Friede und Konflikt in der Gesellschaftslehre Ein Diskussionsbeitrag zum Lernfeld Internationale Politik in den Hessischen Rahmenrichtlinien | APuZ 20/1974 | bpb.de
Friede und Konflikt in der Gesellschaftslehre Ein Diskussionsbeitrag zum Lernfeld Internationale Politik in den Hessischen Rahmenrichtlinien
Ernst-Otto Czempiel
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Zusammenfassung
Die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre sind auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen inhaltlich und theoretisch problematisch. Sie geben weder ihre wissenschaftstheoretische Position noch ihr erkenntnisleitendes Interesse bekannt, begründen auch die Auswahl der Probleme nicht. Der Alternativentwurf entwickelt als erkenntnisleitendes Interesse einen komplexen Begriff des Friedens, der durch zunehmende soziale Gerechtigkeit und abnehmende Gewalt bestimmt wird. Diese Zielvorstellungen soll die Gesellschaftslehre demzufolge mit Priorität behandeln. Die Studie erarbeitet sodann einen umfassenden Konfliktbegriff, der nach Inhalten und Modi der Regulierung differenziert wird. Die Modi sind insofern maßgebend, als sie über die Prozeßmuster des Internationalen Systems entscheiden; konventionell ausgedrückt: über Krieg und Frieden. Daraus wird das oberste Ziel der Außenpolitik abgeleitet: die Prozeßmuster auf dem Kontinuum der Konfliktaustragsmodi in Richtung stets geringerer Grade von Gewalt zu verschieben. Der geringste Grad ist die Herrschaft des legitimen Rechts, Integration dementsprechend das — zunächst — verläßlichste und geeignetste Prozeßmuster. Diese theoretischen Ableitungen werden auf das Internationale System der Gegenwart und seine Subsysteme angewandt. Mit der Kategorie der Relevanz, gemessen am Ausmaß der Betroffenheit, werden für die Bundesrepublik drei Lernzielzusammenhänge ausgewiesen: Mitteleuropa, Verhältnis Erste und Dritte Welt, Westeuropa, und ihnen die Prozeßmuster der Koexistenz, der Kooperation und der Integration zugewiesen. Ihre politischen Inhalte werden skizziert. Abschließend wird in der Strategie des Systemwandels systematisch zusammengefaßt, wie dieser Ansatz die Aggregationsniveaus: Einzelner, Staat, System, und die analytischen Niveaus: Innenpolitik, Außenpolitik, Internationale Politik, miteinander verbindet und darin Erkenntnis und Motivation zu erzeugen vermag.
I. Einleitung
Mit der Vorlage der zweiten Fassung der Hessischen Rahmenrichtlinien „Gesellschaftslehre" für die Sekundarstufe I (RR) kann nun hoffentlich auch die Diskussion in eine zweite, strenger sachbezogene Phase eintreten. Sie sollte weniger den Interessen einzelner Parteien dienen als der Frage, wie die Gesellschaftslehre in einer fortschrittsorientierten, aber pluralistisch verfaßten Demokratie ausgestaltet werden kann.
Der Diskussion besonders bedürftig ist der Bereich der Internationalen Beziehungen, das „Lernfeld IV: Intergesellschaftliche Konflikte". Dieses Lernfeld wird schon in der Bezeichnung verfehlt. „Intergesellschaftliche Konflikte" würde das Feld nur dann abdecken, wenn man jeden gesellschaftlich relevanten Prozeß als Konflikt auffaßt und die unterschiedlichen Stadien politischer Befindlichkeit nach den Qualitäten der Konfliktlösung abstuft. Von solcher Geschlossenheit ist in den RR nichts zu spüren; sie verbleiben im Rahmen eines weitgehend konventionellen, nicht einmal problematisierten Konfliktbegriffs, der sich anhand der ausgewählten Beispiele wohl genauer als ein antagonistischer Konflikts-Begriff bezeichnen ließe. Damit fällt aus dem Einzugbereich des Lernfeldes alles heraus, was nicht als antagonistischer Konflikt zu gelten hat, beipielsweise der Gesamtbereich der europäischen Integration.
Nicht nur das. Da die RR ein Gesamtkonzept von internationalen Verläufen oder intergesellschaftlichen Konflikten nicht einmal andeuten, bleibt die Auswahl der von ihnen angebotenen Lernzielzusammenhänge eklektisch. Man kann sie genau so wenig diskutieren, wie man über einzelne Mosaiksteine urteilen kann, hinter denen das Bild fehlt. Die Auswahl wird nur scheinbar begründet, wenn auf unterschiedliche Schwierigkeitsgrade der einzelnen Themen hingewiesen wird. Sicher trifft zu, daß die Wirkung nationaler Vorurteile und die Funktion des Sports für die Völkerverständigung didaktisch sinnvolle Anknüpfungspunkte darstellen und relativ leichter zu behandeln sind als die eigentlichen Bereiche der internationalen Politik. Für sie gilt, daß sie alle außerordentlich komplex und dementsprechend schwierig zu behandeln sind, um so mehr, als wir über gesicherte Kenntnisse nur in den wenigsten Fällen verfügen.
Das Problem des Krieges wird aber nicht leichter dadurch, daß man es nach Sparta und Athen zurückverlagert; das Problem der Entwicklungsländer ist keineswegs einfacher als das des Ost-West-Konflikts. Muß es zunächst befremden, daß sich die RR in der Komplexität ihres Gegenstandes so wenig auskennen, so kann schon gar nicht akzeptiert werden, daß die Problemauswahl mit — auch noch unhaltbaren — Schwierigkeitsgraden begründet wird. Das didaktische Hauptproblem aller politischen Bildung besteht darin, die stets hoch komplexen Phänomene der Politik linear und unverzerrt so weit zu transformieren, daß sie der Aufnahmefähigkeit der Schüler unterschiedlicher Altersstufen zugänglich werden. Das schließt eine Abstufung nach Erfahrungsfeldern nicht aus, sondern ein. Innerhalb dieser Felder können aber die Sachverhalte nicht nach Graden ihrer Komplexität ausgewühlt werden — schwierig sind sie schließlich alle. Selektionskriterium kann nur der Bezug zwischen dem Problem und dem Lernenden sein. Anders ausgedrückt: Die Auswahl der Lernziel-zusammenhänge muß inhaltlich und nicht nur praktisch begründet werden, soll sie diskussionsfähig sein.
Ferner ist kritisch anzumerken, daß auch die zweite Fassung der RR keine Auskunft gibt über die wissenschaftstheoretischen Ausgangspositionen der Autoren sowie vor allem über ihre erkenntnisleitenden Interessen Solche Aussagen sind aber unerläßlich. Sie zeigen erstens das politische und gesellschaftliche Gesamtkonzept, in dem die einzelnen inhaltlichen Ergebnisse erst ihren eigentlichen Stellenwert offenlegen. Zweitens ermöglichen solche Aussagen die Diskussion dieses Gesamt-konzepts und die daraus abgeleiteten Folgerungen durch die Gesellschaft. Sie wird nur auf diese Weise instandgesetzt, Lernziele zu prüfen, anzunehmen oder abzulehnen; gleichzc. -tig demonstrieren erst solche Aussagen, daß ein sozialkundliches Konzept nicht autoritcr verfügt, sondern als eines unter mehreren akzeptablen demokratisch zur Diskussion gestellt wird.
Angesichts solcher Defizite liegt es nahe, auf eine Einzelauseinandersetzung mit den RR für dieses Lernfeld zu verzichten und statt dessen einen eigenen Entwurf zu versuchen. Er nimmt vieles von dem auf, was in den RR auch enthalten ist. Er geht aber über sie hinaus, indem er sich bemüht, das Gesamtkonzept anhand des erkenntnisleitenden Begriffs des Friedens zu entwickeln, diesen Begriff sowie den des Konflikts zu diskutieren und beide aufzutragen auf Lernfelder, die nach einem inhaltlich abgeleiteten Kriterium der Relevanz abgesteckt werden.
Der nachfolgende Entwurf beruht auf dem empirisch-analytischen Ansatz in den Sozial-wissenschaften der von anderen, etwa dem dialektischen vornehmlich durch die Stellung zur Werturteilsproblematik, getrennt ist: Werte können nicht wissenschaftlich, also mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit abgeleitet werden, sondern werden vom Wissenschaftler gesetzt und vor der Gesellschaft verantwortet. Auf diese Weise lassen sich gesellschaftliche Legitimität, die für den Fortschritt, und politische Entscheidungsfreiheit, die für den Pluralismus erforderlich sind, miteinander verbinden.
Die auf einer solchen Entscheidung beruhenden Werte sind hier Gerechtigkeit und Freiheit, und zwar in einer Verbindung, wie sie etwa der demokratische Sozialismus seit 1959 formuliert hat. Von dieser politischen Wertsetzung aus wird das oberste erkenntnisleitende Interesse formuliert: Es richtet sich auf (den Frieden, verstanden als Prozeßmuster des internationalen Systems, in dem die Gerechtigkeit als Gleichheit der Entfaltungschancen des einzelnen zunimmt und die Gewalt, als Einschränkung seiner Freiheit, sich mindert Unter diesem Begriff des Friedens wird das internationale System hier analysiert und auf Verwirklichungschancen für entsprechend gerichtete Strategien hin befragt. Dieser Friede ist das oberste politische Ziel. Demnach bilden die auf seine Verwirklichung gerichteten Verhaltensweisen das oberste Lernziel der Gesellschaftslehre. Gesellschaftslehre auf dem Gebiet der Internationalen Politik kann nur Friedenslehre sein. Gerechtigkeit und Freiheit, oder in der Terminologie der Friedensforschung: der Abbau struktureller wie direkter Gewalt müssen in der Gesellschaft nach innen wie nach außen bewirkt werden. Darauf ist dementsprechend das Erkennen in der Gesellschaftslehre zu richten, daran sind die einzelnen Lernziele zu orientieren. Zu ihnen gehört selbstverständlich auch die Befähigung zur Selbst-und Mitbestimmung, die die RR fordern. Diese ist aber nur ein Lernziel unter zahlreichen anderen, und keinesfalls das oberste. Das oberste Lernziel kann statt dessen nur lauten, sich so zu verhalten, daß soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit in ihrer dialektischen Zuordnung gleichzeitig realisiert werden, und zwar nicht nur für die jeweils eigene Gesellschaft, sondern auch für die umliegenden Gesellschaften und schließlich für die ganze Welt. Ein solches Lernziel läßt sich nicht auf eine einfache und griffige Formel bringen. Es ist notwendigerweise ebenso komplex wie das politische Ziel des Friedens selbst. Friedenspolitik versucht die internationale Gesellschaft so zu organisieren, daß ihre inter-und intragesellschaftlichen Strukturen kontinuierlich die Entfaltung des einzelnen besorgen. Konventionell aüsgedrückt, muß Friedenspolitik die Innenpolitik, die Außenpolitik und die Internationale Politik in ihrer wechselseitigen Verflochtenheit berücksichtigen. Dieser komplexe, interdependente Zusammenhang muß dementsprechend von der Friedenslehre bei der Anlage und der Anordnung ihrer einzelnen Lernziele reflektiert werden. Das oberste Lernziel, den Frieden als Zunahme von Gerechtigkeit und Freiheit zu bewirken, ruft also eine beträchtliche Menge instrumental gerichteter Lernziele ab, die ein einschlägiges Verhalten auf den drei Ebenen der Innenpolitik, der Außenpolitik und der Internationalen Politik zu erkennen geben und damit einüben sollen.
