Moskau und Peking: Die ersten Jahre der zweiten Eiszeit
Oskar Weggel
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Zusammenfassung
Die seit Anfang der sechziger Jahre ohnehin schon gespannten Beziehungen zwischen Moskau und Peking sind im Jahre 1968/69 (Prag, Breschnew-Doktrin, militärische Auseinandersetzungen am Ussuri) noch weiter verschärft worden. Diese Verschärfung tritt in drei großen Bereichen zutage: 1. Bei den Auseinandersetzungen an der Nordflanke Chinas: Die seit langem brodelnde Grenzfrage (China: „Ungleiche Verträge" sind zu beseitigen; Sowjetunion: Es gibt keine „ungleichen Verträge" und keine „Grenzfrage"), die durch die Zusammenarbeit in den fünfziger Jahren vorübergehend übertüncht worden war, hat zwischen 1960 und 1969 zu rd. 6 000 Zwischenfällen an der gemeinsamen Grenze geführt, wie es in der chinesischen Regierungserklärung vom 24. Mai 1969 heißt. Zwischen 1967 und 1972 hat sich das beiderseitige Truppenpotential an der Grenze mehr als verdreifacht. Trotz der laufenden — aber immer wieder unterbrochenen — Grenzverhandlungen hat China den Kurs einer Politik der großangelegten „Verteidigungsvorbereitung" eingeschlagen, der zur Herstellung ausgedehnter Schutzbunker, zur vermehrten Anlage von Getreidevorräten, zu einem verstärkten Ausbau der Miliz (Volkskrieg) sowie zur beschleunigten Ausrüstung mit Raketen und Nuklearwaffen führen soll. Zugleich plädiert China, um die volle Wucht des sowjetischen Potentials von sich abzulenken, für eine Stärkung der noch vor wenigen Jahren als „militaristisch" gebrandmarkten Verteidigungsbündnisses NATO und CENTO sowie der eigentlich „kapitalistischen" EG. 2. An der Südflanke Chinas geht es um den Kampf gegen die Moskauer „Seewegestrategie" (bogenförmige Seeroute vom Schwarzen Meer nach Wladiwostok mit dem Indischen Ozean als Dreh-und Angelpunkt) sowie gegen das von Breschnew 1969 erstmals vorgeschlagene und seitdem zielstrebig weiterverfolgte Projekt eines „kollektiven Sicherheitssystems in Asien", das von Peking als Eindämmungsinstrument gegenüber China gewertet wird. China ist zu einer Verteidigung durch Angriff übergegangen und versucht, in den vier Meeren (Mittelmeer, Rotes Meer, Indischer Ozean und Westpazifik mit Malakka-Straße) vereinte Fronten (oder zumindest „Stolperdrähte") gegenüber Moskaus strategischen Ambitionen aufzubauen. 3. Auch in den großen überregionalen Fragen der Weltpolitik sucht Peking die Sowjetunion „maximal zu isolieren", so z. B. bei der Erarbeitung eines neuen Seerechts (Territorialgewässer der Dritten Welt, Schutz vor Überfischung der Meere durch die „Supermächte", Kampf gegen „Kanonenbootpolitik" usw.), bei den Wirtschafts-und Handelsbeziehungen (Entwicklungshilfepolitik, Kritik am Comecon) und vor allem auf dem Gebiet der Abrüstung („ 10 Jahre Reklamegeschrei für Abrüstung, 10 Jahre fieberhafte Aufrüstung"!). Ein Abbau der sich immer mehr verschärfenden Spannungen läßt sich nur unter drei Bedingungen absehen: befriedigende Grenzregelung, Verzicht Moskaus auf Seewege-und „Kollektive-Sicherheits" -Ambitionen, Aufgabe der Führungsrolle im Weltkommunismus. Das bedeutet de facto: mit einer Lösung des Konfliktes kann bis auf weiteres überhaupt nicht gerechnet werden.
Wer noch vor wenigen Jahren geglaubt haben mochte, daß das Eis zwischen den beiden Weltmächten China und Sowjetrußland über Nacht wieder wegschmelzen könnte, sobald die schlimmsten „Mißverständnisse" beseitigt seien, sah sich spätestens seit 1968, als die UdSSR ihre Truppen in Prag einmarschieren ließ, eines Besseren belehrt. Von diesem Zeitpunkt an begann eine zweite politische Eiszeit, deren Ende noch nicht abzusehen ist.
Immerhin scheint heute der Punkt erreicht zu sein, da beide Mächte die meisten ihrer Positionen abgesteckt haben. Es gibt heute fast kein Gebiet mehr, sei es militärischer, politischer oder rein ideologischer Natur, auf dem die Kontrahenten nicht bis in die letzten Verästelungen hinein ihre unvereinbaren Auffassungen artikuliert hätten.
Ziel der vorliegenden Darstellung ist es, zunächst — in einem aktuellen Teil — eine einigermaßen geschlossene Zusammenstellung der so vielfältigen und verwickelten Konfliktstatbestände zu liefern (I—III), und diese Phänomene sodann in den historischen Gesamtzusammenhang (IV) einzuordnen. Mit einem solchen Vorgehen hofft der Autor, seine oben aufgestellte Hypothese von einer langen zweiten Eiszeit wenigstens in groben Umrissen verifizieren zu können.
In den Abschnitten I—III sollen zunächst jene Streitkomplexe behandelt werden, die für die aktuelle Diskussion von Bedeutung sind.
Dazu gehören:
Die Grenzstreitigkeiten, die in ihrer Substanz zwar schon alt sind, deren Problematik aber mit immer wieder neuen Argumenten umschrieben wird (Teil I).
Sodann ist der „Kampf Pekings gegen Moskaus Seewegestrategie" ausführlicher zu erläutern (Teil II), und schließlich geht es darum, die Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking auf einigen außenpolitischen Gebieten darzustellen, die in der internationalen Diskussion einen besonders hohen Stellenwert einnehmen, wie z. B. Fragen der Sicherheit und Abrüstung, des Handels, der Entwicklungshilfe u. ä.
Ideologische Fragen, die vor allem während der ersten Hälfte der sechziger Jahre im Mit-telpunkt der sino-sowjetischen Auseinandersetzungen standen, bleiben hier aus zwei Gründen unberücksichtigt:
Einmal spielen sie heute keine entscheidende Rolle mehr, da beide Mächte sich gegenseitig ja nicht mehr als Träger des Sozialismus betrachten und deshalb den anderen auch nicht mehr einer ideologischen Diskussion für wert befinden.
Zum zweiten aber hat der Autor den ideologischen Konflikt zwischen Moskau und Peking in seiner ganzen Breite bereits in einem früheren Heft dieser Reihe (Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/70 vom 11. Juli 1970) ausführlich dargestellt.
I. An der Nordflanke Chinas: Grenzprobleme, Truppenaufmärsche Suche nach einem neuen Gleichgewicht
Die heutigen Grenzprobleme zwischen China und der Sowjetunion sind das Ergebnis einer ständigen russischen Expansion, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts begann. Innerhalb von nur 100 Jahren hatte Rußland mit Hilfe einer straff geführten, hauptsächlich von Kosaken getragenen Ausdehnungspolitik etwa ein Drittel der asiatischen Landmasse unter seine Herrschaft gebracht und den Pazifik erreicht. Am Amur gerieten die Russen zum ersten Male in den Einflußbereich des chinesischen Reiches, das damals gerade von den Mandschus erobert worden war, die von 1644 bis 1911 als Ch ing-Dynastie regieren sollten. Im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte kam es zu häufigen Spannungen und militärischen Auseinandersetzungen, die China schließlich dazu veranlaßten, sich mit Rußland auf die Abgrenzung der beiderseitigen Machtbereiche zu einigen. So kam es 1689 und 1727 zu den Verträgen von Nertschinsk und Kiachta, den ersten völkerrechtlichen Vereinbarungen Chinas mit einer westlichen Großmacht. Ungeachtet dieser Abgrenzungsvereinbarung besiedelte Rußland gleichwohl immer noch gewaltige Gebiete.
Vor allem mit der Ernennung von Nikolaus Murawjew zum Gouverneur von Ostsibirien im Jahre 1847 begann die systematische Besetzung des linken Amurufers. Russische Siedlungen und Garnisonen entstanden ohne Rücksicht auf chinesische Proteste. Durch eine geschickte Kombination von militärischem Vorgehen, diplomatischen Interventionen in Peking, intrigantem Zusammenspiel mit anderen europäischen Mächten und mit Hilfe regelrechter Betrugsmanöver gelang es Petersburg, dem durch den Opiumkrieg geschwächten und von den Wirren der T’aip'ing-Revolution zerrissenen Reich die drei berühmten ungleichen Verträge von Aigun (1858: 600 000 qkm an Rußland abgetreten), von Peking (1860/64: Verlust von 440 000 qkm) und von Livadia/St. Petersburg (1879/1881: 70 000 qkm verloren) aufzuzwingen. „Niemals wurde ein großartigeres Herrschaftsgebiet billiger oder schlauer gewonnen" als dieser gewaltige Landkomplex, der durch weitere Verträge in den Jahren 1896 und 1901 schließlich auf 1, 5 Mio qkm erweitert wurde, eine Fläche, die z. B.sechsmal so groß ist wie die der Bundesrepublik Deutschland. Daß diese Verträge „ungleich" (d. h. nicht zwischen g Mio qkm erweitert wurde, eine Fläche, die z. B.sechsmal so groß ist wie die der Bundesrepublik Deutschland. Daß diese Verträge „ungleich" (d. h. nicht zwischen gleichberechtigten Staaten geschlossen wurden) sind, wird nicht erst von der heutigen chinesischen Regierung behaup-tet 3), sondern war bereits von Marx, Engels und Lenin 4), vor allem aber offiziell vom ehemaligen stellvertretenden sowjetischen Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Leo Karachan, festgestellt worden. Diese Erklärung, die die feierliche Ankündigung, alle ungleichen Verträge annullieren zu wollen, enthielt, wurde von der Sowjetunion in ihren praktischen Auswirkungen nie befolgt 5), und zwar auch dann nicht, als es am 31. Mai 1924 zum sowjetisch-chinesischen Generalabkommen kam, in dem die damals noch junge Sowjetmacht ihre Beziehungen zum bürgerlich-revolutionären China Sun Yat-sens auf eine neue Grundlage zu stellen versuchte. In den Artikeln 3 und 4 dieses Abkommens hieß es, daß die Grenzverträge mit der zaristischen Regierung annulliert und durch neue Verträge ersetzt würden. Außerdem sah Artikel 5 vor, daß die Außenmongolei als integrierender Bestandteil Chinas anerkannt würde Doch all diesen Versprechungen folgten keine Taten. Der Grund dafür lag wohl nicht zuletzt in den Enttäuschungen, die die Sowjetunion bei ihrer China-Politik in den späten zwanziger Jahren hinnehmen mußte. Immerhin hatten sich für die Sowjetrevolutionäre während der frühen Komintern-Periode im China Sun Yat-sens ganz neue und unerwartete Perspektiven eröffnet, nachdem die „Weltrevolution sich in den engen Gäßchen der deutschen Städte totgelaufen hatte" Auch im Femen Osten scheiterten freilich die revolutionären Pläne, nachdem es unter der Führung Chiang Kai-sheks in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zu immer größeren Spannungen und schließlich zum Bruch mit Moskau gekommen war.
In einer solchen Situation dachte die Sowjetunion gar nicht daran, sich an ihre Zusagen von 1920 und 1924 zu erinnern. Weit davon entfernt, die alten zaristischen Landgewinne rückgängig zu machen, nahm sie schließlich ihre Expansion auf Kosten Chinas wieder auf und setzte sie zielbewußt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fort. Sie unterwanderte weitgehend Sinkiang, das der Zentralregierung in Nanking praktisch aus den Händen geglitten und ganz dem jeweiligen Provinz-gouverneur überantwortet worden war, dessen politisches Schicksal wiederum von seinem Verhältnis zur Sowjetunion abhing
Erst nach 1941, als die deutsche Wehrmacht ihren Angriff auf Rußland begann, war Stalin gezwungen, den Griff um Sinkiang zu lockern und die im dortigen Grenzgebiet stationierten Truppen an die Westfront zu werfen.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatte die Sowjetunion freilich nicht nur Sinkiang unterwandert, sondern darüber hinaus schrittweise das 170 000 qkm große Gebiet von Tannu Tuwa annektiert, das von 1757 bis 1911 unbestrittenermaßen chinesisch gewesen war Darüber hinaus verhalf Moskau auch der Äußeren Mongolei zur „Unabhängigkeit" eines sowjetischen Satellitenstaates.
Noch größere Gewinne freilich erzielte Moskau im Jahre 1945, als es ihm gelang, auf der Konferenz von Jalta sowie aufgrund des Freundschafts-und Bündnisvertrags mit dem China Chiang Kai-sheks vom 14. August 1945 nicht nur den Status quo in der Äußeren Mongolei zu sichern, sondern auch die früheren Rechte Rußlands, „die durch den verräterischen Überfall der Japaner 1904 verletzt worden waren", wiederherzustellen. Der Sowjetunion sollten demnach Sachalin und die umliegenden Inseln „zurückgegeben" werden. Ferner sollte die Sowjetunion die Kurilen sowie Sonderrechte an den nordostchinesischen Häfen Port Arthur und Dairen sowie an den beiden Eisenbahnlinien Nordost-Chinas, der „Ostchinesischen Eisenbahn" und der „Südmandschurischen Eisenbahn" erhalten. Angesichts des Drängens der USA, die den Kriegseintritt der UdSSR so schnell wie möglich hatten herbeiführen wollen, war der Regierung Chiang Kai-sheks nichts anderes übrig-geblieben, als den Wünschen der Sowjetunion nachzugeben
So kam es, daß Moskau im Jahre 1945 am Ziele fast aller Wünsche war, die sich schon das zaristische Rußland bereits vor 1904 gesteckt hatte.
Nach Lage der Dinge mußte sich die Sowjetunion auf scharfe Kontroversen mit dem China der Nachkriegszeit einrichten. Doch da geschah etwas Unerwartetes. Aus dem chinesischen Bürgerkrieg, ging nicht — wie Stalin angenommen hatte — Chiang Kai-shek, sondern Mao Tse-tung als Sieger hervor. Das China Maos aber lehnte sich von Anfang an „nach einer Seite" und strebte ein gutes Verhältnis zu Moskau an. Stalin, der nun plötzlich unter dem Siegel des „proletarischen Internationalismus" angesprochen war, ließ sich 1950 auf neue Verhandlungen und sogar auf Kompromisse in Grenzfragen ein, wobei er einige der wichtigsten irredentistischen Forderungen der Chinesen erfüllte, freilich nicht, ohne auch von den Chinesen Opfer gefordert zu haben.
Am 14. Februar 1950 wurde nach längeren Verhandlungen in Moskau ein umfangreiches Vertragswerk unterzeichnet, in dem neben einem Vertrag über Freundschaft und Beistand, einem Kreditabkommen und einem geheimen Militärabkommen auch folgende Gebietsfragen angesprochen waren: — Die Marinestützpunkte Port Arthur und Dairen sollten an die VR China zurückgegeben werden. — Die beiden mandschurischen Schienenwege, die pauschal als „Ch’ang-Ch’un-Eisen-* bahn" bezeichnet wurden, sollten 1952 an China zurückgegeben werden
— Die Sinkiang-Frage wurde dagegen nicht behandelt. Man rekurrierte hier auf den mit Chiang Kai-shek geschlossenen Freundschafts-und Bündnisvertrag vom August 1945 und den damit verknüpften Notenwechsel zwischen Molotow und der chinesischen Zentralregierung. In dieser Note hatte es u. a. geheißen: „Was die jüngsten Ereignisse in Sinkiang angeht, so hat die sowjetische Regierung keineswegs die Absicht, sich in die inneren Angelegenheiten Chinas einzumischen" Ohnehin war ja die Situation in Sinkiang nach dem Sieg und Einmarsch der sino-kommunistischen Armeen stabilisiert worden.
