Die Kontrolle wirtschaftlicher Macht Heinrich Deist und das Godesberger Programm *)
Helmut Köser
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Zusammenfassung
Obwohl das Godesberger Programm der SPD von 1959 mehr denn je im Mittelpunkt inner- und außerparteilicher Diskussionen steht, ist Heinrich Deist, einer der „Väter des Godesberger Programms", heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Anläßlich des 10. Todestages des sozialdemokratischen Wirtschaftspolitikers untersucht der Verfasser anhand einer Darstellung der politischen Karriere und einer Analyse der wirtschaftspolitischen Konzeption von Deist dessen Einfluß auf die SPD und auf das Godesberger Programm. Er geht dabei von der aktuellen Frage aus, wie denn heute angesichts der Gegensätze und Konflikte in der SPD der „Grundkonsens von Godesberg" verstanden werden kann. Der „Rückgriff hinter Godesberg" macht deutlich, daß Deist verschiedene Richtungen des „freiheitlich-demokratischen Sozialismus" zur Synthese gebracht hat; diese Synthese aus Sozialismus und Marktwirtschaft macht die Stärke und Schwäche des Godesberger Programms aus, indem sie ein breites Spektrum politischer Handlungsmöglichkeiten bietet, eine bestimmte politische Praxis jedoch nicht zwingend vorschreibt. Der Grundkonsens von Godesberg steckt also eher den Rahmen ab, in welchem innerparteiliche Gegensätze ausgetragen werden können, als daß eine konkrete Anleitung zum Handeln gegeben wird. Schließlich nimmt der Verfasser Stellung zu der Frage, ob eine Wirtschaftspolitik in der Form, wie sie mehrheitlich von den Jungsozialisten angestrebt wird, mit dem Godesberger Programm zu vereinbaren ist. Aufgrund der Widersprüchlichkeit der bisher von den Jungsozialisten vorgelegten Konzepte kann hierauf keine eindeutige Antwort gegeben werden. Eine Annäherung zwischen der Partei und den Jungsozialisten im Sinne eines „linken Reformismus" (Glotz) und innerhalb des im vorliegenden Beitrag aufgezeigten Grundkonsenses erscheint jedoch möglich und notwendig.
Vorbemerkung
Selten hat ein Parteiprogramm so sehr im Mittelpunkt inner-und außerparteilicher Diskussionen gestanden wie das Godesberger Programm der SPD. Die unterschiedlichsten Richtungen und Gruppierungen innerhalb der Partei berufen sich auf das Godesberger Programm, wenn es darum geht, den jeweiligen Vorstellungen und Zielen Geltung zu verschaffen. Kommt dem Programm heute nur noch eine Legitimationsfunktion zu oder bietet es mehr, nämlich einen Grundkonsens, der die Grenzen innerparteilicher Konflikte und Gegensätze aufzeigt? Gibt es den immer wieder beschworenen „Boden des Godesberger Programms“, auf dem so ziemlich jeder Sozialdemokrat zu stehen vorgibt, oder muß das Programm als Alibi für innerparteiliche „Narrenfreiheit" herhalten? Seit der Verabschiedung des Grundsatzprogramms auf dem außerordentlichen Parteitag von Bad Godesberg im November 1959 hat sich die Fragestellung verschoben: Sah man im Godesberger Programm zunächst ein Symbol für die Anpassung der SPD an die restau-rativen Tendenzen oder für die Integra-tion der Partei in das politische System der Bundesrepublik Deutschland (mit jeweils negativer oder positiver Bewertung) so wird heute unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen mit den Jungsozialisten die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Gegensät-zen innerhalb der Partei gestellt. Hier lassen sich zwei grundsätzliche Positionen unterscheiden: l. die Anhänger der Konsensthese, die die Gemeinsamkeiten hervorheben, exemplarisch sei hier Peter Glotz genannt und 2. die Anhänger der Dissensthese, die die innerparteilichen Gegensätze für gravierend und bedenklich halten; für diese Position sei hier stellvertretend Alexander Schwan genannt
Beide gehen bei der Beantwortung der Frage, welche Richtung in der Partei vertreten sein können, vom Grundkonsens des Godesberger Programms aus, wobei dieser Konsens einmal weit und einmal eng ausgelegt wird. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, diese Frage nach dem Grundkonsens durch einen „Rückgriff hinter Godesberg" inhaltlich zu beantworten. Hierbei erfolgt allerdings eine Beschränkung auf die Entstehung des wirtschaftspolitischen Teiles des Godesberger Programms. Gleichzeitig soll in einem mehr zeitgeschichtlichen Bezug die Rolle und die Bedeutung von Heinrich Deist hervorgehoben und dargestellt werden, die Peter von Oertzen auf dem Godesberger Parteitag etwas überspitzt folgendermaßen charakterisiert hat: „Am Ende der Verhandlungen dieses unseres Parteitages bekommt, glaube ich, die Überschrift des Schlußabschnitts . Unser Weg’ eine ganz besondere Bedeutung. Es ist ja im Grunde die Besiegelung des Weges unserer Partei vom Eisenacher Programm von 1869 zum Godesberger Programm von 1959. Ich sage das jetzt ganz gewiß ohne Ressentiments und ohne die Absicht einer persönlichen Spitze: Es ist nach dem Willen der Mehrheit des Parteitages offensichtlich auch unser Weg von Karl Marx zu Heinrich Deist.“
I. Vom DGB zur SPD — Deists politische Karriere
Abbildung 2
VORBEMERKUNG II. III. DGB SPD. Karriere Macht. I. Vom Inhalt zur Deists politische Die Kontrolle wirtschaftlicher Deists wirtschaftspolitische Konzeption Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zwischen Marx und Deist? 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. Wirtschaftsexperten contra Partei-bürokratie Die Auseinandersetzung um den Sozialisierungs-Entwurf Deists Beitrag zum Godesberger Programm a. Die Beratungen der Programm-kommission b. Der-Führungswechsel in der SPD Theoretische Grundlagen: Gerhard Weissers „Theo益s
VORBEMERKUNG II. III. DGB SPD. Karriere Macht. I. Vom Inhalt zur Deists politische Die Kontrolle wirtschaftlicher Deists wirtschaftspolitische Konzeption Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zwischen Marx und Deist? 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. Wirtschaftsexperten contra Partei-bürokratie Die Auseinandersetzung um den Sozialisierungs-Entwurf Deists Beitrag zum Godesberger Programm a. Die Beratungen der Programm-kommission b. Der-Führungswechsel in der SPD Theoretische Grundlagen: Gerhard Weissers „Theo益s
Im folgenden geht es nicht allein um die Biographie eines Politikers, in welcher der „Aufstieg“ oder die Karriere vom unbekannten Wirtschaftsprüfer und Gewerkschaftler zum „Wirtschaftsminister“ im ersten Schattenkabinett Willy Brandts nachgezeichnet werden kann. Es soll ebenso die Rolle und die Bedeutung von Heinrich Deist für die SPD untersucht werden, die ihm als „einer der Väter des Godesberger Programms“ gleich nach seinem Tod sicher zu Recht zuerkannt wurde die sich darin aber nicht erschöpft. Es soll weiter gefragt werden nach den Bedingungen, die es Deist ermöglichten, seine politischen Vorstellungen eine derartige Beachtung und Verbreitung finden zu lassen, wie sie dem Godesberger Programm zukam und mehr denn je zükommt, ohne daß der Name Deist in diesem Zusammenhang heute überhaupt erwähnt würde. So sollen die individuellen Voraussetzungen, die Deist bei seinem Wechsel vom DGB zur SPD mitbrachte, zwar nicht unerwähnt, jedoch für die vorliegende Untersuchung unberücksichtigt bleiben: seine ersten politischen Erfahrungen im Hofgeismarer Kreis der Weimarer SPD und seine Mitarbeit an den „Sozialistischen Monatsheften“, dem von Eduard Bernstein gegründeten innerparlichen Oppositionsblatt seine Verwaltungserfahrungen, die er im Preußischen Innenministerium bis zu seiner Entlassung im Jahre 1933 sammeln konnte, seine ökonomischen Fachkenntnisse, die er sich durch sein Studium und durch seine Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer, als geschäftsführendes Mitglied der Stahltreuhänder-Vereinigung und als Mitarbeiter im Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften (WWI) erworben hatte; schließlich sein Talent, komplizierte ökonomische Vorgänge klar und verständlich auszudrücken und druckreif zu formulieren. 1. Wirtschaftsexperten contra Parteibürokratie Um die Frage beantworten zu können, wie es möglich war, daß Deist innerhalb von nur sechs Jahren und gerade in der Zeit von 1952 bis 1958 einen so überragenden Einfluß in der SPD gewinnen konnte, soll im folgenden die innerparteiliche Situation der SPD kurz skizziert werden Im Mittelpunkt steht dabei der Gegensatz zwischen der zen-tralen Parteiverwaltung und den Wirtschaftsexperten. Da die SPD als Oppositionspartei auf die Hilfe der Ministerialbürokratie nicht rechnen konnte, war sie gezwungen, sich einen eigenen Stamm von Fachberatern einzurichten. Dies ergab sich nicht allein aus dem Zwang, auf Bundesebene Gesetzesalternativen anbieten zu müssen, sondern auch aus der Notwendigkeit, für die bevorstehenden Wahlkämpfe Wahl-programme und für eine mögliche Regierungsbildung Regierungsprogramme an der Hand zu haben. Außerdem wurde in der Partei des öfteren der Wunsch nach einem Aktionsprogramm geäußert, in dem langfristige Ziele festgelegt werden sollten. Der Parteivorstand beschloß die Einrichtung von Fachausschüssen für verschiedene Fach-und Spezialgebiete und ernannte die Mitglieder, wobei er in der Regel den Vorschlägen des jeweiligen Referenten beim geschäftsführenden Vorstand folgte. Die personellen Grundlagen für diesen Expertenkreis wurden in den Jahren zwischen 1949 und 1953 gelegt, als das Wahlprogramm für die erste Bundestagswahl, der Entwurf für ein Sozialisierungsgesetz und das Aktionsprogramm von 1952 erarbeitet wurden. In den Fachausschüssen waren vertreten:
1. Bundesparlamentarier (MdB), 2. Landesparlamentarier (MdL), 3. die Regierungschefs der SPD-regierten Länder, 4. Oberbürgermeister SPD-regierter Kommunen, 5. Experten, die aufgrund eines Qualifikationsnachweises in die Fachausschüsse kooptiert wurden; diese Experten lassen sich in drei Gruppen einteilen: a) Minister und Senatoren der SPD-regierten Länder und Stadtstaaten, von denen die meisten zugleich Mitglied des Bundesrates waren, b) leitende Verwaltungsbeamte in der Ministerialbürokratie SPD-regierter Länder (Staatssekretäre, Ministerialdirektoren etc.), c) Vertreter wissenschaftlicher Institute.