Selektiert Friede als erkenntnisleitendes Interesse also die Fragestellungen und Hypothesen allgemein, so wird die Auswahl der Anwendungsgebiete, der Lernzielzusammenhänge in der Sprache der RR, bestimmt vom Kriterium der Relevanz. Es läßt sich mit der Kategorie des Betroffenseins ausdrücken. Relevant für den Bundesbürger sind diejenigen Prozesse, Von denen er — aktiv oder passiv — betroffen wird. Relevanzen lassen sich also abstufen nach Graden der Betroffenheit.
Wenn es auch in'einer hoch interdependenten Welt kaum einen Vorgang gibt, von dem eine Industriegesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland nicht berührt wird, so wird sie doch keinesfalls von jedem Vorgang gleichmäßig betroffen, betreffen die Folgen ihres Verhaltens (oder Nicht-Verhaltens) die Welt nicht überall gleich. Vielmehr zeichnen sich drei Relevanzzonen ab: die des Ost-West-Konflikts, des Nord-Süd-Konflikts und die Westeuropas. Warum sie in dieser Abfolge angeordnet werden, wird später noch zu erläutern sein. In ihnen jedenfalls wird die Bundesrepublik: Deutschland betroffen, in diesen Zonen ist Friede als oberstes Ziel zu verwirklichen. Ordnet man ihnen, vorwegnehmend, die unterschiedlichen Prozeßmuster zu, deren Durchsetzung und Einübung entsprechend den unterschiedlichen politischen Befindlichkeiten dieser Zonen als Friede zu bezeichnen ist, so läßt sich das Lernfeld Friede in die drei Lernzielzusammenhänge gliedern: 1. Friede in Mitteleuropa (als Koexistenz)
2. Friede zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern (als Kooperation) 3. Friede in Westeuropa (als Integration)
Ihrer Darstellung vorauszuschicken ist ein Blick auf den Friedens-und den Konfliktbegriff selbst; ferner müssen die Relevanzen begründet werden. Schließlich verdient der strategische Aspekt, obwohl er immer schon mitbe-handelt wird, seiner Bedeutung und bisherigen fast totalen Vernachlässigung wegen, eigens behandelt zu werden.
II. Friede und Konflikt
Wenngleich es inzwischen als trivial gilt festzustellen, daß Friede ebensowenig definiert werden kann wie Gesundheit, so kann der Politikwissenschaftler ebensowenig wie der Mediziner darauf verzichten, die Richtung anzugeben, in der die jeweiligen Ziele wissenschaftlicher Arbeit gesucht werden müssen. Andernfalls bleibt Wissenschaft völlig beliebig, und die von Orwell als negative Utopie skizzierte Situation, in der der Krieg als Friede gedeutet werden kann wird zum wissen-schaftlichen Alltag. Ansätze dazu sind durchaus erkennbar, etwa in der sogenannten revolutionären oder ähnlich argumentierenden Friedensforschung Absurdität oder Plausibilität solcher Argumente hängen entscheidend von der Richtung ab, in der die neuen gesellschaft-liehen Verhältnisse gesucht werden. Implizit ist diese Ausrichtung ohnehin vorhanden, und hinter dem Hinweis auf die Unmöglichkeit, sie näher zu bestimmen, steckt nur zu häufig die Abneigung dagegen. Eine aufklärende Lehre von den Internationalen Beziehungen muß sich statt dessen an einem Friedensbegriff orientieren. Bleibt er auch notwendig unvollkommen (was für den empirisch-analytischen Ansatz, der nicht vorgibt, die . objektiven Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zu kennen, ohnehin selbstverständlich ist), so gibt er doch darin seine gesellschaftlichen Absichten und die zu ihrer Verwirklichung abschätzbar erforderlichen sozialen Kosten bekannt. Indem er sich und sie zur Diskussion stellt, reklamiert er nicht, wie es viele heute tun, den Fortschritt für sich nur verbal; er versucht ihn zu verwirklichen.
Friede wurde oben schon kurz bezeichnet als ein Prozeßmuster des Internationalen Systems, das gekennzeichnet ist durch zunehmende soziale Gerechtigkeit und aonehmende Anwendung von Gewalt. Ist diese Bestimmung auch sehr allgemein — ich habe mich an anderer Stelle ausführlicher mit ihrer Konkretisierung beschäftigt —, ordnet sie doch die beiden Probleme einander zu, die den Begriff des Friedens inhaltlich konstituieren: die soziale Gerechtigkeit als Ziel und die Gewaltfreiheit als Mittel zu ihrer Realisierung.
Für die Theorie der Internationalen Beziehungen ist an dieser Definition dreierlei interessant:
Erstens: Sie ist prozessual und deswegen nicht relativistisch. Sie trägt vielmehr dem Faktum Rechnung, daß Entwicklung die Kontingenz aller Politik darstellt, und zwar im Zwanzigsten Jahrhundert mehr denn je. Von jedem erreichten Grad der Gerechtigkeit und der Gewaltminderung aus werden sich neue Möglichkeiten zu ihrer weiteren Vervollkommnung erblicken lassen. Gleichzeitig ergibt sich aus dieser prozessualen Bestimmung, daß die Zielsetzung auch den Zeitfaktor mitberücksichtigen muß. Vielfach besteht der Unterschied zwischen Reform und Revolution lediglich in den Zeitabschnitten, die dem sozialen Wandel zugebilligt werden. Die durch die Zeitverknappung erhöhten Kosten können in dieser Definition ebenso sichtbar gemacht werden wie die mit dem Hinweis auf die erforderliche Zeit argumentierenden Absichten der Zielverweigerung. Zweitens: Diese Definition prätendiert nicht, daß es jemals eine vollendete Gesellschaft geben wird; es werden immer nur Annäherungswerte erreichbar sein. Ein daran geeichtes Meßverfahren ist insofern nicht ideologisch, als es sich nicht an Maximalzuständen orientiert.
Sich auf Utopia zu beziehen, heißt nichts anderes, als sich der Nachprüfung und Einschätzung zu entziehen. Ohne relativistisch zu sein, mißt die hier vorgeschlagene Definition des Friedens das Erreichte im vertikalen wie horizontalen Vergleich und das Erreichbare an den gegebenen Möglichkeiten und den sozialen Kosten. Aul diese Weise lassen sich die Friedensleistungen der einzelnen Herrschaftssysteme genauer, nämlich bezogen auf die Interessenstruktur der von ihnen betroffenen Menschen, bilanzieren. An die Stelle der beliebigen Diskriminierung, wie sie bislang die Kommunismuskritik und wie sie neuerdings die Kapitalismuskritik beherrscht, tritt nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit begründeter, weil im einzelnen nachzuweisender Beurteilung.
Schließlich hat die Definition den Vorzug, mit ihren beiden Bestandteilen inhaltlicher und prozessualer Bestimmung nützlich auch für die Entwicklung eines Konfliktbegriffs zu sein. Die RR haben bekanntlich den Konflikt in das Zentrum ihrer Argumentation gestellt, ohne irgendwo anzudeuten, was sie unter Konflikt verstehen. Mit Recht wurde dieser Ansatz scharf kritisiert Aber auch allgemein ist es in Politikwissenschaft und Soziologie um einen brauchbaren Konfliktbegriff noch schlecht bestellt Selbst in der jüngeren Friedens-forschung wird Konflikt, wie in den RR übrigens auch, noch weitgehend unreflektiert verwandt Gemeint sind ganz offensichtlich, wie im konventionellen Sprachgebrauch, manifeste, unvereinbare Interessengegensätze, die mit allen Mitteln, notfalls auch mit militärischer Gewalt, ausgetragen werden. In diesem Sinn verwendet die Umgangssprache den Begriff des Ost-West-Konflikts oder des Nord-Süd-Konflikts, was zu einer Kurzverständigung ausreicht, im Lehrund Lernbereich jedoch unbrauchbar ist.
Schwierigkeit und Problem des Konfliktbegriffs liegen in seiner notwendigen Abstufung und vor allem in seiner Abgrenzung gegenüber Nicht-Konflikten. Welche Folgen daraus entstehen können, zeigen gerade die RR in exemplarischer Weise. Sie eliminieren alles, was nicht in ihrem Sinn Konflikt, also unvereinbarer, latent militärischer Interessengegensatz ist. Damit entfällt nicht nur der größte, sondern auch der für den Frieden wichtigste Teil der internationalen Vorgänge. Werden sie auch residual behandelt, so bleibt das Ergebnis beiläufig, weil es in den zentralen Begriff nicht hineinpaßt.
Natürlich ist den RR nicht anzulasten, was zunächst die Forschung leisten sollte. Auch sie hat noch keinen zureichenden Konfliktbegriff entwickelt, geschweige denn seine Abstufung und Abgrenzung gegenüber konfliktfreien Prozessen geklärt. Vor allem die Abgrenzung macht offensichtlich Schwierigkeiten. Für die Abstufung sind immerhin schon Intensitätsgrade eingeführt oder Stadien benannt worden Die Abgrenzung zu konfliktfreien Prozessen ist bisher überhaupt nicht systematisch versucht worden; und die besten Definitionen von Konflikt, über die wir verfügen, lassen implizit die Frage aufkommen, ob eine Ab-grenzung auf der bisherigen Basis überhaupt möglich ist
Wenn Boulding Konflikt versteht als „eine Wettbewerbssituation, in der sich beide Teile über die Unvereinbarkeit potentieller zukünftiger Positionen im klaren sind und in dem jede Partei eine Position einzunehmen wünscht, die mit den Wünschen der anderen unvereinbar ist" so lassen sich darunter eine Fülle von Situationen subsumieren, die traditionell nicht als Konflikt aufgefaßt werden. Sie reichen von den Verhandlungspositionen in einer internationalen Konferenz über das Fußballspiel bis zu der innerfamiliären Diskussion darüber, welches Fernsehprogramm oder Ferienziel gewählt werden soll. Es dürfte nur sehr wenige soziale Beziehungen geben, die in diesem Sinn nicht als Wettbewerbssituation anzusprechen sind, wenn man unter Wettbewerb jeden Versuch versteht, eine eigene Haltung durchzusetzen. Rapoport führt in diese Richtung, wenn er sogar Debatten zu den drei Grundformen des Konflikts zählt-, die zwei anderen sind Spiele und Kämpfe
In konsequenter Verfolgung von Rapoports eingeschlagener Linie läßt sich fragen, ob nicht alle sozialen Beziehungen Konfliktbeziehungen in dem Sinne sind, daß bestehende Unterschiede ausgeglichen werden. Als Konflikt hätte dann zu gelten jede Differenz zwischen zwei oder mehr Positionen, die entweder in einer Person oder zwischen mehreren oder zwischen Gruppen vorhanden sind. Welcher Art diese Positionen sind, ob sie dem affektiven oder dem kognitiven Bereich zuzuordnen sind, Haltungen, Meinungen, Verhaltensformen, Handlungen darstellen, ist nur für die Klassifikation, aber nicht für die Definition wichtig. Konflikt stellt sich dar in seiner etymologisch wohl richtigen Gestalt als Zusam-mentreffen zweier oder mehrerer solcher Positionen, die zueinander in eine Beziehung gesetzt werden müssen. Anders angewendet: Jede soziale Beziehung gilt als ein Konflikt-system. Was im landläufigen Sinn bisher als Konflikt bezeichnet wurde, ist lediglich ein Unterfall der großen Klasse von Beziehungen, die unterschiedliche Positionen miteinander verbinden.
