja wohl gestattet sein; und dies nicht nur, weil entsprechende Überlegungen auch in den Vereinigten Staaten immer mehr an Boden gewinnen, sondern auch aus der schlichten Erkenntnis heraus, daß eine eigenständige Rolle Europas in der Welt nicht möglich sein wird, solange eine militärische Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten gegeben ist. Daß derartige Überlegungen dann aber auch Konsequenzen verlangen, wenn es um die Verteidigungsfähigkeit und die Verteidigungsbereitschaft dieses Europa geht, sei hier nur angedeutet.

Ich konstatiere also auch in außenpolitischen Fragen Ansätze zu einem über die bisherigen „Flügel" hinausreichenden Konsens. Dieser Konsens ist allerdings keineswegs unangefochten. Dies zeigt sich beispielsweise in den Disskussionsbeiträgen von Heinz Kopp, Manfred Coppik und einigen anderen. Ich zitiere als Beleg lediglich aus dem Diskussionsbeitrag von Kopp:

„Für Sozialisten kann Frieden nicht einzig und allein der Zustand ohne Krieg sein, sondern für Sozialisten bedeutet es auch, den ökonomischen Zustand zu beseitigen, in dem Krieg, Unterdrückung und Unfreiheit letzten Endes überhaupt möglich sind. Schon lange glaube ich, daß alle unterstützende Politik für die heute herrschende amerikanische Politik letzten Endes Antiamerikanismus ist und nicht die Politik, die sich genau an den Interessen der amerikanischen Bevölkerung orientiert.

Denn die Situation in Amerika ist doch, daß es einmal Millionen von Arbeitslosen gibt, daß zum zweiten die Städte verrotten, daß die Probleme der Jugendbildung nicht mehr bewältigt werden können und daß gleichzeitig der organisierte Widerstand in der amerikanischen Gesellschaft wächst und sich von daher der Druck von oben immer stärker vollzieht, d. h., diese Gewaltpolitik führt letzten Endes auch dazu, daß die jüngsten Meinungsforscher aus Amerika berichten könnten, daß über zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung in den letzten Wochen des Krieges in Amerika die Flächenbombardements Nixons akzeptiert oder ihnen sogar zugestimmt haben. Man muß sich einmal fragen, welche Manipulationspolitik, welcher Druck hier notwendig war, um diesen Zustand zu schaffen. ........ Wir glauben, daß sozialdemokratische Politik letzten Endes immer Solidarität mit den Unterdrückten in allen Ländern sein muß."

Dies ist nun in der Tat ein schlagendes Beispiel für das Denken ohne Alternativen, für den Versuch, die Moralpredigt an die Stelle der Außenpolitik zu setzen. Selbst wenn man die notwendige Kritik der oberflächlichen Manipulationstheorie, die hier dargeboten wird, ganz beiseite läßt, und wenn man die holzschnittartig versimpelte Analyse der Vereinigten Staaten undiskutiert läßt — das vollständige Fehlen einer auch nur angedeuteten Analyse der weltpolitischen Konstellationen und der Gefahren, die von den anderen, nicht westlichen Großmächten dieser Welt drohen, frappiert doch. Während Voigt, ohne im einzelnen darauf einzugehen, bei seiner außen-politischen Beurteilung immerhin Santa Domingo und Prag, Kuba und Ungarn gegeneinander abwägt — und dann, nach einem zwar neuen, aber eben doch einem „kollektiven Sicherheitssystem" fragt, bleibt bei Kopp die pure Gesinnungsethik: die sozialdemokratische Politik müsse „immer" Solidarität mit den Unterdrückten in allen Ländern sein. Wie diese Solidarität aber wirksam gemacht werden soll, wenn sie nicht eine Solidarität der gemeinsam Unterdrückten werden soll, ist nicht einmal problematisiert.

Auch Willy Brandt blieb in seiner Antwort auf diesen Diskussionsbeitrag nur noch der Sarkasmus: „Was die Zusammenhänge von Gesellschaftspolitik und Außenpolitik angeht, so hat mich am meisten erstaunt, zugleich aber doch auch erschreckt, wie ein Redner wirklich in aller extremen Naivität gemeint hat, einem Parteitag von 435 erwachsenen Sozialdemokraten erzählen zu können, wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet seien — und ich sage noch einmal: d. h. nach aller geschichtlichen Erfahrung: verstaatlicht —, dann gäbe es keinen Krieg mehr... Liebe Freunde, wenn das nicht so weltfremd wäre, würde ich das Breschnew sagen und dem Vorsitzenden Mao übermitteln lassen, als gewichtigen Hinweis für die Beurteilung der Dinge in den großen Zusammenhängen dieser Welt."

Die Beschlüsse des Parteitages — sowohl bei den allgemeinen Anträgen als auch bei den Anträgen zum Orientierungsrahmen — waren eindeutig: „Eine ausgewogene, beiderseitige Truppenverminderung und Rüstungsbegrenzung in Ost und West steht auch dank der deutschen Politik auf der Tagesordnung der nächsten vier Jahre."

Und im verabschiedeten Antrag zum Orientierungsrahmen heißt es: „Wir Sozialdemokraten bemühen uns seit Jahren mit Erfolg um Sicherung des Friedens in Europa und der Welt. Die Verständigungsund Integrationspolitik im Westen ist ebenso wie die Ostpolitik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung Instrument für das große Ziel einer allgemeinen, allseitigen und gleichzeitigen Abrüstung in Europa und darüber hinaus in der Welt. Tempo und Ausmaß dieser Abrüstung, für die die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die Verhandlungen über eine multilaterale, gleichgewichtige Truppenreduzierung in Europa (MBFR) erste Schritte sind, beeinflussen auch den möglichen Ausbau des Sozialstaats im Innern." 5. Konflikt, Klassenkampf, Bürgerinitiativen Ein wichtiger Einwand gegen den Entwurf der Schmidt-Kommission war es gewesen, daß dieser Entwurf keinerlei „Durchsetzungsstrategie" enthalte; es sei mit keinem Wort gesagt, wie man — ohne gewaltsame Umwälzung — auf einen Staatsanteil von rund 34 °/o kommen wolle; überhaupt sei nicht diskutiert, welche Konflikte in der Gesellschaft die SPD von sich aus aufzeigen und auslösen will, wie sie zur Basismobilisierung und Bürgerinitiativen stehe etc.

Ich habe selbst in der Debatte des Parteitages versucht, dieses Thema anzuschneiden, und zwar ausgehend von einer Formulierung des Vorsitzenden der Langzeitkommission beim Bundesvorstand der Jungsozialisten, Schepsmeier, der in seiner Rede auf dem Bundeskongreß wörtlich gesagt hat: „Ein Programm, das den Klassenkampf von oben und seine notwendige Entgegnung, den bewußten Klassenkampf von unten, ausklammert, kann kein sozialistisches Programm sein."

Ich habe nun versucht, am Beispiel der Klassenauseinandersetzung in Chile den politischen Spielraum einer reformistischen Politik darzustellen. Meine Grundthese: unkalkuliert scharfe Eingriffe in den Produktions-und Verteilungsapparat im Sinne von Staatskontrolle führen zu Gegenreaktionen der herrschenden Oberschichten, die die — unabdingbar notwendige — Aufrechterhaltung der liberalen Grundrechte unmöglich machen würde Meine Argumente:

„Die Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft muß so gewählt werden, daß uns eine breite Mehrheit der Menschen in diesem Lande folgen kann. Wer die Loyalität ganzer Gruppen, und zwar mächtiger Gruppen, für diesen Staat, den wir verändern wollen, zerstört, gerät vor die fatale Alternative, entweder davongejagt zu werden oder aber in der Krise Gewalt anwenden zu müssen und die parlamentarische Demokratie dispensieren zu müssen. Da dies letztere für die Sozialdemokraten nicht in Frage kommen kann und da wir uns nach Machtlosigkeit und Opposition nicht zurücksehnen, bleibt, glaube ich, nur eine Konsequenz, daß wir uns zu dieser 110-jährigen Praxis der Reform oder des Reformismus bekennen und daß wir auch in den theoretischen Debatten darüber nicht hinweg-reden . . . Eines scheint mir jedenfalls wichtig: wir dürfen nicht zulassen — das zeigt mir Chile und das zeigt mir auch Frankreich —, daß die Mittelschichten durch revolutionäre Rhetorik zu einem Resonanzboden der Konservativen gemacht werden ...