Die Experten rekrutierten sich schwerpunktmäßig aus den hessischen, nordrhein-westfälischen und niedersächsischen Ministerien, ressortmäßig dominierten die wirtschafts-, sozial-und kulturpolitischen Fachleute. Im Mittelpunkt der Expertentätigkeit stand seit der Arbeit am Wahlprogramm von 1949 der Wirtschaftspolitische Ausschuss (WPA). Rudolf A. Pass, der am 1. Januar 1948 das Wirtschaftspolitische Referat beim Partei-vorstand übernahm, begann im Auftrag von Kurt Schumacher den Expertenkreis systematisch aufzubauen Er unterhielt eine umfang-reiche Korrespondenz mit einigen ihm bekannten Experten und gewann durch Hinweise und Empfehlungen einen ständig wachsenden Kreis von Mitarbeitern. Mit dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften wurde auf diese Weise auch Heinrich Deist in den Expertenkreis aufgenommen. Schon während der Arbeit am Wahlprogramm von 1949 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen einigen Experten und der zentralen Parteiverwaltung. Die Experten kritisierten, daß die von ihnen verfaßten Entwürfe vom Propaganda-Referat beim Parteivorstand für den Wahlkampf dermaßen umformuliert würden, daß sie die Verantwortung für das Programm ablehnen müßten Aus dem Schriftwechsel geht hervor, daß in der Parteizentrale ohne Wissen der Experten Änderungen vorgenommen wurden, insbesondere von Kriedemann und einigen Mitarbeitern des geschäftsführenden Vorstandes Kriedemann und Fritz Heine, Leiter der Propaganda-Abteilung des Parteivorstandes, waren darauf bedacht, hinsichtlich der bevorstehenden Bundestagswahl möglichst schnell programmatisches Material für die Parteipropaganda zu erhalten. So veröffentlichte Heine im „Sopade-Informationsdienst“ im Juni 1949 einen ersten Beitrag zum wirtschaftspolitischen Wahlprogramm der SPD und verschickte „Referentenmaterial“ für die Wahlredner der SPD
Das Propaganda-Material war im traditionellen Funktionärsstil der Weimarer SPD abgefaßt und sollte die Politik der „intransigenten Opposition“ Schumachers propagandistisch untermauern Pass hielt Schumacher über den Stand der Programmdebatte ständig auf dem laufenden und überließ dem Parteivorsitzenden die Entscheidung, wenn zwischen den Experten keine Einigung zu erzielen war Bereits das Wahlprogramm von 1949 verdeutlicht den beginnenden Einfluß der Experten auf die Programmatik der SPD, ein Prozeß, der sich mit der Kritik einiger Wirtschafts-und Finanzexperten am ersten Sozialisierungsgesetz-Entwurf und mit dessen Neufassung durch Deist fortsetzte und mit der Formulierung des Aktionsprogramms einen ersten Höhepunkt fand.
Die Bildung einer Kommission zur Erarbeitung eines neuen Parteiprogrammes Anfang 1952 erfolgte einerseits im Hinblick auf die Bundestagswahl im Herbst 1953 — es sollte erreicht werden, daß im Wahlkampf einheitliche Meinungen vertreten wurden —, andererseits in der Überzeugung, daß die Zusammenstellung wenigstens eines Aktionsprogramms auf der Grundlage des inzwischen erarbeiteten Programmaterials möglich war. Gleichzeitig arbeiteten die Expertengruppen am Sozialen Gesamtplan und am Sozialisierungsgesetz-Entwurf, so daß sich die Arbeit teilweise deckte. Schumacher zog insbesondere Viktor Agartz zu den Programmarbeiten heran und gab ihm den Auftrag, „für das Aktionsprogramm einige Ausarbeitungen fertigzustellen“ Im WWI des DGB wurden zahlreiche Aufsätze und Stellungnahmen zum Generalvertrag, zur Mitbestimmung, zum Lastenausgleich, zur Steuerreform und zur Agrarpolitik verfaßt, die Schumacher zugeschickt wurden und die dieser als Unterlagen für seine Reden und Programmbeiträge benutzte Da Agartz seine Einflußmöglichkeiten auf die Person Schumachers konzentrierte und sich an den Beratungen des Wirtschaftspolitischen Ausschusses nur selten beteiligte, konnten andere Wirtschaftsexperten wie Gerhard Weisser, Hermann Veit, Karl Schiller, Heinrich Deist u. a. ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen in den Programmberatungen entsprechend zur Geltung bringen Für Agartz dagegen bedeutete die Erkrankung und der Tod Schumachers im Jahre 1952 eine gewisse Isolierung.
Nach der Fertigstellung des Aktionsprogramms waren sich die Experten und der Parteivorstand weitgehend darin einig, daß das neue Programm nicht die Eindeutigkeit der Aussage besaß, die man sich eigentlich erhofft hatte. Es wurde bemängelt, „daß so-zusagen der geistige Mörtel für das Zusammenbinden der vielen Bausteine fehlt, welche die Spezialisten der Partei zusammengeholt haben“ Mehrfach wurde in den Debatten auch ausgesprochen, daß das ganze Programm unter den Leitstern einer tragenden Idee gestellt werden sollte. Damit war wie schon des öfteren seit 1945 die grundsätzliche Frage nach dem Selbstverständnis des „freiheitlich-demokratischen Sozialismus“ gestellt worden. 2. Die Auseinandersetzung um den Sozialisierungsgesetz-Entwurf Im Mai 1950 beschloß der Parteivorstand, einen Sozialisierungsausschuß zu bilden, der die Grundlagen für einen Gesetzentwurf zu Art. 15 GG erarbeiten sollte In dem Ausschuß waren Mitglieder des Parteivorstandes, des Wirtschaftspolitischen Ausschusses, der Bundestagsfraktion und des WWI vertreten Die Formulierung des Entwurfs wurde zunächst Harald Koch übertragen, der als hessischer Wirtschaftsminister am hessischen Sozialisierungsgesetz-Entwurf gearbeitet hatte und daher als Sozialisierungsexperte galt In den ersten Ausschußbesprechungen einigte man sich darauf, daß der DGB die Forderung nach Sozialisierung stellen, jedoch keinen eigenen Gesetzentwurf vorlegen sollte. Vielmehr sollten die Vertreter des WWI an der Erarbeitung des SPD-Entwurfs mitarbeiten Im Januar 1952 legte Koch seinen Entwurf dem Ausschuß vor und veröffentlichte im Februar einen Kommentar dazu im „Neuen Vorwärts“, da der Entwurf durch Indiskretion vorzeitig bekanntgeworden und Gegenstand heftiger Kritik vor allem von der Arbeitgeberseite und der CDU geworden war (Industrie-Kurier, Deutsches Industrieinstitut).
Kritik am Entwurf von Koch wurde jedoch auch vom WWI (Agartz) und von Heinrich Troeger geäußert Troeger bemängelte an dem Entwurf, daß eine Definition des Begriffs „Gemeineigentum" fehle. Auch H. -D. Ortlieb von der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft sei es noch nicht gelungen, eine befriedigende Definition zu geben Ferner sei die Verwendung des Begriffs „Sozialgemeinschaften“ für sozialisierte Unternehmungen nicht haltbar, da „Gemeinschaften“ außerhalb des Wirtschaftsrechts stünden, auch sozialisierte Unternehmungen seien „Gesellschaften“ Der Entwurf fördere zudem den branchensyndikalistischen Einfluß der Einzelgewerkschaften. Er übertrage betriebliche Funktionen auf die Bundesregierung, gebe dem Wirtschaftsminister wichtige Führungsbefugnisse für Betriebe und delegiere die Ministerialbürokra-tie in das betriebliche Management. Die Kritik von Agartz stimmte in fast allen Teilen mit der von Troeger überein. Während die Argumentation von Troeger jedoch rein inhaltlicher Art war, verfolgte Agartz darüber hinaus das taktische Ziel, eine sich unabhängig vom DGB entwickelnde Wirtschaftspolitik der SPD zu verhindern; er ließ Ende Oktober 1952 durch das WWI einen Gewerkschaftsentwurf über die Sozialisierung ankündigen, der innerhalb von sechs Wochen parlamentsreif sei Als erste erkannten Pass und Veit die Taktik von Agartz. Pass stellte fest, daß die „Taktik des Hinhaltens“ die Aktivität der SPD hemmen werde und die SPD keine Rücksicht nehmen könne auf ein gruppenegoistisches Programm des DGB Schließlich wurde noch der Hamburger Wirtschaftssenator Karl Schiller auf Betreiben von Pass zu den Beratungen hinzugezogen. Auf Schillers Beteiligung wurde großer Wert gelegt, da er im Bundesrat zum Problem der Kartellgesetzgebung ausführlich Stellung genommen hatte In den Diskussionen waren sich Schiller und Deist darüber einig, daß auch bei sozialisierten Unternehmen das Prinzip der Rentabilität unbestritten bleiben müsse
In einem Ende November 1952 gebildeten Koordinierungsausschuß zwischen Vertretern des Wirtschaftspolitischen Ausschusses und des WWI kam es schließlich zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Agartz und Veit, als Agartz mitteilte, daß das WWI und der DGB mit den Unternehmern und der Bundesregierung verhandelt hätte und Einigkeit über die Rechtsform sozialisierter Unternehmen im Falle einer Verabschiedung des Sozialisierungsgesetzes erzielt hätten. Daraufhin rief Veit erregt, daß die SPD von dieser Entwicklung nichts wisse und hier politische Fakten ohne die SPD geschaffen würden Ob Agartz und das WWI unter seiner Leitung eigenständige Politik betrieben oder auf Weisung des DGB-Bundesvorstandes handelten, kann hier nicht untersucht werden. Entscheidend für die Entwicklung der SPD war jedenfalls, daß Heinrich Deist sich nach dieser Auseinandersetzung von Agartz und dem WWI abwandte und in Übereinstimmung mit Veit einen neuen Entwurf auf der Grundlage des ersten SPD-Entwurfs verfaßte. Deist ging hierbei von der Realisierbarkeit des Entwurfs aus und meinte, man solle gewisse Grundbestimmungen und Prinzipien festlegen und ansonsten den Gesetzentwurf nicht mit gesellschaftsrechtlichen Einzelbestimmungen überladen. Es sei ein zweifelhaftes Unterfangen, bereits jetzt das gemeinwirtschaftliche Prinzip entwickeln und konzipieren zu wollen Der Deist-Entwurf wurde im April 1953 zuerst im Wirtschaftspolitischen Ausschuß und dann im Parteivorstand beraten und angenommen und am 2. Mai 1953 veröffentlicht. Bemerkenswert an dem Vorgang ist die Tatsache, daß die Bundestagsfraktion erst in der Endphase an den Beratungen beteiligt wurde, als der Entwurf praktisch fertiggestellt war Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß die Sozialisierungsdebatte zugleich eine grundsätzliche Debatte über wirtschafts-und gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen war. Der Wirtschaftspolitische Ausschuß betonte den Instrumentalcharakter der Sozialisierung und verzichtete vorläufig auf eine Definition des Begriffs „Gemeinwirtschaft“. In den folgenden Jahren machten sich sowohl Weisser wie auch Deist an den Versuch, den Gedanken der Gemeinwirtschäft und der Wirtschaftsdemokratie weiterzuentwickeln, um der Programmatik der SPD endlich eine theoretische und ordnungspolitische Grundlage zu geben (s. Kap. II/1-4). 3. Deists Beitrag zum Godesberger Programm a) Die Beratungen der Programmkommission Im Juni 1954 setzte der Berliner Parteitag durch die Annahme eines entsprechenden Antrages des Parteivorstandes eine Programmkommission ein, die den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms erarbeiten sollte Diesem Parteitagsbeschluß war innerhalb der Partei eine heftige Diskussion vorausgegangen, die sich an der Niederlage der SPD in der Bundestagswahl 1953 entzündet und zu einer spontanen Reformbereitschaft geführt hatte. Diese Reformbereitschaft war aus dem Bewußtsein heraus entstanden, nach der Wahlniederlage in eine Krisensituation geraten zu sein. Ein Krisenbewußtsein war bereits vorher latent vorhanden gewesen, durch den Schock des „schwarzen 6. September“ jedoch aktualisiert worden
Die Forderung nach einer „Reform an Haupt und Gliedern“ betraf sowohl die Parteiorganisation und das Erscheinungsbild (Image) der SPD in der Öffentlichkeit wie auch das Verständnis der Partei vom „freiheitlich-demokratischen Sozialismus“. Dessen Grundsätze und Ziele niederzulegen sowie das Verhältnis der SPD zum Staat, zu den Kirchen, zu den Gewerkschaften und den anderen Parteien in der Bundesrepublik klar zu formulieren, sollte Aufgabe der „Großen Programmkommission“ sein. Der Vorsitz dieser Kommission wurde Willi Eichler übertragen, der bereits den Kulturpolitischen Ausschuß leitete und den Vorsitz der Kommissionen des Aktionsprogramms innegehabt hatte. Eichler hatte ursprünglich an-genommen, daß die Programmkommission ihre Arbeiten bis zur Mitte des Jahres 1956 mit der Vorlage eines Entwurfs abschließen könne, um dann den Entwurf auf dem nächsten ordentlichen Parteitag zu verabschieden Die Arbeiten wurden jedoch durch die zeitliche Belastung der Mitglieder der Kommission, durch die Sommerpausen und die Vorbereitungen für die Bundestagswahl 1957 erheblich verzögert.