— Das größte Opfer, das den Chinesen abverlangt wurde, war ihr Verzicht auf die Außere Mongolei. Im gemeinsamen sowjetisch-chinesischen Kommunique vom 14. Februar wurde nämlich festgeste Februar wurde nämlich festgestellt, „daß der unabhängige Staat der Mongolischen Volksrepublik infolge der Volksabstimmung von 1945 und der inzwischen mit der VR China angeknüpften diplomatischen Beziehungen völlig gewährleistet ist" 13).
Weitere Grenzfragen blieben trotz der zweimonatigen Verhandlungen Maos in Moskau ausgeklammert. Sollte diese Problematik damals aufgehoben oder nur aufgeschoben worden sein? Es war klar, daß das Problem solange von der Tagesordnung verschwinden würde, als es um die Beziehungen zwischen Moskau und Peking gut bestellt war. Von diesem Kalkül her gesehen war es kaum verwunderlich,. daß die Grenzfragen in dem Augenblick wieder aufs Tapet kamen, als das Klima zwischen beiden Staaten sich zu verschlechtern begann. Den entscheidenden, auch für das Ausland erkennbaren Wendepunkt brachte das Jahr 1963. In der Volkszeitung erschien am 8. März dieses Jahres ein Hinweis auf die „Ungleichheit" der Verträge von 1858, 1860, 1881 und 1901. Am 6. September beschuldigte die VR China Moskau ferner verschiedener Grenzverletzungen in Sinkiang, und am 7. September kam es zu dem berühmten „Zwischenfall von Nautschki", bei dem 92 Chinesen von sowjetischer Polizei festgenommen wurden, nachdem sie im Transsibirien-Expreß „antisowjetisches Material" verteilt hatten.
Abermals war damit die alte Wunde des Grenzproblems aufgerissen, und so kam es im Februar 1964 zu erneuten Grenzgesprächen in Peking, die unter strenger Geheimhaltung stattfanden, aber trotz aller Bemühungen offensichtlich keine befriedigenden Ergebnisse zeitigten.
In dieser Atmosphäre explodierte eine Zeitbombe, die schon lange getickt hatte. Mao gab nämlich sein berühmtes Interview für eine japanische Sozialisten-Delegation, in der er u. a. erklärte, daß „die Gebiete, die die Sowjetunion an sich gerissen hat, allzu zahlreich sind. Aufgrund des Jalta-Abkommens hat sie sich unter dem Vorwand einer Unabhängigkeitsgarantie in der Mongolei etabliert.... Als Chruschtschow und Bulganin 1954 nach China kamen, brachten wir die Frage (gemeint ist das Problem der Mongolei und der japanischen Kurilen, d. V.) aufs Tapet, aber sie verweigerten jegliche Diskussion darüber. Sie haben sich auch Stücke von Rumänien angeeignet. Nachdem sie auch aus Ostdeutschland einen Teil herausgerissen hatten, vertrieben sie die dortigen Einwohner in die westlichen Gebiete. Auch von Polen schluckten sie einen Teil und veranlaßten die dortigen Bewohner, sich dafür an Ostdeutschland schadlos zu halten. Dasselbe ereignete sich in Finnland. Wo sie etwas wegnehmen konnten, griffen sie zu. Nicht wenige Leute meinen, daß auch die Provinz Sinkiang und die Territorien nördlich des Amur in Gefahr seien, von der Sowjetunion einverleibt zu werden. Immerhin hat sie an der dortigen Grenze massive Truppenansammlungen konzentriert.... Die Gegend östlich des Baikalsees wurde vor etwa 100 Jahren russisches Territorium, und seit dieser Zeit gehören Wladiwostok, Chabarowsk und Kamtschatka zum Territorium der Sowjetunion. Wir haben unsere Rechnung für diese Gebiete noch nicht präsentiert. Was die Frage der Kurilen anbelangt, so gibt es für uns gar keinen Zweifel: Sie müssen an Japan zurückgegeben werden." 14) Mit diesem Inter-view waren die Grenzprobleme zum ersten-mal offen vor aller Welt auf den Tisch gelegt worden.
Nach den zahlreichen Grenzzwischenfällen in den Jahren 1964— 1969 haben die beiden Kontrahenten an der 7 000 km langen sowjetisch-chinesischen-mongolischen Grenze seit 1969 gewaltige Militärkolonnen aufmarschieren lassen. Wie das Londoner „International Institute for Strategie Studies" in seinem Jahresbericht für 1971 mitteilt, hat Moskau bis 1971 ein Viertel seiner aktiven Landstreitkräfte entlang der chinesischen Grenze stationiert. Nach Angaben des Instituts standen 1971 44 (1972 bereits 47) sowjetische Divisionen an der Grenze zum chinesischen Nachbarn. Noch 1970 waren es nur 30 Divisionen gewesen. Welche Bedeutung Moskau der Konfrontation mit Peking beimißt, wurde u. a. auch daraus ersichtlich, daß zur gleichen Zeit an seinen Westgrenzen nach Osteuropa nur 31 Divisionen aufmarschiert waren.
Bis 1967 hatte die Sowjetunion im chinesischen Grenzraum nur über Divisionen verfügt. Seitdem hat sich ihre Truppenstärke in Fernost also verdreifacht.
Auch die Chinesen verstärkten ihre Streitkräfte. Mitte 1971 belief sich ihre Präsenz entlang der Grenze auf etwa 67 Divisionen, die von starken Miliz-Einheiten, insbesondere aber auch von sogenannten Produktions-und Aufbaukorps, also Pioniereinheiten im Grenzgebiet, flankiert waren.
Schwerpunktmäßig sind die chinesischen Kräfte auf die Militärregion von Shenyang und Peking konzentriert. Umgekehrt wurden die sowjetischen Panzer und mechanisierten Truppen hauptsächlich mit Stoßrichtung auf die industrialisierte Mandschurei, den Raum um Peking und auf die fernwestliche Provinz Sinkiang ausgerichtet.
Die strategische Antwort Chinas auf die sowjetische Herausforderung lautet grundsätzlich „Volkskrieg". Sollte der Feind angreifen, so würde er, falls es ihm nicht nur um eine kurze taktische Operation mit Nuklearwaffen zu tun wäre, alsbald im „Meer des Volkes“ ertrinken. Zu diesem Zweck betreibt China unter der Parole „Vorbereitung für den Verteidigungsfall, Vorbereitung gegen Naturkatastrophen, alles für das Volk" seit Ende 1969 intensive vorbeugende Maßnahmen. 1973 kam eine neue Losung hinzu: „Tiefe Tunnels graben, überall Getreidevorräte anlegen, nie nach Hegemonie trachten." 15) Vor allem erfuhr die Milizarbeit in den letzten Jahren wieder einen gewaltigen Aufschwung. Der 10. Jahrestag der Weisung Maos über den organisatorischen, politischen und militärischen Aufbau der Miliz (19. Juni 1962) führte vor allem in der Grenzregion Innere Mongolei, die auf 2 600 km an die Mongolische Volksrepublik und an die UdSSR angrenzt, zu umfangreichen Kampagnen im Milizaufbau.
Mitte 1972 wurde aufgrund verschiedener Recherchen des Pentagons bekannt, daß China sich nicht mehr nur auf den Volkskrieg verlassen will, sondern sein strategisches Konzept auch nuklear zu flankieren beabsichtigt. Es sollten künftig mehr Atombomben, und zwar taktische Atomwaffen, eingeplant werden, um den potentiellen Eindringling nicht erst nach unsagbaren Opfern im Meer des Volkes ertrinken zu lassen, sondern ihn, soweit möglich, durch gezielte nukleare Schläge gegen seine Panzerwaffe schon im Grenzbereich abzufangen. Zu diesem Zweck ist China’ Anfang der siebziger Jahre verstärkt dazu übergegangen, F-9-Bomber zu bauen, die sich auch für den Nuklear-Einsatz eignen. 200 dieser Flugzeuge waren bereits 1972 einsatzbereit, und 15 weitere kamen von da an monatlich hinzu. Nach amerikanischen Schätzungen besaßen die Chinesen Mitte 1972 auch rd. 100 Atomsprengköpfe. Freilich wird es nach denselben Schätzungen noch bis etwa 1975 dauern, ehe die Chinesen die zur Verteidigung ausreichende Zahl von rd. 110 Mittelstreckenraketen einsatzbereit haben
Schon jetzt besitzt China etwa 50 Raketen mit Reichweiten bis zu 4 000 km. Nur eine kleine Anzahl dieser Geschosse befindet sich in Silos. Die meisten werden in „weichen" Unterkünften über der Erde aufbewahrt. Bemerkenswert ist hierbei, daß die Chinesen die Mehrzahl ihrer Raketen in Gruppen von nur 2— 3 Stück verteilen, während beispielsweise die typischen sowjetischen und amerikanischen Raketenkomplexe aus einer Zusammenfassung zahlreicher Geschosse bestehen China wird in Kürze auch über Interkontinentalraketen verfügen. Der erste Prototyp soll bereits Mitte Februar 1973 startbereit gewesen sein, wurde dann aber offensichtlich wegen technischer Pannen wieder abgebaut. Als Testzentrum wird nicht Lop Nor, das chinesische Cape Kennedy, sondern ein Gebiet nahe Peking dienen. Sobald China nachgewiesen hat, daß es im Besitz einer globalen Artillerie ist, wird es nicht nur als drittstärkste Atom-macht, sondern auch als dritte Raketenmacht dastehen; denn Großbritannien und Frankreich sind, trotz ihrer Mitgliedschaft im nuklearen Klub, keine Besitzer von Fernwaffen mit globaler Reichweite. Mit einer einzigen Interkontinentalrakete hat China freilich auf diesem Gebiet noch keinen Weltmachtstatus errungen, immerhin aber gezeigt, daß es möglich ist, bei konzentriertem Forschungseinsatz technologische Entwicklungszeiten schrumpfen zu lassen.
Das Volkskriegskonzept ist also nunmehr durch Raketen und Atomwaffen flankiert worden. Chinas Abwehr steht damit „auf zwei Beinen".
Neben der militärischen Situation an Chinas Nordgrenzen ist in diesem Zusammenhang noch der Stand der Argumentation in der Grenzfrage zu erläutern:
Die Sowjetunion wünscht lediglich „Konsultationen", um eventuelle „Grenzklärungen" an einzelnen Sektoren vorzunehmen und damit die Lage an der sowjetisch-chinesischen Grenze zu „normalisieren". Die Existenz einer regulären „Grenzfrage" dagegen wird mit folgenden Argumenten geleugnet Jene Abkommen, die den Russen im Jh. nicht weniger als 1, 5 Mio. qkm eingebracht haben, seien durchaus „gleiche Verträge", wie die historische Entwicklung zeige: Im 17. Jh. hätten die russischen Siedler in Sibirien und auch an der Pazifik-Küste nichts anderes vorgefunden als verlassene Taiga, wo kleine Stämme ohne staatliche Organisation ein Nomadenleben führten. Weder die Mandschus noch die Chinesen hätten dort irgendwelche Herrschaftsrechte ausgeübt. Die Russen waren daher Kolonisatoren im ursprünglichen Sinne, als sich Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts das Kräftegleichgewicht zugunsten Chinas veränderte, weil die Russen gezwungen wurden, in den Verträgen von Nertschinsk (1689) und Kiachta (1728) wieder Gebiete abzugeben. Nicht China, sondern Ruß-land sei damals durch ungleiche Verträge zur Aufgabe von Boden gezwungen worden. Erst im 19. Jh. habe Rußland einen Teil jenes Gebietes, das die Mandschu-Dynastie im 17. und 18. Jh. an sich gerissen hatte, ohne Gewaltan-Wendung wieder zurückerhalten. Das sei die Bedeutung der Abmachungen von Aigun (1858) und Peking (1860). Diese beiden Verträge seien also nichts anderes gewesen als Rückerstattungsakte. Warum sich Peking zu dieser Rückgabe entschlossen habe? Weil es angesichts des englisch-französischen Vordringens seine Flanke gegenüber Rußland durch großzügige Konzessionen habe absichern wollen! Von ungleichen Verträgen könne nicht die Rede sein! Die Sowjetunion habe unter diesen Umständen keinerlei Anlaß, Gebiete größeren Umfangs zurückzugeben. Es gehe lediglich um „Konsultationen mit dem Ziele, die Demarkation der Staatsgrenze in einzelnen Abschnitten zu klären".
Ganz in diesem Sinne ging die Sowjetunion Anfang der siebziger Jahre dazu über, ursprünglich chinesische Namen in den umstrittenen Grenzgebieten am Ussuri in russische abzuändern. Die Namensänderungen wurden in der ersten Nummer des „Bulletins des Obersten Sowjets" für 1973 bekanntgegeben. Die Stadt Suchan wurde in „Partisansk", also „Stadt der Guerilla" umbenannt. Hsinhua 19) will diese Änderung noch hingehen lassen, nimmt aber mit Empörung weitere Umtaufaktionen zur Kenntnis. Einige frühere chinesische Besiedlungen seien in so verwerfliche Ortsnamen wie „Nikolajewsk" (nach dem berüchtigten Zaren Nikolaus) und „Chabarowsk" (nach Chabarow, dem „Hauptwortführer der Aggressionspläne der Kolonialpolitik des zaristischen Rußland im Fernen Osten") umgetauft worden. Trotz dieser Machenschaften lasse sich der Landraub der Zaren jedoch nicht vertuschen. Es gebe auf dem vom zaristischen Rußland besetzten Territorium so viele chinesische und mandschurische Namen und Sprachen anderer Völker, daß es ganz unmöglich sei, sie alle auszulöschen.
Im übrigen erschien in Hongkong Ende 1972 ein Weltatlas, auf dem nicht weniger als 1, 5 Mio. qkm sowjetischen Territoriums als chinesisches Gebiet ausgewiesen waren. Die Moskauer Iswestija, die hinter diesem Atlas Peking als Urheber vermutete, griff die „absurde Geographie ä la Mao" an und meinte, daß solche Machwerke keinen anderen Zweck haben könnten, als Feindseligkeiten zwischen dem chinesischen und dem sowjetischen Volk erneut anzufachen Für die Volksrepublik China andererseits sind die umstrittenen 1, 5 Mio. qkm nach wie vor — da die „ungleichen Verträge" mit den Zaren ja null und nichtig sind! — chinesisches Territorium. Es geht also nicht nur um einzelne kosmetische Grenzkorrekturen, sondern prinzipiell und global um die „Grenzfrage" als solche. Dieses Problem ist vertraglich zu regeln, und zwar seien die alten ungleichen Verträge durch einen neuen gleichen Vertrag zu ersetzen, wenn der ungerechtfertigte Besitzstand der Sowjets nicht ewig dauern soll
Wie der Inhalt eines solchen neuen Vertrages aussehen soll, wird in den Regierungserklärungen vom 24. 5. 1969 und vom 8. 10. 1969 näher präzisiert. Danach hat Moskau einzuräumen, daß die Grenzverträge des chinesischen Kaiserreichs mit dem zaristischen Rußland „ungleich" sind. Gleichzeitig aber sollen eben diese ungleichen Verträge Diskussionsgrundlage für eine endgültige und umfassende chinesisch-sowjetische Grenzregelung sein. China erhebt in diesem Zusammenhang keinen Anspruch auf Gebiet, das vom zaristischen Rußland mit Hilfe der ungleichen Verträge annektiert worden ist. „Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die sowjetischen Werktätigen lange Zeit in diesen Gebieten gelebt haben, sind die chinesische Regierung und das chinesische Volk, erfüllt von dem Wunsch der Aufrechterhaltung der revolutionären Freundschaft zwischen beiden Völkern, noch immer bereit, die China vom zaristisch-russischen Imperialismus aufgezwungenen ungleichen Verträge als Grundlage für die Festsetzung des gesamten Grenzverlaufs zwischen den zwei Ländern gelten zu lassen und einen neuen gleichberechtigten Vertrag zu schließen. Aber das bedeutet absolut nicht, daß diese Verträge gleichberechtigte Verträge sind." Soweit eine von beiden Parteien — und gemeint ist mit dieser Bemerkung selbstverständlich die Sowjetunion — diese Grenzen überschritten hat, muß sie die betreffenden Gebiete zurückgeben. Bis zu einer endgültigen Regelung sollten sich beide Parteien zur Einhaltung des Status quo verpflichten und bewaffnete Zusammenstöße dadurch vermeiden, daß sie ihre Truppen aus dem unmittelbaren Grenzbereich abziehen.