Zweitens .. . die Jungsozialisten haben die Partei mit Recht darauf gestoßen, daß neben der parlamentarischen Durchsetzung von Interessen Bürgerinitiativen und Basismobilisierung notwendig und sinnvoll sind. Es ist rich-tig, daß im Alltag den Menschen die gesellschaftlichen Widersprüche deutlich gemacht werden müssen. Aber eines können wir, glaube ich, nicht: wir können nicht einerseits für Konfliktlösungsmechanismen, wie die Tarifautonomie oder die Mitbestimmung, kämpfen und sie befürworten, andererseits den Konflikt schüren und anheizen, auch wenn politische Lösungen nicht in Sicht sind. Begrenzter Konflikt: ja. Aber unbeschränkte Eskalation der Konflikte bis zu einem heimlich ersehnten Siedepunkt: nein."

Diese Formulierungen waren zumindest an einer Stelle ungenau. Horst Ehmke weist auf diese Ungenauigkeit in seinem Diskussionsbeitrag hin:

„Ich habe ihn (Glotz) vorhin so verstanden, daß er meinte, wir dürften Problem-und Konfliktbewußtsein nicht schärfen, wenn wir nicht gleichzeitig Lösungsmöglichkeiten anbieten könnten. Ich bin da grundsätzlich anderer Meinung... Ich bin der Meinung, daß die Probleme nicht dadurch vom Tisch sind, daß man nicht über sie redet und daß natürlich Lösungsmöglichkeiten nur durch Bewußtmachung der Öffentlichkeit und der Bürger und nicht allein von Fachleuten erreicht werden können."

Ehmkes Korrektur war berechtigt. Deshalb präzisierte ich in der Diskussion der Arbeitsgemeinschaft Orientierungsrahmen meinen Beitrag:

„Was wir, und zwar auch an der Basis oder gerade an der Basis, wollen, ist, die Kritikfähigkeit der Menschen gegenüber einer schlechten Wirklichkeit zu wecken; das ist die Erzeugung von konkreten, vielleicht sogar auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Veränderungs-und Emanzipationsbedürfnissen der Menschen. Was wir aber, so meine ich, nicht wollen können, ist die Erzeugung einer ungerichteten Unzufriedenheit an möglichst vielen Stellen in unserer Gesellschaft, die im Sinne einer Gesamtstrategie, wie sie etwa Andre Gorz formuliert hat, zu Kraftproben im europäischen Zusammenhang führen könnte."

Ganz ähnlich argumentierte dann der Vorsitzende des Arbeitnehmerbeirats, Helmut Rohde: „Wir haben ... die Konflikte aufzunehmen, die in der Gesellschaft liegen. Das ist richtig. Aber die Form, in der das geschieht, muß insbesondere für die Arbeitnehmer überzeugend bleiben. Die Aufnahme und die Austragung politischer Konflikte durch Sozialdemokraten ist zum Beispiel etwas völlig anderes als die Agitation von kleinen Gruppen vor den Fabriktoren, die sich vielfach in sektiererischer Manier von den Betriebsräten, von den Vertrauensleuten und ihrer Arbeit in den Betrieben entfernen. Das haben wir auch bei der Durchsetzungsstrategie unserer langfristigen Politik und unserer aktuellen Aufgaben zu bedenken."

Auch bei dieser Frage zeichnet sich eine klare Übereinstimmung zwischen sozialdemokratischen Politikern ab, die gemeinhin zu verschiedenen Flügeln gerechnet werden. Nichts zeigt dies deutlicher als der präzise Diskussionbeitrag von Thomas von der Vring bei einer „strategischen" Formulierung der Vorlage der Antragskommission zum Orientierungsrahmen, in der es heißt:

„Es soll gezeigt werden, wie eine Vielzahl einzelner Maßnahmen Schritt für Schritt die Gesellschaftsordnung in Richtung auf mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität verändert."

Von der Vring sagte:

„Um die Krisen von morgen, die noch nicht sichtbar sind, mit einschneidenden Maßnahmen zu bewältigen, brauchen wir gegen den Widerstand der dann Betroffenen die Mehrheit der Bevölkerung. Deswegen genügt es nicht, Instrumente zu haben und irgendeinem Minister zu sagen, was er zu tun hat, sondern es ist notwendig, diese Probleme, die auf uns zukommen, rechtzeitig so im Bewußtsein der Bevölkerung zu verankern, daß die Maßnahmen auch ergriffen werden können, wenn man die Mehrheit hat; denn die Mehrheit allein ohne eine solche Unterstützung hilft nichts. Insofern wird es notwendig sein, die künftigen Konflikte, die Krisensituationen und die Notstände — ich meine das nicht * in einem politisch-radikalen Sinne, sondern in dem Sinne, daß hier Leid entsteht — vorab rechtzeitig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu tragen und gleichzeitig die Lösungsmittel anzubieten, so daß das eine zusammen mit dem anderen diskutiert werden kann. So vermittelt man zukünftige Reformen und nicht aus abstrakten theoretischen Überlegungen." Das Protokoll verzeichnet dann einen Zwischenruf von Helmut Schmidt:

„(Helmut Schmidt: Thomas, kein Widerspruch") Die Antwort von von der Vring: „okay", und er fährt später fort:

„Insofern zielt die Langzeitkommission nicht nur auf die Partei, sondern auf die Öffentlichkeit, um das Problembewußtsein zu schaffen und dafür zu sorgen, daß man auch Dinge, die noch nicht kochen, wo es noch keinen Skandal gibt, mit radikalen Maßnahmen anpackt, damit es morgen keine hohen Kosten gibt, kein Leid gibt und vor allem keine Krisen gibt. Denn die Krisen sind immer antisozial-demokratisch. Die Krisen gehen immer auf Kosten unserer politischen Glaubwürdigkeit, unserer Positionen. Sie bringen zuerst den Radikalismus von links und nachher, wie in der großen Rezession geschehen, den Radikalismus von rechts, der dann in unsere Wählerschaft einbricht. Solche Krisen, die in Zukunft in kleinen Bereichen immer wieder auftauchen werden, haben wir zu vermeiden. Deswegen die Vorschau. In einer solchen Situation fragt man auch nicht mehr, ob wir Theorie brauchen oder nicht. Wir brauchen Erkenntnis der Probleme von morgen, und wir brauchen ihre Lösungen. Wer sich so unbefangen an die Sache heranmacht, wird ein Theoretiker."

Die Ablehnung von Krise und Bürgerkrieg als bewußtem, möglicherweise sogar herbeigezaubertem Mittel der Politik ist ebenso eindeutig wie die positive Bewertung des Anstoßens von Bewußtseinsprozessen draußen an der Basis der Gesellschaft. Der Parteitag beschließt einstimmig nicht nur die bereits zitierte Formulierung, die den reformerischen Weg „Schritt für Schritt" postuliert, sondern auch dies:

„Vielmehr ist die Beteiligung von möglichst vielen Bürgern am politischen Prozeß eines unserer Ziele. Die SPD bekennt sich zum Parlamentarismus und zur repräsentativen Demokratie. Sie bejaht demokratische Initiativen, die in rechtsstaatlicher Weise auf konkrete Verbesserungen gerichtet sind."