Entscheidend war jedoch, daß seit dem Berliner Parteitag die Grundsatzdiskussion in der Partei eingeschlafen war und der Geschäftsführende Vorstand glaubte, mit seiner demonstrativen Reformbereitschaft die Krisensituation überwunden zu haben. Erst der Schock der erneuten Wahlniederlage von 1957 mit der wiederauflebenden Grundsatzdiskussion führte zu einer Beschleunigung der Programmberatungen, die am 1. April 1958 abgeschlossen wurden.
Die Große Programmkommission konstituierte sich am 26. März 1955 und bildete mehrere Unterausschüsse. Der Unterausschuß für Wirtschafts-und Sozialpolitik wurde zunächst von Agartz geleitet, der seine Taktik des Hinhaltens erneut anwandte und den Ausschuß gar nicht erst einberief Dieser Taktik kam der Umstand entgegen, daß die meisten Ausschußmitglieder gleichzeitig dem Wirtschaftspolitischen Ausschuß angehörten und zeitlich und arbeitsmäßig überlastet waren. Nach mehreren Interventionen des Parteivorstandes wurde schließlich Agartz der Vorsitz genommen und Weisser übertragen, der die Arbeiten energisch vorantrieb und innerhalb eines Jahres zum Abschluß brachte. Dies war allerdings weniger sein Verdienst als das von Heinrich Deist.
Dem Ausschuß lagen bei seinen Beratungen die bisher gültigen Parteiprogramme, zahlreiche Reden und Schriften von wirtschafts-und sozialpolitischen Experten sowie die Arbeiten einiger Spezialausschüsse zu verschiedenen Teilproblemen zugrunde. Es wurden zunächst die Probleme diskutiert, die sich im Zusammenhang mit einer „Analyse der gegebenen Situation“ (Zeitanalyse), der Einigung auf bestimmte Grundwerte des demokratischen Sozialismus und den daraus resultierenden Forderungen stellen Die zentrale Frage lautete, inwieweit alle Parteimitglieder an diese drei Bereiche eines künftigen Grundsatzprogramms gebunden sein sollten. Hier traf der Ausschuß eine bemerkenswerte Feststellung, die zwar nie durch einen Parteitagsbeschluß legalisiert wurde, jedoch unter dem Aspekt der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit den Jungsozialisten besondere Aktualität erhält: „Wenn ein Programm . .. eine Analyse der gegebenen Verhältnisse und ihrer Entwicklungstendenzen bietet, so kann über die Aussagen dieser Analyse nicht im Sinne von gut’ oder . schlecht', sondern nur im Sinne von . wahr'oder . falsch'etwas ausgemacht werden. Wesentlich sind die Forderungen der Partei. Bejaht ein Parteimitglied diese Forderungen in der Hauptsache, ohne zugleich auch die dem Programm vorausgeschickte Analyse für richtig zu halten, so braucht dies kein Grund zum Austritt aus der Partei zu sein und kann nicht zum Ausschluß aus der Partei führen.“
Dieser Grundsatz wurde weiter ausgeführt mit der Feststellung, daß in der Partei ein Konsens über die Grundwerte bestehen müsse, daß jedoch die Begründung oder Herleitung dieser Werte durchaus vielfältig sejn könne. Damit standen die Programmberatungen ganz im Zeichen von Schumachers berühmter Ausgangsformel von 1945, in welcher er feststellte, daß man sowohl aus dem Geist des Kommunistischen Manifestes, aus dem Geist der Bergpredigt oder aus anderen Motiven Sozialdemokrat sein und werden könne
Im Widerspruch zu diesem Grundsatz stand der Versuch von Weisser, den Ausschuß auf seine Begründung der Werte festzulegen, was jedoch auf Ablehnung stieß. Weissers Verdienst lag darin, den Gedanken der „freien Gemeinwirtschaft“ und der „Wirtschaftsdemokratie“ in die Diskussion gebracht zu haben (s. Kap. II/l). Deist dagegen fand den Einstieg in die Beratungen durch seine Beiträge zur Sozialisierungsfrage, die zugleich grundsätzliche Beiträge zur Eigentumsfrage waren (s. Kap. II/4. a). Seine weitere Mitarbeit zeichnete sich dadurch aus, daß er die Beiträge und Entwürfe anderer mit seiner fundierten Sachkenntnis kritisierte. So war es nicht Deist, der den ersten Entwurf einer „Wirtschaftsordnung des freiheitlichen Sozialismus“ vorlegte, sondern der Göttinger Wirtschaftsprofessor Gisbert Rit-
tig, der dann allerdings von Deist mit der Begründung kritisiert wurde, daß der Entwurf nicht zeitbezogen sei, sondern ein völlig neues Wirtschaftsordnungsmodell enthalte Durch seine ständige Kritik manövrierte sich Deist in eine Situation, in der er dem Vorschlag, er selber solle doch auf der der vorliegenden Beratungsergebnisse den wirtschaftspolitischen Teil des neuen Grundsatzprogramms schreiben, nicht länger ausweichen konnte Er erklärte sich dazu schließlich bereit, sobald die Zeitanalyse vorgelegt worden sei Im Februar 1958 war der Deist-Entwurf fertig er wurde im Ausschuß beraten und in einer mehrmals überarbeiteten Fassung der Großen Programmkommission vorgelegt, die schließlich am 1. April 1958 den ersten Grundsatzprogramm-Entwurf zusammenstellte
Neben dem wirtschaftspolitischen Teil des Grundsatzprogramm-Entwurfs erarbeitete Deist gleichzeitig im Auftrag des Partei-vorstandes eine grundsätzliche Stellungnahme zur Wirtschaftspolitik, die der Partei-vorstand dem Parteitag in Stuttgart im Mai 1958 als „Entschließung“ vorlegte Diese Entschließung wurde vom Parteitag nach einer heftigen Diskussion, in der Deist seine Konzeption engagiert vortrug und verteidigte, mit großer Mehrheit angenommen Damit war zugleich ein zentraler Bestandteil des künftigen Grundsatzprogramms akzeptiert worden — beide Deist-Entwürfe deckten sich inhaltlich weitgehend —, bevor ein außerordentlicher Parteitag über das neue Grundsatzprogramm entschieden hatte. Diese Vorwegnahme der Entscheidung muß im Zusammenhang mit dem Führungswechsel in der Partei gesehen werden, der sich auf dem Stuttgarter Parteitag vollzog. b) Der Führungswechsel in der SPD Im Rahmen der Reform der Parteiorganisation war vor unter Eindruck — allem dem der hohen Wahlniederlage der SPD in der Bundestagswahl von 1957 — beschlossen worden, an 'die Spitze der Partei eine Führungsmannschaft zu stellen, die die parteiliche Kompo wie auch die parlamentarische -nente der SPD gleichermaßen verkörpern sollte. Das war neu in der SPD, denn bisher wurde die Parteiführung ausschließlich aus den Parteiorganen rekrutiert, deren Funktion sich allerdings in der Akklamation bereits getroffener Entscheidungen beschränkte. •Jetzt sollte die Fraktionsspitze qua Amt in einem neu zu schaffenden Parteipräsidium vertreten sein. Die Initiative für diese Änderung kam aus der Bundestagsfraktion. Auf ihrer konstituierenden Sitzung am 30. Oktober 1957 wählte sie drei neue stellvertretende Fraktionsvorsitzende: Fritz Erler, Carlo Schmid und Herbert Wehner Der Stuttgarter Parteitag stimmte mit einigen Modifikationen den Änderungsvorschlägen zu und wählte überdies einen personell stark veränderten neuen Parteivorstand Für Deist bedeuteten diese Änderungen eine günstige Gelegenheit, seinen immensen Arbeitseinsatz in Wahlerfolge umzusetzen. Bei seiner ersten Kandidatur für den Parteivorstand lag er nach der absoluten Zahl der Stimmen unter den ersten 10 von insgesamt 33 Kandidaten In das neue Parteipräsidium kam Deist durch den Umstand, daß er als Nachfolger von Wehner zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde und damit qua Amt dem Parteipräsidium angehörte. Wehner hatte dieses Amt niederlegen müssen, da eine Personalunion zwischen stellvertretendem Fraktionsund stellvertretendem Parteivorsitzenden nach der vom Stuttgarter Parteitag verabschiedeten Satzung nicht erlaubt war.
Auf dem Stuttgarter Parteitag wurden somit alle Weichen für die künftige Entwicklung der SPD gestellt: Aus dem neuen Parteipräsidium gingen im Bundestagswahlkampf 1961 einige „Minister“ des Schattenkabinetts hervor (Erler, C. Schmid, Deist), die nicht nur über parlamentarische Erfahrung verfügten, sondern auch an dem neuen Grundsatzprogramm maßgeblich mitgearbeitet hatten, von dessen Grundlage aus die künftige Politik der SPD gestaltet werden sollte.
Die Stellungnahmen, die aus der Partei zum Entwurf bei der Programmkommission eingingen, wurden zunächst von einer Redaktionskommission des Parteivorstandes gesammelt und gesichtet und schließlich zu einem neuen Entwurf verarbeitet Dieser Kommission gehörte auch Deist an, der somit die Gewähr hatte, daß der wirtschaftspolitische Teil nicht gegen seinen Willen geändert wurde. Das gleiche galt für die vom Godesberger Parteitag 1959 eingesetzte Redaktionskommission. So gelang es Deist, vom Beginn bis zum Schluß der Arbeiten und Beratungen am Godesberger Programm seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen und seinen Einfluß geltend zu machen. Die überwiegend unter redaktionellen Gesichtspunkten vorgenommenen Kürzungen und Umformulierungen des ersten Entwurfs sind allerdings so weitgehend, daß zum besseren Verständnis des wirtschaftspolitischen Teil des Programms der erste Entwurf sowie Deists Reden und Schriften herangezogen werden sollten.