Der Problemakzent liegt jetzt auf der Klassifikation und Abstufung; entscheidend ist aber, daß das sonst nicht lösbare Problem der Abgrenzung zwischen konfliktfreien und konflikthaltigen Beziehungen beseitigt worden ist. Es gibt praktisch keine konfliktfreie Beziehung, es gibt nur unterschiedliche Gegenstände, Intensitäten und Regelungs-bzw. Lösungsmodi von Positionsdifferenzen. Sind gesellschaftliche Beziehungen immer Konfliktbeziehungen, so lassen sie sich in erster Linie nach dem Austragungsmodus in Verbindung mit dem Konfliktgegenstand, also dem Bezug der Differenzen, klassifizieren und bewerten.
Selbstverständlich wird man in dieser Ordnung verschiedene Dimensionen zu unterscheiden haben, etwa die bi-personale Dimension, die innerstaatliche und die interstaatliche, um die es hier in erster Linie geht. Es wäre reizvoll zu prüfen, muß aber späterer Forschung überlassen bleiben, ob es eine Entsprechung zwischen den Konfliktbeziehungen auf den einzelnen Dimensionen gibt. Schon Boulding hat vermutet, daß die Beziehungen zwischen den Staaten analog sind den Wettbewerbsbeziehungen in der Industrie Hier geht es darum, das Kontinuum der Positionsdifferenzen für die Dimension der zwischenstaatlichen Beziehungen aufzuzeichnen, und zwar geordnet nach den Modalitäten ihrer Regulierung bzw. ihrer Lösung.
Diese Ordnung empfiehlt sich aus folgendem Grunde: Die Modalität des Konfliktaustrags ist insofern entscheidend, weil ihre Auswirkungen politisch-praktische Konsequenzen für die Betroffenen haben. Der primäre Unterschied zwischen der Anwendung von Waffengewalt und einem Spruch des Internationalen Gerichtshofes besteht darin, daß im ersten Fall die sozialen Kosten hoch, im zweiten relativ gering sind. Eine solche Bilanz ist zweifellos nicht das einzige Kriterium der Bewertung von Konfliktlösungen, es ist aber das primäre. Nicht umsonst wird unter dem Begriff des Friedens in allererster Linie die Absenz des Krieges verstanden, in der hier verwandten, präziseren Definition: die abnehmende Gewalt. Wenn es auch richtig ist, daß das Fehlen des Krieges noch keinen Frieden bedeuten muß, ist es andererseits zwingend, daß Krieg das totale Gegenteil von Frieden darstellt.
Das Kriterium, nach dem das Kontinuum der Konfliktaustragungsmodalitäten hier eingeordnet wird, ist demnach der Grad an Gewalt. An dem einen äußersten Ende des Kontinuums hat demzufolge Anwendung direkter, in aller Praxis militärischer Gewalt zu stehen; an seinem anderen Ende die Freiheit von Gewalt, also die Ordnung des legitimen Rechts. (Illegitime Rechtsordnungen, die es in der Geschichte auch gibt, sind ex definitione Gewaltordnungen.) Zwischen der Anwendung von direkter Gewalt und der Unterwerfung unter ein legitimes Recht als Mittel des Konfliktaustrags gibt es im internationalen Bereich eine Reihe von Zwischenformen, von denen wenigstens die beiden wichtigsten genannt werden sollen: es sind der Kompromiß und die Anpassung. Auf dem Kontinuum steht der Kompromiß hinter der Gewalt, die Anpassung vor dem Recht.
Diesen vier Hauptformen des Konfliktaustrags lassen sich, ebenfalls in Form eines Kontinuums, Prozeßmuster des internationalen Systems zuordnen. Sie werden geradezu durch die Formen des Konfliktaustrags bestimmt. Kompromiß und Anpassung bilden die Muster der Koexistenz und der Kooperation, die Anwendung von Gewalt produziert das Muster der Feindschaft und Macht, wohingegen der Konfliktaustrag mit Hilfe des Rechts die Prozeßmuster der Harmonisation und schließlich der Integration (im Sinne der Aufhebung des zwischenstaatlichen Systems und seiner Umwandlung in ein staatliches System) produziert. Des weiteren kann man diesen Konfliktaus-tragstypen die hauptsächlichen Mittel zuordnen, mit denen sie in der Regel verwirklicht werden; es lassen sich sogar (wenn auch hier nur in Andeutungen) die politischen Instrumente angeben, mit denen sich diese Verwirklichung hauptsächlich vollzieht (siehe Schema auf S.9).
Das Schema läßt erkennen, daß die Konfliktaustragsmodalität Gewalt, die die Prozeßmuster der Feindschaft und Macht ausbildet, in ihrer direkten Form das Mittel des Kriegs oder der Blockade benutzt und dazu in der Regel das Instrument des Militärs einsetzt. In ihrer direkten Form setzt diese Modalität die Mittel des Drucks oder der Ausbeutung ein und verläßt sich dabei auf wirtschaftliche oder politische Steuerungsinstrumente. Während der Austragungsmodus Kompromiß, der in erster Linie das Prozeßmuster der Koexistenz ausbildet, mit dem Instrumentarium der Di-plomatie sich des Mittels der Konferenz und der Verhandlungen bedient, werden in dem Prozeßmuster der Harmonisation Konflikte auf dem Wege der Anpassung, d. h. mit dem Mittel des Beschlusses, der später nicht mehr einstimmig zu sein braucht, reguliert.
Das Kontinuum läßt sich natürlich erweitern und differenzieren. Entscheidend ist hier, daß es um die Gegenstandsbereiche der Positionsdifferenzen bereichert wird. Im Friedensbegriff ist der allgemeine Modus „abnehmende Gewalt" mit dem allgemeinen Gegenstand „zunehmende Gerechtigkeit" zusammengeschlossen; dementsprechend muß auch jeder konkrete Austragsmodus mit dem konkreten Gegenstand des Konflikts in Beziehung gesetzt werden.
Daraus darf man nicht ohne weiteres schließen, daß die Gerechtigkeit allein im Konflikt-gegenstand enthalten ist, sie liegt auch im Modus. Im Internationalen System heißt Gerechtigkeit in erster Linie, niemanden seiner Existenz und der Möglichkeiten zu deren Entfaltung zu berauben Dementsprechend ver-mag kein Gegenstand den Einsatz des äußersten Gewaltmodus, des Krieges, zu rechtfertigen. Krieg ist immer schon in sich Unrecht. Er unterscheidet sich damit — worauf nicht deutlich genug hingewiesen werden kann — von dem vornehmlich innerstaatlichen Phänomen der Revolution und des ihr benachbarten Phänomens der nationalen Befreiungskriege, die streng genommen Revolutionen der unterdrückten Bevölkerung gegen ihre ausländi-sehen Unterdrücker darstellen. Auch im innerstaatlichen Bereich rechtfertigt die Anwendung von Gewalt keineswegs sofort die von Gegengewalt, worauf Johan Galtung hingewiesen hat sie kann sie aber rechtfertigen.
Im Internationalen System mit seiner prinzipiell differenten Struktur läßt sich jedoch eine bewaffnete Intervention unter keinen Umständen rechtfertigen. Der Verzicht darauf bedeutet nicht Appeasement, sondern die Entwicklung und den Einsatz anderer, nicht-kriegerischer Gewaltminderungsmittel
Ist also Gerechtigkeit zwar auch in dem Aus-tragsmodus enthalten, so ist sie primär natürlich vom jeweiligen Gegenstand der Differenz gekennzeichnet. Sie bemißt sich nach der darin enthaltenen Gleichheit oder Ungleichheit von Entfaltungschancen des einzelnen. Mit diesem Kriterium lassen sich vier Gegenstandsbereiche erfassen Status, Land, Menschen (human ressources), Wirtschaft (nonhuman ressources). Statusdifferenzen sind in aller Regel kaum auf die Erhöhung von Entfaltungschancen gerichtet; es muß demzufolge als illegitim gelten, sie politisch hochzuspielen. Genau umgekehrt verhält es sich bei den Bereichen der menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen. Hier geht es unmittelbar um Verteilungschancen; Gerechtigkeit-ist hier stets in hohem Maße involviert. Sie liegt allerdings nicht bei Staaten oder Zentren und Peripherien sie liegt bei den einzelnen. Nur sie können im internationalen System Träger von Gerechtigkeitsansprüchen sein deren Realisierung durch den jeweiligen Herrschaftskontext in unterschiedlicher Weise besorgt wird.
Verbindet man derart die „Issue Areas", den Gegenstandsbereich mit dem Austragsmodus, so wird man der komplexen Beziehungen ansichtig, die zwischen ihnen herrschen. Soziale Gerechtigkeit als Gleichheit der Entfaltungschancen läßt sich zunächst nach den Gegenstandsbereichen abstufen; sie ist aber auch in den sozialen Kosten der Lösungsund Regelungsmodi enthalten. Konkret: Der ökonomische Druck der Industriestaaten auf die Entwicklungsländer rechtfertigt auf deren Seite Maßnahmen, die bis an die Grenze der Gewalt, etwa der Blockade, heranreichen können, sie aber nicht in Richtung Krieg übersteigen dürfen. Im Gegensatz dazu sind reine Rangunterschiede zwischen den beiden Gruppen überhaupt nicht imstande, soziale Kosten zu begründen.