Damit ist — mindestens auf der Ebene des Parteitags — die unfruchtbare Diskussion über systemverändernde, systemüberwindende oder systemsprengende Reformen ad acta gelegt. Die Partei hat sich — erneut und expressiv verbis — zum reformistischen Weg bekannt, den sie immer gegangen ist — wenn auch keineswegs immer mit Erfolg, keineswegs ohne beschwerliche Umwege. Die Kluft zwischen reformistischer Praxis und revolutionärer Theorie ist in Hannover nicht erneut aufgerissen worden.

III.

Die konsequenteste Interpretation des politischen Ergebnisses, das der Hannoversche Parteitag 1973 der SPD gebracht hat, lieferte ein Theoretiker der Union, Kurt H. Biedenkopf. Er schrieb vorgeblich aufgrund einer Analyse des Protokolls: „Die SPD ist im Begriff, diese programmatische Substanz aufzulösen, um ihre organisatorische Fülle zu erhalten. Sie versucht damit, der Gefahr der Linksabspaltung zu begegnen, unter der sie in ihrer Geschichte immer wieder gelitten hat. Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Willy Brandt wird ihn, wenn er ihn fortsetzt, mit der Zerstörung der sozialdemokratischen Substanz bezahlen müssen."

Biedenkopfs These: „Unter dem Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands agieren in der Bundesrepublik Deutschland heute zwei in Programm und Prinzip verschiedene politische Gruppen: „eine sozialistische und eine marxistische."

Genau das Gegenteil ist richtig. Die Analyse des Parteitages zeigt, daß die programmatische Neubesinnung einen breiten Konsens in der SPD gebracht hat, der nur von schwachen Gruppierungen am linken und rechten Rand nicht mitgetragen wird. Schlagwortartig zusammenfassend könnte man sagen: Es besteht Einigkeit in der SPD, daß die Partei eben nicht von einer aus axiomatischen und letzten Wahrheiten ausgehenden, verbindlich gemachten Analyse ausgehen kann; daß der Problemdruck, in dem wir uns befinden, einen stärkeren Einfluß des demokratischen Staates auf wirtschaftliche Entscheidungen verlangt, daß aber der Markt nicht durch eine bürokratische Zentralplanung ersetzt werden darf; daß eine undifferenzierte Wachstumseuphorie ersetzt werden muß durch das kalkulierte Streben nach qualifiziertem Wachstum; daß die Suche nach einem neuen System kollektiver Sicherheit in und außerhalb Europas das Machtgleichgewicht zwischen den Blökken nicht gefährden darf; daß die kalkulierte Klassenauseinandersetzung in der Bundesrepublik nicht durch eine existentialistische Konfliktstrategie ersetzt werden darf, die mit Krise, Bürgerkrieg und Zusammenbruch spekuliert. Dies kann natürlich keineswegs heißen, daß in der SPD künftig Harmonie herrschen wird. Erstens ermöglicht — und erzwingt — auch der Konsens in einigen Grundfragen die Fortdauer von handfesten Konflikten und Flügel-kämpfen. Zweitens besagt eine Analyse der Programmatik noch gar nichts über den psychologischen Zustand, in dem die Partei sich befindet; Organisationen können sich auch bei weitgehender inhaltlicher Einigkeit zerstören. Und drittens sollte man sich keine Illusionen darüber machen, daß es in der SPD Gruppierungen und Kräfte gibt, die auf dem Parteitag gar nicht oder kaum zu Wort kamen. Trotzdem: Für Biedenkopfs Diagnose gibt der Ablauf des Parteitags keinerlei Anhaltspunkte. Es sei denn, man wolle unterstellen, daß der — wie Biedenkopf meint — marxistische Flügel eine offene Propagierung seiner weiterreichenden Kampfziele vermieden und sich auf sogenannte Ubergangsforderungen beschränkt habe Ich will nicht ausschließen, daß es in der SPD einige Hundert organisationsunerfahrene, begeisterungsfähige junge Leute gibt, die zur Zeit noch von der Illusion leben, auf diese Art und Weise eine große Organisation wie die SPD „unterwandern“ zu können; selbst sie befinden sich aber — wie der Fall Eckert in Frankfurt zeigt — auf einem geordneten Rückzug. Wer allerdings Männern wie Steffen, von Oertzen oder Eppler ähnliche Motive unterstellt, verfallt in Denkschablonen der Verschwörertheorie, die nur noch mit dem Begriff Dummheit charakterisiert werden könnten

Wer die programmatische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie kennt, wird im übrigen bei einem Vergleich der Parteitage von Godesberg 1959 und von Hannover 1973 eine kaum glaubliche Konstanz der politischen Generalthemen feststellen. Charakteristisch ist dafür beispielsweise der folgende Satz: „Wenn wir ... uns überlegen, wie denn nun ein Grundsatzprogramm der sozialdemokratischen Partei sein muß und wie es sein kann und wie es nicht sein kann, dann kann es eben — bitte -entschuldigt das, ich sage es ganz freimütig — keine marxistische Wirtschaftsanalyse sein, und es kann ebenso wenig der Versuch sein, das Wollen der Sozialdemokratie lediglich zu motivieren aus Philosophischem oder Ethischem oder aus dem, was Schumacher den Geist der Bergpredigt nannte.

Dieses Zitat stammt von Herbert Wehner. Er hat es aber nicht etwa in Hannover, er hat es vor 14 Jahren — in Godesberg — gesagt. Die Diskussion um die . gesamtgesellschaftliche Analyse* ist also nicht etwa eine neue Entwicklung, die das „Abrutschen" der SPD nach Links charakterisiert, sondern ein altes Thema.

Ein anderes Beispiel ist die Einschätzung der Vollsozialisierung der Produktionsmittel. Heinrich Deist — den Biedenkopf übrigens zu einer Art weißen Raben sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erklärt — sagte übrigens, Hilferding zitierend, in Godesberg: „Wenn der Staat die Autonomie der wirtschaftlichen Gesellschaftssphäre aufhebt, dann hebt er auch die persönlichen Rechte auf. Hilferding wollte damit sagen — insoweit möchte ich das aufnehmen —, daß enge Beziehungen bestehen zwischen dem Freiheitsraum in der Wirtschaft und der freien Ordnung in der übrigen Gesellschaft. Wie sollte das anders sein, nachdem wir wissen, welche große Bedeutung die Wirtschaft als doch wohl wichtigster gesellschaftlicher Bereich hat. Das ist eine Erkenntnis, die wir, glaube ich, beachten sollten. Die Beispiele faschistischer und kommunistischer Prägung sollten uns wenigstens das zu Gemüte führen, daß hier Beziehungen bestehen und daß es Grenzen der Einwirkung und der Beteiligung und der Dirigierung der Wirtschaft durch den Staat gibt, jenseits deren die Grundlagen für eine demokratische Lebensordnung gefährdet erscheinen."

In Hannover sagte Horst Ehmke — es sei hier abermals zitiert — wörtlich: „Ich glaube, wir dürfen uns nicht vormachen, es sei ein historischer Zufall, daß totale Planungssysteme bisher nur in Einparteiendiktaturen versucht und praktiziert worden sind, sondern wir müssen uns überlegen, wie man mehr Lenkung insgesamt mit mehr Mitbestimmung an der Basis vereinbaren kann. Darauf ist die Antwort nicht gefunden."

Ich konstatiere also eine Konstanz der politischen Generalthemen und auch eine Bestätigung der Grundentscheidungen von Godesberg.