Man kann zusammenfassend sagen, daß Deist seine politische Karriere in der Partei begann, jedoch über die Bundestagsfraktion in die Parteiführung gelangte. Dieser Weg muß im Rahmen des Wandlungsprozesses gesehen werden, den man als Parlamentarisierung der SPD bezeichnen kann Mit diesem Prozeß einher ging eine schrittweise „Entmachtung“ der Parteibürokratie. Die günstigen Voraussetzungen für die Partei-karriere des Wirtschaftsexperten waren in der zunehmenden Professionalisierung politischer Funktionen begründet
II. Die Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Deists wirtschaftspolitische Konzeption
Die theoretischen und programmatischen Grundlagen der SPD waren in den ersten Jahren nach dem Kriege ausgesprochen dürftig und diffus. Die Schwierigkeit bei der Erarbeitung neuer Programme lag darin, daß man einerseits „Lehren aus der Vergangenheit“ ziehen, andererseits am „Nullpunkt“ neu beginnen wollte; einige träumten von der „Einheit der Arbeiterklasse“, andere warnten angesichts der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED vor Einheitsfrontillusionen. Einerseits wurden „Antikapitalismus und Klassenkampf“ als wichtigste Kampfmittel gegen die „Restaurationsversuche der Bourgeoisie“ genannt, andererseits erschienen „Freiheit und Demokratie“ als erstrebenswerte Ziele angesichts der bitteren Erfahrungen mit totalitären Systemen Schließlich wollte man die in der SPD schon Tradition gewordene Diskrepanz zwischen radikaler Theorie und reformerischer Praxis überwinden und realisierbare Zielvorstellungen entwickeln, obwohl man nicht wußte, wie und von welchem Standort aus die Realität analysiert werden sollte
Die Situation der SPD wurde dadurch noch komplizierter, daß die zahlreichen aus dem Exil zurückkehrenden Splittergruppen in die Partei integriert wurden. Diese Exilgruppen hatten sich in der langen Zeit während des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges ideologisch isoliert und traten nun innerhalb der SPD mit einem gewissen Absolutheitsanspruch auf, was die Theorie-und Programmdiskussion außerordentlich erschwerte und der westdeutschen Öffentlichkeit ein verwirrendes und teilweise widersprüchliches Bild von der SPD bot Im Laufe der Jahre kristallisierten sich vier wichtige Gruppen heraus, die die Auseinandersetzungen bis zur Verabschiedung des Godesberger be Programms maßgeblich -stimmten:
l. Die „marxistischen Sozialisten“ um Viktor Agartz, die die Marx/Engels-Tradition in der SPD fortsetzen wollten und vom Klassenantagonismus ausgingen. Diese Gruppe war vor allem in ihrer wirtschaftspolitischen Konzeption widersprüchlich: Es gelang ihr nie, die Theorie-Praxis-Diskrepanz zu überwinden, was vor allem in der Planwirtschaft-Marktwirtschaft-Kontroverse und in der Sozialisierungsfrage deutlich wurde 2. Die „demokratischen Sozialisten“ um Kurt Schumacher, die sich im Anschluß an die Staatstheorien von Hermann Heller um ein neues Staatsverständnis bemühten Zu dieser Gruppe stieß der Kreis um Erich Ollenhauer, der den Exil-Parteivorstand in London geleitet hatte. In ihren ökonomischen Vorstellungen war diese Gruppe jedoch abhängig von den „marxistischen Sozialisten“.
3. Die „freiheitlichen Sozialisten“: diese Richtung wurde von Gerhard Weisser vertreten, der an Vorstellungen von Fritz Naphtali und Eduard Heimann anknüpfte, die diese am Ende der Weimarer Republik entwickelt hatten: die Übertragung der Prinzipien der politischen Demokratie auf den ökonomischen Bereich 4. Die „ethischen Sozialisten“ um Willi Eichler, die sich von den erkenntnistheoretischen Grundlagen des Marxismus abgewandt hatten, indem sie vom dialektischen Materialismus zum philosophischen Idealismus, vor allem auf Kant, zurückgingen; Wegbereiter dieser Richtung war der Göttinger Rechts-philosoph Leonard Nelson gewesen, auf dessen Wertaxiomatik die ethischen Sozialisten bei der Diskussion über die Grundwerte des demokratischen Sozialismus zurückgriffen
Welcher dieser Richtungen oder Gruppen ist nun Heinrich Deist zuzuordnen? Eine ein-deutige Zuordnung ist nicht möglich, vielmehr gelang es Deist — und darin liegt wahrscheinlich einer der Gründe für die Durchsetzung seiner Kozeption im Godesberger Programm —, eine Synthese aus den letzten drei Richtungen zu finden, die ohnehin in einer gewissen geistigen Nähe zueinander standen. 1. Theoretische Grundlagen: Gerhard Weissers „Theorie des freiheitlichen Sozialismus"
Während in den ersten wirtschaftspolitischen Programmen der SPD nach 1945 eine Neuorientierung vorerst nur in Ansätzen sichtbar wurde, gelang es Gerhard Weisser, in zahlreichen Reden, Schriften und Diskussionsbeiträgen eine Richtung des Sozialismus voranzutreiben, die er als „freiheitlichen Sozialismus" bezeichnete. Er wollte damit keine „neue sozialistische Lehre“ verkünden, sondern vielmehr einen Ausdruck finden für die „Neuorientierung des tatsächlichen Verhaltens deutscher Sozialisten nach den Erfahrungen mit dem Totalitarismus des Faschismus und des Bolschewismus“ Hierbei befand er sich in Übereinstimmung mit dem vom Exil-Parteivorstand der SPD in London proklamierten „freiheitlich-demokratischen Sozialismus“ und dem „demokratischen Sozialismus“ Kurt Schumachers. Weisser kam es jedoch entscheidend darauf an, der Programmatik der SPD eine theoretische, sozialwissenschaftliche Fundierung zu geben. So war es kein Zufall, daß Weisser — obgleich primär Wirtschaftswissenschaftler — nicht nur die wirtschaftspolitische Programmatik, sondern auch und vor allem die Theoriediskussion in der SPD maßgeblich beinflußte. Wenn auch der Versuch einer Theorie des freiheitlichen Sozialismus letztlich scheiterte und statt dessen nur partielle Theorien ökonomischer, pädagogischer und philosophischer Art entwickelt wurden, so kann man dennoch sagen, daß ohne die von Weisser gelegten Grundlagen die wirtschaftspolitische Konzeption von Heinrich Deist nicht so lückenlos in die Programmatik der SPD hätte eingebaut werden können.
In seiner Wirtschaftspolitik knüpft Weisser unmittelbar an den Stand der Diskussion am Ende der Weimarer Republik an. Die Sozialisierungskonzeption der SPD blieb bis zu diesem Zeitpunkt ohne jede theoretische Fundierung. Der praktische Sozialisierungsversuch von Wissell auf dem Wege der zentralistischen Planwirtschaft stieß innerhalb und außerhalb der SPD auf Widerstand und scheiterte ebenso wie die Sozialisierung auf dem Wege der Vergesellschaftung des zweiten Reichswirtschaftsministers Schmidt Dem „Zentralismus der Verwaltungsbürokratie" wurden auf der Hohensyburg-Tagung am 12. /13. Dezember 1931 zwei neue Leitbilder gegenübergestellt: die von Fritz Naphtali innerhalb des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) konzipierte „Wirtschaftsdemokratie“ und die von Weisser verkündete „freie Gemeinwirtschaft“ Beide wurden von dem Hamburger Nationalökonomen Eduard Heimann theoretisch begründet
Grundlegend für die neue Konzeption wurden drei Axiome, die von der Fries-Nelson-sehen Schule der Neukantianer hergeleitet wurden: Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft Das kulturelle Freiheitsaxiom findet nach Weisser seine Schranken in dem sittlichen Axiom der sozialen Gerechtigkeit Ausgehend von diesen Axiomen müsse eine Wirtschaftsordnung entwickelt werden, die marktwirtschaftlich und sozialistisch zugleich sei, in der die Privatinitiative des einzelnen nicht unterdrückt und eine Monopolisierung durch Gemeineigentum verhindert werde Wirtschaftsdemokratie werde verwirklicht durch „Ausgestaltung des wirtschaftlichen Rätesystems zur Durchführung eines Mitbestimmungsrechts der Arbeiterklasse an der Organisation der Wirtschaft“ Mit dem Untergang der Weimarer Republik fand auch diese Diskussion ein Ende. Weisser zog den Schluß, daß das Konzept des freiheitlichen Sozialismus wenn nicht gegen, so doch ohne Marx entwickelt werden könne, denn die Realisierung der Wirtschaftsdemokratie ermögliche eine Umwandlung des Kapitalismus ohne dessen vorherige Abschaffung Das Ziel der „nichtmarxistischen Sozialisten“ sei nicht die Diktatur des Proletariats, sondern eine sich evolutionär entwickelnde sozialistische Gesellschaft institutioneller Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit, in der der einzelne in Freiheit sich selbst bestimmen könne Es verdient hervorgehoben zu werden, daß sich Weisser bereits im Jahre 1947 sowohl von Neoliberalismus als auch von der zentralistischen Planwirtschaft distanzierte Der Individualismus des Neoliberalismus, wie er von der Röpke-Schule vertreten werde, sei abzulehnen, denn er führe zum Wirtschaftsegoismus und zu sozialer Ungerechtigkeit. Die Formel vom sich selbstregulierenden Markt und von der „Herrschaft des Verbrauchers“ sei eine liberale Ideologie, die die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse in der arbeitsteiligen, vermachteten Wirtschaft verschleiere. Um das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit durchzusetzen, sei Planung und Lenkung „mit der leichten Hand“ unentbehrlich Der Staat erhalte daher die zentrale Aufgabe, in der Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftlichen Mächten den Grundsätzen der Freiheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
Damit hatte Weisser einen Kerngedanken des Revisionismus übernommen und weiterentwickelt, daß nämlich Freiheit nicht jenseits des Staates beginne, sondern innerhalb der demokratischen Staatsform. Schon Eduard Bernstein hatte die Marxsche Theorie vom Absterben des Staates nach der Expropriation der Expropriateure als unrealistisch abgewiesen Für Marx war der Staat ein Instrument in der Hand der herrschenden Klasse. Für Bernstein dagegen war der Staat nicht an eine bestimmte Gesellschaftsklasse gebunden, sondern stets wandelbar und als Demokratie zum Sozialismus hin entwicklungsfähig. Der Sozialismus sollte kein Selbstzweck, sondern die Grundlage für die freie Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sein. Marx und die Marxisten gingen vom Klassenschema aus; die freiheitlichen Sozialisten waren auf das Individuum hin orientiert 2. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit Wie Weisser orientierte auch Heinrich Deist seine wirtschaftspolitische Konzeption an den Grundwerten „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“. Diese Werte werden bei Deist jedoch nicht von der neukantianischen Philosophie hergeleitet, sondern aus dem Versuch einer Abgrenzung des Sozialismus vom Neoliberalismus gewonnen Deist geht davon aus, daß für beide Richtungen „echte Demokratie ein weitgehendes Maß von Freiheit in allen Bezirken des gesellschaftlichen Lebens voraussetzt“ Freiheit bedeute nach neoliberaler Auffassung Entfaltung des Individuums in einer marktwirtschaftlichen Ordnung des vollständigen Wettbewerbs; wo dieser Wettbewerb nicht gegeben sei, müsse er mit marktkonformen Mitteln wiederhergestellt werden Dem hält Deist entgegen, daß eine so verstandene Freiheit die Freiheit weniger auf Kosten der Freiheit vieler bedeute. Freiheit, verstanden als Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen sei nur durch soziale Gerechtigkeit zu realisieren. Freiheit muß deshalb dort ihre Grenzen finden, wo sie den Aufbau einer gerechten Sozialordnung verhindert. „Freiheit im Sinne freier Entwicklungsmöglichkeiten für alle ist aber nicht denkbar ohne ein ausreichendes Maß gleicher Chancen. Wo nur einige wenige Mächtige die Chance freier Entwicklung haben, herrscht die Macht, die zur Willkür wird — nicht die Freiheit. Diese in einer wirklich freien Gesellschaft notwendige Bindung von Freiheit und Gleichheit, die den Machtmißbrauch ausschließt, nen-nen wir soziale Gerechtigkeit.“ Das Vertrauen der Neoliberalen auf den „unsichtbaren Automatismus der Marktwirtschaft“, durch den das Einzelinteresse und das Gesamtinteresse aller, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, zur Deckung gebracht werden, hielt Deist für naiv