Eine weitere wichtige Qualifikation für die Beurteilung der Gerechtigkeitsverteilung ist die Intensität der Positionsdifferenz. Sie kann schwach oder stark sein, wobei die Distanz eine große Rolle spielt. Sie kann manifest oder latent sein, was von der Aktualität abhängt. Große Distanzen sprechen selten dafür, daß sich die Differenz auf Gerechtigkeit richtet. Sie kann andererseits sehr groß sein, obwohl die Differenz darüber nur latent ist. (Artikuliert sich die Differenz überhaupt nicht bei den Beteiligten, so existiert sie nur in der Theorie des Beobachters, gewinnt nur in diesem Rahmen „Objektivität" Der Friedensbegriff selektiert damit aus der unendlichen Menge der Positionsdifferenzen diejenigen, die inhaltlich relevant sind, sofern sie auf die Erhöhung der Gerechtigkeit und den Abbau von Gewalt gerichtet sind. Der Konfliktbegriff ermöglicht, die einschlägigen Positionsdifferenzen überall aufzusuchen, also nicht nur dort, wo der Friede gefährdet ist (herkömmlicher Konfliktbegriff), sondern auch dort, wo er gefördert werden kann (umfassender, fortschrittsbezogener Konfliktbegriff). Es können alle Vorgänge erfaßt werden, in denen sich die Gerechtigkeit erhöhen läßt — worunter die Verhinderung ihres Abbaus nur einen Sonderfall darstellt. Desgleichen können alle Prozesse benannt werden, mit denen sich die Gewalt verringern läßt, wobei die Verhinderung unmittelbar direkter physischer Gewaltanwendung, des Krieges, gleichfalls nur einen Sonderfall darstellt. Der Abbau von Un-gleichgewichten, von Asymmetrien, von Ungleichheiten rückt in das Lernfeld ebenso ein wie die Möglichkeit, durch die Umwandlung offener in geschlossene Systeme die Qualität der Gewalt selbst zu vermindern. Allgemein: Friede als Lernziel und Konflikt als Positionsdifferenz bringen jede Notwendigkeit oder Möglichkeit in das Blickfeld, die Konfliktaus-tragsmodalitäten auf dem Kontinuum einen Schritt weiter in Richtung auf die Modi Anpassung und Recht verschieben. Es gilt daher zu erkennen, daß das oberste Ziel jeder Außenpolitik Friede sein muß und Friede ein Prozeßmuster des Internationalen Systems ist, gekennzeichnet durch abnehmende Gewalt in den Austragsmodi der Positionsdifferenzen und zunehmende soziale Gerechtigkeit in deren Inhalten.
Dieser Friedensbegriff interpretiert Konflikte als Positionsdifferenzen, die nach ihren Austragsmodi geordnet werden. Sie sind entscheidend, wenngleich sie nicht von ihren Gegenständen isoliert gesehen werden können. Zwischen Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit herrscht eine unaufhebbare Spannung, die im Internationalen System stets zugunsten der Gewalt-freiheit oder doch zunehmend höherer Grade davon entschieden werden muß. Die theoretisch einzige Ausnahme bildet der Verteidigungskrieg, der jedoch in der erforderlichen begrifflichen Reinheit sehr selten ist und selbst in einem solchen Fall wegen der hohen sozia-len Kosten legitim in Frage gestellt werden kann Lernziele sind demnach, daß — Konflikte am besten als Positionsdifferenzen verstanden werden können, deren Ausgleich die meisten Sozialbeziehungen strukturieren; — Positionsdifferenzen nach Austragsmodi unterschieden werden können, deren Spektrum von Überzeugung bis gewaltsamer Erzwingung reichen;
— Friede als Gewaltminimierung dieser Modi zu verstehen ist, in den Beziehungen zwischen einzelnen wie zwischen Staaten;
— die Austragsmodi nicht von der in der Differenz enthaltenen Gerechtigkeit, verstanden als Verteilung der Entfaltungschancen des Individuums, getrennt werden können;
— diese soziale Gerechtigkeit andererseits nicht von den zu ihrer Verwirklichung erforderlichen sozialen Kosten getrennt werden darf; — im Internationalen System die direkte Gewalt (der Krieg) der Gerechtigkeit immer widerspricht, weil sie die Existenz des einzelnen aufhebt; — Friede als Verbesserung der Entfaltungschance des einzelnen im Internationalen System an die Gewaltfreiheit der Mittel gebunden ist; — Friedenspolitik daher darauf gerichtet sein muß, die in einem System herrschenden Prozeßmuster in Richtung der Gewaltminderung zu verschieben, und zwar kontinuierlich bis zur Einführung des legitimen Rechts; — die Friedenspolitik der Bundesrepublik je nach Subsystem gleichzeitig auf Koexistenz, Kooperation und Integration gerichtet sein muß.
Ein solcher Friedensbegriff hat nicht nur normative Bedeutung als oberstes Lernziel. Er bietet auch erhebliche Vorteile für die Analyse, insofern das Außenverhalten von Ein-lieh anderen Bedingungskontexten angepaßte heiten verstanden werden kann als die ledig-
Verwirklichung der die Systeme konstituierenden Verteilungsprozesse, ihrerseits abhängig von der sozio-ökonomischen Struktur. Damit läßt sich ein Problem angehen,, das in der Theorie der Internationalen Politik bisher nicht gelöst werden konnte: die Vermittlung der drei analytischen Niveaus des Systems, des Staates, des einzelnen also die Verknüpfung von Innen-, Außen-und Internationaler Politik Der Schlüssel zur Problemlösung, der hier nicht im Detail aufgeführt werden kann, liegt darin, daß die beiden konstitutiven Elemente der zunehmenden Gerechtigkeit und abnehmenden Gewalt zusammen mit der Kategorie des Betroffenseins auf dem Analysenniveau des einzelnen ansetzen und die Niveaus des Staates und der Systeme lediglich als unterschiedliche Felder der Verwirklichung dieser Ziele ansehen. Dieser Ansatz vermeidet den stabilisierenden Formalismus herkömmlicher Versuche ebenso wie die diskriminierenden Glaubensbekenntnisse der neueren; ideologiekritisch gegenüber beiden, versucht dieser Ansatz, Gerechtigkeit und Gewalt von Herrschaftssystemen dort zu messen, wo sie politisch-geschichtlich relevant werden, nämlich am einzelnen.
Fazit Aus dem Friedensbegriff lassen sich die nachgeordneten Erkenntnis-und Lernziele verläßlich und begründbar ableiten. Sie vermitteln, daß — jede Außenpolitik (wie auch die Innenpolitik) danach beurteilt werden muß, welche Grade von sozialer Gerechtigkeit und von direkter bzw. indirekter Gewalt sie an den von ihr Betroffenen verwirklicht (Friede als Wert); — Auswärtige Politik die durch das Herrschaftssystem einer Einheit strukturierten Ziele unter den Bedingungen des Internationalen Systems verfolgt (Verhältnis von Innen-und Außenpolitik);
— die Menge der Betroffenen einer Außenpolitik nicht mit ihrem Adressatenkreis zusammenfällt, sondern bestimmt wird vom Ausmaß der (Inter-) Dependenz, in der sich die Einheit mit anderen befindet (Verhältnis Einheit und System);
— das Maß des Betroffenseins nicht an den deklarierten Absichten einer Politik, sondern an den meßbaren Konsequenzen für die Betroffenen abzulesen ist, wodurch auch Nicht-
Handlungen erfaßt werden (Verhältnis Außenpolitik — Internationale Politik
— -das Internationale System und seine Subsysteme als Beziehungsmuster das Ergebnis früheren außenpolitischen Verhaltens der handelnden Einheiten darstellen und als Bedingung gegenwärtigen und künftigen Handelns dazu tendieren, diese Ergebnisse fortzuschreiben und zu verfestigen (Verhältnis Internationale Politik und Außenpolitik);
— die Beziehungsmuster des Internationalen Systems und seiner Subsysteme in dem Maße veränderbar sind, wie sich die Einheiten anders verhalten (Verhältnis Außenpolitik und Internationale Politik;
— eine solche Veränderung gleichgerichtete innenpolitische Entwicklungen erfordert (Verhältnis Innenpolitik, Außenpolitik und Internationale Politik);
— Außenpolitik bei ihren Adressaten auch die Herstellung der innerpolitischen Voraussetzungen solcher Änderungen bewirken muß, dabei aber ausnahmslos und prinzipiell gewaltfrei zu verfahren hat (Friede als System-wandel). Diese allgemeinen Zugänge zum Erkennen und Lernen auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen müssen nun auf die Bundesrepu-blik bezogen werden. Die einschlägige Kategorie dafür ist schon angedeutet worden; es ist die Relevanz, gemessen arn Betroffensein. Was also ist für die Bundesrepublik Deutschland relevant, von welchen Vorgängen wird sie — aktiv oder passiv — betroffen?
III. Die Relevanzen
Vieles spricht dafür, die Welt insgesamt als relevantes Feld anzusehen. Begriffe wie Weltpolitik, globale Politik und neuerdings Welt-gesellschaft sind heutzutage gängig. Sie scheinen auch sinnfällig, wo doch das Verhalten der europäischen Industriestaaten die Entwicklungschancen der nicht-industrialisierten Welt maßgeblich beeinflussen, wo Überlegungen arabischer Fürsten das Fortschrittstempo in Westeuropa bremsen könne, wo jede lokale Konfrontation über die Rüstungsdynamik sehr rasch zu einer globalen Auseinandersetzung führen könnte. Die Zusammenhänge sind offensichtlich so beeindruckend, daß einige sich berechtigt glauben, nicht nur von einem globalen System, sondern sogleich von „der internationalen Gesellschaft als einer komplexen Klassengesellschaft" zu sprechen, von „weltweiten internationalen Voraussetzungen und Konsequenzen".
So beeindruckend und eingänglich solche Thesen wirken, so sind sie doch nicht sozialwissenschaftlicher, sondern geschichtsphilosophischer Art. Einsicht in die „Totalität des Prozesses" und in den „gesamtgeschichtlichen Prozeß" läßt sich nur philosophisch begründen, sozial-33 wissenschaftlich nicht. Natürlich kann ein Teil nur im Rahmen eines Ganzen beschrieben werden Dazu muß sich aber auch das Ganze beschreiben lassen. Für die Weltgesellschaft ist das bisher nur von Niklas Luhmann versucht worden. Im übrigen mangelt es sogar an den nötigsten Klärungen. Ist unter Weltgesellschaft ein Zusammenhang zu verstehen, der die ganze Welt umfaßt, also weltweit in dem Sinn ist, daß jeder Mensch von ihm — zumindest potentiell — betroffen wird? Eine solche Definition wäre analog zu dem konventionellen Begriff der (nationalen) Gesellschaft, die auch am besten als Bereich potentiellen Betroffenseins von relevanten (d. h. soziale Gerechtigkeit und Gewalt enthaltenden) Entscheidungen verstanden werden kann. Weltgesellschaft könnte aber auch nur bedeuten, daß ein Zusammenhang sich so weit ausgedehnt hat, daß er wie ein Band einmal die Welt umspannt. Das Fernmeldewesen wäre hier zu nennen, aber auch ein Nuklearkrieg zwischen den Großmächten, der infolge seiner Zerstörungskapazität die ganze Welt betreffen, nämlich sie vernichten könnte.