Die bisherige Entwicklung der Grenzverhandlungen hat gezeigt, daß die Sowjets auf diese Bedingungen nicht einzugehen bereit sind. Allzu hart ist die chinesische Forderung, daß Moskau die Ungleichheit der Verträge anerkennen und damit nicht nur die prinzipielle Kontinuität chinesischen Eigentums an 1, 5 Mio. qkm anerkennen, sondern überdies einen Präzedenzfall schaffen solle, der sich vor allem auf ihre Gebiets-„Erwerbungen" in Europa und in Zentralasien ungünstig auswirken könnte.
Diese präsumptiven Bedenken der Sowjets können den Chinesen nicht unbekannt gewesen sein. Wenn sie auf ihren „Anerkennungs" -Forderungen trotzdem bestehen, so beweisen sie damit nur, daß sie eine Strategie des Abwartens unter dem Aushängeschild konkreter — aber unerfüllbarer — Grenzregelungsvorschläge verfolgen.
Vom juristischen Standpunkt aus gesehen, befindet sich die Sowjetunion bei den Grenzverhandlungen in einer etwas paradoxen Situation: Besitzt sie doch die umstrittenen Gebiete nach den Maßstäben westlicher Jurisprudenz zu Recht, während sie ihrer eigenen Rechtsauffassung zufolge eben diese Gebiete anstandslos zurückgeben müßte.
Das traditionelle westliche Völkerrecht läßt sich hierbei von dem Grundgedanken leiten, daß Verträge aus der Vergangenheit, die schon über Generationen zurückliegen, im Interesse des Rechtsfriedens selbst dann geachtet werden müssen, wenn sie — wie es zur zaristischen Zeit gegenüber dem damals geschwächten China der Fall war — unter dem Druck einer Kriegsdrohung zustande gekommen sind. Das westliche Völkerrecht hat zwar kein eigenes Theoriengebäude zur Problematik der „ungleichen Verträge" aufgebaut. Gleichwohl ergeben sich die hier angedeuteten Forderungen aus einer Abwägung zwischen den beiden „Rechtsideen" der „Gerechtigkeit" und der „Rechtssicherheit"
Nach dem Grundsatz der „Gerechtigkeit" wäre es zwar geboten, Verträge, die durch Zwang oder rechtswidrige Drohungen zustande gekommen sind, als nichtig zu betrachten und damit dem Zedenten eines Gebietes einen Rückgabe-Anspruch einzuräumen. Die Idee der „Rechtssicherheit" verbietet es jedoch andererseits, einen solchen Rückgabeanspruch auch nach mehreren Generationen noch als verbindlich zu betrachten
Ganz anders ist die Lage demgegenüber nach sowjetischem Recht. Die „ungleichen Verträge", ein bedeutsamer Bestandteil sowjetischer Völkerrechtslehre, bilden dort von jeher nach offizieller Auffassung die einzige Stelle, an der die „Heiligkeit der Verträge" durchbrochen ist. Sowohl nach ihren Voraussetzungen (Art des Zustandekommens, Inhalt, politische Situation) als auch nach ihren Wirkungen (Nichtigkeit von Anfang an, keine Verjährung oder Verwirkung der Rückgabeansprüche!) wurden die „ungleichen Verträge" immer schon äußerst extensiv ausgelegt Wäre die sowjetische Politik demnach so konsequent gewesen wie die vom etablierten sowjetischen Völkerrecht vertretene Theorie, so hätte sie zu keinem Zeitpunkt eine andere Wahl gehabt, als umgehend den Gebietsansprüchen der Chinesen stattzugeben. Freilich ist sich sowohl die sowjetische als auch die chinesische Seite darüber im klaren, daß es bei den Grenzstreitigkeiten letzten Endes weniger um Rechtsauffassungen als vielmehr um eine Frage der allgemeinen Politik geht. Da die Lehren zum ungleichen Vertrag so schillernd — und vielseitig interpretierbar — sind, kann man sich in der Tat fragen, ob angesichts eines „derart politisierten Propagandabegriffs überhaupt noch von Recht die Rede sein kann" Auch ist die Grenzfrage im Grunde genommen nur ein Teilaspekt der chinesisch-sowjetischen Gesamtproblematik, die beim ideologischen Schisma beginnt und bis zum Wettbewerb auf fast jedem Gebiet und in fast allen Teilen der Welt führt. Die Grenzfrage läßt sich demnach kaum ohne Lösung des gesamten Streitpaketes erledigen. Die „Politik" absorbiert mit anderen Worten die juristischen Aspekte.
Die Geschichte der Grenzverhandlungen, auf denen Fragen dieser Art ventiliert werden, ist lang und kompliziert. Schon Anfang der sechziger Jahre suchte man das Problem der durch die zaristischen „ungleichen Verträge" im 19. Jh. geschaffenen Grenzen zu lösen.
Doch wurden Gespräche dieser Art, wie bereits erwähnt, im Frühjahr 1964 ergebnislos abgebrochen. Nach dem überraschenden Blitzbesuch Kossygins am 11. Sept. 1969 in Peking begannen am 20. Okt.desselben Jahres erneut reguläre Grenzverhandlungen, und zwar in der chinesischen Hauptstadt. Grundlage sind nach wie vor die sowjetische Regierungserklärung vom 13. 6. 1969 und die beiden chinesischen Regierungserklärungen vom 10. 3. und 8. 10. 1969.
Neben diesen Grenzverhandlungen bestehen reguläre Verbindungen auch noch in Form der „Gemeinsamen Chinesisch-sowjetischen Kommission für Schiffahrt auf den Grenzflüssen", die zuletzt vom 15. Januar bis 5. März 1973 in Heiho (Provinz Heilungkiang) ihr 18. reguläres Treffen abgehalten hat, wobei man, wie dies seit Jahren üblich ist, wieder einmal nur darin übereinstimmte, daß man zu keinem Konsens gekommen sei.
In unmittelbarem Zusammenhang mit den Verteidigungsüberlegungen und -Vorbereitungen Pekings gegenüber der Sowjetunion steht auch die neue chinesische Politik gegenüber der EG und der NATO.
Die kopernikanische Wende der chinesischen Politik gegenüber Europa kam im August 1968, als Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschierten. Bis zu diesem Zeitpunkt war die EWG als typisch kapitalistischer Wirtschaftsblock betrachtet worden. Auch in den nächsten Jahren wurden zwar ihre einzelnen Mitglieder durchaus negativ betrachtet, wenn Peking etwa auf die EWG-abhängigen assoziierten afrikanischen Staaten zu sprechen kam.
In einem ganz anderen Licht erschienen freilich die EWG-Länder von nun an, wenn sie vor dem Hintergrund der beiden Supermächte porträtiert wurden. Diese Doppelnatur der EWG wird nur verständlich, wenn man sie im Rahmen der antisowjetischen Politik Pekings betrachtet. In diesem Augenblick erscheint sie nicht mehr um ihrer selbst willen wertvoll, sondern nur noch in ihrer instrumentalen Funktion als Gegengewicht zur sowjetischen „Supermacht". Die EWG wurde aus dieser Sicht zu einem wichtigen Bestandteil der „Zweiten Zwischenzone", mit der China sich „maximal zu vereinigen" hatte, wenn das Ziel, die Sowjetunion „maximal zu isolieren", erreicht werden sollte.
So nahm Peking seit 1968 jeden weiteren Schritt zur europäischen Selbststärkung mit Beifall zur Kenntnis. Positiv bewertete es u. a. die Erweiterung der EWG von 6 auf 9 Mitglieder, die mit dem 1. Januar 1973 wirksam wurde. Die beiden Supermächte seien bisher in einen gefährlichen Machtkampf verwickelt gewesen. Was hätte Westeuropa unter diesen Umständen Vernünftigeres tun können, als das Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu verschieben, indem es seine Ressourcen zusammenlegt und Stärke in der Einheit sucht ?
Mittlerweile wurde im chinesischen Außenministerium auch ein Referat für europäische Angelegenheiten eingerichtet. Besonders intensiv haben sich auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Westeuropa entfaltet. 1970 waren nach Japan (mit 822 Mio. US$) die EWG-Staaten (mit 606 Mio. US$) wichtigster Handelspartner noch vor Hongkong (358 Mio. US$); der Handel mit EWG und EFTA (335, 8 Mio. US$) zusammengenommen übertraf sogar den mit Japan.
Anfang 1973 trieb die Volksrepublik China ihren antisowjetischen Kurs so weit vor, daß sie — über den von der Welt inzwischen bereits als selbstverständlich hingenommenen Applaus für die EG hinaus — nun sogar der NATO und der japanischen Aufrüstung ihren Beifall zollte.
So brachte die Nachrichtenagentur Neues China am 23. 1. 1973 gar einen breit angelegten unpolemischen Bericht über das NATO-Manöver „ReforgerIV" in Südwest-Deutschland. Es handle sich hier um Vorbereitungsmaßnahmen gegen einen „potentiellen Angriff aus dem Osten".
Zwischen China und Westeuropa gab es zu dieser Zeit eigentlich nur ein einziges düsteres Thema, nämlich die Europäische Sicherheitskonferenz, von der China eine politische und vor allem militärische Entlastung der Sowjetunion in Europa befürchtet. Am deutlichsten kam Pekings Stellungnahme zur Europäischen Sicherheitskonferenz in der Rede Chiao Kuan-huas vor der UNO-Vollversammlung zum Ausdruck Die Konferenz dürfe nicht den organisatorischen Vorwand für die endgültige Abgrenzung und Formalisierung der Einflußsphären zwischen den beiden Supermächten abgeben. Vielmehr sollten sich die europäischen Staaten zusammentun und entschieden gegen das Hegemonie-Streben der beiden „Supermächte" auftreten. Vor allem müsse verhindert werden, daß die beiden Großen sich über die Köpfe der Europäer hinweg verständigten.
China befürchtete also eine Art „Finnlandisierung" Europas im Zuge der — so titulierten — „europäischen Unsicherheitskonferenz". Am Ende könnte ein unbewaffnetes Europa den Sowjets gegenüber ähnlich wehrlos dastehen wie das heutige Finnland — und Moskau wäre dann in der Lage, sein militärisches Potential voll gegen den östlichen Nachbarn einzusetzen.
In demselben emanzipatorischen Sinne, in dem es die Entwicklung der EG betrachtet, möchte Peking auch die NATO verstanden sehen: Das Bündnis, das heute als antisowjetisches Verteidigungsinstrument interpretiert wird, soll sich, wenn es nach den chinesischen Wünschen geht, auch weitgehend vom bisher so dominierenden US-Einfluß befreien und immer mehr zu einem regional bestimmten militärischen Zusammenschluß werden. Von einem „aggressiven NATO-Block" oder von „westdeutschem Expansionismus und Militarismus" war von nun an kaum noch die Rede.
Noch erstaunlicher vielleicht als der chinesische Europa-und NATO-Kurs entwickelte sich die Haltung Pekings gegenüber der japanischen Aufrüstung, die noch Mitte 1972 — als Erneuerung eines alten Traumas — auf schärfste Ablehnung gestoßen war. Davon war Anfang 1973 keine Rede mehr. Dies machte Chou En-lai gegenüber dem liberaldemokratischen Abgeordneten Takeo Kimura deutlich: China habe Verständnis für den japanischen Wunsch, eine glaubhafte Selbstverteidigung aufzubauen, die allerdings nicht die Schwelle zum „Militarismus" überschreiten dürfe. Japan möge vorerst auch den amerikanischen Atomschild beibehalten, könne also einstweilen durchaus darauf verzichten, den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag zu liquidieren. Chou kam dann auf den immer spektakuläreren sowjetischen Aufmarsch an der chinesisch-mongolischen Grenze zu sprechen. Der Zusammenhang war deutlich! Ende 1972 war die alte Theorie von den „Zwischenzonen" (die Dritte Welt gehört zur Ersten, Westeuropa, Japan, Kanada und Australien zur Zweiten Zwischenzone) wieder offiziell verbreitet worden Peking gestand diesen „Zwischenzonen" nun also auch ihren militärischen Arm zu und redete damit der Stärkung des antisowjetischen militärischen Potentials das Wort.
II. An der Südflanke Chinas: Der Kampf Pekings gegen Moskaus Einkreisungsstrategie
Die Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking haben sich seit dem Ende der sechziger Jahre an einem neuen Ansatzpunkt kristallisiert. Immer nachdrücklicher wurden nun nämlich die chinesischen Bemühungen, den Moskauer Expansionsbestrebungen jetzt auch auf den Seewegen von Europa nach Ostasien entscheidende Hindernisse in den Weg zu legen. Vor allem Süd-und Südostasien, aber auch das Mittelmeer, rücken damit weiter in den Vordergrund.
Nach chinesischer Auffassung hat die sowjetische Führung ein „Erbe der alten Zaren" wiederaufgenommen, indem sie mit immer deutlicher zu Tage tretender Konsequenz die Absicht verfolgt, eine „bogenförmige Seeroute ... vom Schwarzen Meer über das Mittelmeer, das Rote Meer, den Indischen Ozean und den westlichen Pazifik bis zum Japanischen Meer zu schaffen", also einen Seeweg vom Schwarzen Meer nach Wladiwostok einzurichten, der Europa, Asien und Afrika miteinander verbinden soll
Bei der Verfolgung dieses Plans „bahnt sich der Sowjetrevisionismus die Route von zwei Seiten her: Im Osten fädelt er sich vom japanischen Meer durch den Westpazifik über die Malakka-Straße in den Indischen Ozean ein. Von Westen arbeitet er sich, ausgehend vom Schwarzen Meer, durch das Mittelmeer in den Indischen Ozean vor. Der Kreml plant, bei der Schaffung des östlichen Abschnittes dieses Seebogens auf folgende verbrecherische Art und Weise vorzugehen: Seine in Wladiwostok stationierte Pazifik-Flotte soll sich durch das japanische Meer, den westlichen Pazifik und durch die Straße von Malakka zwischen Malaysia und Indonesien in den Indischen Ozean vorschieben .... Moskau arbeitete daher in den letzten Jahren intensiv am Ausbau seiner Pazifik-Flotte, die heute, wie gemeldet wird, über mehr als 50 Kreuzer, Zerstörer bzw. andere Überwasserfahrzeuge und mehr als 100 Unterseeboote verfügt.... Das Manövergebiet dieser Flotte erstreckt sich jetzt bereits vom Japanischen Meer bis in den westlichen Pazifischen Ozean, zwischen den Kurilen und der Ostküste Taiwans .... Bei der Schaffung des westlichen Abschnittes seines maritimen Bogens plant der Kreml, auf folgende verbrecherische Art vorzugehen: Er schiebt seine Schwarz-Meer-Flotte durch das Mittelmeer in den Indischen Ozean ... und bedient sich hierbei einer Reihe von Häfen und Stützpunkten im Mittelmeer, im Roten Meer und im Golf von Aden .... Da der SuezKanal gegenwärtig noch geschlossen ist, nehmen die Schiffe der sowjetischen Schwarz-Meer-Flotte bei Ausführung ihrer konspirativen Mission vom Mittelmeer her Kurs durch den Atlantik und erreichen den Indischen Ozean um die Südspitze von Afrika herum .... Die Expansion der Sowjetrevisionisten in Übersee geht also von Osten und Westen aus. Angelpunkt ist hierbei der Indische Ozean ...
Von den fünf Meeren (Mittelmeer, Rotes Meer, Indischer Ozean, Malakkastraße, West-Pazifik) spielen nach Pekings Auffassungen zwei Meere eine ganz besonders wichtige Rolle im russischen Kalkül, nämlich das Mittelmeer und der Indische Ozean, vor allem dessen nordwestlicher Teil.