Allerdings: In Hannover ist nicht nur bestätigt worden, es hat sich auch Neues ereignet. Der Parteitag in Hannover markiert den Zeitpunkt, an dem das Zerbrechen des alten, neoliberalen Konsenses der 50er und 60er Jahre offenkundig wurde.

Wie stark dieser Konsens 1959 in Godesberg gewirkt hat, kann man beispielsweise an der letzten Wortmeldung Peter von Oertzens — damals ein Gegner des Godesberger Programms — erkennen. Als er sagt, über den Ausgang der Schlußabstimmung brauche man sich keinerlei Illusionen mehr zu machen, verzeichnet das Protokoll: „Heiterkeit". Als er versichert, daß „unsere Treue und unsere innere Bindung gegenüber der Partei" durch die Verhandlung des Parteitags nicht in einem negativen Sinne beeinflußt würden, verzeichnet das Protokoll „Zurufe". Er kann darauf nur noch sagen: „Es ist klar, das ist eine Selbstverständlichkeit, Genossinnen und Genossen. Aber es ist vielleicht doch gut, sie noch einmal auszusprechen ..."

Die politische Stimmungslage in Hannover ist anders. Der Problemdruck hat die Partei ein Stück nach links gerückt. Die Elemente des alten, neoliberalen Konsenses waren „made in the United States": der Glaube an die Lösung der sozialen Frage durch wirtschaftliches Wachstum, die Demokratietheorie von Lipset, die liberalen Konflikttheorien der 50er Jahre und der Antikommunismus der Koreakrise. Die Welt hat sich verändert; die SPD hat in Hannover darauf reagiert. Sie ist weder einem Neo-Anarchismus noch einem Neo-Dogmatismus verfallen. Aber sie hat begonnen, einige der alten Rezepte in Zweifel zu ziehen.

Die Antworten auf die drei großen Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung (vgl. Teil I dieses Aufsatzes) sind weder endgültig noch perfekt. Aber eine neue Strategie wird doch in Bruchstücken sichtbar.

Marx sah es für ein „notwendiges Entwicklungsgesetz" an, daß der Kapitalismus durch den Sozialismus überwunden werden müsse, weil der innere Entwicklungsgrundwiderspruch des Kapitalismus zu einem immer größeren Hindernis für die weitere, unaufhaltsame, notwendige Entwicklung der Produktiv-kräfte werde. Wir erkennen heute, daß Marx vor allem zwei wichtige „Entwicklungsänderungen" der kapitalistischen Entwicklung nicht erkannte oder nicht erkennen konnte. Ota ik charakterisiert sie folgendermaßen: ,, a) Der Prozeß einer wachsenden Arbeitslosigkeit und der mit ihr zusammenhängenden Lohnentwicklung, bei dem die ausschlaggebende Nachfrage nach Konsumgütern immer wieder so weit hinter der Produktion zurückbleibt, daß dies zur Hauptursache sich wiederholender, immer stärkerer Überproduktionen und Krisen wird, ändert sich auf einer hohen Entwicklungsstufe des Kapitalismus wesentlich.

Der Prozeß der Wiederaufteilung des Mehrwerts und der Abschöpfung eines wesentlichen und wachsenden Teils durch staatliche Steuern, mit denen ein wachsender Konsum in der Sphäre des tertiären Sektors und der hier tätigen Menschen erreicht wird, hat von einer hohen Entwicklungsstufe des Kapitalismus an eine wichtige Wirkung im Sinne einer Mäßigung der Widersprüche innerhalb der Reproduktion."

Aber klar ist auch dies: Auf einer höheren Ebene plagen uns die Widersprüche des Systems weiterhin. Nur sind eben heutzutage nicht mehr der ungenügende Konsum und die ungenügende Schöpfung von Produktionsressourcen typischer Ausdruck der kapitalistischen Interessengegensätze, sondern „die viel häufigere übertriebene Konsumentwicklung, die Überforderung der Produktionsmöglichkeiten und die damit verbundene Inflationsentwicklung"

Und hier sind wir bei den Stichwörtern, die auch die Diskussion in Hannover bestimmt haben: ökologische Krise, WachstumsWidersprüche, Loyalitätssicherung. Die unterschiedliche Einkommensentwicklung im System unserer Wirtschaft führt zu Störungen des Makrogleichgewichts; wir haben keine optimale Verteilung auf Löhne und Mehrwert im Kapitalismus. Eine solche „optimale Verteilung" wird kein Wirtschaftspolitiker der Welt und kein wirtschaftspolitisches System herbeizaubern können. Wenn es aber richtig ist, daß die Inflationsentwicklung der gesamten westlichen Welt im Kern eben keine Geldinflation, sondern doch eine Nachfrageinflation ist, wenn die Nachfrage langfristig die Produktion übersteigt, weil die Produktion wegen langfristiger Knappheit an Arbeitskräften, an Boden etc. nicht gesteigert werden kann, dann ergibt sich eben die — in Hannover aufgegriffene — Frage, wie ohne dirigistische bürokratische Planung, ohne Zerstörung des unternehmerischen Interesses, ohne Zerstörung des Marktes diese Entwicklung beeinflußt werden kann.

Am langsamsten wird die Nachfrageinflation vor allem in den Ländern mit Vollbeschäftigung sein, in denen die Produktivität am schnellsten steigt

Der Hannoversche Parteitag hat deshalb die im „Orientierungsrahmen angezielte Poduktivitätssteigerung bestätigt. Er hat auch klar entschieden, daß die ökonomische Krise nicht durch ein Nullwachstum oder gar ein Minuswachstum gemeistert werden kann; Experimente mit dem „neuen" konsumfeindlichen Menschen sind eben entgegen den Orakeln konservativer Kritiker nicht in Sicht. Und die Loyalität der Bevölkerung soll durch stetige Partizipationsangebote in allen gesellschaftlichen Bereichen gesichert werden — und nicht durch eine Beschwörung des autoritären Staates. Nur: Man muß sich darüber im klaren sein, daß derjenige, der planende Vor-ausschau unterläßt und in die Privilegien nicht einzugreifen wagt, schnell gezwungen werden könnte, seine liberalen Ideale oder seinen schein-liberalen Gestus abzulegen, weil er sonst von der Herrschaft verjagt wird. Viele Konservative haben dies leider nicht erkannt.

Dies ist, kurz zusammengefaßt, die Diagnose, die in Hannover erarbeitet wurde. Eine Therapie ist noch nicht entwickelt. Aber wer seine Krankheiten erkannt hat, hat eher eine Chance, sie zu heilen, als derjenige, der sich starrköpfig für total gesund erklärt und keine seiner liebgewordenen Gewohnheiten aufgeben möchte. Dies aber ist die Praxis der deutschen Konservativen in den 70er Jahren.

IV.