Der Neoliberalismus verkenne die Tatsache, daß der Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft und die Entstehung marktbeherrschender Großunternehmungen die Gesamt-struktur der Wirtschaft entscheidend verändert und zu einem System von Abhängigkeiten und sozialer Ungerechtigkeit geführt hätten. Deist war sich darüber im klaren, daß hier Werte und Realanalyse ineinander-fließen, indem er hervorhebt, daß es ihm um die „politische Wertung von Fakten und damit um politische Entscheidungen“ gehe Erst wenn geprüft worden sei, inwieweit die Werte in der Wirklichkeit realisiert wurden, könnten programmatische Forderungen erhoben, Zielvorstellungen entwikkelt und die Mittel und Wege zur Erreichung dieser Ziele aufgezeigt werden Freiheit und Gerechtigkeit sind für Deist die „Bestimmungsgründe“ für die Wahl der wirtschaftspolitischen Mittel welche Mittel schließlich zur Realisierung der Werte angewandt werden sollen, hängt wiederum vom Ergebnis der Realanalyse ab 3. Realanalyse: Die Vermachtung der Wirtschaft a) Der Konzentrationsprozeß Die wirtschaftliche Struktur der modernen Industriestaaten ist nach Deist durch einen sich stetig steigernden Konzentrationsprozeß gekennzeichnet. Dieser Konzentrationsprozeß erfaßt nicht nur die Grundstoffindustrie und die sog. neuen Industrien wie vor allem die Chemie, sondern weite Bereiche der Massenerzeugung wie den Fahrzeugbau, die Elektrotechnik, die Lebensmittelproduktion usw. Deist unterscheidet zwischen der äußeren und der inneren Unternehmens-konzentration: Zu ersterer zählt er den Zusammenschluß bisher selbständiger Großunternehmungen (Fusion) sowie die Übernahme mittlerer und kleiner Unternehmen durch andere Großunternehmen. Zu letzterer gehört das ständig steigende Investitionspotential bestehender Großunternehmungen Dieser Prozeß der äußeren und inneren Unternehmenskonzentration macht erst zusammen die Gesamtwirkung aus, die für Deist ein „vorherrschendes Bewegungsgesetz der modernen Wirtschaft“ geworden ist
Die Gründe für die Konzentration sind nach Deist vielfältig: Sie liegen zum einen in den Möglichkeiten der technischen Leistungssteigerung, die sich aus der Verbindung von weitgehender Arbeitsteilung mit rationalisierter Massenerzeugung ergeben; dieses Antriebsmoment gelte insbesondere für die Automation Sie liegen zum anderen darin, daß nur große Unternehmen die Möglichkeit haben, sich die modernen technischen und wissenschaftlichen Hilfsquellen zunutze zu machen und weiterzuentwickeln Nur große Unternehmen verfügen über eine Finanzkraft, die zur Deckung des steigenden Investitionsbedarfs erforderlich ist. Demzufolge hat sich die Kapitalmarktstruktur derart verändert, daß der Kapitalmarkt vor allem den Großunternehmen zur Verfügung steht. „Hohe Investitionen und hohe Anlagenintensität steigern den Anteil der fixen Kosten, machen die Unternehmungen gegen Beschäftigungsschwankungen sehr empfindlich und legen den Unternehmen eine Politik nahe, die auf ständige Steigerung der Expansion und auf ständige Vollbeschäftigung zielt.“ Der Konzentrationsprozeß hat nach Deist nicht nur zur Bildung von Großunternehmungen geführt, er hat vielmehr die Gesamtstruktur der Wirtschaft entscheidend verändert. Denn die Großunternehmen „zwingen insbesondere nachgeordnete Wirtschaftsstufen, konkurrierende Wirtschaftsbereiche und Verbraucher zu Gegenmaßnahmen, die ihrerseits wieder jenseits vom freien Wettbewerb die Machtstruktur beein15 flussen. Damit ist die Vermachtung ein strukturelles Merkmal der modernen Wirtschaft geworden“ b) Das Problem der wirtschaftlichen Macht Damit hat Deist das für ihn zentrale Problem genannt, das Problem der wirtschaftlichen Macht. Er unterscheidet zwei Arten der wirtschaftlichen Macht von Großunternehmen: die externe und die interne Macht.
Zur externen Macht von Großunternehmen oder Unternehmensgruppen gehört: 1. Die Herrschaft über kleinere Unternehmen, die nicht über die gleichen Möglichkeiten auf dem Markt verfügen und somit von den Entscheidungen der Großen mehr oder, minder abhängig sind denn „wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keine freien Wettbewerbe" 2. Die Beherrschung des Marktes mit Hilfe der Investitionspolitik, der Produktionsplanung und der Preispolitik: „Kartellvereinbarungen, Preisbindungen bis zum Verbraucher und andere Mittel stehen zur Verfügung, um den nachgeordneten Unternehmensstufen ebenso wie dem Verbraucher die Preise aufzuzwingen. Wer nicht über gleiche Macht verfügt wie diese Großunternehmungen, hat nicht die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten in der Wirtschaft. Er ist mehr oder minder unfrei." 3. Die Beeinflussung der Meinungsbildung (Massenmedien) und der politischen Institutionen (Regierung, Parlament, Verwaltung) mit Hilfe der Unternehmerverbände, die ihre Kapitalmacht und ihre gesellschaftliche Stellung zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen können: „Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht ist auch politische Macht!“
Zur internen Macht von Großunternehmen zählt Deist die Ausübung von Herrschaft über die in den Betrieben arbeitenden Menschen. Je größer Unternehmen sind, desto größer ist der Zwang zur Organisation; solche Organisationen sind nach dem Prinzip der Uberund Unterordnung aufgebaut. „Letzte Entscheidungen liegen nur in der Hand jener kleinen Führungsgruppe, die allen anderen übergeordnet ist und damit Herrschaftsmacht über Tausende, manchmal Zehntausende, ja Hunderttausende von Menschen ausübt. Diese Herrschaftsmacht wird ausgeübt mit allen Mitteln der Beeinflussung nicht nur dessen, was die Beherrschten tun, sondern auch dessen, was sie denken und fühlen“
Weil die Unternehmen auf technische Organisation und wirtschaftliche Leistung ausgerichtet sind, werden die Möglichkeiten, innerhalb der Betriebe, ein ausreichendes Maß an freier Entwicklung, Mitbestimmung und Mitverantwortung für den einzelnen zu schaffen und zu sichern“, weitgehend außer acht gelassen Die in der Form von Aktiengesellschaften organisierten Großunternehmen werden, so stellt Deist fest, vom Management beherrscht. Das Stimmrecht der kleinen und mittleren Aktionäre ist nach Deist eine Farce, da das Management stets in der Lage sei, den Verlauf der Hauptversammlung zu bestimmen und die Wahl des Aufsichtsrats in seinem Sinne zu beeinflussen. „Es gibt also weder eine echte Legitimation noch eine wirksame Kontrolle der Vorstände“ c) Vielfalt trotz Vermachtung In dieser von den Großunternehmen beherrschten Wirtschaft gibt es aber immer noch kleine und mittlere Unternehmen des Gewerbes, des Handwerks, des Handels und der freien Berufe, in denen Millionen von selbständigen Unternehmern mit ihren mithelfenden Familienangehörigen tätig sind. Für sie ist Privateigentum eine wichtige Grundlage ihrer Unabhängigkeit und Freiheit Diese Unternehmen geraten jedoch zunehmend in den Sog der Großwirtschaft, so daß man eher von „Hintersassen der Industrie“ als von selbständigen Unternehmen sprechen müßte Gleichzeitig entstehen, vor allem durch die Veränderung der Produktionsmethoden bedingt, neue Betriebe des sog. neuen Mittelstandes, insbesondere in den schnell wachsenden Dienstleistungsbereichen. Die Entwicklungsmöglichkeiten dieses neuen Mittelstandes liegen nach Deist aber nur in einer Wirtschaftsordnung des freien Wettbewerbs und der gleichen Chancen, in der die Macht marktbeherrschender Großunternehmen zurückgedrängt wird Neben den privatwirtschaftlich organisierten und am Gewinn orientierten Unternehmens-formen nennt Deist noch die genossenschaftlichen und gemeinnützigen Unternehmen der freien Gemeinwirtschaft, die sowohl das Prinzip der Rentabilität wie auch soziale Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigen; schließlich wird auf die öffentlichen Unternehmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden hingewiesen, die dem Interesse der Allgemeinheit dienen
Den Gedanken Weissers vom „Gebildereichtum in der Wirtschaft“ aufgreifend, stellt Deist zusammenfassend fest, daß die moderne Wirtschaft nicht einheitlich strukturiert ist, sondern unterschiedliche Unternehmens-formen und verschiedene Unternehmensgrößen aufweist, die nach unterschiedlichen Prinzipien arbeiten Die Machtstruktur der Wirtschaft ist nach Deist monistisch, ihre Organisationsstruktur pluralistisch. Für ein sozialdemokratisches Modell der Wirtschaftsordnung folgert Deist hieraus: „Die Vielfalt der Wirtschaft verlangt eine Vielfalt von Ordnungselementen. Die moderne Wirtschaft kann sich nicht dem dogmatischen Totalitätsanspruch eines Ordnungsprinzips unterwerfen, das Allgemeingültigkeit beansprucht.“ „Es gibt in der vermachteten Wirtschaft von heute potentielle Gegenpositionen, die im Sinne einer freieren Gestaltung der Wirtschaft wirken und stärker aktiviert werden können.“
Man täte dieser Realanalyse von Deist Unrecht, würde man sie nach wissenschaftlichen Maßstäben beurteilen. Eine Beurteilung ist nur sinnvoll unter Berücksichtigung des Standortes, von dem aus die Analyse gemacht wurde. Deist geht bei seiner Analyse also nicht von der empirischen Frage aus, wie die Wirtschaftsordnung tatsächlich ist, sondern von der normativen Frage, ob in der bestehenden Wirtschaftsordnung Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht sind. Es ist allerdings eine Schwäche dieser Analyse, daß sie keine brauchbaren Kriterien angibt, mit denen sich feststellen läßt, wann ein Unternehmen oder eine Unternehmens-gruppe marktbeherrschend ist oder nicht, welches Unternehmen als ein großes, mittleres oder kleines anzusehen ist Wird der Begriff der Kontrolle bei Deist verhältnismäßig ausführlich erläutert, so bleibt der Machtbegriff relativ unklar; Deist entwickelt eine Typologie von Machtformen, gibt jedoch nur einige wenige Indikatoren zur Analyse und Messung von Macht an; Indikatoren, die entscheidbar machen, was als ökonomische und was als politische Macht bezeichnet werden kann, um dann in einem weiteren Schritt anhand der Grundwerte Mißbrauch von Macht feststellen zu können. Dies sind keine grundsätzlichen Einwände gegen das Deistsche Konzept und damit gegen den wirtschaftspolitischen Teil des Godesberger Programms, es soll hier vielmehr aufgezeigt werden, wie die von Deist konzipierten Grundlagen weiterentwickelt und präzisiert werden können und welche ordnungspolitischen Möglichkeiten in dem Konzept enthalten sind. 4. Die neue Wirtschaftsordnung: Sozialistische Marktwirtschaft a) Die Eigentumsfrage Deist entwickelt sein wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell anhand einer kritischen Analyse der Programme der SPD, wobei er das Kernproblem des Privateigentums an den Produktionsmitteln in seiner historischen Entwicklung verfolgt. Das Erfurter Programm der SPD von 1891 fordere noch die Vollsozialisierung, die grundsätzliche Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Das Görlitzer Programm von 1921 verzichte schon auf eine umfassende gesellschaftliche Strukturanalyse; die Sozialisierung im Sinne der Vergesellschaftung sei nicht mehr die zentrale Forderung. Im Heidelberger Programm von 1925 fehle die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus; der Grundsatzanteil des Programms sei stark dogmatisch, das Aktionsprogramm opportunistisch