Noch viel gefährlicher als im Mittelmeer ist nach chinesischer Auffassung die Gefahr des sowjetischen Expansionismus im Indischen Ozean. Der Indik, der lange Zeit nur als Transit-Meer fungierte und der insofern eher den Charakter eines „Binnenmeeres" trägt (außer der Kap-Route und den Schleichwegen durch den indonesischen Archipel sowie um Australien herum gibt es nur die zwei klassischen Zufahrten des Suez-Kanals und der Malakkastraße sowie fünf Einbuchtungen, nämlich das Rote Meer, die Arabische See, den Persischen Golf, den Meerbusen von Bengalen und den Golf von Aden), ist aus der Sicht Pekings heute zum „Angelpunkt" der sowjetischen Einkreisungsstrategie gegenüber China geworden
Alles in allem nimmt China zum geopolitischen Stellenwert des Indischen Ozeans eine unzweideutige Haltung ein, während im Westen und in einigen Entwicklungsländern immer noch kontroverse Beurteilungen an der Tagesordnung sind.
Folgende drei Fragen stehen im Vordergrund: a) These: Im Indik besteht seit dem Rückzug der Briten aus East of Suez ein Vakuum, das die Sowjetunion für ihre Zwecke ausnutzt und das infolgedessen nach Gegenzügen der Westmächte verlangt.
Gegenthese: Es gibt kein Vakuum Die Theorie vom Machtvakuum ist vielmehr nur ein Vorwand der Großmächte, um ihre Machtposition im Indischen Ozean weiterauszubauen.
Für die Volksrepublik China, die in der „Balgerei der USA und der Sowjetunion um die Hegemonie im Indischen Ozean" nichts anders sieht als den Versuch, den Indik jeweils zur „eigen Binnensee" zu machen, gilt natürlich die zweite Version
b) Eine weitere Fragestellung bezieht sich auf die mutmaßliche Politik der Sowjetunion im Bereich des Indischen Ozeans Die eine Denkschule (vertreten vor allem vom indischen Generalstab) sieht in den Versuchen Moskaus, sich im Indik zu etablieren, nur einen Balance-Akt, der dazu beitragen soll, die Stabilität in dieser Region aufrechtzuerhalten. Man könne sogar so weit gehen, zu sagen, daß die Sowjetunion auf Stabilität setze, weil jede Instabilität der VR China zugute käme. China andererseits wird den Verdacht nicht los, daß sich hinter den von diplomatischen Schritten, kulturellen Vorführungen, Marine-Visiten, Wirtschaftshilfe und flottenpolitischen Infrastrukturmaßnahmen begleiteten Vorstößen der Sowjetunion in den Indik ein imperialer Willen verbirgt, der es nicht nur auf Balance, sondern auf Herrschaft im südasiatischen Bereich abgesehen habe.
c) Auch die Frage, wie der Indische Ozean als Schnittpunkt strategischer Interessen einzuschätzen sei, hat unterschiedliche Antworten gefunden
Die indische Regierung etwa geht davon aus, daß die sowjetische Flotten-Präsenz im Indik zwar aufsehenerregend, aber keineswegs alarmierend sei. Immerhin müsse der Sowjetunion ja das Recht auf eine Seeverbindung zugestanden werden, die vor allem der sowjetischen Handelspolitik zugute komme. Zu bedenken sei in diesem Zusammenhang, daß die Westmächte trotz des seit einigen Jahren so häufig erwähnten „Rückzugs" aus East of Suez immer noch eine Anzahl von Basen unterhielten, vor allem nachdem Großbritannien in der Zwischenzeit wieder mehrere Verteidigungsabkommen mit Australien, Neuseeland, Malaysia und Singapur geschlossen hat. Zu erwähnen sei in diesem Zusammenhang vor allem der Stützpunkt Diego Garcia, der seit 1965 gemeinsam mit den USA zu einem Knotenpunkt für ihre Seestreikräfte ausgebaut werde, sowie der Chacos-Archipel und die Insel Gan (Malediven). Auch Frankreich verfügt noch über einige Stützpunkte und Territorien im Indik, so vor allem in Djibuti, Madagaskar, La Reunion und auf den Comoren. — Doch davon ganz abgesehen wolle die Sowjetunion ja keineswegs feste Flottenstützpunkte erwerben, sondern bedinge sich, als Gegenleistung für den Ausbau von Häfen, lediglich gewisse Landungsrecht aus.
Dieser Defensiv-Theorie stehen Auffassungen gegenüber, die in der sowjetischen Flotten-präsenz bereits erste Anfänge eines Moskauer Globalplans sehen, zunächst die USA zu überrunden und später nach der Weltherrschaft zu greifen. Obwohl die Sowjetunion erst seit wenigen Jahren in den Indik vorgestoßen sei, besitze sie dort bereits mächtige Flotteneinheiten Außerdem verfüge sie über ein Netz von Hafennutzungsmöglichkeiten, z. B. im Südyemen, im Sudan, in Somalia, im Irak, ferner in Mauritius, Indien und Singapur. Wie bedeutungsvoll diese Ansatzpunkte seien, werde erst so richtig klar, wenn man bedenke, daß der Indische Ozean Schnittpunkt der Verkehrswege Asiens, Afrikas und Europas sei und daß in seinem Bereich etwa die Hälfte des heute bekannten Erdöls vermutet werden dürfe.
China vertritt auch in dieser Frage die zweite Interpretation: Angesichts der Präsenz der amerikanischen 7. Flotte habe die Sowjetunion erklärt, sie wolle nicht zulassen, daß der „Indische Ozean zu einer amerikanischen Binnensee werde". Umgekehrt halte eine solche Argumentation die Sowjetrevisionisten keineswegs davon ab, den Indischen Ozean als ihre eigene „Binnensee" zu betrachten, unverfroren ihre Marine in diesen Raum zu entsenden und dort „sozialimperialistische Kanonenbootpolitik" zu betreiben
China will dieser „Balgerei der Supermächte um die Ozeane" mit Hilfe dreier großer Strategien ein Ende bereiten: In erster Linie bemüht es sich, den bewährten Grundsätzen der Vereinte-Front-Politik folgend, um die Mobilisierung der Anrainerstaaten zu Gegenmaßnahmen. Ferner plant Peking langfristig den Aufbau einer eigenen Flotte und optiert in diesem Zusammenhang schon jetzt für gewisse Landungsrechte, vor allem im Indischen Ozean und im Mittelmeer. Drittens versucht es der sowjetischen Einkreisungsstrategie auch dadruch entgegenzuwirken, daß es verschiedene „politische Straßen" in die dem sowjetfreundlichen Indien benachbarten Länder baut, um dort Aufstandsbewegungen gegen das moskaufreundliche Neu-Delhi zu unterstützen.
Diese Absichten sollen hier erläutert werden: Pekings Vereinte-Fronten-Strategie gegen Moskaus Seewegepolitik Die ersten Versuche einer in sich geschlossenen antisowjetischen Vorwärtsstrategie, die vor allem seit 1971 sichtbar wurden, wirkten zwar noch recht unscheinbar und harmlos, waren aber gleichwohl mit großer Zielstrebigkeit angelegt.
Wenn Pekings Rechnung aufgehen sollte, so mußte es, wie ein Blick auf die Landkarte zeigt, zumindest folgende Länder umwerben: — Im Mittelmeer: die Türkei, Griechenland, Cypern, die Balkan-Staaten, Malta und — wenn möglich — auch die arabischen Anliegerstaaten des Mittelmeers — Im Indischen Ozean und am Roten Meer: Äthiopien, Sudan, Kenya, Tansania, Madagaskar, Mauritius, Iran und Ceylon — sowie mit den Anrainerstraßen der Malakka-Straße (Malaysia, Singapur und Indonesien) In der Tat hat Peking seit Anfang der siebziger Jahre es verstanden, sich mit fast allen hier aufgezählten Staaten gutzustellen.
a) Mit der Türkei (Dardanellen!) und mit Cypem hat die VR China im April bzw. Dezember 1971 diplomatische Beziehungen aufgenommen. Außerdem wurde eine Fluglinie mit Istambul vereinbart. b) Auch die Aufnahme offizieller Beziehungen zu Athen im Juni 1972 gehört mit in die Politik antisowjetischer Schachzüge, zumal Griechenland seit Mai 1971 mit dem engsten Freund Chinas in Europa, Albanien, freundlichere Beziehungen angeknüpft hatte. Peking beließ es keineswegs bei einer bloß korrekten Staatenverbindung. Im Mai 1973 wurde nämlich z. B.der griechische Stellv. Ministerpräsident, Oberst Nicolaos Makarezos, von Chou En-lai „in einer freundschaftlichen Atmosphäre" empfangen So kam es u. a. auch zum Abschluß von drei Verträgen über Handel und Zahlungen, Schiffsverbindungen und über eine direkte Luftverbindung. c) Mit Rumänien und Albanien bestand bereits seit Jahren eine Entente Cordiale; aber auch Jugoslawien, das jahrelang als Prügelknabe der chinesischen Propaganda gedient hatte, wurde schon wenige Wochen nach den Prager Ergebnissen vom August 1968 in den chinesischen Freundschaftsbereich einbezogen.
d) Anfang April 1972 nahm Peking ferner den Besuch des maltesischen Ministerpräsidenten Dom Mintoff zum Anlaß, um noch einen weiteren Stolperdraht für Moskaus Seewege-pläne zu spannen. Chou En-lai erklärte bei einem Bankett zu Ehren seines Gastes, daß China Malta und andere Länder des Mittelmeers in ihrem gerechten Verlangen nach eigener Herrschaft im Mittelmeer unterstützen werde. Diese Bemerkung war keineswegs nur eine nebensächliche freundliche Geste. Vielmehr wurde dem Ministerpräsidenten eines doch eigentlich recht unbedeutenden Mittelmeer-staates mehr Ehre angetan als den meisten Staatsmännern, die bis dahin Peking besucht hatten. Chou En-lai konferierte mehrere Male mit ihm und begleitete ihn persönlich nach Nanking und Canton. Sogar beim Besuch von Volkskommunen und Fabriken war Chou En-lai an der Seite des maltesischen Ministerpräsidenten zu sehen Die ungewöhnliche protokollarische Sorgfalt, die dem Gast aus dem Mittelmeer zuteil wurde, sollte auch Moskau deutlich gezeigt haben, wie wenig es hier eigentlich um das kleine Malta selbst gegangen ist, und wie sehr statt dessen die Mittelmeerfrage im Zentrum der Diskussionen gestanden hat. Peking gewährte schließlich noch 46 Mio. US Entwicklungshilfe, damit Malta „auf eigenen Beinen stehen" könne und nicht auf die Supermächte angewiesen sei. Die Chinesen handelten sich dafür das Versprechen ein, daß La Valetta nicht von der sowjetischen Flotte angelaufen werden darf und daß dort auch keine sowjetische Botschaft errichtet wird. überdies treten die Chinesen — ganz im Einklang mit den Vorstellungen südamerikanischer Staaten, wie z. B. Perus oder Chiles — für die Ausdehnung der nationalen Küstengewässer auf 200 sm ein, eine Forderung, die das Mediterraneum gegen den Willen Moskaus zu einem mare nostro der Anlieger werden ließe und dort bei den meisten Anrainern in der Tat auch auf lebhaftes Interesse stoßen dürfte.
e) Eine geeignete Gelegenheit für die Anknüpfung besserer bilateraler Beziehungen bot sich der VR China auch gegenüber Ägypten, als dieses 1972 überraschend die sowjetischen Militärberater auswies. Bisher hatten Chinas Freundschaftsbezeugungen an die Adresse Kairos immer im Schatten der durch Militärhilfe unentbehrlichen Sowjets gestanden. Doch nun schienen sich ganz neue Horizonte zu öffnen. Bereits im August 1972 sagte Peking anläßlich des Besuchs einer ägyptischen Industrie-Delegation dem Land 80, 5 Mio. US$zum Bau von Fabriken zu.
Einen meisterhaften Schachzug tat China, als es im Februar 1973 den Chefredakteur von Al Ahram, Haikai, zu einem mehrwöchigen Besuch Chinas einlud. Haikai lieferte später eine begeisterte Schilderung über den sozialistischen Aufbau der VR China, wobei seine Beschreibungen immer wieder mit antisowjetischen Äußerungen gespickt waren. In Moskau rief die Artikelserie Haikais „Gefühle der Enttäuschung, des Erstaunens und der Verärgerung" hervor. Es sei enttäuschend, daß ein so erfahrener Journalist seinen Lesern keine neuen Ideen oder Beobachtungen habe vermitteln können. Man sei geneigt anzunehmen, er habe nicht China, sondern lediglich ein Büro besucht, das sich in der Nähe von Al Ahram befinde, nämlich die dortige Hsinhua-Filiale, die ihn mit billigem Propaganda-Material versorge. Enttäuschend seien die Berichte vor allem auch deshalb, weil der Autor mit unverhohlenem Wohlwollen die voreingenommenen und unwahren Äußerungen der Chinesen über die Sowjetunion entgegengenommen habe. In wessen Interesse handle Haikai eigentlich, wenn er die Sowjetunion so gezielt verleumde
Schon einen Monat später besuchte auch der ägyptische Außenminister Mohammed Hassan Zayyat die chinesische Hauptstadt und verurteilte in einem gemeinsamen Kommunique den „internationalen Imperialismus", der Ägypten politisch und wirtschaftlich unter Druck setze
Im Zusammenhang mit diesem Besuch brachten offizielle chinesische Zeitungen erneut eine Analyse der von Peking empfohlenen Nahost-Strategie:
Wo liegt der Schlüssel zur Lösung der Nah-ost-Frage: in Washington oder in Moskau? Die Antwort müsse doch lauten: „Weder da, noch dort, sondern allein bei den arabischen Völkern".
Wegen der Uneinigkeiten zwischen den dortigen Staaten freilich hätten es die beiden Supermächte bisher zuwege gebracht, den Völkern des Nahen Ostens das Joch: „Weder Krieg noch Frieden" aufzuzwingen. Diese Patt-Situation sei einzig und allein auf den Wettstreit der zwei Supermächte im Nahen Osten zurückzuführen, die einmal um strategisch wichtige Einflußsphären kämpften, gleichzeitig aber auch die dortigen Erdölressourcen an sich reißen wollten und zu diesem Zweck daran interessiert seien, die gespannte Situation aufrechtzuerhalten, wobei allerdings die Schwelle zum Kriege gerade nicht überschritten werden darf. Beide Supermächte arbeiteten hier einträchtig zusammen: Die USA bewaffneten Israel auch weiterhin und stifteten es zu militärischen Angriffen, Provokationen und „partiellen Lösungen" an, wie z. B. zum Hussein-Plan.
Die „Sozial-Imperialisten" andererseits lieferten den arabischen Völkern zwar dauernd Waffen, verböten den Empfängern aber gleichzeitig deren Anwendung. Auch hätten sie allein im Jahre 1972 nicht weniger als 30 000 Juden aus der Sowjetunion nach Israel auswandern lassen. Diese Ziffer übersteigt die Gesamtzahl der in den 11 vorangegangenen Jahren nach Israel ausgewanderten jüdischen Sowjetbürger. Die Moral: „Wenn die USA Israel Waffen liefern, dann liefert die Sowjetunion den Israelis Einwanderer, die diese Waffen bedienen". Unter diesen Umständen sollten die arabischen Völker sich so eng wie möglich zu einer Kampfgemeinschaft zusammenschließen. 1972 seien in dieser Richtung bereits zahlreiche Schritte getan worden: dieser Kampf sei aufs engste zu verbinden mit dem Kampf der Mittelmeerländer und der Golfstaaten zur Vertreibung der US-und der SU-Flotten
Anlaß für antisowjetische Polemiken gab auch der Besuch einer dreiköpfigen sowjetischen „Freundschaftsdelegation" in Tel Aviv (Februar 1972). Moskau habe hier erneut erkennen lassen, daß es einer Verhandlungslösung im Nahen Osten das Wort rede, statt die wirkliche Ursache der Spannungen, nämlich den Zionismus, durch Unterstützung des bewaffneten Kampfes der Palästinenser in einem lange hingezogenen Kampf zu vernichten.