Die SPD nach Hannover — wie geht es weiter? Diese Frage ist Gegenstand von unzähligen, sehr oft inkompetenten Spekulationen. Die Aufteilung der Sozialdemokraten in linke, mittlere und rechte Flügel wurde — vor allem vor dem Parteitag — mit inbrünstiger Unkenntnis exerziert; Bruno Friedrich, von allen möglichen Zeitungen allen möglichen Fronten zugeordnet, hat diese Spielereien grimmig charakterisiert

Sicherlich gibt es innerhalb der SPD Ansätze zu Gruppenorganisationen. Der „Frankfurter Kreis", unterstützt von den größten Teilen der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten, intellektuell bestimmt von Jochen Steffen, Karsten Voigt, Günter Wichert und Thomas von der Vring, ist ein Kritallisationskern des linken Flügels. Er ist lose verbunden mit einer Gruppe von Abgeordneten der Bundestagsfraktion, die nach ihrem ersten Tagungsort als „Leverkusener Gruppe" bezeichnet werden und in der Baden-Württembergische Abgeordnete aus dem sogenannten Tübinger Kreis eine wichtige Rolle spielen. Es gibt weiter die ältere, auf der Basis persönlicher Verbundenheit weiterhin intakte, in der Bundestagsfraktion wichtige, aber auch in die Bezirke noch hineinreichende Gruppierung der „Kanalarbeiter" um Egon Franke und Karl Herold. Und es gibt Ansätze zu weiteren Freundeskreisen in der Mitte; so um den Bundestagsabgeordneten Günter Metzger, aber auch um verschiedene, festen Gruppierungen nicht zuzuordnende Bezirksvorsitzende. Meine These lautet nun, daß diese „Struktur", die sich seit einigen Jahren gebildet hat, nach Hannover verfallen und einem neuen inneren Kräftegleichgewicht der SPD weichen wird. Verstehen kann man diese Entwicklung aber nur, wenn man hinter die vordergründigen Rechts-Links-Schablonen zurückgeht und die psychologischen Fronten analysiert, die quer durch die große Massenpartei SPD laufen.

Zur Soziologie der Partei hat Willy Brandt auf dem Hannoverschen Parteitag interessante Angaben gemacht: „Die Partei wächst; sie verändert sich; sie hat Wachstumprobleme. Hierzu ein paar Hinweise: Von den knapp 650 000 Mitgliedern, die wir zählten, als ich vor gut 9 Jahren Parteivorsitzender wurde, sind mehr als 350 000 nicht mehr unter uns. Der Tod hat also kaum vorstellbare Lücken gerissen. Heute zählt die Partei fast 1 Million Mitglieder. Das bedeutet: 300 000 Mitglieder gehörten der SPD schon vor 10 Jahren an; rund 670 000 der heutigen Mitglieder sind seit damals beigetreten. Allein im letzten Jahr traten der Partei 160, 000 Mitglieder bei. Die meisten, nämlich zwei Drittel waren — wie es im Grunde natürlich ist — Jüngere, nämlich unter 35 Jahre alt. Auch die soziale Schichtung unserer Partei hat sich verändert. 1962 wurden noch fast 55 °/o aller neuen Mitglieder als Arbeiter registriert; im Jahre 1972 waren es knapp 28 °/o. Die Zusammensetzung unserer Partei hat sich also in einer knappen Zeit stark gewandelt. Von einer Klassenpartei im strengen Sinne — die SPD war das übrigens nie — kann schon aufgrund der Statistik nicht die Rede sein. Mancher freilich ist immer noch Arbeiter, auch wenn er nicht mehr so genannt wird oder werden will. Die Mitgliedschaft von Studenten und Oberschülern hat sprunghaft zugenommen; aber darin drückt sich eben auch aus — und dies sollten wir ja nicht beklagen —, daß unsere Kinder in größerer Zahl auf höhere Schulen gehen. Vielleicht hat aber mit diesen Wandlungen auch die Beobachtung zu tun, die uns zu denken geben sollte: Nicht überall war die Partei am 19. November wirklich erfolgreich. In mehreren großen Städten hat sie Stimmen verloren. Deshalb mußte sie woanders um so mehr gewinnen. Diese Ergebnisse müssen noch genauer, als es bisher geschehen konnte, untersucht werden. Tatsache bleibt — und dies ist wichtig —, daß wir in erster Linie eine Partei der Arbeitnehmer sind und daran auch nichts ändern lassen wollen."

Aus dem, was Brandt „Wachstumsprobleme" nennt — und was mit den Konflikten zwischen Gruppierungen zu tun hat, die lebens-geschichtlich und sozial völlig verschieden strukturiert sind —, ergeben sich wichtige Folgerungen für die Bildung von Gruppen und Flügeln in einer Partei wie der SPD. Man muß nämlich nicht nur konstatieren, welche Gruppen es in einer solchen Partei gibt und welche politischen Meinungen sie (oft vordergründig) verkünden, sondern man muß sich — und dies ist wichtiger — fragen, warum sich diese Gruppen bilden und warum sich gerade diese und jene Generationen, Schichten und Freundeskreise zu Gruppen zusammenschließen. Wer unter dieser Fragestellung die SPD analysiert, wird auf drei verschiedene psychologische „Profile" treffen, die in der innerparteilichen Diskussion heute sichtbar werden. Die Begriffe, die ich verwende, sind mit Sicherheit noch zu wenig präzise und zu vieldeutig. Trotzdem beschreiben sie — wenn auch nur roh — die innerparteilichen Fron-ten. Ich kennzeichne die drei „Profile" mit den unzulänglichen SchlagWorten „untere Mittelschicht", „liberales Establishment" und „Gegenkultur". „Untere Mittelschicht" sind in dieser Terminologie die Vertreter der alten, weit homogeneren Sozialdemokratie, zumeist Menschen, die in den harten Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt worden sind, die in diesen Jahren einen gewissen sozialen Aufstieg erlebt haben und heute also oft vom ökonomischen Standard her „obere Mittelschicht" sind, deren kulturelle Ideale aber eher zum Konservativen tendieren und die deshalb von Intellektuellen leicht als „Kleinbürger" abgetan werden, Menschen, die gegenüber abweichendem sozialen Verhalten nur ein begrenztes Verständnis aufbringen und deren Wertsystem in religiösen, sexuellen, sozialen und weltanschaulichen Fragen eher traditionell motiviert ist. Natürlich gibt es jenes Profil sowohl in der jüngeren als auch in der älteren Generation; die älteren Jahrgänge sind sicherlich überrepräsentiert. Der Grad der formalen Bildung ist auch unterschiedlich; es gibt durchaus „Akademiker", für die dieses Profil charakteristisch ist. Trotzdem dürften die unteren und mittleren Schulabschlüsse häufiger vorkommen. Dieses „Profil" hat bis in den Anfang der 60er Jahre hinein die SPD bestimmt. Inzwischen hat es erfolgreiche Konkurrenz bekommen.

Den Begriff „linksliberales Establishment" darf man, will man ihn richtig verwenden, nicht zu eng fassen „Establishment" meint hier nicht die schmale herrschende Oberschicht, sondern muß auf die obere Mittelschicht verbreitert werden. Meist sind es in den höheren Schulen und Universitäten ausgebildete, eher sensible, empfindliche, für das Motiv der sozialen Gerechtigkeit aufgeschlossene Menschen, die sich entschlossen haben, für sozial Schwächere einzutreten. Heute finden wir dieses „Profil" häufig in einer besonderen Ausprägung: Männer und Frauen, deren zentrales Erlebnis der große zweite Krieg war, die unter hohem Leistungsdruck in einer scharfen Konkurrenzgesellschaft erzogen worden sind, die im Krieg noch einmal davonkamen und ein anderes Leben als ihre Eltern führen möchten. Leute, die eine eher pessimistische Anthropologie haben und weder an den „neuen Menschen" noch an allzu große Lösungen und das unproblematische Funktionieren freiwilliger Kooperation glauben, die aus Abscheu gegen autoritäre Tendenzen — die sie selbst erlebt haben — moralisch, sexuell, religiös eher liberal denken, im Habitus antiautoritär, und die, gut verdienend, nun immer häufiger auf eine Verfeinerung des Lebensstils aus sind: Auch die materiellen Dinge, so sagen sie, spielen im Leben eine wichtige Rolle; menschenwürdiges Wohnen, gutes Essen, sinnvolles Freizeitverhalten, man lebt nur einmal. Ganz anders die Vertreter, die ich hier — mit einem ebenfalls überpointierten Begriff — Vertreter der „Gegenkultur" nenne.