Nach der Beantwortung dieser beiden Fragen wäre zu klären, womit sich der Begriff der Weltgesellschaft operationalisieren ließe. Am ehesten kämen dafür die von Deutsch entwickelten Kriterien des Austausches von Gütern, Dienstleistungen und Kommunikationen in Frage. Wo dieser Austausch nachgewiesen werden kann, besteht Gesellschaft, weltweit dann eben Weltgesellschaft. Dieser Nachweis ist bisher mondial nicht geführt worden, allerdings schon regional, Selbst wenn er gelänge, wäre wegen der im Deutschen -es unvermeid lichen Konnotationen des Begriffs Gesellschaft besser, dann von der Existenz eines Welt-36 Systems zu sprechen Auch ließe sich das mondiale System von regionalen Systemen leicht unterscheiden, indem einfach die unterschiedlichen Austauschdichten angegeben werden. Der Begriff des Systems ist zwar nur um weniges klarer als der der Gesellschaft, doch sind die Schwierigkeiten mehr terminologischer als semantischer Art Darüber hinaus haben die speziellen Systemtheorien, darunter auch die, die sich mit dem Internationalen System beschäftigen den Vorzug, hinreichend prägnant, d. h. explizit in ihren Annahmen und logisch in ihrer Durchführung zu sein. Es ist zweifellos richtig, daß erst die Allgemeine Systemtheorie „systematisch die Untersuchung kombinierter Interaktionen komplexer Systeme in Angriff nahm" Dieser Ansatz ist jedoch nicht unproblematisch. Die funktionalen Systemtheorien etwa geraten leicht in die Gefahr, bestimmte Annahmen, die selbst im nationalen Bereich umstritten sind, wie beispielsweise die der Intregration, auf das Internationale System zu übertragen Selbst diese Schärfe hat aber noch den Vorzug, daß sie wenigstens diskutiert werden kann. Man braucht den „Perspektivismus" Ber-talanffys nicht zu teilen, um zu erkennen, daß das Modell eines Zusammenhangs, der gebildet wird, durch die Wiederkehr von Be-Ziehungen zwischen Elementen geeignet ist zur Erfassung „weltpolitischer" Zusammenhänge. Die Verwendung des Modells zwingt, diese Zusammenhänge ihrem Umfang und ihrer Frequenz nach dingfest zu machen. Globale, also effektiv weltumspannende Systeme lassen sich dann unterscheiden von entweder segmentär oder regional ausgeprägten Subsystemen.
Die Verwendung des Systemmodells ist nicht nur brauchbar für die Erfassung globaler Interaktionszusammenhänge; sie bietet sich auch an, die traditionelle Analyseneinheit Staat genauer zu bestimmen. Ist es evident, daß wir nur in relativ wenigen Dimensionen wirklich weltpolitische Zusammenhänge nachweisen können, so ist es andererseits unmittelbar einsichtig, daß zumindest in den hochindustrialisierten Teilen der Welt der Staat kein abgeschlossenes Subsystem für sich darstellt. Er ist vielmehr eingebettet in eine Fülle hochfrequenter Interaktionen, dependenter und interdependenter Art. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beispielsweise läßt sich so als ein regionales System erfassen, von dem die EWG-Mitglieder in maßgeblicher Weise betroffen werden Nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen und ideologischen Subsysteme, die die Einheit des Nationalstaates überwölben und relativieren, lassen sich mit Hilfe eines solchen Modells beschreiben. Genauer noch: Die Frage, in welcher Weise diese Relativierung stattfindet und mit welchen Folgen, läßt sich erst jetzt genauer stellen
Analysiert man die Welt mit dem System-modell, so lassen sich die Relevanzen, von denen die Bundesrepublik Deutschland aktiv oder passiv betroffen wird, verläßlich angeben. Ein Weltsystem im Sinn wirklich weltweiter und umfassender Folgen von Interaktionen besteht nur in der Potentialität des Atom-krieges. Als weitere, aber schon partikulare Systeme können die reziproken Verhaltens-erwartungen oder kann — stark vergröbert — die öffentliche Meinung gelten; ferner und wichtiger: das System der Entwicklung. Ob wir es hier mit einem weltweiten System zu tun haben, ist eine offene, aber keine wichtige Frage. In jedem Fall haben wir es mit einem Subsystem zu tun, das annähernd mondiale Größe hat. Das nächstwichtigste Subsystem, von dem die Bundesrepublik Deutschland betroffen wird, ist dann das Feld der westeuropäischen Interaktion
Mit diesen Kategorien lassen sich die für die Bundesrepublik Deutschland relevanten Felder der Internationalen Politik bestimmen. Es sind dies 1. weltweit: die Potentialität des Atomkrieges; 2. regional: die die Gefahr dieses Krieges unmittelbar enthaltene Interaktion zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Staaten; 3. das umfassende regionale, evtl, schon mondiale System der Entwicklung in der Dritten Welt; 4. das regionale und für die Bundesrepublik Deutschland besonders ausgeprägte, dementsprechend hoch relevante Subsystem Westeuropa.
Diese vier Relevanzfelder lassen sich wegen der engen politisch-inhaltlichen Beziehung zwischen den ersten beiden zu drei Feldern zusammenziehen. Die relevantesten Positionsdifferenzen sind die zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt, weil sie die Potentialität des Atomkrieges unmittelbar enthalten.
Die zweite Relevanzstufe nimmt das System der Entwicklung ein, weil von ihm die Existenz von Millionen Menschen betroffen wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier — jedenfalls war sie es lange Zeit — vornehmlich aktiv betroffen, dies aber in hohem Maße. Sie trug mit der westlichen industrialisierten Welt dazu bei, das Prozeßmuster der Macht und den Austragsmodus der indirekten Gewalt zu stabilisieren. Da infolge der Asymmetrien einerseits, des Fehlens grundlegender Positionsdifferenzen andererseits das Prozeßmuster der Feindschaft entfällt und das der Koexistenz nicht ausreicht, heißt Friede hier, das Muster der Kooperation anzustreben. Austragsmodus sollte demzufolge die Anpassung sein, und zwar derart, daß sich die Industriestaaten den Bedürfnissen der Entwicklungsländer anpassen.
Die dritte Relevanzstufe ist zweifellos dem Subsystem Westeuropa zuzumessen, in das die Bundesrepublik Deutschland in starkem Maße eingegliedert und dementsprechend betroffen ist. In Westeuropa sind die Prozeßmuster der Harmonisation bereits gegeben. Die Interdependenzdichte ist derart groß, daß hier das Prozeßmuster der Integration, der Übergang von der noch immer offenen Gesellschaft zur geschlossenen erforderlich ist, um den Frieden weiterzuentwickeln.
Zwar läßt sich darüber streiten, ob die Relevanzen zwei und drei gegeneinander ausgetauscht werden können, weil das System Westeuropa den Bundesrepublikaner stärker betrifft als die Dritte Welt. Stellt man aber nicht nur auf die passive, sondern auch auf die aktive Betroffenheit ab, so zwingt allein das Ausmaß des Hungers in der Welt, an dem täglich noch immer ungezählte Menschen sterben, die Beziehungen Westeuropas zur Dritten Welt unmittelbar an die zweite Stelle der Relevanzstufen zu rücken. In der Lehr und Forschungspraxis kann es nicht darum gehen, die Relevanzfelder nacheinander zu bestellen. Sie sind gleichzeitig und wollen gleichzeitig bearbeitet werden, wenngleich natürlich immer wieder optiert werden muß. Geben die Relevanzränge Hinweise dazu, so sind sie vor allem wichtig für die Orientierung, die in der Gesellschaftslehre vermittelt werden muß.
Fazit
Hinsichtlich der Relevanzen gilt es also zu erkennen bzw. zu lernen, daß — die Welt in der Potentialität ihres Untergangs bereits ein System darstellt, also Betroffenheit für alle enthält; — unterhalb des mondialen Systems die Welt aus zahlreichen Subsystemen besteht, die in unterschiedlicher Form und Intensität für die Bundesrepublik Deutschland und den einzelnen darin relevant werden; — die Vermeidung des Nuklearkriegs demzufolge das oberste Prozeßmuster der Internationalen Politik und dementsprechend das oberste Ziel jeder Außenpolitik zu sein hat; — Koexistenz die Austragsform ist, die'weltweit nicht unterschritten werden darf; — die industriealisierte Welt verantwortlich ist für die Unterentwicklung der Dritten Welt, und zwar historisch wegen der Vergangenheit des Kolonialismus, aktuell wegen der ökonomischen Kapazität der Ersten Welt; — die Erste Welt sich der Dritten anpassen muß, und zwar so lange, bis die Entwicklungsländer nicht mehr vom Hungertod bedroht werden; — das Subsystem Westeuropa der primäre Kontext geworden ist, von dem die Bundesrepublik Deutschland passiv betroffen wird; — das Subsystem Bundesrepublik Deutschland analytisch sinnvoll überhaupt nur noch als ein Teil des Subsystems Westeuropa definiert werden kann; — bei hohem Interdependenzgrad das Muster der Harmonisierung zur politischen Integration weiterentwickelt werden muß.
IV. Friede als Koexistenz
Von höchster Bedeutung ist die Vermeidung der nuklearen Auseinandersetzung, deren Potentialität maßgeblich von den Positionsdifferenzen zwischen der Ersten und der Zweiten Welt, der bürgerlichen und der sozialistischen abhängt. Zwischen ihnen den Modus der Koexistenz einzurichten, wird daher zum ersten Lernzielzusammenhang. Er ist gleichzeitig der schwierigste. Das Prozeßmuster der Feindschaft, das Mittel des Krieges und die ihm vorgelagerten anderen Mittel direkter Gewaltanwendung kennzeichnen den Verlauf der Menschheitsgeschichte, ohne bisher eine befriedigende Erklärung gefunden zu haben Sie wurden unterschiedlich politisch begründet, sei es mit der Differenz in der religiösen Überzeugung, sei es mit der Aggressionsvermutung beim Gegner. Dagegen hat das Prozeßmuster in der Praxis immer schon der Herrschaft und ihrer Erweiterung gedient, wirtschaftliche Interessen gefördert, interne Instabilität gedämpft. Kriege sind aus Rüstungswettläufen entstanden, die sich verselbständigt haben (Richardson-Prozesse), oder aus der mangelnden Gewißheit über die Absichten des Gegners (Sicherheitsdilemma)
Friede als das oberste Lernziel verlangt auch in Positionsdifferenzen dieser Größe, das Muster der Koexistenz und den Modus des Kom-promisses einzusetzen. Daraus folgt kein normativer Relativismus. Im Gegenteil: Wie im Friedensbegriff die abnehmende Gewalt mit der sozialen Gerechtigkeit gekoppelt wird, enthält die Forderung nach Eliminierung des Krieges in der Auseinandersetzung zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Staaten nichts anderes als die oberste Form der Gerechtigkeit, nämlich die Erhaltung der Existenz für alle. Was für das globale System galt, gilt insbesondere für das entscheidende Subsystem. Der in der Charta der Vereinten Nationen — als Fortsetzung der schon vom Völkerbund entwickelten Prinzipien — enthaltene (wenn auch noch nicht absolute) Verzicht auf die Anwendung physischer Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen bildet, wegen seiner Verstärkung über die nuklearen Zerstörungskapazitäten, die Norm, nach der das Prozeßmuster zumindest negativ bestimmt werden kann: es darf die Stufe der Koexistenz nicht in Richtung auf die Anwendung von Gewalt als Konfliktaustrag verlassen.