Ganz in diesem Sinne unterstützt Peking auch systematisch den „Kampf des Volkes von Palästina". Die Palästinensische Befreiungsorganisation unterhält u. a. eine ständige Mission in Peking und orientiert sich zum Teil auch am chinesischen Volkskriegsmodell. Wie der Leiter der Palästinenser-Mission in Peking einräumte, erhält die Bewegung von China Waffen und Ausbildungshilfe. Außerdem benutzen die palästinensischen Streitkräfte und Kämpfer in Ghaza das chinesische System des Tunnelkrieges
Noch nachdrücklicher als im Mittelmeer trat die „Stolperdraht" -Stategie Pekings im westlichen Teil des Indischen Ozeans zutage:
a) Mit Erfolg umwarben die Chinesen dort Äthiopien, dessen feudale Struktur ganz gewiß nicht mit chinesischen Gesellschaftsvorstellungen vereinbar ist. Anläßlich des 31. Jahrestag der Rückkehr Haile Selassies in das'von den Italienern befreite Addis Abeba betonten die chinesischen Massenmedien die Gemeinsamkeiten im Kampf gegen den Imperialismus (italienische Aggressoren und die Zugehörigkeit zur Dritten Welt). Der chinesische Außenminister hob u. a. auch hervor, daß Äthiopien sich mit Erfolg am gemeinsamen Kampf der afrikanischen Völker gegen Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus sowie gegen jede Form von Rassendiskriminierung beteiligt habe. Es sei positiv zu bewerten, daß der UN-Sicherheitsrat 1972 eine Sondersitzung in Addis Abeba abgehalten habe. Ebenso positiv sei es zu beurteilen, daß das UN-Sonderkomitee für Entkolonialisierung u. a. in Äthiopien getagt habe.
Schließlich kam es auch um Besuch des äthiopischen Kaisers in China, der dort u. a. von Mao Tse-tung persönlich empfangen wurde. b) Noch stärker als auf Äthiopien konzentrierte sich die chinesische Politik auf den Sudan. Peking schenkte dem Staat Waffen und leistete umfangreiche Entwicklungshilfe, vor allem auf dem Gebiet des Straßenbaus c) Auch mit Somalia konnten nach dem Besuch seines Präsidenten in Peking (Mai 1972) engere Beziehungen hergestellt werden. Somalia spielt eine besonders wichtige Rolle beim Aufbau der chinesischen „Vertikal" -Allianz in Ost-Afrika, die von Ägypten über den Sudan bis nach Tansania in den Süden hinabreicht. Noch in den sechziger Jahren hatte der bis an das kritische Gebiet des Golfes von Aden grenzende Staat weitgehend unter russischem Einfluß gestanden. Die gesamte militärische Ausrüstung der 15 000 Mann starken Somali-Armee entstammte z. B.dem sowjetischen Waffenarsenal. Außerdem hatten die Russen 1969 den Hafen Berbera am Golf von Aden und den Hafen Burgavo in der Nähe der Grenze von Kenya ausgebaut
Seit der „Oktober-Revolution von 1969" versucht nun die Volksrepublik Somalia, den starken sowjetischen Einfluß im Lande durch eine deutliche chinesische Präsenz auszugleichen. 1971 gewährte Peking bereits ein Darlehen von 110 Mio. USS, das für den Ausbau der strategisch wichtigen Nord-Süd-Straße verwendet wird. Wie beim Bau der Tansam-Bahn kamen im Zuge dieser Vereinbarung nach und nach immer mehr chinesische Straßenbauer nach Somalia. d) Fuß fassen konnte Peking 1972 auch in Madagaskar (Aufnahme diplomatischer Beziehungen). Im gleichen Jahr verstand es die chinesische Führung, die Regierung der Insel Mauritius für eine engere Zusammenarbeit zu interessieren. Peking versprach dem Inselstaat im Mai 1972 einen Kredit von nicht weniger als 135 Mio. DM Bei den Verhandlungen wurde deutlich, daß die Chinesen im Zusammenhang mit Mauritius, das ja direkt auf der Strecke von Kap Horn zur Malakka-Straße liegt, eine „maltesische Lösung" anstreben. Sowjetischen Versuchen, einen formellen Stützpunkt im Hafen Port Louis eingeräumt zu bekommen, wurde damit der Wind aus den Segeln genommen. U. a. hilft China auch beim Ausbau eines internationalen Flugplatzes im Norden der Insel e) Mit dem ostafrikanischen Kenya unterhält die VR China diplomatische Beziehungen seit 1963, ohne daß es bisher freilich zu einem das normale Maß überschreitenden, besonders guten Einvernehmen gekommen wäre. f) Um so enger dagegen haben sich im Laufe der Jahre die Bindungen Tansanias an die VR China entwickelt. Peking hat dem ostafrikanischen Staat nicht nur die Mittel für das Tansam-Eisenbahnprojekt vorgestreckt — bei dessen Finanzierung die Chinesen unvergleichliche Großzügigkeit haben walten lassen — sondern erbringt auch zahlreiche andere Hilfe-leistungen, indem es kleinere Industrieprojekte (Sägewerke, Textilfabriken ect.) erstellt, den Hafen von Daressalam zum Teil ausbaut und das tansanische Heer sowie die tansanische Luftwaffe ausbildet.
China arbeitet heute mit allen möglichen afrikanischen Bewegungen zusammen, seien sie nun konservativ, gemäßigt oder aber radikal. Kontakte werden sowohl zum Feudalherrscher Haile Selassie wie zum „Sozialisten" Nyerere und zu „Marxisten-Leninisten", vor allem zu einzelnen Befreiungsbewegungen in den portugiesischen Kolonien Angola, Mozambique und Guinea-Bissau, gepflegt.
Im Zusammenhang mit dem Kurswechsel von der „Revolution" zur antisowjetischen Interessenpolitik ist auch ein perspektivischer Artikel interessant, in dem darauf hingewiesen wurde, daß Länder wie Mauritius, Tansania, Somalia, Kenya, Madagaskar und andere Länder entschieden die militärischen Aktivitäten der Supermächte im Indischen Ozean verurteilten und den Vorschlag einer Friedenszone im Indik unterstützten. Bemerkenswert sei auch die Entschlossenheit der afrikanischen Staaten, ihre Selbständigkeit und staatliche Souveränität zu verteidigen. U. a. habe Ägypten für seine entschlossene Aktion gegen fremde Aggression, Subversion und Intervention und zur Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit bei den afrikanischen Staaten allgemeine Anerkennung gefunden (hiermit ist der Hinauswurf der Sowjets gemeint!). Auch sonst wehre sich Afrika entschieden gegen die Versuche der Supermächte, die internationalen Angelegenheiten zu manipulieren und zu kontrollieren. Im Zuge dieser Solidarisierung spiele die Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) eine besondere Rolle. China unterstütze es entschieden, wenn die afrikanischen Völker ihr eigenes Schicksal in die Hand nähmen. g) Das Jahr 1972 gab den Chinesen auch mehrmals Gelegenheit, sich erneut entschieden für den ceylonesischen Plan einer „Friedenszone im Indischen Ozean" auszusprechen. Sri Lankas Ministerpräsidentin, Frau Bandaranaike, hatte einen solchen Vorschlag, der auf Demilitarisierung des Indik abzielt, bereits bei der 26. Tagung der UNO im Dezember 1971 unter großem Beifall in die Debatte gebracht und auch bei den Chinesen lebhaftes Interesse gefunden. Auch während des Besuches der Ministerpräsidentin in China (Juni/Juli 1972) stand dieser Plan im Mittelpunkt der politischen Aussprache
Drei wesentliche Punkte sind im folgenden noch abzuhandeln: das chinesische Verhalten gegenüber den sowjetischen Seewegeplänen in den beiden „restlichen" Seegebieten (Straße von Malakka, Westpazifik) sowie die reaktion Pekings auf den sowjetischen Vorschlag zur Errichtung eines „kollektiven Sicherheitssystems in Asien". a) Das Problem der Malakka-Straße:
Die Straße von Malakka spielt neben drei anderen „Nadelöhr-Wegen" (Straße von Gibraltar und Suez-Kanal vom Atlantik über das Mittelmeer zum Indik; Panama-Kanal als Verbindung des Atlantik mit dem Pazifik) eine überragende Rolle für den gesamten Weltschiffahrtsverkehr. Die Malakka-Straße bildet u. a. auch einen der kritischen Punkte auf der langen „bogenförmigen Seeroute" vom Schwarzen Meer nach Wladiwostok — eine Gelegenheit für Peking, auch hier einen „Stolperdraht" einzubauen. Die günstige Gelegenheit dazu kam mit dem 16. Nov. 1971, als in einer Erklärung der drei Anliegerstaaten Malaysia, Indonesien und Singapur zu Fragen der Sicherheit in den „Straits of Malacca" sowie zum Problem der Internationalisierung des Wasserweges Stellung genommen wurde. Djakarta und Kuala Lumpur traten hierbei für eine Internationalisierung der Wasserstraße ein, während Singapur diese Position „lediglich zur Kenntnis nahm".
Im März 1972 stellte sich Peking hinter die Auffassung Indonesiens und Malaysias Bezeichnenderweise erfolgte dieser chinesische Schritt erst, nachdem Japan und die Sowjetunion gegen die Ankündigung der beiden malaiischen Staaten protestiert hatten.
Das Engagement Pekings für Länder wie Malaysia und Indonesien wurde von vielen Beobachtern mit Erstaunen wahrgenommen, da ausgerechnet diese beiden Staaten in den vorangegangenen Jahren mit China stets in einem sehr gespannten Verhältnis gestanden hatten.
Gerade in diesem Zusammenhang zeigte es sich aber erneut, daß Peking bereit ist, weniger gravierende Feindschaften einstweilen zurückzustellen, wenn sich eine Chance bietet, den Hauptfeind zu isolieren.
b) Auch im Fall der letzten von den oben erwähnten fünf Meeresregionen, zu der China noch keine antisowjetische Erklärung gegeben hat — dem Westpazifik — liegen schon Keime für eine entsprechende Entwicklung vor.
1971 hat der malaysische Ministerpräsident Tun Abdul Razak den Plan einer „Friedenszone" in Südostasien deklariert, die vorerst die fünf Staaten der ASEAN (Malaysia, Philippinen, Indonesien, Singapur und Thailand) einbeziehen soll. Der südostasiatische Fünferklub soll sich dann später auf 10 Mitglieder erweitern (Birma, Laos, Kambodscha und die beiden Vietnams) und sich schließlich neutralisieren.
Drei Phasen dieses Neutralisierungsprozesses hat der malaysische Ministerpräsident vorgeschlagen: Zunächst schließen die beteiligten Staaten einen multilateralen Neutralitätspakt.
Sodann verlassen sämtliche ausländische Truppen das südostasiatische Territorium, und schließlich garantieren. die drei Groß-mächte — USA, Sowjetunion und VR China — die Neutralität der ganzen Zone Pekings Stellungnahme zu diesem Projekt steht zwar noch aus, doch kann nach den bisherigen Vorgängen kaum ein Zweifel darüber aufkommen, daß die Chinesen zustimmen, falls die Sowjetunion dadurch von einer weiteren Ausweitung ihres Einflusses in Südost-asien und im Westpazifik abgehalten werden kann. c) Stellungnahme zum sowjetischen Vorschlag eines „kollektiven Sicherheitssystems für Asien".
Die oben im einzelnen aus der Perspektive Pekings beschriebene Seewegestrategie Moskaus benutzt zwar eine Taktik der kleinen Schritte (Flotttenbesuche, Ballett-Veranstaltungen, Wirtschaftshilfe, Ausbau von Hafenanlagen usw.), vollzieht sich letzten Endes aber im weitgesteckten Rahmen eines Gesamtplans, der von Parteichef Breschnew im Juli 1969 unter der Bezeichnung „kollektives Sicherheitssystem in Asien" verkündet wurde. Der beste Weg zur Sicherheit in Asien führe nicht über Militärblöcke und ähnliche Bündnisse, sondern werde durch gutnachbarliche Zusammenarbeit zwischen allen Staaten eröffnet. Die Prinzipien, auf denen ein solches System beruhen solle, seien die fünf bekannten Grundsätze der friedlichen Koexistenz. Der sowjetische Vorschlag stehe keineswegs vereinzelt da. Vielmehr gebe es auf Seiten mehrerer asiatischer Staaten ähnliche Denkansätze, z. B.:
— den Vorschlag der malaysischen Regierung über eine Neutralisierung Südostasiens, — den Vorschlag der indischen Regierung (auch der ceylonesischen!), den Indischen Ozean zu einer „Zone des Friedens" zu erklären, — die verschiedenen Vorschläge zur Schaffung kernwaffenfreier Zonen in Asien, — die Vorstöße der Botschafter Japans in verschiedenen Ländern Asiens und im Pazifik in Richtung auf die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in Asien, — die friedlichen Ansätze, die sich vor allem zwischen Indien und Pakistan im Zusammenhang mit dem Simla-Abkommen ergeben hätten, — die angestrebte Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und Japan. Die Sowjetunion habe ein besonderes Interesse an der kollektiven Sicherheit Asiens. Immerhin lägen dort zwei Drittel ihres Territoriums Erläuterungen dieser Art sind freilich viel zu unbestimmt, als daß sich daran nicht Spekulationen knüpfen könnten. Vier Motive, die sich gegenseitig nicht unbedingt ausschließen, sind im Laufe der Zeit von Beobachtern aus dem Tatbestand herausgelesen worden:
-— Handelt es sich bei dem Plan um eine Art Acte de Presence, durch den die Sowjetunion klarmachen wolle, daß keine Nation im Fernen Osten heute umhinkönne, die Sowjet-macht als ein neues und bedeutendes Element in einem künftigen asiatischen Gleichgewichtssystem zu betrachten?
— Der Sowjetunion wird ferner unterstellt, sie wolle das Vakuum ausfüllen, das durch den Rückzug Großbritanniens (seit 1966) und durch das allmähliche Zurückweichen der USA aus Asien im Gefolge der Nixon-Doktrin entstanden sei
— Eine weitere Interpretation geht auf einen Vortrag des russischen Professors Zadorojnyi in Tokyo zurück. Danach zielt das breschnjewsche Projekt auf die Sicherung der asiatischen Stabilität im Interesse des Welt-friedens äb. Das vorgeschlagene panasiatische Bündnis solle eine Art Miniatur-UNO werden, der neben den USA und der Sowjetunion möglichst sämtliche asiatische Staaten angehören sollen, möglicherweise auch Taiwan, Südkorea und Südvietnam. Ein solcher Plan würde sämtliche regionalen und bilateralen Verteidigungsbündnisse absorbieren und überflüssig machen
— Am häufigsten erwähnt freilich wird das Motiv einer sowjetischen Eindämmungspolitik gegenüber China, und zwar von seiner Süd-, wenn möglich auch von der Ostflanke her. Da die Ausdrücke „Containment", „Cordon Sanitaire" oder „Bollwerk gegen China“
in der heutigen Weltpolitik keinen besonders guten Klang hätten, habe man sich zu einer freundlicheren Sprachregelung entschlossen und das Projekt mit dem Ausdruck „kollektives Sicherheitssystem in Asien" belegt.