Damit meine ich keine Sekte, keine „Spinner", sondern (vor allem) junge Leute, für die der Lebensstil der älteren Generation unerträglich geworden ist. Gemeint sind Menschen, die plötzlich auf neue, vitale Weise die SinnFrage in die Politik hineintragen, die gegen die technische Zivilisation und die Massenkultur protestieren, blinden Konsum und blindes Wirtschaftswachstum angreifen, die eine moralische Umkehr der Gesellschaft wollen und die mittelständischen Wertstrukturen, in denen sie sozialisiert wurden, ablehnen oder ihnen jedenfalls skeptisch gegenüberstehen. Natürlich gibt es sehr verschiedene Ausprägungen dieser „Gegenkultur"; man verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „humanistischen Linken" In der SPD geht es selbstverständlich nicht um die kleineren radikalen Gruppen, die „Ausgeflippten", deren Kampf gegen die Wertwelt unserer Gesellschaft sie in Isolierung und Außenseitertum getrieben hat. Aber auch die gemäßigtere Variante dieser Lebenseinstellung führt diese Gruppe zu einem grundlegenden Wertkonflikt mit den meisten Managern, Beamten, Ingenieuren, Technikern, Geschäftsleuten aus dem bürgerlichen Mittelstand — und den Arbeitern aus der Produktion

Diese drei „Profile" — es sind natürlich keine Gruppen im Sinne der soziologischen Theorie — stoßen nun im Prozeß der innerparteilichen Meinungsbildung aufeinander; hier entsteht ein grundlegender Wertekonflikt, der die Auseinandersetzung über verschiedene politi- sehen Problemlösungen oft überlagert. Der „Marxist" beispielsweise, der das analytische Instrumentarium von Marx an die soziale Wirklichkeit von heute anlegt (ein Unternehmen, über das man sich auch streiten kann), ist sehr verschieden von jenem Vertreter der „Gegenkultur", der auf der leidenschaftlichen Suche nach „Sinn" und Welterklärung den Marxismus als Instrument zur Beschaffung von Gewißheiten ergriffen hat und sich auf das viele „Wenn und Aber" der beschwerlichen Empirie gar nicht einlassen kann. Für manche ist — um bei diesem Beispiel zu bleiben — „Marxismus" ein Instrument zur Erklärung politisch-ökonomischer Zusammenhänge; für andere ein Instrument der Abgrenzung, das sie in gehöriger Distanz vom verhaßten Konsens der Mehrheit hält. Manche der berühmt gewordenen Parteikontroversen der letzten Jahre sind viel stärker solche grundlegenden Wertekonflikte als Konflikte um den Nahverkehr, die Hochschulreform oder die Ausländergesetzgebung — als die sie von den Beteiligten mißverstanden wurden

Die SPD hat seit den späten 60er Jahren einen wichtigen Teil der protestierenden jungen Generation aus den oberen Mittelschichten aufgenommen; als Dank dafür wird sie von den Konservativen getadelt — obwohl es ja allzuoft die Söhne und Töchter der Adenauer-Wähler der 50er Jahre sind, die in der SPD gegen die Normen ihrer Elternhäuser protestieren. Daß dieser plötzliche Schub zu Spannungen und Reibungen führen muß, ist selbstverständlich

Ich sagte: die alte „Struktur" zerfällt. Die alten Koalitionen bildeten sich seinerzeit, als die soziale Umstrukturierung der SPD, ihr Erfolg bei den oberen Mittelschichten nach dem Beschluß des Godesberger Programms, einsetzte.

Diese alten Koalitionen werden auf die Dauer nicht mehr tragfähig sein. Sowohl der „linke Flügel" wie auch die „Kanalarbeiter" befinden sich in eklatanten Schwierigkeiten.

Die „Kanalarbeiter", in den 50er Jahren entstanden, verlieren mehr und mehr die Basis in weiten Teilen der Organisation, vor allem in Groß-und Universitätsstädten; die rapiden Veränderungen in der Sozialstruktur der Partei wirken sich aus. Im übrigen räumen viele ihrer Protagonisten im Zuge der normalen Generationsablösung die wichtigen Funktionen. Den Jüngeren, die nachrücken, fehlt der enge persönliche Kontakt, der bei den Älteren oft noch bis in die Sozialistische Arbeiterjugend der Jahre vor 1933 zurückreicht.

Dem „linken Flügel", der auf den Parteitagen in Saarbrücken und Hannover Erfolge verzeichnen konnte, geht es aber auch nicht viel besser. Er hat vor allem zwei Strukturprobleme. Einmal laufen ihm jetzt viele Opportunisten zu; Erfolg macht Proselyten. Die Aufschwemmung des „Frankfurter Kreises" in Hannover ist dafür ein unübersehbares Zeichen. Wichtiger aber ist die zweite Entwicklung. Der „linke" Flügel war bisher eine Koalition von Teilen des „liberalen Establishments" mit der „Gegenkultur" Diese Koalition wird brüchig — und zwar von beiden Seiten. Die politischen Führer, in wichtige Funktionen eingerückt, können die Erwartungen eines wichtigen Teiles ihres Anhangs nicht befriedigen. Der Spielraum der Politik ist dazu zu gering. Zwar werden viele der jungen Vertreter der „Gegenkultur" oder der „humanistischen Linken" im stetigen Prozeß sozialdemokratischer Sozialisation in die reformistische Politik integriert. Viele verharren aber auch in Fudamental-Opposition — und täglich kommen Jüngere nach, die wieder neu und absolut ansetzen. Auf der anderen Seite nimmt die Geduld der liberalen Öffentlichkeit mit der Fundamental-Opposition der humanistischen Linken stetig ab; die wachsende Skepsis von Zeitungen wie der „Zeit", der „Süddeutschen Zeitung" oder der „Frankfurter Rundschau" gegen derartige Tendenzen sind dafür unbestreitbare Indizien. Diese neue Stimmungslage, in den Vereinigten Staaten schon weit schroffer als in Europa, beeinflußt auch die Linksliberalen in der SPD. Der stetige Begründungszwang, auch für die „selbstverständlichen" Grundnormen — und dies über Jahre hinweg —, bedeutet für viele einen nur schwer durchhaltbaren Streß; die gemeinsame Ablehnung der traditionellen Normen des Kleinbürgertums reicht nicht als Proviant für eine so lange gemeinsame Reise

Ich glaube also, daß das Bündnis vieler Linksliberaler mit der humanistischen Linken, das in den 60er Jahren durch gemeinsame Opposition gegen das „alte" Parteiestablishment zustande kam, nun seinem Ende zugeht. Es hat für die SPD wichtige Funktionen gehabt: die Integration von vielen Angehörigen der „neuen Linken" in die SPD und die Durchsetzung neuer, wichtiger Problemstellungen. Hannover hat eine neue Entwicklung eingeleitet; wie sie verlaufen wird, ist allerdings noch nicht genau erkennbar.

Ich sehe zwei verschiedene, mögliche Entwicklungsrichtungen oder Modelle. In dem Modell I bildet sich, auch unter dem Einfluß der Gewerkschaften, eine neue, breite Koalition. Die Linksliberalen, heute auf den linken und rechten Flügel verteilt, oft auch zwischen den Flügeln vereinsamt, finden zu einer Kooperation unter Einschluß der Sozialdemokraten aus den unteren Mittelschichten und den integrierten jungen Sozialdemokraten aus der alten Apo. Die Blockade der 60er Jahre wäre beendet, der innerparteiliche Kulturkonflikt erkannt, zwar nicht bewältigt, aber doch gemildert. Diese Entwicklung verlangte allerdings einen Klärungsprozeß an den Rändern — rechts wie links. Harry Ristock sprach diesen Klärungsprozeß an, als er in Hannover sagte:

„Manchmal, das füge ich hinzu, ohne jemanden anonym anzuklagen, weil das nicht meine Art ist, habe ich das bittere Gefühl, daß mit den Eckerts nicht alle weggelaufen sind, aber auch nicht mit den Schulzes, mit den Hupkas, mit den Müllers."

Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß ein zweites „Modell" Wirklichkeit wird. Es brächte zwei, sich weiter verhärtende, einander befehdende Flügel, die sich zwar insgeheim darüber klar wären, daß zwischen der . Politik von Erhart Eppler und Jochen Vogel keinerlei Differenzen bestehen, die hochtönende Begriffe wie „links" und „rechts"

rechtfertigten, die aber trotzdem, durch Koalitionszwänge in den Gruppen selbst gebunden, zu einer erbarmungslosen Personalkonkurrenz ansetzten. Beim „linken" und beim „rechten"

Flügel gibt es Strategen, die eine solche Entwicklung nicht als ausgeschlossen erscheinen lassen. Sie wollen den „Durchmarsch" ihrer Gruppe — koste es, was es wolle. Ihre „Feindbilder" sind genau durchdacht und werden zuweilen perfekter vermittelt als bei manchen Armeen.

Würde dieser zweite Trend sich durchsetzen, könnte die Sozialdemokratie aus eigenem Verschulden aus der Macht verdrängt werden.

Ich bin allerdings davon überzeugt, daß nach Hannover der erste Trend die weitaus größeren Chancen hat. Es sieht so aus, als ob die Manager aller Seiten erkannt hätten, daß das Indianerspielen auf Parteitagen (das vielen Gott sei Dank noch Spaß gemacht hat) künftig durch langfristige und gezielte Bündnisse — in denen alle zurückstecken müssen — abgelöst werden muß. Nach aller Erfahrung mit der Organisation der Sozialdemokratie werden bei diesem Prozeß die Bezirke die entscheidende Rolle übernehmen.

Die SPD ist heute (unter anderem) eine Koalition zwischen Arbeitern aus der Poduktion, der technischen Intelligenz aus dem Dienstleistungssektor und der jungen Generation, die aus den Schulen, Universitäten, Lehrerseminaren, und Redaktionen in die Politik drängt.

Diese Koalition, zusammengeführt durch gemeinsame ökonomische Interessen, darf sich nicht zerreiben; die SPD darf kein Verein von Beamten ab A 13 aufwärts werden, aber auch keine Subkultur der unteren Klassen gegen die eigenen Kinder. Nostalgische Sehnsucht nach der Homogenität des Arbeitersportvereins hilft nicht weiter. Die SPD muß eine Pluralität der Lebensstile zulassen — wie eine Pluralität der politischen Motivationen Der Parteitag von Hannover ermöglicht eine konsequente Politik in diese Richtung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Analyse von Bruno Friedrich, Die Schablonen passen nicht mehr, „Vorwärts" vom 26. 4. 1973, S. 2.

  2. Mittagskommentar Bayer. Runfunk, Dienstag, 10 April 1973.

  3. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 129.

  4. Vgl. die in Vorlage 3 und 4 zusammengefaßten Anträge zum Bundesparteitag der SPD; vgl. ebenso die Zeitschrift der Jungsozialisten in der SPD JUSO, Doppelnummer 11/12, 1972, mit dem Thema „Langzeitprogramm — Kritische Stellungnahme zum Problem einer gesellschaftspolitischen Lang-zeitplanung" sowie die Reden und Anträge des Bundeskongresses 1973 der Jungsozialisten in der SPD vom 9. bis 11. März in Bonn-Bad Godesberg, als Manuskripte gedruckt.

  5. Johanno Strasser, Strategiediskussion, Rede auf dem Bundeskongreß , 73'der Jungsozialisten in der SPD, als Manuskript gedruckt, S. 4.

  6. Karsten D. Voigt, Strategie im EG-Bereich, Rede auf dem Bundeskongreß , 73'der Jungsozialisten, als Manuskript gedruckt, S. 11.

  7. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 49.

  8. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 130.

  9. Vgl. Ota Sik, Der dritte Weg. Die marxistischleninistische Theorie und die moderne Industriegesellschaft, Hamburg 1972, S. 286 ff.

  10. Vgl. Claus Offe, Das politische Dilemma der Technokratie, in: Texte zur Technokratiediskussion, herausgegeben von Claus Koch und Dieter Senghaas, Frankfurt am Main 19702.

  11. Robert L. Heilbroner, Wachstum und überleben, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/73 vom 20. Januar 1973, S. 28.

  12. Denis Meadows und andere, The Limits of Growth, New York 1972; Ausgabe: Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972, sowie: The blueprint for Surival, in: ‘The Ecologist, Jan. 1972.

  13. Heilbroner, a. a. O., S. 35.

  14. Heilbroner, a. a. O., S. 35.

  15. Heilbroner, a. a. O., S. 36.

  16. Unkorrigiertes Protokoll, Freitag, 13. April, S. 33.

  17. Offe, a. a. O„ S. 162.

  18. Offe, a. a. O., S. 165. Die empirische Analyse Offes bleibt richtig, auch wenn man seine Prämissen bezüglich der Kritik am „spätkapitalistischen System" nicht teilt.

  19. Herrman Kahn, Angriff auf die Zukunft. Die 70er und 80er Jahre: So werden wir leben, München/Zürich 1972, S. • 132.

  20. Juso, Zeitschrift der Jungsozialisten in der SPD, 11/12 1972, S. 5.

  21. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 34.

  22. Vgl. Peter Glotz, Systemüberwindende Reformen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/72 vom 22. April 1972, S. 20.

  23. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 25.

  24. A. a. O., S. 28.

  25. A. a. O., S. 60.

  26. A. a. O., S. 61.

  27. A. a. O., S. 186.

  28. Unkorrigiertes Protokoll, Arbeitsgemeinschaft A, 12. April, S. 85.

  29. Noch einschränkender übrigens Eppler (unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 193), der sich von marxistischer Analyse überhaupt nur strategische Hinweise zur Durchsetzung erhofft.

  30. Beschluß des Parteitages, Punkt 5, Manuskript.

  31. Beschluß des Parteitages zum Orientierungsrahmen, Punkt 6, Manuskript.

  32. Beschluß des Parteitages zum Orientierungsrahmen, Punkt 6, Manuskript.

  33. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 95.

  34. Autorenkollektiv: Ideologie des Sozialdemokratismus in der Gegenwart, Frankfurt am Main, 1972, S. 422 (Hervorhebung vom Autor). Vgl. dazu auch Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Band II, Artikel Sozialismus und Kommunismus, S. 1006: „Marx und Engels wandten sich entschieden gegen alle Versuche, den Sozialismus nur ethisch oder gar religiös zu begründen.“ Hier auch weitere Ausführungen über die „Entdeckung" allgemeiner Bewegungsund Entwicklungsgesetze der Gesellschaft und des Klassenkampfes im wissenschaftlichen Sozialismus.

  35. Das Wachstumsproblem im Langzeitprogramm, in: JUSO, Zeitschrift der Jungsozialisten in der SPD, 11/12 1972, S. 30 ff.

  36. A. a. O„ S. 31.

  37. A. a. O., S. 32.

  38. A. a. O., S. 33.

  39. Unkorrigiertes Protokoll, Dienstag, 10. April 1973, S. 20.

  40. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April 1973, S. 48. P

  41. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April 1973, S. 120.

  42. Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April 1973, S. 71.

  43. A. a. O., S. 75.

  44. Beschluß des Parteitages zum Orientierungsrahmen, Manuskript, S. 3/4.

  45. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April 1973, S. 29.

  46. A. a. O„ S. 30.

  47. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch. 11. April 1973. S. 133.