Der Verzicht auf die Gewalt stellt in Internationalen Beziehungen nicht nur die oberste Form der Gerechtigkeit dar, er relativiert auch keinesfalls dessen nachfolgende Grade. Legitimitätskonzepte sind dazu bestimmt, das abstrakte Prinzip der sozialen Gerechtigkeit in konkrete politische Praxis zu übersetzen und diese Praxis am Prinzip zu messen. Es konnte und kann den bürgerlichen Gesellschaften nicht gleichgültig sein, welche Art von Gerechtigkeit in den sozialistischen Staaten verwirklicht wird. Umgekehrt ist diesen der kritische Blick auf jene durchaus aufgegeben. Auch Aktion ist verlangt, um den Kontrahenten zu bewegen, den Grad der von ihm verwirklichten Gerechtigkeit anzuheben. Freilich muß diese Aktion gewaltfrei sein um nicht zur Intervention zu werden und in Machtpolitik umzuschlagen. Die wirksame und weitgehend gewaltfreie Einwirkung besteht im Vorbild optimaler Problemlösung. Ihr Effekt ist nicht so gering, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Industrialisierung würde nicht von allen Staaten der Zweiten und Dritten Welt angestrebt, wenn nicht in der Ersten gezeigt worden wäre, welche Möglichkeiten an sozialer Gerechtigkeit darin beschlossen liegen.
Mit diesem Sollwert der Koexistenz läßt sich auch der Kalte Krieg analysieren. Er offenbart dann, welche Funktion der Hinweis auf den Gegner für die Erweiterung der eigenen Machtposition und deren Ausbau gespielt hat. Sie läßt sich schon bei der Auseinandersetzung um die zukünftige Regierung Polens erkennen hinter der die Expansionspolitik der Sowjetunion sichtbar wird. Sie tritt in der Anlage und der Verwirklichung des amerikanischen Sicherheitssystems zutage in das auch der westliche Teil Deutschlands beim ersten Anlaß mit einbezogen wird. Sie wird erkennbar in der zunächst offen gewaltsamen, später dann politisch verbrämten Konstruktion des sozialistischen Lagers der Sowjetunion, läßt sich auch im Einbau der Bundesrepublik über den Marshallplan und die NATO in das amerikanische Interessenfeld nachweisen
Es ist aufschlußreich, daß sich die Prozeßmuster des Kalten Krieges, die diesen Ausbau der jeweiligen Macht-und Einflußzonen begleiten, in dem Moment zu ändern beginnen, in dem dieser Ausbau als abgeschlossen gelten kann. Mit dem Jahre 1955 beginnt, was konventionell als Entspannung bezeichnet wird Sie gewinnt unter Kennedy und Chruschtschow nicht nur an Tempo, das von der sich entwickelnden Situation der gegenseitigen Abschreckung bestimmt wird. Sie gewinnt unter Johnson, vor allem später unter Nixon und Breshnjew eine andere Qualität. Auf der Basis abgeschlossener und weitgehend stabilisierter Machtverteilungen in Mitteleuropa wandeln die strategischen Interessen der beiden Supermächte ihr Verhältnis so weitgehend, daß die Positionsdifferenzen zum Teil in Positionsidentitäten umgewandelt werden Der Kalte Krieg hat sein Ende gefunden, ohne daß sich an dem, was ihn vorgeblich konstituiert hatte, auch nur wenig geändert hätte
Die Vergleichbarkeit der Attitüden und Umsetzungsmechanismen auf beiden Seiten macht beide Seiten noch lange nicht gleich. Es ist ein Faktum, daß der Ausbau des amerikanischen Führungssystems in Europa, in Westeuropa beträchtliche materielle Vorteile und damit auch beträchtliche Voraussetzungen für die Anhebung der sozialen Gerechtigkeit gebracht hat. Für die Bundesrepublik Deutschland bot sich die Chance zum Aufbau eines liberalen und demokratischen Gesellschaftssystems. Daß diese Chance in der Bundesrepublik nicht voll genutzt, sondern zugunsten der Restaurierung eines im Grunde genommen konservativen Kapitalismus vertan wurde, geht nur teilweise auf das Interesse der USA zurück. Es geht zum größten Teil auf das Konto der politischen Elite in der Bundesrepublik, die die Spannungen des Kalten Krieges dazu benutzte, ihre ökonomische wie politische Herrschaft aufzubauen und zu stabilisieren. Daß hierin wiederum ein beträchtliches Maß an sozialer Gerechtigkeit den einzelnen vermittelt wurde, ändert nichts daran, daß dieses Maß hätte größer ausfallen können.
Es läßt sich zeigen, wie Außenpolitik benutzt wurde, um innenpolitische Entwicklungen zu kanalisieren, etwa die Mitbestimmung und die Wirtschaftsdemokratie einzudämmen. Es läßt sich auch zeigen, wie der zweifellos berechtigte Legitimitätsanspruch der Bundesrepublik Deutschland über den zweifellos nicht berechtigten Alleinvertretungsanspruch in ein Macht-instrument umgewandelt wurde. Statt dessen hätte das Bewußtsein, ein System geminderter Gewalt und erhöhter sozialer Gerechtigkeit realisiert zu haben, die Bundesrepublik veranlassen müssen, ihrem sozialistischen Wider-part eine gewaltgeminderte Entspannungspolitik entgegenzubringen.
Umgekehrt darf die Entspannungspolitik der Gegenwart, die endlich durch die sozial-liberale Koalition verwirklicht worden ist, nicht dazu führen, die Legitimitätsunterschiede, ausgedrückt in den noch immer sehr differenten Graden der sozialen Gerechtigkeit, zu übersehen. Die Differenz ist nicht mehr so groß: Einerseits hat die DDR aufgeholt, andererseits stagnierte dieser Prozeß in der Bundesrepublik Deutschland. Die Differenz ist aber noch immer manifest vorhanden und nicht nur, wie es die RR darzutun versuchen, in den Wohnungsmieten. Statt dessen ist heute in einem funktionalen Vergleich die Gerechtigkeitsleistung der beiden Systeme zu ermitteln Zur Koexistenzpolitik der Bundesrepublik gehört demnach, diese Legitimitätsunterschiede nicht zu verschleiern oder zu verschweigen; sie müssen vielmehr konstatiert und zum Anlaß genommen werden, sie einerseits durch weitere Fortschritte der Bundesrepublik in Richtung der sozialen Gerechtigkeit zu vergrößern, dadurch gleichzeitig der DDR und den anderen sozialistischen Staaten Anlässe zu geben, funktional äquivalente Leistungen zu erbringen. Es gehört in die Analyse der Ost-West-Beziehungen, daß die Sowjetunion beim Ausbau ihres Herrschaftssystems sehr viel mehr direkte Gewalt angewendet und schon damit sehr viel weniger soziale Gerechtigkeit verteilt hat. Dies mit ihrer Schwäche gegenüber den Westmächten oder mit der Asymmetrie in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA erklären zu wollen ist nicht nur im schlechten Sinne apologetisch, es offenbart eine Argumentationsstruktur, die auch einen Präventivkrieg rechtfertigen würde, wie wohl alle Formen direkter Gewalt, wenn sie sich nur in irgendeiner Form begründen ließen. Selbst eine unmittelbare Bedrohung der Sowjetunion — die zu keiner Zeit seit 1945 gegeben war —, hätte eine derart brutale Unterdrückung der osteuropäischen Staaten nicht zu rechtfertigen vermocht. Genauso wenig legitimiert der Hinweis auf den Kommunismus die amerikanische Gewaltanwendung in Guatemala, Santo Domingo und Kuba. Die Vietnam-Intervention offenbart die expansionistischen Elemente, die den amerikanischen Krieg dort lange Zeit hindurch bestimmt haben.
Im Ost-West-Bereich hat sich die Situation inzwischen verbessert, aber noch nicht genug. Die Weigerung der sozialistischen Seite auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, mehr Freizügigkeit zu gestatten zeigt noch immer das Gerechtigkeitsgefälle zwischen Ost und West. Zweifellos wird dieses Gefälle vom Westen ausgenutzt, um die östliche Seite politisch unter Druck zu setzen; zu fragen ist, welches Maß an Gewalt sich darin ausdrückt. Auf der anderen Seite ist festzustellen, daß ein solcher Druck nicht angesetzt werden könnte, wenn die Bewegungsfreiheit, die zweifellos zur sozialen Gerechtigkeit als eines ihrer Fundamente hinzugehört, im sozialistischen Teil Europas verwirklicht worden wäre.
Sie zu fördern, muß also ein Ziel der westlichen Demokratien bleiben, wenn sie nicht in egoistischen Opportunismus absinken wollen. Damit die Förderung gewaltfrei bleibt, müßte der Westen auf ihre politische Ausnutzung verzichten und im übrigen, indem er in seinem Bereich Bewegungsfreiheit nicht nur rechtlich, sondern auch materiell besser ausstattet, neue Standards der Problemlösung setzen. Sind also die Entstehung und Verursachung des Kalten Krieges zu analysieren als Ausnutzung von Positionsdifferenzen zum Zweck der Expansion und Verfestigung von Herrschaft mit unterschiedlichen Konsequenzen für die soziale Gerechtigkeit, so können in diesem Rahmen auch die zusätzlichen sekundären Eskalationsund Verschärfungsmechanismen gewichtet werden. Ist eine Positionsdifferenz erst einmal in das Prozeßmuster von Macht und Feindschaft verbracht worden, so gewinnen die dadurch ausgelösten Reaktionen auf selten der Konfliktpartner eine gewisse Eigendynamik
Senghaas hat für dieses Phänomen den anschaulichen, wenngleich infolge seines patho-logischen Ursprungs etwas zu deterministischen Begriff des Autismus vorgeschlagen Indem die Gesellschaft auf die Positionsdifferenz reagiert, verändert sie ihre Struktur, damit auch die Anlage ihrer Entscheidungsprozesse. Die Perzeption der Positionsdifferenzen vergrößert sich und wird institutionell fixiert. Militärapparate entstehen; sie gewinnen mit ihren ausschließlich auf den gewaltsamen Aus-'tragsmodus gerichteten Haltungen Einfluß auf die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen. ökonomische und/oder politische Interessen orientieren sich an der veränderten Situation und verstärken sie. Militärisch-industrielle oder militärisch-ideologische Komplexe bilden sich aus. Sie beeinflussen die öffentliche Meinung und erzeugen die entsprechenden Feindbilder. Auf diese Weise wird allmählich die Positionsdifferenz, die anfänglich nur klein und nur von den Entscheidungseliten perzeptiert wurde, auf der ganzen Breite der Gesellschaft ausgedrückt und institutionell verfestigt. Dieser Prozeß dient der jeweiligen Gegenseite zur Rechtfertigung ihrer eigenen Maßnahmen, die im erneuten feed back den erhöhten Aufwand der anderen Seite begründen; nicht nur der Mitteleinsatz der Partner, auch das Prozeßmuster selbst hat sich verselbständigt und produziert sich jeweils neu.