Ganz auf der Linie dieser vierten Version liegt auch die chinesische Interpretation zum Breschnjew-Projekt. Für die chinesische Propaganda ist das zur Debatte stehende Sicherheitssystem ganz schlicht eine „vom Sowjet-revisionismus benützte, zerfetzte Flagge, um ein antichinesisches Militärbündnis auf die Beine zu bringen"
Wohin im übrigen eine solche — auf „Sicherheits" -Erwägungen beruhende — Zusammenarbeit führen könne, werde am Schicksal der Mongolischen Volksrepublik deutlich. Dieses Land sei zunächst unter dem Deckmantel „wirtschaftliche Zusammenarbeit" umworben, dann aber unter der Hand in ein militärisches Aufmarschgebiet zu Aggressionen gegen China verwandelt worden, überdies werde es von Moskau aus nunmehr auch politisch kontrolliert und wirtschaftlich ausgeplündert Mit seinem „expansionistischen" Konzept habe Breschnjew die Leiche des von Dulles ausgeheckten SEATO-Plans erneut aus dem Sarg hervorgeholt
China — Indien
Der Vorschlag eines „kollektiven Sicherheitssystems für Asien“ hat bisher erst an einer einzigen Stelle in Asien Fuß fassen können: in Indien — dies hat die Beziehungen zwischen Neu Delhi und Peking nicht gerade verbessert.
Zwischen beiden asiatischen Staaten gab es schon seit Jahren schwere Probleme, die durch das Engagement der Sowjetunion nur noch verschärft wurden.
Vier davon sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben, nämlich:
— Die Besetzung Tibets durch China, die in der indischen Öffentlichkeit immer noch Empörung wachruft, obwohl die Rechte Chinas an Tibet durch die indische Regierung längst anerkannt worden sind;
— der weiterschwelende Grenzkonflikt, der 1959 und 1962 zu mehreren militärischen Zusammenstößen geführt hatte;
— die Frage der Hegemonie über die Himalaja-Fürstentümer — und schließlich das immer stärkere Engagement Moskaus auf dem Subkontinent, das im Zeichen der verschärften chinesisch-sowjetischen Gegensätze in Peking höchstes Unbehagen auslöst.
In ihrer ganzen Problematik wurde die sowjetische Intervention im Jahre 1971 deutlich. In diesem Jahr zerfiel — als Folge des „Dezemberkrieges" zwischen Indien und Pakistan — die seit 1947 auf dem Subkontinent bestehende Machtbalance. Aus der Sicht Pekings waren nun nicht mehr Indien und Pakistan die entscheidenden Gewichte, sondern vielmehr Indien und die Sowjetunion auf der einen und Pakistan-China-USA auf der anderen Seite. Die Achse Neu Delhi—Moskau war durch den indisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag vom August 1971 formell besiegelt worden und hatte sich während des für Indien so siegreichen Dezemberkrieges gegen Pakistan aufs beste bewährt.
China, das die sowjetisch-indische Annäherung schon seit langem mit Mißbehagen zur Kenntnis genommen hatte, entschloß sich schon frühzeitig zu Gegenstrategien:
— Erstens erweiterte es seine militärische Infrastruktur an der Grenze. U. a. wurde die Logistik verbessert und vom chinesischen Staatsgebiet aus über Sikkim, Nepal und über das Karakorum-Gebirge nach Indien bzw. Westpakistan „politische" Straßen gebaut.
— Zweitens versuchte es, die Nachbarstaaten Indiens auf dem Subkontinent, vor allem Pakistan, Sri Lanka (Ceylon) und Nepal zu einer Vereinten Front gegen Neu Delhi zu gewinnen. Großzügige Entwicklungshilfe spielte hierbei eine bedeutsame Rolle.
— Drittens unterstützte es kommunistische Aufständische, vor allem in Westbengalen und Andra Pradesh.
Die Gefahr, daß Indien der Umarmungspolitik Moskaus erliegt, hat aus chinesischer Sicht in den letzten Jahren eher zu-als abgenommen. Vor allem drei Vorwürfe an die Adresse Neu Delhis gehören zum ständigen Repertoire Pekings: — Indien nehme zuviel „militärische Hilfe" von Moskau an. Die Sowjetunion habe von 1962 bis 1970 in dieser Beziehung rd.
1 Mrd. USB aufgewendet, habe in Indien drei MIG-Fabriken eingerichtet, und außerdem militärische Berater entsandt. Die indische Armee sei bereits jetzt im Besitze eines Kontingents von nicht weniger als 600 sowjetischen Panzern und lasse ihre Marine bis zu 20 °/o von den Russen ausstatten.
— Auch finde eine ständige „wirtschaftliche Durchdringung" Indiens durch die Sowjetunion statt. 1955 bis 1967 habe Moskau 2, 312 Mrd. und von 1968 bis 1972 1, 1 Mrd US $nach Indien . hineingepumpt'.
Peking will auch wissen, daß diese „Hilfe", weit davon entfernt, sich nach dem Gießkannenprinzip zu verlaufen, vor allem auf Projekte der Stromerzeugung und der Olförderung konzentriert wird, überdies sei es zu einer immer stärkeren bilateralen Ausdehnung des Handels aufgrund des Abkommens vom 26. 12. 1970 gekommen.
— Am verwerflichsten aber sei die Haltung Neu Delhis, weil es sich in den Plan Moskaus, „Asiaten zum Kampf gegen Asiaten" einzusetzen, einspannen lasse. Vor allem der Vertrag vom August 1971, der zwar als „Freundschaftsabkommen" firmiere, in Wirklichkeit aber einem „Militärbündnis" gegen Pakistan und China gleichkomme, habe deutlich gemacht, daß es der Sowjetunion letzten Endes darauf ankomme, Indien noch weiter zu beherrschen, Pakistan zu spalten (Entstehung von Bangla Desh mit sowjetischer Hilfe und Billigung!) und schließlich China einzukreisen
Flottenpläne und künftige seestrategische Optionen Chinas
Peking hat inzwischen eingesehen, daß es langfristig auch eine starke Seemacht braucht, wenn es seine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik angemessen mitspielen will. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren haben sich die großen politischen Änderungen überwiegend auf den Kontinenten vollzogen. Die siebziger Jahre dagegen werden sich vor allem in den maritimen Gegenden politisch auswirken. Diese Erfahrung hat China nicht zuletzt im Zusammenhang mit der neuen sowjetischen Seewegestrategie machen müssen. Auch die Sowjetunion hat ja bereits 1962 im Zusammenhang mit ihren Mißerfolgen vor Kuba erfahren müssen, was es heißt, über nur zweitklassige Seestreitkräfte zu verfügen. Ende der fünfziger Jahre wurde mit dem Bau größerer Einheiten in Shanghai und Tientsin begonnen. Seitdem vollzog sich — hinter dem Schleier der Geheimhaltung und unbeobachtet von der Außenwelt — eine rapide Entwicklung des Aufbaus. 1972/73 schließlich konnte die amerikanische Fachzeitschrift „Sea Power" einem überraschten Publikum bekanntgeben, daß die Kriegsmarine der VRCh sich inzwischen zur drittstärksten der Welt entwickelt habe und an Schlagkraft nur noch von den USA und der Sowjetunion übertroffen würde. Mit 40 modernen konven-tionellen Unterseebooten rangiere China vor Großbritannien mit 35, Frankreich mit 21 und Japan mit 12 derartigen Booten. Auch in der Personalstärke liege die chinesische Marine mit 150 000 Offizieren und Mannschaften vor Großbritannien (80 000), Frankreich (70 000) und Japan (40 000 Mann)
Solche quantitativen Angaben sagen freilich noch wenig über die Qualität der Marine-Einheiten aus; zusammengesetzt ist die Flotte aus Schiffen unterschiedlichster Typen, die vom Oldtimer japanischer und amerikanischer Herkunft über Sowjettypen bis hin zu modernen, mit ballistischen Raketen bestückten U-Booten chinesischer Konstruktion reichen. Das sensationellste Projekt bilden drei kernkraftgetriebene U-Boote, an denen seit 1969 gebaut wird und die vermutlich noch 1973 fertiggestellt werden 61).
Von den Aufgaben, die den immer wichtiger werdenden Seestreitkräften zufallen, ist insbesondere die Kontrollstrategie gegenüber den Territorialgewässern von erheblicher Bedeutung. Pekings Ansprüche umfassen nahezu das gesamte Südchinesische Meer, mit der Folge, daß seine Hoheitslinie hart an der Küste Südvietnams entlangläuft, bis zum Tsengmu-Riff (nahe dem nördlichen Sarawak) ausschwingt, sich sodann den nördlichen philippinischen Inselgruppen nähert und schließlich — unter Einbeziehung Taiwans — auf das Gelbe Meer zuläuft. In diesem Bereich liegen nicht nur zahlreiche, auch von Südvietnam und den Philippinen beanspruchte Inselgruppen sowie das politisch explosive, weil öl-„verdächtige", Klippeneiland von Tiao Yü Tai (Japanisch: Sengaku), sondern auch die Schraffuren für den — oben so häufig erwähnten — „bogenförmigen sowjetischen Seeweg“ um Asien!
Die weitest gesteckte Aufgabe schließlich, die im globalen Zusammenhang mit Pekings Maßnahmen gegen die Moskauer Einkreisungsstrategie zu sehen ist, kann vorerst freilich nur recht unvollkommen erfüllt werden. Den Chinesen kann nämlich es nicht nur darum gehen, in der oben bereits näher beschriebenen Weise „Stolperdrähte" zu legen; vielmehr werden sie auf lange Sicht wohl kaum um die Errichtung von Gegenstützpunkten herumkommen. Maritime Optionen in dieser Richtung zeichnen sich vor allem an drei wichtigen Stellen ab: in Ostafrika, am Golf von Aden und in Westpakistan. Sollten hierbei geopolitische Reminiszenzen eine Rolle spielen? Lange Zeit war ja der Indische Ozean vom Konzept des K-K-K-Dreiecks (Kapstadt —Kalkutta—Kairo) bestimmt, das — weil auf Großbritannien hinorientiert — durch die Linie Cypem—Suez—Aden ergänzt war. Sobald der Suez-Kanal eines Tages wieder geöffnet sein sollte, wird diese politische Geometrie wieder einen Teil ihrer alten Geltung erlangen, selbst wenn Supertanker und andere Großschiffe auch in Zukunft die Kap-Route nehmen müssen. In gewissem Ausmaße trägt China dem alten K-K-K-System Rechnung, wenn es nämlich einerseits den Hafen von Daressalam ausbaut (Kapstadt kommt wegen der starken Spannungen zwischen Peking und dem „rassistischen Regime" in Südafrika nicht in Betracht!), wenn es ferner Karachi (Kalkutta-Ersatz durch den Bau einer Verbindungsstraße mit Südwestchina als potentiellen Stützpunkt anvisiert und schließlich jene aktive, nicht zuletzt auch auf den Suez-Kanal (Kairo!)
abzielende Mittelmeerpolitik betreibt, die sich geradezu als Strategie eines antisowjetischen Cordon Sanitaire um Nahost bezeichnen ließe. Optiert China in diesen Bereichen für künftige Flottenstützpunkte, die eine aktivere Störung der Moskauer Seewegepolitik ermöglichen könnte? Offizielle Verlautbarungen in dieser Richtung liegen aus verständlichen Gründen nicht vor. Man wird abwarten müssen, ob sich hinter dem Vorgehen der Chinesen eine systematische, möglichen Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte Rechnung tragende Flottenpolitik abzeichnet.
Pekings politische Straßen nach dem Süden
Die Chinesen haben im Laufe der letzten Jahre insgesamt fünf größere Straßenverbindungen zu den Ländern Süd-und Südostasiens fertiggestellt, von denen vor allem die vier Straßen nach Indien im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Peking und Moskau zu sehen sind, dessen Verbindungen mit Neu Delhi ja, wie oben ausgeführt, in den letzten Jahren immer enger geworden sind — zumindest aus chinesischer Sicht!
Von West nach Ost lassen sich folgende Nord-Süd-Adern indentifizieren: a) Vom chinesischen Sinkiang (Kashgar) nach Gilgit in Nordkaschmir. Diese Straße wurde Anfang März 1971 bis Karachi weitergeführt. Die Verkehrsader verbindet das Straßennetz im fernen Westen Chinas mit dem des indischen Subkontinents und spielt bei der Unterstützung Pakistans gegenüber Indien eine wichtige Rolle. b) Von der chinesischen Autonomen Region Tibet über Nepal bis nach Patna am Ganges. Die Straße ist eine Manifestation chinesischer Präsenz in Nepal, die dem Königreich helfen soll, die indische Bevormundung abzubauen. c) Vom chinesischen Tibet zum indischen Assam über Gangtok, die Hauptstadt Sikkims. Diese Straße hat allerdings in der Zwischenzeit viel von ihrer politischen Bedeutung verloren, da die ursprünglich vorgesehene Unterstützung Pakistans in Ostbengalen mit der Gründung des Staates Bangla Desh hinfällig geworden ist. d) Von der südchinesischen Provinz Yünnan nach Mandalay in Nordbirma. Die Straße verbindet das südostchinesische Verkehrsnetz mit Birma und schafft auch die Möglichkeit des Zugangs zum nordostindischen Assam. Diese Verkehrsader ist weitgehend identisch mit der zwischen 1942 und 1945 gebauten Stilwell-Straße und führt durch das Gebiet unruhiger Minderheiten, die sowohl für Birma mit seinen zahlreichen Minderheiten als auch für Indien (Naga-Land) ein Problem darstellen.
e) Der Vollständigkeit halber ist schließlich noch die Straße von der chinesischen Provinz Yünnan durch Nord-Laos nach Nordost-Thailand zu erwähnen, die mit ihrem östlichen Seitenarm bis hin nach Dien Bien Phu reicht und die — in westlicher Richtung — inzwischen bis an den Mekong vorgetrieben worden ist und nun auf nordost-thailändisches Gebiet zuläuft.
Diese fünf Straßenverbindungen, von denen vier auch für das sowjet-freundliche Indien von Belang sind, sollen primär keineswegs chinesische Militär-Operationen ermöglichen, denn Chinas Militärstrategie ist ganz auf Defensive abgestellt: auch könnten die durch schwer zugängliches Gebirgsgelände führenden Verbindungswege im Notfall leicht durch wenige Bombenabwürfe unterbrochen werden. Es handelt sich hier vielmehr um „politische Straßen", die zum Teill in „PulverfaßGegenden" führen und im übrigen die potentielle Präsenz Chinas glaubhaft machen — nicht nur für Neu-Delhi, sondern auch für Moskau.
III. Globalfragen: Die sino-sowjetischen Auseinandersetzungen in der UN
Seit die VR China im November 1971 Mitglied der UNO geworden ist, bieten sich ihr geradezu ideale Möglichkeiten, altbewährte Kampftaktiken, die sich im innenpolitischen Bereich der VR China so gut bewährt haben, nun auch gegen die Supermacht Sowjetunion einzusetzen. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei spezifische „Arbeitsstile" zu erwähnen, nämlich erstens das Prinzip der so-genannten „Massenlinie" und zweitens das Prinzip der „Kritik und Verurteilung". a) Der Führungsstil der „Massenlinie" — auf den internationalen Bereich übertragen — gebietet es, die Meinung jedes Staates, und sei er noch so unbedeutend, „zu sammeln, zu konzentrieren und sie wieder in die . Massen'(d. h. hier also, in die Gemeinschaft der Staaten) hineinzutragen". Durch diesen Prozeß soll die objektive Interessenlage der kleinen Staaten artikuliert werden, selbst wenn diese manchmal abweichende, subjektive Interessen erkennen lassen.
Mechanische Mehrheitsverhältnisse, wie sie etwa bei einem Stimmenverhältnis von 51 : 50 zustande kommen können, würden bei Verwirklichung dieser objektivistischen Vorstellungen durch überwältigende Mehrheit ersetzt werden, für die in China die 90-°/0-Formel Mao Tse-tungs gilt. Die sogenannte „Strategie der Vereinten Fronten", die hier in Erscheinung tritt, geht von einer Dreiteilung aller sozialen Systeme aus und unterscheidet zwischen „Freunden, Zwischenschichten und Feinden" bzw. — außenpolitisch formuliert — zwischen sozialistischen Staaten, sogenannten „Zwischenzonen" und den „Imperialisten samt ihren Lakaien".
Ziel der Vereinten-Frontpolitik ist es nun, die „fortschrittlichen Kräfte zu entfalten, die Kräfte der Mitte zu gewinnen und die Feinde maximal zu isolieren".