  48. A a. O., S. 133.

  49. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. . April 1973. S. 152.

  50. A. a. O-, S. 184, Differenzierungen zwischen Vogel und von Oertzen gibt es allerdings. Oertzen hält die Vergesellschaftung der Produktionsmittel für eine denkbare Politik der 80er und 90er Jahre. Vogel weist dies zurück.

  51. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 192.

  52. Unkorrigiertes Protokoll, Freitag, 13. April, S. 25.

  53. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 147.

  54. Vgl. Protokoll des außerordentlichen Parteitags Bad Godesberg vom 13. - 15. Nov. 1959, S. 189.

  55. Vgl. Rudi Arndts Beitrag, Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April, Arbeitsgemeinschaft A, S. 47.

  56. Beschluß des Parteitags zum Orientierungsrahmen, Punkt 18, S. 6/7.

  57. Peter Glotz, , Systemüberwindende Reformen?', a. a. O., S. 18.

  58. Vgl. unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 18.

  59. A. a. O., S. 18 ff.

  60. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 72.

  61. Jochen Steffen, Kommt der kalte Bürgerkrieg?, in: Spontan Nr. 9/72, S. 30.

  62. Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April, S. 136.

  63. So Norbert Gansel auf dem Parteitag, Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April, S. 156.

  64. Karsten Voigt, Strategie im EG-Bereich, Rede vor dem Bundeskongreß der Jungsozialisten 1973, Manuskript, S. 11.

  65. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 147/48.

  66. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 198/99.

  67. Beschluß des Parteitags zum Orientierungsrahmen, Punkt 15, Manuskript.

  68. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 73. Ich bin auf dem Parteitag allerdings darauf hingewiesen worden, daß die Formulierung Schepsmeiers — und überhaupt die ganze Rede — schon auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten auf scharfe Kritik stieß.

  69. Vgl. dazu meinen Aufsatz , Systemüberwindende Reformen?', a. a. O., sowie Jochen Steffen, Kommt der kalte Bürgerkrieg, a. a. O.: „Wer einem Löwen spielerisch in den Schwanz kneift, darf sich nicht darüber wundern, daß Prankenhiebe, die als Antwort erfolgen, kein Spaß sind.", S. 30.

  70. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 75.

  71. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 131.

  72. Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April, Arbeitsgemeinschaft A, S. 62.

  73. A. a. O„ S. 71.

  74. Unkorrigiertes Protokoll, Donnerstag, 12. April, Arbeitsgemeinschaft A, S. 84.

  75. Antrag zum Orientierungsrahmen, Punkt 12, Manuskript.

  76. In: Wirtschaftswoche Nr. 20 vom 11. Mai 1973, S. 32.

  77. A. a. O„ S. 31.

  78. Die Formulierungen stammen von Johanno Strasser, der sie mit Bezug auf das „Bündnis aller nichtmonopolistischen Kräfte* — das er kritisch analysiert — gebraucht Johanno Strasser, Strategiediskussion, Rede auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten, Manuskript, S. 5.

  79. In seinem Eifer, die zerstrerische Richtung der SPD nachzuweisen, schreckt Biedenkopf übrigens

  80. Außerordentlicher Parteitag Bad Godesberg, 1959, Protokoll, S. 98.

  81. A. a. O., S. 213.

  82. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 133. Biedenkopfs Mahnung, a. a. O., S. 40: „Noch nie hat sich die politische Freiheit und damit politische Demokratie im Angesicht umfassender staatlicher Wirtschaftsplanung durchgesetzt", ist also sozialdemokratisches Gedankengut mindestens seh 1959.

  83. A. a. O„ S. 308.

  84. Ota Sik, a. a. O. r S. 339 f.

  85. Ota Sik, a. a. O., S. 341.

  86. Vgl. Ota Sik, a. a. O., S. 330: „Eben die dadurch erzielte größere Ersetzung von Arbeitskräften durch Produktivitätssteigerung bremst auch das Anwachsen von Löhnen - was wieder gegen eine Überholung des Konsumgüterangebots durch die Nachfrage wirkt. Das damit verbundene langsamere Wachsen von Preisen bremst wieder ein übermäßiges Anwachsen von Profiten und investitionsausgerichteten Ersparnissen gegenüber dem Investgüterangebot."

  87. Vgl. Bruno Friedrich, a. a. O.

  88. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 37. Der sinkende Anteil der Kategorie „Arbeiter" ist allerdings auch durch den Strukturwandel und die Übernahme vieler Arbeiter in das Angestelltenverhältnis bedingt.

  89. Vgl. die Beschreibungen in: Hermann Kahn, Angriff auf die Zukunft, a. a. O., S. 223, die sich allerdings auf die amerikanische Situation beziehen.

  90. Kahn, a. a. O., S. 148 f.

  91. Selbstverständlich wäre es falsch, die „Profile" schematisch Parteiflügeln zuzuordnen. „Linksliberale" gibt es auf dem „rechten" und „linken" Flügel der SPD, und es gibt „linke" und „rechte" Arbeiter; lediglich die „Gegenkultur" ist definitionsgemäß eindeutig orientiert. Aber: Selbstverständlich sind „humanistische Linke" oder „Gegenkultur" keine Synonyma von Juso, die Mehrheit der Jusos ist der „Gegenkultur" nicht zuzurechnen.

  92. Natürlich will ich mit dieser Argumentation politische Gegensätze nicht einfach psychologisch wegerklären; solche Gegensätze gibt es, und sie müssen ausgetragen werden. Aber wenn manch einer, der im Vollgefühl der Übereinstimmung mit „der Realität" (oder „der Geschichte") auf die „Marxisten" (oder: „Reformisten") einschlägt, bedenken würde, warum der jeweils andere seine Werte vertritt, könnten viele der innerparteilichen Konflikte weniger emotional ausgetragen werden.

  93. Die „Kanalarbeiter" sind beispielsweise viel eher eine Repräsentanz der Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht, die sich gegen den Hochmut der liberalen Intellektuellen (oder das, was sie dafür hielten) organisiert haben, als eine „rechte" Gruppe mit politischer Motivation. Daß psychosozial bedingte Gruppenbildungen dann handfeste politische Konsequenzen haben können, sei unbestritten — aber es steht auf einem anderen Blatt.

  94. Natürlich nicht nur; es gab dort auch linke Gewerkschaftler, aber wenige. Das Arbeiterelement war nicht charakteristisch. Anders als bei der „alten Linken" in der SPD in den 50er Jahren.

  95. Vgl. sprachlich die wachsende Beliebtheit der Charakterisierung „Chaoten" gegenüber Gruppierungen der „Gegenkultur".

  96. Unkorrigiertes Protokoll, Mittwoch, 11. April, S. 14Ü.

  97. Pluralität auf der Basis bestimmter politischer Leitsätze, keine Koalition um der Koalition willen.

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Peter Glotz, Dr. phil.; M. A.; geb. 1939. Seit 1963 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitungswissenschaft der Universität München. 1969/70 Konrektor der Universität München. Seit 1970 Mitglied des Bayerischen Landtags (SPD); Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission. MdB, Stellvertretender Vorsitzender des Bayr. Landesverbands der SPD. Veröffentlichungen u. a.: Versäumte Lektionen — Entwurf eines Lesebuchs (mit W. Langenbucher, 19713). Systemüberwindende Reformen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/72. Mobilisierung der Demokratie (mit W. v. Knoeringen u. a., 1966). Der mißachtete Leser — Kritik der deutschen Presse (mit W. Langenbucher, 1968) Buchkritik in deutschen Zeitungen, 1968. Kommunikationssoziologische, kommunikationspolitische und politikwissenschaftliche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Sammelwerken und Lexika.