Diesen Prozeß, der auf reziproke Weise zustande gekommen ist, kann man nicht durch einseitige Aktionen unterbrechen So etwas ließe sich politisch nicht durchsetzen, da die Notwendigkeit des Gegenteils mit dem Hinweis auf die unverminderte Kapazität der Gegenseite leicht bewiesen und zur Diskriminierung des Vorschlags benutzt werden kann. Auch strategisch ist er wenig fruchtbar, da es darauf ankommt, das Prozeßmuster, also die Beziehungsstruktur, zu verändern, nicht es nach einer Seite hin zu vertiefen. Natürlich muß die Veränderung in Gang gebracht wer-den; die Initiative dazu wird in der Regel uni-lateral sein. Sie muß aber von vornherein auf einen multilateralen Prozeß der Deeskalation gerichtet sein, sozusagen auf die Umkehrung des Prozesses, der zu dem Gewaltsystem geführt hat. Die Mechanismen dieses Verfahrens sind in der Theorie des Gradualismus ansatzweise entwickelt worden
Die Umkehr des Eskalationsprozesses ist schließlich kein mechanischer Vorgang, der sich an der Verringerung des Rüstungspotentials erschöpft. Er schließt es ein, geht aber weit darüber hinaus, insofern er eben einen Konfliktaustragungsmodus entwickelt und einübt, in dem das Instrument Militär keine Rolle mehr spielt. Es ist deswegen nicht nur völlig disproportioniert, den Akzent auf die Militär-apparate zu legen es ist vor allem analytisch unzutreffend. So richtig es ist, daß die Militärapparate und die von ihnen beeinflußten Entscheidungsprozesse sozusagen von selbst einen sie rechtfertigenden Grad von Spannung fixieren, so unbestreitbar bleibt doch, daß sie dazu nur durch den Zustand der zwischenstaatlichen Beziehungen instand gesetzt werden. Solange die Prozeßmuster eindeutig Feindschaft und Macht sind, solange der akzeptierte Konfliktautragsmodus latent oder manifest die direkte Gewalt ist, solange gewinnt die Argumentation der Militärapparate eine Plausibilität, die nicht sinnvoll be-stritten werden kann.
In einem solchen Kontext werden Kürzungen der Militärhaushalte immer wieder nur marginal bleiben; es ist deswegen strategisch unnütz, sie anders als zur Einleitung eines politisch gerichteten Deeskalationsprozesses anzusetzen. Dieser Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Entspannung ist von Adenauer richtig erkannt, wenngleich seinerzeit gegen die Entspannung bemüht worden Die Abrüstungsdiskussionen seit 1946 haben ne-gativ und die Rüstungskontrollabkommen seit 1S 33 positiv bestätigt, daß die Vorbedingung für die Verringerung der Rüstung in der Veränderung des politischen Kontextes zu sehen ist, Diese Veränderung braucht nicht identisch zu sein mit der Lösung oder auch nur der Regulierung der Positionsdifferenz. Entscheidend ist die Bereitschaft, diesen Austragsmodus nicht mehr im Rahmen der gewalthaltigen Prozeßmuster, sondern in denen des Kompromisses zu suchen. Darauf kommt es entscheidend an. Ist diese Verschiebung einmal gelungen, lassen sich auch die Militärapparate verringern, wenn auch nicht von selbst. War ihr Aufbau eine Funktion von Spannung, die durch sie festgeschrieben wurde, so ist die Entspannung die Voraussetzung für Abbau. ihren
Es ist aufschlußreich, daß sich die Politiker in diesen Zusammenhängen besser zurechtfinden als Wissenschaftler. Dies galt schon, wenn auch negativ, für Adenauer. Es gilt positiv beispielsweise für die sozialliberale Koalition, die die Entspannung eingeleitet und durchgesetzt hat, zunächst trotz der Militärapparate. Wenn die DDR und die Sowjetunion eine ebenso fortschrittliche Auffassung an den Tag gelegt haben werden, wird sich die Abrüstung leichter durchsetzen lassen.
Es lohnt besonders hervorgehoben zu werden, daß sich die praktische Politik bei der Einleitung dieses Prozesses auch mit demjenigen Problem abgegeben hat, das eigentlich im Vordergrund einer auf den Frieden gerichteten Wissenschaft stehen sollte, nämlich mit dem Problem des Kompromisses. Er ist die das Prozeßmuster Koexistenz bestimmende Konflikt-austragsform; er ist gleichzeitig politisch wie rechtlich außerordentlich schwierig. Er muß konzessionsbereit sein, darf aber nicht zum Appeasement degenerieren, weil er sonst zur Erpressung einlädt. Er kann Rechtsansprüche relativieren, darf aber die soziale Gerechtigkeit nicht verkleinern, sondern muß sie erhöhen. Diese komplizierte Problematik ist entscheidend für eine dauerhafte Installierung des Friedens. Sie steht unter dem Kennwort des „friedlichen Wandels" seit langem zur Dis-kussion, wenngleich nur rudimentär. Ihre Diskussion dieser Kompromißformel vom „friedlichen Wandel" müßte entschiedener aufgenommen und trotz ihres unvollkommenen Zustandes zu einem zentralen Punkt in der Gesellschaftslehre gemacht werden. Berücksichtigt wird diese Formel allerdings bereits in dem Themenbereich der Internationalen Organisation
Dieser Komplex, der in den RR völlig fehlt, muß schon wegen seiner allgemeinen Bedeutung einen wichtigen Platz in der Lehre von den Internationalen Beziehungen einnehmen.
Was auf Weltebene bisher an Fortschritten in der Gewaltminderung erreicht worden ist, steht in engem Zusammenhang mit der Verwirklichung von Organisationen kollektiver Sicherheit, vom Völkerbund angefangen bis hin zu den Vereinten Nationen Gerade die kontinuierliche Existenz der UN zeigt, welche funktionale Bedeutung der Internationalen Organisation selbst auf Weltebene heute zukommt. Wenngleich sich auch in den UN das neue Konzept kollektiver Sicherheit nicht verwirklichen ließ, das im Sicherheitsrat eine Weltregierung für den Kriegsfall vorwegnehmen wollte so hat doch gerade der Funktionswandel der UN von den ursprünglich geplanten Zwangsmaßnahmen bis zum Peacekeeping demonstriert, in welcher Richtung die Lösung des Problems gesucht werden kann. Friedenssicherung in diesem Sinn des 1956 von Hammarskjöld entwickelten Konzepts, das trotz der Rückschläge im Kongo und trotz der politischen Schwierigkeiten, es zu kodifizieren, zumindest im Nahen Osten bis 1974 seine Brauchbarkeit erwiesen hat zielt nicht auf die Regulierung oder Lösung des Konflikts selbst, sondern ausschließlich auf deren Modus, Indem die Friedenssicherung mit Hilfe eines militärischen UN-Potentials den gewalt-samen Austrag der Konflikte verhindert, etabliert sie den entscheidenden Grundsatz, daß die Anwendung direkter Gewalt infolge der totalen Aufhebung von Gerechtigkeit sich immer schon selbst widerspricht.
Dieses Konzept realisiert im Krisenfall, was als die Rationalität der Weltorganisation bezeichnet werden kann. Ihre Existenz dokumentiert einen internationalen Kommunikationsgrad, der als solcher die Anwendung direkter Gewalt zum Anachronismus werden läßt. Mehr noch: Als universale Organisation führt sie solche Staaten zusammen, die infolge ihrer Positionsdifferenzen den direkten Kontakt aufgehoben haben; dadurch wird die Positionsdifferenz nicht relativiert, aber doch relationiert, also in proportionale Beziehung gesetzt zur Tatsache der gemeinsam akzeptierten Existenz. Mit dieser Relationierungsfunktion bildet die Internationale Organisation einen einzigartigen Kontext, in dem die Problematik von Gerechtigkeit und Kompromiß thematisiert und vielleicht in einer Lösung aufgehoben werden kann. Für das Deutschland-Problem hätten sich beispielsweise im Rahmen der Internationalen Organisation zahlreiche Chancen der Veränderung ergeben Generell gilt, daß der Ausbau der Friedenssicherungsfunktion als Verhinderung der Anwendung direkter Gewalt in Kombination mit der Relationierungsfunktion für die zugrunde liegenden Positionsdifferenzen aus den Vereinten Nationen ein hervorragendes Instrument des Friedens auf Welt-ebene werden läßt.
Dies gilt für alle Internationalen Organisationen, jedenfalls soweit sie nicht partiell funktionaler Natur sind es gilt auch für die regionalen. Hier liegt die Bedeutung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in deren fünftem „Korb" eine ständige Kommission vorgesehen ist. Sie könnte als nucleus einer internationalen, die kommuni> stischen und kapitalistischen Staaten der indu-
striealisierten Welt zusammenfassenden Organisation fungieren. In deren Kontext, in der ständigen Begegnung und Diskussion der anstehenden Differenzen, in der permanenten Kommunikation, könnten sich diejenigen Bezugspunkte bilden, in deren Gemeinsamkeit der Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Kompromiß aufgehoben werden kann.