Anschauungsmaterial für das Funktionieren dieser Strategie bietet vor allem die chinesiB sehe Innenpolitik. Als es beispielsweise Anfang der fünfziger Jahre darum ging, die Großbauern auszuschalten, wurden die soge-nannten „Reichen Bauern" im Interesse einer maximalen Isolierung des Großgrundbesitzertums in die „Vereinte Front" aufgenommen, so daß der 90-0/0-Formel Maos Genüge getan war. Diese Vergünstigung sollte jedoch nicht lange dauern. Nachdem die Großgrundbesitzer durch Enteignungsmaßnahmen als Klasse liquidiert waren, kamen die „Reichen Bauern", deren Schicksal ja schon von langer Hand vorherbestimmt war, an die Reihe. Dasselbe Los ereilte anschließend noch die soge-nannten „Oberen Mittelbauern".
Eine Salami-Taktik, wie sie hier zutage tritt, leistet auch im Bereich der Außenpolitik, vor allem gegenüber den beiden Hauptfeinden, den USA und der Sowjetunion, gute Dienste. Nur vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß China es abgelehnt hat, sich auf nukleare Abrüstungsverhandlungen im kleineren Kreis der fünf Großmächte einzulassen. Seine Gegenforderung nach einer soge-nannten Gipfelkonferenz aller Länder entspricht demgegenüber genau seiner „Vereinten-Fronten-Strategie" sowie dem Prinzip der „Massenlinie".
b) Ein solches Vorgehen impliziert zweitens das, was die Chinesen „Kritik und Verurteilung" nennen.
Wie das Großgrundbesitzerbeispiel gezeigt haben sollte, handelt es sich bei der Politik der Vereinten Fronten ja nicht um „prinzipienloses" Taktieren mit weltanschaulich anders ausgerichteten Parteien, sondern um eine spezifische Form des Kampfes, die mit rein politischen Mitteln ausgetragen wird und zum Ziele hat, die „Feinde" einzeln und der Reihe nach auszuschalten.
Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich, die in jeder auftauchenden Frage liegenden Möglichkeiten (oder „Widersprüche") jeweils so weit zu polarisieren, daß „zwei Linien", nämlich eine richtige und eine falsche, holzschnitartig klar hervortreten. Neutrale, mittlere Positionen stehen hierbei nicht zur Diskussion. So erklärt es sich beispielsweise, daß die Chinesen in der Abrüstungsfrage die „restlose" (und nicht etwa „teilweise") Vernichtung der Kernwaffen vorschlagen und daß sie die Aufhebung aller nuklearer Basen im Ausland wünschen. Die Taktik der Polarisierung ist dabei in der Weise zu dosieren, daß die Supermächte, die bisher der Weltorganisation ihren Stempel aufgeprägt haben, bei jeder zur Diskussion anstehenden Einzelfrage in die Enge getrieben und zum Gegenstand der „Kritik und Verurteilung" aller Länder werden. Ginge es nach dem Willen Pekings, so würde die UNO ein Kräftefeld abgeben, in dem sich die beiden rivalisierenden Supermächte und ihre Lakaien auf der einen und die überwältigende Mehrheit der „kleinen und mittleren Staaten" unter Führung Pekings auf der anderen Seite gegenüberstünden. Ziel dieser Strategie wäre es, zunächst die beiden Supermächte auszuschalten und sodann neue, bis dahin weniger gefährliche kapitalistische Staaten als „Feinde" an die Reihe kommen zu lassen.
Es liegt auf der Hand, daß dieses Instrumentarium, wie es hier im einzelnen dargelegt wurde, sich gerade in der Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Hauptfeind, der Sowjetunion, besonders eignet. In der Tat ist es den Chinesen gelungen, mit Hilfe der Vereinten Fronten-Strategie der Sowjetunion einige Niederlagen zu bereiten, von denen die Pakistan-Entschließung die vernichtendste war. Es gelang den chinesischen Vertretern nämlich, mit ihrem Antrag vom Dezember 1971 auf Einstellung der „bewaffneten Aggression Indiens" 104 Stimmen in der UNO-Vollversammlung zu gewinnen, während die indisch-sowjetische Seite nur 11 Gegenstimmen aufbrachte. Ideale Anlässe für gezielte Schläge gegen das internationale Ansehen der Sowjetunion boten aber auch die Diskussionen um die großen internationalen Probleme, die derzeit praktisch jeden Staat der Welt beschäftigen, und von denen hier drei Sektoren besonders hervorgehoben seien, nämlich — der Streit um den Meeresboden und die Meeresressourcen — Probleme des Handels und der Entwicklungshilfe — die Abrüstungsfrage
Auseinandersetzungen um ein neues Seerecht
Zu schweren sino-sowjetischen Auseinandersetzungen kam es anläßlich mehrerer Sitzungen des Unterkomitees des UNO-Meeresbodenausschusses, die in den Monaten März und April 1973 mit der Vorbereitung eines neuen Seerechts beschäftigt waren. Bei den ersten zwei Seerechtskonferenzen von 1958 und 1960 hatten viele asiatische und afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit noch nicht erreicht, so daß die damals ausgearbeiteten vier Genfer Konventionen nach Meinung der VR China „ausschließlich den Interessen der Supermächte dienten" und insofern als veraltet gelten können. a) Konvention über die Territorialgewässer Jetzige Situation:
Breite der Küstengewässer 12 sm Chinesischer Einwand: Wer eigentlich soll die Grenzen der Territorialgewässer bestimmen: die beiden Supermächte oder aber die einzelnen Anliegerstaaten in Übereinstimmung mit ihren besonderen Bedingungen? Auf den Genfer Seerechtskonferenzen von 1958 und 1960 wurden willkürlich 12 sm vorgeschrieben. Dabei seien jedoch die geographischen, geologischen und meeresbiologischen Besonderheiten sowie die Erfordernisse einer rationalen Nutzung der Ressourcen in den Territorialgewässern keineswegs berücksichtigt worden. Als Entwicklungsland habe China volles Verständnis für die Länder der Dritten Welt, wenn sie ihre Territorialgewässer bis auf 200 sm ausdehnten. Habe im übrigen nicht die Regierung der Sowjetunion am 21. 3.
1956 mit ihrem „Beschluß über den Schutz der Lachs-und Forellenressourcen im Fernen Osten umd über die Regelung der Fangmenge" eindeutig eine ausgedehnte Kontrollzone festgelegt, deren weitester Punkt sogar über 400 sm von der sowjetischen Küste entfernt liege? (Hier ist die sog. „Bulganin-Linie" gemeint, mit der vor allem japanische Fischer immer wieder in Konflikt kommen.) Die Sowjetunion habe also das Recht zur Schaffung exklusiver Wirtschaftszonen, andere Länder dagegen sollten zurückstehen? Was sei das für eine Logik! b) Konvention über das offene Meer Bisheriger Zustand: Im Rahmen der „Freiheit des offenen Meeres" gibt es bisher die sog. „vier Freiheiten", nämlich Freiheit der Schifffahrt, Freiheit des Fischfangs, Freiheit der Legung und der Haltung von Unterwassertelegraphenkabeln und Pipelines sowie Freiheit des Fliegens über dem offenen Meer.
Einwände Chinas: Diese Freiheiten dienten fast ausschließlich den beiden Supermächten. Die Sowjetunion arbeite z. Z. mit nahezu 100 riesigen Fabrikschiffen und fische ganze Meereszonen aus, so daß einige Länder (Lateinamerika, Island (!) und einige afrikanische Staaten) bereits in Alarmzustand geraten seien. Die „Freiheit der Meere" werde hier auf Kosten der nichtkonkurrenzfähigen Drittländer einwandfrei mißbraucht — gar nicht zu reden von den U-Boot-Operationen und anderen „Piratenakten" der Sowjetunion. c) Konvention über den Fischfang und den Schutz der Lebewesen im offenen Meer Bisheriger Zustand: Verbot einer „formellen oder tatsächlichen Diskriminierung der fremden Fischer"
Einwand Chinas: Diese Bestimmung diene in Wirklichkeit den Supermächten als legale Begründung für die Ausplünderung der Fischbestände anderer Länder. Die beiden Supermächte fischten mit ihren überlegenen Fang-flotten z. Z. die Küstengewässer anderer Länder ab und übten „Piratenakte" in großem Stil unmittelbar vor deren Tür. In den letzten Jahren habe die Sowjetunion großes Gewicht auf den Bau von Fischereischiffen der Klasse über 20 000 t gelegt. Die „Vostok" z. B., ein neues 43 000-Tonnen-Schiff, sei bereit, Meeresfische aus den reichsten Fischereigründen der Welt zu rauben, deren Bestände immer kleiner werden. Das Schiff sei mit Hubschraubern, Geräten für Infrarot-Photographie, Kühl-und Verarbeitungseinrichtungen sowie 14 Trawlern ausgerüstet. Müsse man hier nicht von einem „Mißbrauch" der Meeresfreiheit zu Ungunsten armer Drittländer sprechen? d) Konvention über den Kontinentalschelf Bisheriger Zustand: Zwar hat jedes Land das Recht der Nutzung des Kontinentalschelfs, doch ist dieses Recht durch viele Ausnahmebestimmungen durchlöchert. So darf z. B. die „internationale Schiffahrt" in diesem Bereich nicht behindert werden. Auch „rein wissenschaftliche Forschung" muß im Bereich des Kontinentalschelfs zugelassen werden.
Nach chinesischer Ansicht handelt es sich hier um eine geschickte juristische Konstruktion, die den Supermächten auch den Zugriff auf die Kontinentalsockelgebiete erlaubt. Mit ihren „Forschungsschiffen" habe die Sowjetunion beispielsweise das Kontinentalrecht zahlreicher Anliegerstaaten mühelos durchbrochen, Spionage getrieben und nach geeigneten Plätzen für Stützpunkte Ausschau gehalten
Auch auf dem gerade für Entwicklungsländer so wichtigen Gebiet der internationalen Wirtschafts-und Handelsbeziehungen gab es heftige sino-sowjetische Kontroversen. Eine günstige Gelegenheit zur Solidarisierung mit der Dritten Welt ergab sich hier im Zusammenhang mit der UNO-Konferenz für Entwicklung und Handel, die im April 1972 in Santiago de Chile stattfand und an der über 100 Länder teilnahmen. Die Chinesen schienen sich hier zunächst ganz auf die Vereinigten Staaten einzuschießen, wandten sich jedoch schon bald wieder ihrem Hauptfeind, der Sowjetunion, zu.
Die Rückständigkeit der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sei nicht Folge irgendeiner immanenten Krisenanfälligkeit, sondern unmittelbare Folge der Unterdrükkung und Ausplünderung von selten des Imperialismus und Kolonialismus. Diese Regionen verfügten über reiche Naturschätze und hätten einst blühende Kulturen beherbergt. Doch dann seien sie eingegliedert worden in den Prozeß der sogenannten „internationalen Arbeitsteilung" und seien zu Monokulturwirtschaften, Rohstofflieferanten und Absatzgebieten für Fertigprodukte der Industrieländer heruntergesunken. China habe dieses Schicksal selbst ein halbes Jahrhundert lang erleiden müssen. Sein gesamter Außenhandel, sein Eisenbahnwesen, zahlreiche Industriezweige seien von Ausländern beherrscht worden.
Doch dann habe sich das chinesische Volk von den drei großen Fesseln des „Imperialismus, des Feudalismus und des bürokratischen Kapitalismus" frei gemacht und folge nun ganz dem Prinzip der Autarkie. Ein solcher Kurs schließe keinesfalls aus, daß ein Land mit befreundeten Staaten Handel treibe und von ihm Entwicklungshilfe annehme. Doch müsse dies zu fairen Bedingungen geschehen.
Wer, wie die USA, künstlich die Preise für Rohstoffe drücke, mit allen Mitteln Kapital-ausfuhr betreibe, systematisch die Ressourcen anderer Länder plündere und seine Währungskrise auf andere Länder abwälze, müsse sich nicht wundem, wenn sich in den betroffenen Ländern Wiederstand rege. Dies gelte ebenso für die „andere Supermacht", der es gleichfalls darum zu tun sei, Länder, wie z. B.
Indien oder Ägypten unter ihre Kontrolle zu bringen
Besonders an den Praktiken der Sowjetunion gegenüber den COMECON-Ländern übt China heftig Kritik:
Das COMECON gilt als ein Werkzeug der Sowjetrevisionisten zur „brutalen Ausplünde-rung" mit neokolonistischen Methoden. Die von den Sowjets als „höhere Form der sozialistischen Arbeitsteilung" gerühmte „Spezialisierung" sei gleichbedeutend mit Kolonisierung.
Zur Abrüstungsfrage
Die sino-sowjetischen Auseinandersetzungen zur Abrüstungsfrage spitzten sich insbesondere während der Plenarsitzungen der UNO-Vollversammlung im November 1971 zu. China legte damals seine Vorstellungen in den folgenden sechs Punkten dar:
— Adressaten des Aufrufs zur Abrüstung könnten nicht alle Staaten in gleicher Weise sein. Waffen führten ja, wie allgemein bekannt sei, nicht von sich aus zum Krieg. Das Schlüsselproblem sei doch, in wessen Hand sie sich befänden, und welcher Politik sie dienten. Seien die Waffen in den Händen derjenigen, die eine imperialistische Politik betrieben, würden sie zu Werkzeugen für die Unterdrückung der Völker in den verschiedenen Ländern und für die Führung von Aggressionskriegen; befänden sie sich umgekehrt in den Händen der unterdrückten Völker, die sich zu verteidigen haben, würden sie zu einer Kraft für die Verteidigung des Friedens. Vor allem müßten daher die beiden Supermächte abrüsten. Wenn man schon von Abrüstung spreche, so müßten doch sie zuerst mit dem Abbau beginnen. Wer die Verantwortung für das Wettrüsten unterschiedslos allen Ländern auferlege und betone, im Falle einer Abrüstung müßten alle Länder abrüsten, zeige nur, daß er überhaupt nicht an Abrüstung denkt, sondern versucht, die große Anzahl von kleinen und mittelgroßen Ländern verantwortlich zu machen. Wenn der sowjetische Delegierte behaupte, daß alle jene Länder, die den „Vertrag über ein Teilverbot von Kernwaffentests" und den „Vertrag über Nicht-weitergabe von Kernwaffen" nicht unterzeichneten, die Verantwortung für die Verhinderung der nuklearen Abrüstung zu tragen hätten, so sei dies eine empörende Entstellung der Tatsachen, ja ein Betrugsmanöver.
Wieviel nukleare Rüstung habe die Sowjetunion eigentlich in den letzten Jahren abgebaut? Habe sie die in ihren Händen befindlichen Kernwaffen reduziert oder vermehrt?
Für zahlreiche unterdrückte Völker der Dritten Welt „ist heute das Problem von erstrangiger Bedeutung selbstverständlich nicht die Abrüstung, sondern die Verteidigung der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der Kampf um die nationale Existenzberechtigung. Die Anschauung, nach der alle Staaten Abrüstungsmaßnahmen treffen sollen, ohne daß zwischen Aggressoren und Opfern der Aggression, zwischen Drohenden und Bedrohten unterschieden werde, führe die Abrüstungsdiskussion auf Nebengleise und diene insofern dem Imperialismus.
— Die chinesische Regierung fordert das „allseitige, gründliche, restlose und entschiedene Verbot der Kernwaffen und ihre Vernichtung".
Um diese Forderung Wirklichkeit werden zu lassen, möge eine Konferenz der Regierungschefs aller Länder der Welt einberufen werden, die dann folgende Erklärung abgeben sollen: „Alle Länder der Welt, ob sie Kernwaffen besitzen oder nicht, erklären feierlich das allseitige, gründliche, restlose und entschiedene Verbot der Kernwaffen und deren Vernichtung. Konkret gesprochen, bedeutet das: keine Kernwaffen anzuwenden, sie weder aus-noch einzuführen, keine Kernwaffen zu erzeugen, keine Versuche mit ihnen anzustellen und sie nicht zu speichern. Alle vorhandenen Kernwaffen in der Welt und ihre Trägermittel müssen insgesamt vernichtet, alle bestehenden Institutionen, die sich mit Kernwaffenforschung, -versuchen und -erzeugung befassen, aufgelöst werden."