Deist, der sich wie Weisser auf Eduard Heimann beruft, folgert, daß sich das „sozialistische Urteil über die Rolle des Privateigentums ändern müsse“, wenn sich seine Struktur und Funktion wandele. In der individualistischen Eigentumstheorie sei das Eigentum noch ein handfestes Individualrecht, das dem Eigentümer ein kaum begrenztes Verfügungsrecht bis zur Vernichtung der ihm gehörenden Sachen verleiht. Diese Eigentumstheorie beruht auf der Annahme einer „prästabilierten Harmonie zwischen individualistischem Eigennutz und Allgemein-wohl“ Inzwischen wurde jedoch erkannt, daß die individualistische Nutzung des Eigentums in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft nicht unbedingt und automatisch dem allgemeinen Wohl dient, sondern zum Mißbrauch wirtschaftlicher Macht und zu sozialer Ungerechtigkeit führen kann Aus dieser Erkenntnis heraus hat, so folgert Deist, die Rechtsphilosophie die sog. soziale Eigentumstheorie entwickelt, indem sie die Nutzungsund Verfügungsrechte an die Gesellschaft bindet (Sozialbindung) Mit dem Aktienrecht hat nach Deist der Gesetzgeber dieser Entwicklung bereits Rechnung getragen. In der Aktiengesellschaft beruhen Zuständigkeit und Umfang der Verfügungsrechte nicht mehr allein auf dem Privateigentum, sondern auf der durch Gesetz geschaffenen Gesellschaftsverfassung Deist stellt fest, daß die drei Funktionen des früheren Unternehmers heute auseinandergerissen worden sind: die Eigentümerfunktion liegt heute bei meist einflußlosen Aktionären, das Verfügungsrecht bei der Hauptversammlung, die tatsächliche Verfügungsgewalt beim Aufsichtsrat und Vorstand und die Unternehmensführung beim Management
Für die künftige Wirtschaftspolitik der SPD zieht Deist hieraus folgende Schlußfolgerungen: 1. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ist nicht die zentrale Ursache der Ungerechtigkeit in der heutigen Wirtschaftsordnung. Die grundsätzliche Beseitigung dieses Privateigentums würde kein wesentlicher Beitrag zum Aufbau einer gerechten Sozialordnung sein und die Gefahr größerer Unfreiheit heraufbeschwören.
2. Das Privateigentum an Produktionsmitteln hat im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung der Mittelschichten und unter dem Aspekt der volkswirtschaftlichen Produktivität Anspruch auf Schutz und Förderung, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung hindert
3. Das zentrale Problem sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist das Problem der Verfügungsgewalt über Privateigentum und die daraus resultierende wirtschaftliche und politische Macht. Die demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Macht ist die entscheidende Aufgabe sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. 4. Die Überführung in Gemeineigentum ist nicht mehr das sozialistische Endziel, sondern ein wirtschaftspolitisches Mittel unter vielen zur demokratischen Kontrolle der Wirtschaft. Gemeineigentum ist kein Dogma, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Notwendigkeit
5. Da das Schlagwort „Sozialisierung“ mit der Vorstellung einer grundsätzlichen Ablehnung des privaten Eigentums verbunden ist, empfiehlt Deist, die Formel „öffentliche Kontrolle“ zur Verdeutlichung sozialdemokratischer Vorstellungen zu verwenden
6. Privateigentum und Gemeineigentum schließen sich nicht aus, sondern sind sich gegenseitig ergänzende Bestandteile einer freiheitlich-sozialistischen Wirtschaftsordnung
b) Kontrolle als Schlüsselbegriff Damit wird der Begriff der „demokratischen“ oder „öffentlichen“ Kontrolle zum Schlüssel-begriff sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Dieser Begriff erhält seine inhaltliche Bedeutung aus dem Deistschen DemokratieVerständnis: „Das Wesen der Demokratie besteht gerade in der Kontrolle der Macht durch die Gemeinschaft — möge es sich dabei um kommunale, staatliche, militärische oder wirtschaftliche Machtpositionen handeln.“ Die Kontrolle dieser Machtpositionen muß durch demokratische Prinzipien legitimiert sein: „Öffentliche Kontrolle ist Kontrolle durch die Organe der Demokratie.“ Demokratie wird für Deist also erst durch verschiedene Kontrollmechanismen realisiert: Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat, Kontrolle der staatlichen Bürokratie durch das Parlament, Kontrolle des Parlaments durch den Bürger. Liegt hier ein auf die Legitimationsfrage reduziertes liberal-repräsentatives Demokratieverständnis nahe, so muß dabei berücksichtigt werden, daß für Deist dieses Kontrollsystem erst unter be-stimmten strukturellen Voraussetzungen effektiv wird, die die Realisierung der beiden Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen; liberal-repräsentative Demokratie wird also an die Normen des demokratischen Sozialismus gebunden. Für die Wirtschaftspolitik der SPD ergibt sich daraus die ordnungspolitische Konsequenz, die Wirtschaft so zu ordnen, „daß die notwendige öffentliche Kontrolle sich in einem Rahmen halten kann, der sichert, daß das öffentliche Interesse wirksam gegenüber den privaten Trägern wirtschaftlicher Macht durchgesetzt wird“
c) Ordnungspolitische Aulgaben Die ordnungspolitischen Aufgaben, die sich einer künftigen Wirtschaftspolitik der SPD stellen, bezieht Deist auf die Ergebnisse der oben skizzierten Realanalyse: Für eine vielfältige Wirtschaft kann es kein „allgemein gültiges Kontrollschema geben, sondern nur ein Bündel von Kontrollmöglichkeiten“ das stets von neuem an der Wirklichkeit überprüft werden muß und nicht dogmatisch starr angewandt werden darf. „Zwischen unserer politischen Doktrin und dem konkreten Handeln darf es keinen Zwischenhandel mit Antiquitäten geben. Unser praktisches Handeln muß sich ohne Bruch aus unserer politischen Konzeption ableiten las -sen.“ In diesem Zusammenhang nennt Deist folgende Kontrollmöglichkeiten: — Kontrolle durch Wettbewerb, — Kontrolle durch Mitbestimmung, — Kontrolle durch Publizität, — Kontrolle durch öffentliche Maßnahmen.
Kontrolle durch Wettbewerb In seiner Realanalyse war Deist zu dem Schluß gekommen, daß es keinen freien Wettbewerb gibt, wo das Großunternehmen vorherrscht; daher versteht Deist das Wettbewerbsprinzip als ein konstruktives Mittel zur Verhinderung von wirtschaftlicher Machtkonzentration: „Der demokratische Staat muß also Unternehmungen und Unternehmensformen stützen, die den Großmächten der Wirtschaft entgegentreten. Leistungsfähige mittlere und kleine Unternehmungen sind zu stärken, damit sie die wirtschaftliche Auseinandersetzung mit den Großunternehmungen bestehen können.“ Hierzu muß die gesetzliche und verwaltungsmäßige Benachteiligung dieser Gruppen beseitigt, ihr Zugang zum Kapitalmarkt erleichtert werden.
Grundlagen einer solchen konstruktiven Mittelschichtenpolitik sind nach Deist daher die grundsätzliche Anerkennung und Förderung des kleinen und mittleren Privateigentums, wie es schon das Dortmunder Aktionsprogramm der SPD festgelegt hatte die gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten durch eine wettbewerbsneutrale Steuerpolitik, die Beseitigung von Startungleichheiten, wie sie sich beispielsweise aus der Struktur des Kapitalmarktes und in dem Mißbrauch der Preisbindungen zweiter Hand ergeben Zum Programm der Paralysie-rung wirtschaftlicher Macht durch Schaffung von Gegenmacht gehört ferner die Förderung öffentlicher und genossenschaftlicher Unternehmen, die in die Lage versetzt werden sollen, den Wettbewerb zu stärken und der einseitigen Marktbeherrschung durch Großunternehmen entgegenzuwirken
Kontrolle durch Mitbestimmung Eine weitere Möglichkeit der Kontrolle wirtschaftlicher Macht sieht Deist in der unternehmensinternen Kontrolle, d. h.der Kontrolle der Unternehmensführung. Wo Entscheidungen getroffen werden, soll nicht nur das Produzenteninteresse zur Geltung kommen, vielmehr sollen auch die Interessen und Bedürfnisse der Konsumenten und der Arbeitnehmer in die Entscheidungen einfließen Eine derartige Demokratisierung der Unternehmensverfassung nach dem „Prinzip der Machtverteilung“ dient also sowohl der Unternehmenskontrolle als auch der „Mitwirkung der Menschen im Betrieb“ Mit dem Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in der Montanindustrie wurde für Deist ein erster Schritt getan. Gleichzeitig warnt er jedoch davor, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit einer Kontrolle der Gewerkschaften über die Betriebe zu verwechseln. „Ihre Aufgabe ist doch, eine de-mokratischere Unternehmensverfasung und damit Grundlagen für eine bessere Mitwirkung der Menschen im Betrieb zu schaffen. Wer den Gewerkschaften. . . die Kontrolle der Wirtschaft geben will, der macht sie zu einem öffentlichen Organ. Das führt zu einem Gewerkschaftsstaat, der mit echter, freier Demokratie, zu der wir uns bekennen, nichts mehr zu tun hat." Hatte Deist im ersten Entwurf des Grundsatzprogramms noch den Aspekt der Kontrolle durch Machtverteilung hervorgehoben, so wird im Go-desberger Programm die Mitbestimmungsfrage im Rahmen der Wirtschaftsdemokratie gesehen
Kontrolle durch Publizität Um den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht wirksam bekämpfen zu können, muß die Machtstruktur der Wirtschaft transparent gemacht werden. Durch gesetzliche Mittel soll der Staat in die Lage versetzt werden, die Großunternehmen zur Publizität zu zwingen sowie die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft daraufhin zu untersuchen, „wo, durch wen, mit welchen Mitteln und in welchem Ausmaße Macht ausgeübt wird" Die Informierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit gegen Machtmißbrauch jeglicher Art ist für Deist eines der wichtigsten Kampfmittel der Demokratie
Kontrolle durch öffentliche Maßnahmen Für Maßnahmen der öffentlichen Kontrolle wirtschaftlicher Macht gibt es nach Deist kein Generalrezept. Ausmaß und Formen der öffentlichen Kontrolle richten sich nach der Macht und der Bedeutung der zu kontrollierenden Unternehmen; im Interesse der Freiheit sollte kein schärferes Mittel angewandt werden als unbedingt erforderlich ist. Soweit fachliche Aufsicht (z. B. Gewerbeaufsicht und Versicherungsaufsicht) genügt, sollen nur Fachaufsichtsorgane zulässig sein. Wo der Wettbewerb eingeschränkt oder aufgehoben ist, muß eine wirksame Kartell-und Monopolkontrolle einsetzen. Soweit die Investitionen, der Absatz oder die Preisbildung im öffentlichen Interesse eine überbetriebliche Regelung verlangen, müssen entsprechende Lenkungsstellen und Kontrollorgane geschaffen werden Als letzte und stärkste Möglichkeit der öffentlichen Kontrolle nennt Deist die Überführung von Privateigentum in Gemeineigentum. Dieses Kontrollmittel soll nur für den Fall angewandt werden, „daß ein gesamter Industriezweig. . .
aus der nach privatkapitalistischen Prinzipien arbeitenden Marktwirtschaft herausgelöst und gemeinwirtschaftlichen Prinzipien unterstellt wird“ Eine solche Regelung hatte Deist für den Kohlenbergbau vorge-
schlagen Für die gemeinwirtschaftliche Ordnung von Unternehmen sollen folgende Richtlinien gelten:
1. Gemeineigentum ist nicht Staatseigentum;
die Verstaatlichung wird abgelehnt.
2. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen haben die Aufgabe, die Interessen der Gesamt-wirtschaft mit dem Interesse einer wirtschaftlichen Unternehmensführung und der Besserung der sozialen Lage der Belegschaften in Einklang zu bringen; in den Verwaltungsorganen sollen deshalb die verschiedenen Interessen vertreten sein.
3. Um wirtschaftlichen Zentralismus und Bürokratisierung zu vermeiden, sollen gemeinwirtschaftliche Unternehmen nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung und Dezentralisierung geordnet sein.
4. Im Rahmen der allgemeinen Wirtschaftspolitik und des Nationalbudgets erhält das zuständige Ministerium eng begrenzte, gesetzlich festgelegte Einwirkungsmöglichkeiten auf gemeinwirtschaftliche Unternehmen.
5. Gemeineigentum soll von den im demokratischen Staat legitimierten Organen kontrolliert werden; die Gewerkschaften werden als Kontrollorgan abgelehnt.
6. Privateigentum, das in Gemeineigentum überführt wurde, ist angemessen zu entschädigen
Auf die Frage, welche Wirtschaftszweige in Gemeineigentum überführt werden sollen, gibt Deist keine eindeutige Antwort; im Gegenteil: er warnt davor, sich in dieser Frage allzu fest zu binden, da sich die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung mancher Wirtschaftszweige schnell ändern könnten „Umfangreiche Soziali-sierungskataloge sind für eine Partei, von der der Nachweis erwartet wird, daß sie praktische Wirtschaftspolitik zu betreiben in der Lage ist, keine brauchbaren Mittel der Politik.“ Konkrete und verbindliche Vorschläge sollte die SPD in ihren Wahl-und Regierungsprogrammen der Öffentlichkeit vorlegen
Deist kam es vor allem darauf an, für die SPD allgemeine Grundsätze in der Sozialisierungsfrage zu entwickeln. So soll als erster Grundsatz gelten, daß Gemeineigentum an die Stelle des Privateigentums treten kann oder soll (nicht muß!), wo dieses seine gesellschaftliche Funktion nicht erfüllt Den Terminus „gesellschaftliche Funktion“ erläutert Deist am Beispiel des Kohlenbergbaus, den er für eine gemeinwirtschaftliche Lösung vorgeschlagen hatte Nach Deist standen im Kohlenbergbau privatwirtschaftliches Profitinteresse, Versorgung der Wirtschaft und der Bevölkerung mit Energie, die soziale Lage der Bergarbeiter und gesamtwirtschaftliches Interesse im krassen Widerspruch zueinander. Dem Konkurrenzkampf mit der Einfuhrkohle und dem O 1 entging die private Kohlenwirtschaft mit der Bildung des Kohle-Ol-Kartells, während der Staat zu den Mitteln der Subventionierung und des Schutzzolls greifen mußte. Die private Kohlen-und Olwirtschaft ist nach Deist in der Lage, ihre Interessen auf Kosten der Verbraucher auszugleichen, ohne daß der Verbraucher oder die öffentliche Hand einen Einfluß auf diese für die Gesamtwirtschaft so wichtigen Sektoren der Energiewirtschaft nehmen kann Die Energiewirtschaft sei jedoch längst zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden; daher sollte der Einfluß der Öffentlichkeit sowohl durch den Staat wie auch durch gemeinwirtschaftliche Unternehmensformen institutionalisiert werden. Hierin sieht Deist die Chance, die Macht der Konzerne und Kartelle zurückzudrängen. Die „gesellschaftliche Funktion“ des Gemein-eigentums liegt also zum einen in der Beschränkung privater wirtschaftlicher Macht und zum anderen im Schutz der wirtschaftlich Schwachen und Abhängigen.
Deist warnt jedoch davor, im Gemeineigentum ein Allheilmittel gegen wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit zu sehen. Man dürfe nicht so tun, „als wenn jedes private Großeigentum eine Herrschaftsmacht verleihe, die nur durch die Beseitigung des Privateigentums gebändigt werden könne“ „So wenig das Privateigentum für den Sozialisten ein Dogma ist, ist es das Gemein-eigentum. Für welche der beiden Formen man sich im Einzelfall zu entscheiden hat, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Gemein-eigentum an sich ist nicht das Ziel des demokratischen Sozialismus, es ist für ihn ein Mittel der Freiheit, Gerechtigkeit und des Wohlstandes.“
Damit hatte Deist eine klare Grenze gezogen zu den marxistischen Sozialisten, die das Privateigentum an Produktionsmitteln und die private Verfügungsgewalt darüber als die zentrale Ursache aller Ungerechtigkeit ansehen und die Sozialisierung als sozialistisches Ziel starr festlegen. Dieser Unterschied in der Ziel-Mittel-Relation dürfte einer der wichtigsten Unterschiede zwischen marxistischen und demokratischen Sozialisten nicht nur in der SPD sein In der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Richtungen haben es die marxistischen Sozialisten insofern leichter, als sie stets auf ein handfestes Allheilmittel zurückgreifen können, während die demokratischen Sozialisten mit der Betonung des Instrumentalcharakters der Sozialisierung deren jeweilige Zweckmäßigkeit und Angemessenheit nachweisen müssen, wobei allzu leicht die Gefahr eines pragmatischen Taktierens oder einer Flucht in Unverbindlichkeiten gegeben ist. d) Das marktwirtschaftliche Element: Planung und Wettbewerb In der Auseinandersetzung Deists mit dem Neoliberalismus war bereits deutlich geworden (s. Kap. II. 2.), daß das Bekenntnis zum Grundwert „Freiheit“ zwar die grundsätzliche Anerkennung des marktwirtschaftlichen Prinzips beinhaltet, daß jedoch — nach Auffassung von Deist — die etablierte marktwirtschaftliche Ordnung in der Bundesrepublik aufgrund der Konzentrations-und Vermachtungsprozesse weder zu einem freien Wettbewerb und schon gar nicht zu einer gerechten Sozialordnung geführt hätte. Das marktwirtschaftliche Prinzip sei heute nicht mehr durch marktkonforme Mittel, sondern nur durch staatliche Lenkungsmaßnahmen zu verwirklichen Die Wirtschaft sei überdies heute einer so großen Zahl exogener Einflüsse ausgesetzt, daß schon aus Gründen der außenwirtschaftlichen Verflechtungen auf staatliche Eingriffe nicht verzichtet werden könne Ein ständig wachsender Prozentsatz des Bruttosozialproduktes geht durch die öffentliche Hand; mit den Mitteln der Steuer-und Sozialpolitik, der Geld-und Kreditpolitik ebenso wie durch die Zoll-und Handelspolitik greift der Staat, so stellt Deist fest, in den Wirtschaftsablauf ein „Die Frage ist also nicht, ob lenkend in die Wirtschaft eingegriffen werden soll. Die Frage lautet allein: wer lenkt, zu welchem Ziel und mit welchen Methoden wird gelenkt?“
Bei der Beantwortung dieser Frage greift Deist auf Vorstellungen und Vorschläge zurück, die einige Jahre zuvor von Karl Schiller entwickelt worden waren (s. Kap. I. 2). Im Rahmen der Arbeiten am Dortmunder Aktionsprogramm hatte Schiller eine Verbindung von volkswirtschaftlicher Planung und einzelwirtschaftlichem Wettbewerb empfohlen, wobei unter Planung „die alljährliche Aufstellung des volkswirtschaftlichen Gesamthaushaltes (Nationalbudget) und die laufende Beobachtung seiner Verwirklichung“ verstanden wurde Deist versteht das Nationalbudget als eine Rahmenplanung, die der „Koordinierung der autonomen Kräfte der Wirtschaft und damit der Steuerung des Wirtschaftsablaufs“ dient In diesem Zusammenhang dürfe der Staat auf eine expansive und antizyklische Konjunkturpolitik nicht verzichten Produktivitätssteigerung, Vollbeschäftigung und Erhöhung des Lebensstandards müssen, so betont Schiller, im Mittelpunkt sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik stehen. Wie Weisser und Deist lehnt Schiller sowohl die neoliberale Marktwirtschaft als auch die zentralistische Planwirtschaft ab und konzipiert einen „dritten Weg", den er als „gelenkte Marktwirtschaft" bezeichnet Als Anhänger von J. M. Keynes und dessen Lehre von der globalen Steuerung des marktwirtschaftlichen Expansionsprozesses vertritt er die Formel: „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig!"
Was bei Deist tragende Pfeiler einer freiheitlichen und gerechten Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung sind, subsumiert Schiller unter staatlicher Wettbewerbspolitik; Ordnungsfaktoren werden zu Werkzeugen zur Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität. Schiller formuliert es deutlich:
„Außerdem sind beide, Planung und Wettbewerb, nur wirtschaftspolitische Instrumente, nur Lenkungsmittel, und nicht Ziel. Das Ziel ist die Steigerung des Volkswohlstandes in einer freien Gesellschaft.“ Eine derartige Reduzierung der Mittel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik auf die möglichst perfekte Handhabung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums und des Zieles auf den rein quantitativen Aspekt der Hebung des Lebensstandards entsprach nicht den Vorstellungen von Deist. Zwar stehen beide Positionen nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zueinander; der Unterschied liegt vielmehr in den Prioritäten und Akzenten. Für Deist spielten Fragen des Wirtschaftsablaufs und die Mittel und Methoden staatlicher Wirtschaftspolitik nicht gerade eine untergeordnete Rolle; seine Prioritäten lagen jedoch eindeutig im ordnungspolitischen Bereich. In den Beratungen über das Grundsatzprogramm gelang es Deist jedoch, die Beiträge von Schiller in seinen Programmentwurf einzubauen
III. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zwischen Marx und Deist?