Viele Staaten der Welt hätten diesen schon seit 31. Juli 1963 auf dem Tische liegenden Vorschlag der VR China positiv befürwortet. Die beiden Supermächte dagegen wollten ihr Kernwaffenmonopol perpetuieren und hätten dem umfassenden chinesischen Vorschlag lediglich einige Teillösungen in Form des „Vertrags für das partielle Verbot von Kerntests" und des „Vertrags über die Nichtweitergabe von Kernwaffen" entgegengesetzt. Ihr Haupt-gedanke dabei sei, „Kernwaffen darf nur ich besitzen, ihr dürft keine haben”.
— Bevor aber alle Länder sich zum Kernwaffenverbot entschlössen, müßten vor allem solche Staaten, die Kernwaffen besitzen, die Verpflichtung übernehmen, nicht als erste gegeneinander oder aber gegen nichtnukleare Länder Kernwaffen anzuwenden. Die Errichtung kernwaffenfreier Zonen sei für sich genommen sinnlos, wenn nicht zuerst das Schlüssel-problem der Nichtanwendungsverpflichtung gelöst werde. — China entwickle Kernwaffen nur im Angesicht der nuklearen Bedrohung seitens der beiden Supermächte. Der chinesische Kurs sei: „Wir greifen nicht an, wenn wir nicht angegriffen werden; wer uns angreift, hat aber unbedingt mit unserem Gegenangriff zu rechnen .. . Bis zur Verwirklichung des allseitigen Verbots und der restlosen Vernichtung von Kernwaffen können wir keineswegs auf die notwendige Verteidigung verzichten."
— Das allseitige Verbot und die restlose Vernichtung der Kernwaffen — all das betrifft den Frieden und die Sicherheit aller Staaten der Welt. Bei einer solchen wichtigen Frage müssen daher alle Staaten, ob groß oder klein, ob sie Kernwaffen besitzen oder nicht, das gleiche Mitspracherecht haben. Zu keiner Zeit werde China sich damit einverstanden erklären, hinter dem Rücken der Staaten, die keine Kernwaffen besitzen, an den Verhandlungen der nuklearen Mächte über eine angebliche Kernabrüstung teilzunehmen. China besitze wenige Kernwaffen, es werde aber niemals dem sogenannten „Klub der Nuklear-mächte" beitreten. Statt dessen befürworte es die Einberufung einer Weltkonferenz, an der die Regierungschefs aller Länder teilnehmen sollten.
Der sowjetische Vorschlag auf Einberufung einer Weltabrüstungskonferenz sei abzulehnen, da eine solche Institution unvermeidlich zu einem Permanenz-Klub würde, wo ins Endlose diskutiert wird, ohne daß wesentliche Probleme eine Lösung finden. Internationale Abrüstungsverhandlungen seien schon seit vielen Jahren im Gange. Unzählige Konferenzen seien abgehalten und unzählige Deklarationen, Erklärungen und Abkommen publiziert worden. All diese Resolutionen aber seien nichts anderes gewesen als ein Fetzen Papier, mit dem die zwei Supermächte die öffentliche Meinung der Welt hinters Licht zu führen trachteten. Es sei an der Zeit, diese unrühmliche Situation zu beenden und endlich klare Schritte zu unternehmen. Die beiden Supermächte sollten deshalb vor der Weltöffentlichkeit die Verpflichtung übernehmen: Erstens zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als erste Kernwaffen einzusetzen und zweitens alle Streitkräfte aus dem Ausland zurückzuziehen und alle Militärbasen, insbesondere die Kernwaffenstützpunkte auf fremden Territorien, zu schleifen „Gerüchte um die chinesisch-sowjetischen Kriegsvorbereitungen" sind in den letzten Jahren so zahlreich verbreitet — und falsifiziert — worden, daß ich hier keine Eulen nach Athen tragen möchte. Nach 1969 hat hier Salisbury mit seinen Thesen die Konjunktur ausgenutzt, von denen sich bisher keine einzige bewahrheiten konnte. Erst in den letzten Tagen wiederum hat ferner der „Daily Telegraph" eine ausführliche „Dokumentation" zu systematischen Kriegsvorbereitungen Moskaus gegen China vorgelegt, die angeblich aus „erster Hand" in Moskau stammen. Was meine Arbeit anbelangt, so glaube ich, mit der Erörterung der sich gegenüberstehenden Truppen sowie der neuen chinesischen Strategie der „Abwehr auf zwei Beinen" (Volkskrieg und Nuklearkrieg) die Probleme genügend umrissen zu haben.
Auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der KPCh-Führung und ihre möglichen Auswirkungen führen allzusehr aufs Gebiet der Spekulation; denn nirgends lassen sich offiziell niedergelegte Verlautbarungen finden, in denen sich ein innerelitärer Meinungskonflikt zu Fragen des sino-sowjetischen Verhältnisses manifestiert. Ich könnte höchstens die verschiedenen Optionen erläutern, die China langfristig zur Verfügung stehen. Eine so allgemein und breitangelegte Erörterung aber widerspräche dem Charakter der von mir vorgelegten Arbeit, die ja gerade auf harten Fakten basiert und insofern die nüchterne Grundlage für evtl. Höhenflüge der Phantasie abgibt.
IV. China — Sowjetunion: Zukunftsperspektiven
In den vorausgehenden drei Abschnitten wurden hauptsächlich die Erscheinungsformen erfaßt, in denen sich die sino-sowjetische Feindschaft äußert.
Zum Schluß soll nun noch der Frage nachgegangen werden, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden Weltmächten in nächster Zukunft voraussichtlich weiterentwickelt. Dazu ist es nötig, wenigstens stichwortartig eine Gesamtschau des Konflikts seit 1949 zu geben; denn gerade aus chinesischer Sicht ist die Vergangenheit der beste Lehrer für die Zukunft.
Zwei große Erfahrungsbereiche sind es, aus denen der chinesische Entschluß, mit den Sowjets eine Politik des „Brinkmanship" (d. h.des „Bis-an-den-Rand-Gehens") zu treiben, auch in Zukunft Nahrung erhalten könnte. Der erste Bereich läßt sich unter dem Titel „unbewältigte Vergangenheit", der zweite unter der Überschrift „unbewältigte Gegenwart" wiedergeben. 1. „Unbewältigte Vergangenheit"
Bis zum Jahre 1968, das als bisher wichtigste Zäsur im sino-sowjetischen Verhältnis gelten darf, hat Moskau aus der Sicht Pekings eine Reihe von ideologischen und strategischen Sünden begangen, deren Register hier kurz dargestellt sei: a ) Zwischen 1949 und 1956:
Als die chinesischen Kommunisten 1949 auf dem Festland siegten, hatten sie in der sich gerade herausbildenden bipolaren Global-struktur keine andere Möglichkeit, als sich dem Sowjetlager zuzuneigen — und dies, obwohl Stalin stets auf einen Sieg Chiang Kaisheks gesetzt und überdies durch den Komintern-Apparat den Führungsanspruch Mao Tse-tungs viele Jahre hindurch in Frage gestellt hatte.
In seiner damals noch schwachen Position mußte China zahlreiche Opfer auf sich nehmen; so die — angesichts der überwältigenden Stärke Moskaus — beinahe „ungleichen" Verträge von 1950, die gewaltigen Folgelasten der sowjetischen „Hilfe" im Koreakrieg, die innenpolitischen Belastungsproben angesichts sowjetischer Spaltungsversuche (Kao Kang) und schließlich auch Demütigungen im Zusammenhang mit den immer wieder hinaus-gezogenen Vertragsversprechen von 1950 (Rückgabe Port Arthurs und Dairens sowie der Mandschurischen Eisenbahnen). b ) 1956— 1968:
Nach dem Tode Stalins nahm zwar das politische Gewicht Chinas schnell zu, doch mußte Peking gerade jetzt erfahren, daß Moskau nicht im Geiste des „proletarischen Internationalismus" handeln, sondern sich in allen wesentlichen Fragen vom wohlverstandenen Eigeninteresse leiten lassen wollte.
— 1956: Moskau verweigert den Chinesen jegliche Einflußnahme auf eine verschärfte Politik gegenüber osteuropäischen Ländern, insbesondere Ungarn (Aufstand 1956).
— 1957: Moskau hält sich nicht an sein Versprechen, die Chinesen bei der Herstellung eigener Atomwaffen zu unterstützen.
— 1958: Keine Quemoy-Hilfe. — 1959/62: Moskau stellt sich im chinesisch-indischen Grenzkonflikt auf die Seite Neu Delhis.
— 1959: Chruschtschow führt mit Eisenhower Gespräche in Camp David ohne vorherige Konsultation der Chinesen, die bei diesen den Verdacht einer „unheiligen Allianz" aufkommen lassen.
— 1960: Rückzug aller sowjetischen Techniker von einem auf den anderen Tag, mit der Folge, daß Dutzende von Verträgen zerrissen werden und Hunderte von Projekten als Ruinen Zurückbleiben. Schon vorher ungenügende oder zu teure Kapitalhilfe.
Hinzu kamen persönliche Animositäten: Mochten Einmischungsversuche und moskauzentriertes Verhalten unter der „Vaterfigur" Stalins noch tragbar gewesen sein, so wollten sich die selbstbewußten Chinesen von dem Regime Chruschtschows keine Lehren mehr erteilen lassen. Vor allem die auf dem XX. und XXII. Parteitag der KPdSU verkündeten neuen Dogmen (Vermeidbarkeit von Kriegen, friedlicher Übergang zum Sozialismus auf „parlamentarischem Weg", Entstalinisierung) stießen in China auf scharfen Widerspruch. Peking begann sich daher seit dem Ende der fünfziger Jahre immer mehr vom Einfluß Moskaus zu lösen. Wichtigste Marksteine auf dem Wege zur Unabhängigkeit von Moskau waren die „Politik der Drei Roten Banner" (Volkskommunenbewegung, Generallinie des sozialistischen Aufbaus, Politik des Großen Sprungs) und der zwischen 1960 und 1963 offen ausgetragene Ideologie-Konflikt, ferner die Entwicklung einer eigenen Kern-und Raketenrüstung (erste Atombombenexplosion 1964), die „sozialistische Erziehungsbewegung" auf dem Lande, die Verweigerung einer sino-sowjetischen Aktionseinheit im zweiten Indochina-Krieg, der seit 1964 voll angelaufen war, und schließlich die Kulturrevolution, bei der sowjetische Einflüsse u. a. in der Person des Erzrevisionisten Liu Shao-ch'i bekämpft wurden.
Bereits dieses „Sündenregister" Moskaus hätte wohl ausgereicht, die Atmosphäre zwischen den beiden kommunistischen Nachbarn auf Jahre hinaus zu vergiften. Die darauf folgende Entwicklung trug zur weiteren Entfremdung beider Mächte bei: 2. „Unbewältigte Gegenwart"
Infolge der dreijährigen Kulturrevolution (1966— 1969) hatte China sich außenpolitisch fast vollständig isoliert. In diesem Zustand der „Vereinsamung" traten drei Ereignisse ein, die auf Peking so alarmierend wirkten, daß es seither seine Außenpolitik fast ausschließlich von antisowjetischen Kriterien leiten läßt.
— Im August 1968 marschierten sowjetische Truppen in Prag ein.
— Kurze Zeit später folgte die sog. „Breschnew-Doktrin", deren Inhalt nichts anderes besagt, als daß Moskau aus Gründen des Proletarischen Internationalismus jedem sozialistischen Nachbarvolk gegen eine „revisionistische" Regierung zu helfen berechtigt sei, notfalls mit Waffengewalt. Diese „Doktrin" war nicht nur auf Prag, sondern ebensogut auf Peking anwendbar.
— Wie zur Bestätigung dieser bösen Vermutungen kam es dann wenige Monate später zu schweren Grenzauseinandersetzungen am Ussuri und in Sinkiang.
Mit dem Einmarsch in Prag hat sich aus chinesischer Sicht das „sozio-imperialistische" Wesen der Sowjetunion in aller Klarheit enthüllt. Nach dem chinesischen „Vereinte-Fronten" -Schema gab es nun neben dem wahren sozialistischen Lager, bestehend aus China, Albanien, Nordkorea, Nordvietnam und Rumänien sowie den beiden Zwischenzonen, zwei imperialistische Supermächte, von denen die Sowjetunion sogar die gefährlichere war. Von nun an galt es, eine verschwörerische Zusammenarbeit der beiden Großen zu verhindern, wobei sich eine beschränkte Annäherung an das — wegen seines kapitalistischen Charakters ohnehin dem Untergang geweihte — Amerika als momentan beste Lösung anbot. Die Aufnahme besserer Beziehungen auch zu den Ländern der Zweiten Zwischenzone entsprach der inneren Logik des neuen Kurses.
Das Eigengewicht dieser seit 1968 betriebenen antisowjetischen Isolierungsstrategie ist so groß, daß der einmal eingeschlagene Kurs sich nicht von heute auf morgen ändern läßt.
Ohnehin beharrt Moskau aus der Sicht Pekings ja weiterhin auf dem Plan einer schrittweisen Ausdehnung des sowjetischen Lagers unter Vermeidung eines Weltkriegsrisikos. Vor allem die Südasien-Politik Moskaus (Spaltung Pakistans, der Plan eines „kollektiven Sicherheitssystems in Asien") und die systematisch betriebene „Seewegestrategie" sind für Peking sprechende Beweise für das Fortbestehen der Expansionsabsichten Moskaus. Geht man bei der Frage nach der weiteren Entwicklung des sino-sowjetischen Verhältnisses von der derzeitigen Perzeption der chinesischen Führung aus, so kann es zu einem Tauwetter zwischen beiden Weltmächten nur kommen, wenn zumindest die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind:
— Moskau läßt sich auf eine befriedigende Grenzregelung sowie auf den Abbau seiner Truppenstärke an der Nordflanke Chinas ein.
— Moskau verzichtet auf Fortsetzung seiner „Seewegestrategie''und seiner sonstigen Versuche, durch gesteigerte „Zusammenarbeit" mit den Ländern Südost-und Ostasiens (Japan!) die Sicherheit Chinas sowie sein legitimes Bedürfnis nach Einflußnahme in den Nachbarländern weiterhin zu gefährden. — Moskau verzichtet auf seine Führungsrolle im Weltkommunismus.
Die seit 1969 laufenden Grenzgespräche sowie das seit 1970 wieder ansteigende Handelsvolumen sind angesichts der riesigen Mauer des Mißtrauens, das zwischen beiden Staaten steht, nur erste Schritte auf einem „Marsch von 10 000 Li".
Oskar Weggel, Dr. jur., geb. 1935 in Passau; Studium der Rechtswissenschaften (1954— 1958) in München und Erlangen; 1962 zweites juristisches Staats-examen in München, nach kurzer Tätigkeit als Rechtsanwalt Studium des Chinesischen an der Universität Bonn und anschließend (1965— 1967) zwei Jahre Sprachausbildung in Taiwan; seit August 1968 China-Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg, einem Institut des Auswärtigen Amtes. Veröffentlichungen: Die chinesischen Revolutionskomitees, Hamburg 1968; Zentralregierung und Provinzverwaltung auf Taiwan, Hamburg 1968; Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/1970; Massenkommunikation in der VR China, Hamburg 1970; Die Parteiausschüsse als Widersacher der Revolutionskomitees, siegt Lenin oder Rosa Luxemburg?, Hamburg 1970; Die Gesetzgebung in der VR China, Hamburg 1970; Der Kommunismus in Asien, Bonn 1970; Band V der Verträge der Volksrepublik China mit anderen Staaten (Mitherausgeber), Wiesbaden 1971; Kontrolle in der VR China, Hamburg 1971; China und das Völkerrecht, 21 Jahre Vertragspraxis, Hamburg 1972.
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