1. Der Grundkonsens des Godesberger Programms Welches ist nun der Inhalt des Grundkonsenses des Godesberger Programms? Glotz nennt ihn den „alten, neoliberalen Konsens“, der charakterisiert sei durch den Glauben an die Lösung der sozialen Frage durch wirtschaftliches Wachstum, die Demokratie-theorie von Lipset, die liberalen Konflikt-theorien der fünfziger Jahre und den Antikommunismus der Koreakrise Beschränken wir uns auf den ökonomischen Bereich: Einen so definierten Konsens hat es in der SPD vor Godesberg nicht gegeben und ein so verstandener Konsens ist auch nicht im Godesberger Programm enthalten. Glotz überträgt vielmehr die „Ära Schiller“ (die in der Tat einseitig wachstumsorientiert war) auf die Vor-Godesberger Zeit und auf das Programm
Der Konsens von Godesberg bestand darin, daß der ordnungspolitische und der instrumentale Bereich sich nicht ausschlossen, sondern ergänzten; nur lagen die Prioritäten bei Deist anders als bei Schiller. In der Auseinandersetzung Deists mit dem Neoliberalismus (s. Kap. II/2) kommt sehr deutlich zum Ausdruck, daß Deist den Glauben an die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit durch die reine Maximierung des Sozialproduktes nie geteilt hat. Im Gegenteil: Er hat sein Konzept gerade gegen diesen verbreiteten Glauben entwickelt.
An diesem Grundkonsens hat sich nur insoweit etwas geändert, als heute der Gesichtspunkt der Umweltgefährdung berücksichtigt wird — ein Gesichtspunkt, der für die SPD so neu nun auch wieder nicht ist, sondern bereits im Jahre 1963 diskutiert wurde (als allerdings das Umweltbewußtsein der westdeutschen Bevölkerung noch unterentwickelt war und die SPD auf Unverständnis stieß) Konstatieren wir: Der „neue" Konsens, den Glotz als „linken Reformismus“ bezeichnet, ist nicht neu, sondern im Godesberger Programm durchaus enthalten; nur sollte die SPD, wenn sie Wirtschaftspolitik im Sinne des „geistigen Vaters“ Deist betreiben will, ihre Prioritäten im ordnungspolitischen Bereich setzen. Ansätze dazu wurden auf dem Parteitag der SPD in Hannover 1973 bereits deutlich. 2. Der Dissens zwischen demokratischen und marxistischen Sozialisten Nun zu den Fragen, die außerordentlich konflikterzeugend zu sein scheinen, will man den Befürchtungen glauben, die die Anhänger der Dissensthese äußern. Sie stellen in der Regel dem Godesberger Programm die Reden, Schriften und Beschlüsse der Jungsozialisten gegenüber, insbesondere die „Thesen zur Politischen Ökonomie und Strategie", die die Jungsozialisten auf ihrem außerordentlichen Bundeskongreß in Hannover im Dezember 1971 verabschiedet haben Hierzu ist zunächst zu sagen, daß das Godesberger Programm ein für die ganze Partei verbindliches Grundsatzprogramm ist, während es sich bei den „Thesen“ der Jungsozialisten eben um Thesen handelt, die innerhalb der Partei zur Diskussion stehen. Damit soll jedoch der Inhalt der Argumente hinsichtlich der Bedeutung des Dissenses nicht heruntergespielt werden
Alexander Schwan geht bei seiner Interpretation des Godesberger Programms von den Grundwerten Freiheit und Gerechtigkeit aus und nimmt eine Reihung der Werte vor, indem er Freiheit über Gerechtigkeit stellt mit der Begründung, daß Freiheit erst die „Voraussetzung und eigentlicher Inhalt“ für Gerechtigkeit sei Wer sich in der Entstehungsgeschichte des Programms auskennt, weiß, daß eine Wertrangfolge niemals beabsichtigt war und im Programm auch nicht vorgenommen wird. Die Werte stehen vielmehr gleichrangig nebeneinander und bedingen sich wechselseitig; letzteres wird von Schwan zwar richtig erkannt, jedoch sogleich wieder mit der nicht näher begründeten Feststellung relativiert, daß es ja eigentlich auf die Freiheit ankomme: „Das Erste unter ihnen, und das, worauf es eigentlich ankommt, aber ist die Freiheit der verantwortlichen Persönlichkeit in der demokratischen Gesellschaft“
Mit diesem Bekenntnis steht Schwan ganz in der Tradition liberalen Denkens, das eher dem Linksliberalismus der heutigen FDP als dem demokratischen Sozialismus der SPD zuzuordnen ist. Schwan geht offensichtlich davon aus, daß die Grundwerte des Godes-berger Programms und eine marxistische Analyse der Gesellschaft, wie sie die Jungsozialisten vornehmen, nicht miteinander zu vereinbaren sind. Nun zeigt die Entstehungsgeschichte des Programms, daß zwar die marxistischen Sozialisten im Laufe der Programmberatungen ausschieden und von Deist im wirtschaftspolitischen Teil auch nicht berücksichtigt wurden (insofern hatte von Oertzen mit seiner Bemerkung „von Marx zu Deist“ die Entwicklung richtig gesehen), daß damit jedoch nichts darüber ausgesagt war, ob marxistische Analysen (was immer man darunter verstehen mag) innerhalb der SPD überhaupt noch möglich waren oder nicht. Die Programmkommission hatte in Anlehnung an die bekannte Ausgangsformel von Schumacher ausdrücklich erklärt, daß man innerhalb der Partei aufgrund unterschiedlicher Begründungen der gemeinsamen Grundwerte zu unterschiedlichen Analysen der Gesellschaft kommen könne; entscheidend für den Zusammenhalt der Partei seien die gemeinsamen Forderungen (s. Kap. 1/3. a). Ähnlich formulierte es Wolfgang Roth auf dem Parteitag der SPD in Hannover: „Was für mich entscheidend ist, was von der überwältigenden Mehrheit der Jungsozialisten verstanden und akzeptiert wird, ist die Tatsache, daß das Godesberger Programm auch ein theoretischer Programmkompromiß ist. Das heißt aber, daß das Godesberger Programm die Entwicklung von politischen Konzeptionen auf der Basis marxistischer Analyse ausdrücklich zuläßt... ich will damit sagen: die Jungsozialisten versuchen nicht, ihre Analyse — dazu gibt es schließlich auch noch unterschiedliche Auffassungen — zu verabsolutieren, sondern sie versuchen, sie auf der Basis des Godesberger Programms als Teildiskussion innerhalb dieser Partei zu verstehen."
Halten wir fest: Ein Dissens in der Gesellschaftsanalyse ist für die SPD tragbar und ertragbar oder, wie Glotz es richtig formuliert: „Die Analyse ist nicht schon die Grundlage der Theoriediskussion, kann die eigentliche Diskussion nicht ersetzen. Die Theorie-diskussion muß sich beschäftigen mit dem Ziel." Das aber heißt doch nichts anderes, als sich mit den konkreten Forderungen auseinanderzusetzen, die zur Erreichung des Ziels, der Gesellschaftsordnung des demokratischen Sozialismus, aufgestellt und realisiert werden sollen. Es soll daher am Beispiel der Sozialisierungsfrage gezeigt werden, inwieweit dieser Konfliktgegenstand den Grundkonsens des Godesberger Programms zu sprengen in der Lage ist. 3. Sozialisierung — Mittel oder Ziel?
Es war oben festgestellt worden, daß für Deist die Frage der Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Angemessenheit war und nur dann als begründet gelten konnte, wenn die Monopolstellung von Unternehmen oder Wirtschaftszweigen bzw.der Mißbrauch wirtschaftlicher Macht nachgewiesen war.
Deist hatte stets vor fertigen Sozialisierungskatalogen gewarnt und immer wieder betont, daß die Sozialisierung ein Mittel neben anderen zur Verwirklichung des Zieles einer gerechten Sozialordnung sein könne. Dieser Instrumentalcharakter der Sozialisierung wurde im Godesberger Programm festgehalten; er bedeutete umgekehrt eine grundsätzliche Anerkennung des Privateigentums an Produktionsmitteln einschließlich der privaten Verfügungsgewalt mit der Einschränkung der Sozialbindung des Eigentums.
Die 18. These der Jungsozialisten zur politischen Ökonomie lautet dagegen: „Die Demokratisierung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, die die Vergesellschaftung notwendig einschließt, ist also auch heute noch der entscheidende Hebel zur Abschaffung des kapitalistischen Systems. Die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel taugt in seiner allgemeinen Form jedoch nicht dazu, die Massen für eine sozialistische Politik zu gewinnen“ * Hier taucht also offensichtlich die traditionell-marxistische Vorstellung wieder auf, daß mit der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln zugleich das kapitalistische System beseitigt sei. Diese Vorstellung entspricht nicht der erwähnten Mittel-Ziel-Relation des Godesberger Programms, da sie das Ziel ausschließlich auf diesen Punkt starr festlegt; die in dieser These gemachten Einschränkungen sind rein taktischer Art. überdies wird hier wieder die alte Kapitalismus-Sozialismus-Dichotomie beschworen, die das Godesberger Programm überwunden hatte. Diesen Dissens hat Peter von Oertzen klar erkannt, als er auf dem Parteitag in Hannover erklärte: „Dort (auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten, d. Verf.) hat der Genosse Johano Strasser in seinem Strategiereferat in einer Auseinandersetzung mit nichtdemokratischen Tendenzen erklärt, die Aufhebung, ich sage die Aufhebung, des Privateigentums an Produktionsmitteln sei für ihn die unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus ... müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dieser Begriff des Sozialismus, nämlich der umfassenden Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, nicht der Sozialismusbegriff unseres gegenwärtigen Grundsatzprogramms ist“
Nun wird die 18. These des Juso-Papiers jedoch durch die 32. These wieder eingeschränkt:
Die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel soll mit den Mitteln der Mitbestimmung, der Wirtschaftsplanung, der Investitionskontrolle und der Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien aufgehoben werden Diese „Forderungen“ entsprechen nun wiederum denen des Godesberger Programms (mit Ausnahme der Bezugnahme auf die Schlüsselindustrien), sodaß hier ein Widerspruch zwischen Theorie/Analyse und konkreten Forderungen konstatiert werden kann.
Angesichts dieser Widersprüchlichkeit bleibt den Jungsozialisten nichts anderes übrig als den Versuch zu machen, Theorie und Praxis einander näher zu bringen. So verdienstvoll es ist, die in der „Ära Schiller“ verschüttete Theoriediskussion in der SPD wieder „ausgegraben“
zu haben, so sollte man beim Austrag der Gegensätze nicht den bewährten Grundkonsens von Godesberg aus den Augen verlieren; er beinhaltet alle die Möglichkeiten, die heute mit dem Schlagwort „dritter Weg" bezeichnet werden. Der hier vorgenommene „Rückgriff hinter Godesberg"
sollte ein Versuch sein, diesen Grundkonsens zu verdeutlichen.
Helmut Köser, Dr. phil.; geb. 1940 in Oldenburg (Oldb.); Akademischer Rat am Seminar für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg/Br.; Mitglied der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Veröffentlichungen: Die Grundsatzdebatte in der SPD von 1945/46 bis 1958/59. Entwicklung und Wandel der Organisationsstruktur und des ideologisch-typologischen Selbstverständnisses der SPD. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Diss. phil., Freiburg/Br. 1971; Empirische Parteienforschung — Versuch einer systematischen Bestandsaufnahme, in: W. Jäger (Hrsg.), Partei und System. Eine kritische Einführung in die Parteienforschung, Stuttgart 1973; Parteien und Verbände in westlichen Demokratien, in: W. Jäger, a. a. O.; Demokratie und Elitenherrschaft (in Vorbereitung).