Fazit
Für das Problem des Friedens als Koexistenz gilt es also zu erkennen und zu lernen, daß — die Beziehungen zwischen den bürgerlichen und sozialistischen Staaten in das Prozeßmuster der Koexistenz verbracht und dort unter allen Umständen gehalten werden müssen; — Koexistenz die jeweiligen Legitimitätskonzepte nicht tangiert; — im Internationalen System die Erhöhung der sozialen Gerechtigkeit unter allen Umständen gewaltfrei angestrebt werden muß und besten deshalb am über das eigene Vorbild und dessen zu erwartende Nachahmung erreicht werden kann; — Kriege geschichtlich immer schon mit religiösen, ideologischen, territorialen, aggressionvermutenden Gründen gerechtfertigt worden sind, die sich rückblickend stets als unrichtig oder unproportional erwiesen haben; — außenpolitische Argumente immer schon innenpolitischen Terror und territoriale Expansion rechtfertigen sollten, dazu aber prinzipiell nicht imstande sind; — das Muster der Feindschaft meist aus Unsicherheit, aus Aktions-Reaktions-Folgen entstanden ist und selten aus genuinen Aggressionsabsichten (Hitler); -die so gelagerten Positionsdifferenzen jedoch immer auch mit Herrschaftsinteressen nach innen und außen verknüpft sind; — diese Herrschaftsinteressen unterschiedliche Grade von sozialer Gerechtigkeit an die von ihnen Betroffenen vermitteln; — diese Grade meßbar sind an der Existenz der einzelnen; — der Kalte Krieg vornehmlich als Expansion amerikanischer und sowjetischer Einflußund Herrschaftsinteressen zu gelten hat, die durch mangelnde Einigkeit zwischen den Siegermächten ausgelöst wurde; — diese Makrostruktur von kleineren Struk-turen ökonomischer, positionaler, verfügungsmäßiger Art ausgenutzt wurde, die ihren Einfluß auf den Entscheidungsprozeß intensivieren und institutionalisieren konnten; — ein Abbau dieser Makro-und Mikrostrukturen eine Veränderung der Prozeßmuster erfordert; — demzufolge insbesondere Abrüstung von Entspannung abhängig ist — und nicht umgekehrt; — Abrüstung hingegen als gradualistisch gerichtete Einleitung der Entspannung sinnvoll und zweckmäßig ist; — die Einleitung und Vertiefung der Entspannung die vorrangige Aufgabe aller beteiligten Einheiten sein muß; — Entspannung letztlich auf die Lösung des Problems von Kompromiß und Recht angewiesen ist, daß außerordentliche Schwierigkeiten bereitet; — eine Lösung am ehesten von der Herstellung eines entsprechenden Kontextes erwartet werden kann; — internationale Organisationen auf weltweiter wie auf regionaler Ebene ein erwiesenermaßen geeignetes Instrument zur Herstellung solcher Kontexte darstellen; — die Peacekeeping-Funktion der Vereinten Nationen eine auf den akuten Krisenfall gerichtete Anwendung dieser Fähigkeiten der Internationalen Organisation darstellt; — dieser Ansatz der Friedenssicherung theoretisch wie politisch ausgebaut werden muß; — die kontinuierliche gewaltfreie Kommunikation zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Staaten die beste Vorbedingung für die Errichtung einer europäischen Friedensordnung im Sinne veränderter Positionsdifferenzen darstellt; — die Errichtung einer internationalen Organisation als Kontext dieser Kommunikation geprüft werden muß; — das Ziel dieser Kommunikation nicht nur die Verminderung der Positionsdifferenzen, sondern darin die Vermittlung größerer sozialer Gerechtigkeit und ihrer Vorbedingung, der Freiheit von Gewalt, sein muß.
V. Friede als Kooperation
Nach dem (noch immer nicht vollständigen) Abschluß der Entkolonialisierung beruhen die Positionsdifferenzen zwischen der Ersten und der Dritten Welt im wesentlichen auf den ungleichen Stadien und Chancen der Entwicklung. Schon deswegen kann sich die industrialisierte Welt nicht auf das Muster reiner Koexistenz zurückziehen. Für die westliche Welt gilt dies in verstärktem Maße, da sie infolge ihrer kolonialistischen Vergangenheit mitverantwortlich ist für die Unterentwicklung, und da sie infolge der ihr zahlreich verbliebenen Verbindungen zur Dritten Welt die Möglichkeit zur Hilfe besitzt. Diese Gründe werden verstärkt durch die fast als Weltsystem anzusprechende Asymmetrie, so daß die Positionsdifferenz nur durch eine kompensierende Haltung der Industriestaaten, also durch ihre Anpassung an die Bedürfnisse der Entwicklungsländer ausgeglichen werden kann.
Das Konfliktsaustragungsmuster Anpassung läßt sich für die Beziehungen zwischen der Ersten und der Dritten Welt mit dem Begriff veränderter Nutzenverteilung konkretisieren. Mit Recht hat Galtung darauf verwiesen, daß diese Beziehungen strukturell gekennzeichnet sind durch maximale spin-off-und spill-overVorteile für die Erste und durch minimale für die Dritte Welt Dafür den Begriff der Abhängigkeit zu verwenden mag sinnfällig scheinen, weil es dem konventionellen Sprachgebrauch entspricht. Andererseits impliziert der Begriff, daß die gewünschte Problemlösung in der Unabhängigkeit zu suchen sei. Genau dies kann aber in den Beziehungen zwischen der industrialisierten Welt und den Entwicklungsländern nicht gemeint sein. Die Entwicklungsländer werden auf absehbare Zeit abhängig bleiben von Kapitalzufuhr, Übermittlung von technischem Wissen, Marktchancen. Sie haben sich immer wieder in dieser Weise geäußert Sie wollen abhängig bleiben, dabei aber die gegenwärtige Nutzenverteilung zu ihren Gunsten in das Gegenteil verkehren. Profitierten bisher die Industriestaaten von dieser Abhängigkeit, so sollte sie nunmehr in erster Linie den Entwicklungsländern zugute kommen.
Im Begriff der veränderten Nutzenverteilung im Sinne von Anpassung ist auch die praxeoB logische Konsequenz schon sehr viel besser enthalten als in dem praxisfernen, rein auf Diskriminierung gerichteten Begriff der Abhängigkeit. Gerade weil nicht bestritten wird, daß Ausbeutung und ökonomische Herrschaft de facto existieren, muß man sie so benennen, daß ihre Veränderbarkeit unmittelbar ausgedrückt wird. Andernfalls bleibt die Wissenschaft bei einem ungerichteten Kritizismus, der selbst von der herrschenden Praxis überholt werden kann, etwa vom Präferenzabkommen der EWG mit den Entwicklungsländern vom 30. 1. 1971, das trotz seiner unzureichenden Ausgestaltung noch immer fortschrittlicher und nützlicher für die Entwicklungsländer ist als eine sich auf Kritik beschränkende Theorie.
Von den Positionsdifferenzen zwischen Erster und Dritter Welt sind die Industriestaaten im wesentlichen aktiv betroffen, weil sie die Differenzen schaffen, indem sie den Entwicklungsländern die Entwicklung verweigern. Darin drückt sich indirekte Gewalt aus, entsprechend die Versagung von Gerechtigkeit. Beides ist um so gravierender, als infolge des Kolonialismus die meisten westlichen Industriestaaten für das Schicksal der unterentwickelten Länder über lange Strecken der Geschichte hin verantwortlich gewesen sind Es ist zwar unrichtig, daß die Entwicklung der Ersten Welt nur auf Kosten der Dritten stattfinden konnte; es ist aber richtig, daß sie zu Lasten dieses Weltteils insofern ging, als sich die Industriestaaten exklusiv um ihren eigenen Fortschritt bemühten und die Kolonien ausbeutend davon ausschlossen. Ein flankierender Aufbau der Kolonien im Sinn von Entwicklung hätte sicher das Tempo des Aufstiegs der Ersten Welt verlangsamt.
Gleichfalls muß gelten, daß Entkolonialisierung keineswegs immer das Ende dieser Nutzenverteilung mit sich gebracht hat. Sie hat sich vielmehr durchgehalten, in manchen Fällen sogar verstärkt. Ausbeutung ist insofern nicht nur eine geschichtliche, sondern auch eine gegenwärtige Kategorie, was die aus der Geschichte stammenden Verpflichtungen nur noch intensiviert. Die Anpassung der Industriestaaten an die Entwicklungsländer zum Zweck der Verstärkung der Nutzenverteilung ist insofern ein vielfältig abzuleitender und zu begründender Imperativ. Die historische Ableitung ist dafür wohl moralisch, aber nicht politisch die zwingendste. Für die Bundesrepublik Deutschland hat sie, wegen der kurzen Periode des deutschen Kolonialismus, kaum Bedeutung.
Aber auch systematisch ist es unzulässig, gegenwärtige Verpflichtungen nur aus vorangegangenen Verfehlungen abzuleiten. Die Verpflichtung zur Anpassung, zur Entwicklungshilfe, muß vielmehr vornehmlich mit dem Friedensbegriff begründet und mit dem Interdependenzbegriff abgestuft werden. Die Gewalt zu vermindern und die Gerechtigkeit anzuheben, heißt in den Beziehungen zwischen der Ersten und der Dritten Welt ganz konkret, das System indirekter Macht abzubauen — jedenfalls seine Folgen zu mindern —, das aus der Überlegenheit der Industriestaaten resultiert.
Die Entwicklungsländer haben es schwer, sich gegen diese Überlegenheit der Industriestaaten, die den Weltmarkt, die Handelswege, das Währungssystem, die Produktionszwänge bestimmen, durchzusetzen. Dieses System braucht deswegen nicht zerstört, es muß nur so weit geöffnet werden, daß die Entwicklungsländer einen ihre Aufstiegserwartungen kontinuierlich einlösenden Platz darin finden. Was konkret dazu erforderlich ist, haben die betroffenen Staaten immer wieder deutlich formuliert (UNCTAD); es braucht nur ausgeführt zu werden.
Diese generelle Forderung betrifft die Bundesrepublik Deutschland generell, soweit sie in das Weltsystem eingegliedert ist, als Mitglied der entsprechenden Organisationen und Sonderorganisationen der UN (der Weltbank-gruppe, des UNDP, der UNIDO), der Welthandelskonferenzen (UNCTAD), der Regional-kommissionen der Vereinten Nationen. Es betrifft die Bundesrepublik Deutschland regional, als Mitglied im „Development Assistance Committee" (DAC), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Besonders intensiv wird die Bundesrepublik Deutschland regional betroffen durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich über den Europäischen Entwicklungsfonds wie über die Assoziationsabkommen und die Handels-bzw. Präferenzverträge mit den Mittelmeerländern und den afrikanischen Staaten umfassend und wirksam in dem Entwicklungsprozeß eingeschaltet hat Schließlich betrifft diese Forde-rung die Bundesrepublik Deutschland unilateral, soweit sie Entwicklungshilfe zweiseitig vergibt und mit ihrer Import-und Exportpolitik die Entwicklung beeinflußt.
Da Entwicklung ein fast mondiales System darstellt, ist die Bundesrepublik Deutschland von diesem Vorgang universal betroffen; jedoch nicht überall in gleichem Maße, ebenso wie auch die Interdependenz noch keinesfalls weltweit in gleicher Intensität ausgeprägt ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist vielmehr über den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kommunikationen mit einigen Teilen der Welt viel intensiver verbunden als mit anderen. Sie wickelt rund zwei Drittel ihrer Handelsbeziehungen mit den Europäischen Ländern ab, fast 45 Prozent mit den EWG-Ländern. Afrika und Asien sind jeweils nur zu 11 Prozent in den Austausch mit der Bundesrepublik Deutschland eingeschlossen, Australien und Ozeanien nur mit 0, 9 Prozent Funktional läßt sich die Betroffenheit direkt am Grad des Austauschs, also der Interdependenz, ablesen. Praxeologisch ergibt sich, daß dieser Austausch daraufhin analysiert werden muß, in welchem Maß dieser Austausch sich den Bedürfnissen der Entwicklungsländer anpaßt, ohne deswegen die der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen.
Freilich ist die Betroffenheit nicht auf die auf wechselseitigen Vorteil gerichteten Austausch-beziehungen beschränkt. In dem Maß, in dem die Bundesrepublik Deutschland mit Entwick-lungsländern verkehrt, in dem Maße also, in dem hier Gesellschaft funktional konstituiert wird, kann sie sich nicht mehr darauf beschränken, in den gegebenen Beziehungen Gerechtigkeit gleich zu verteilen und darin Gewalt abzubauen. Vielmehr wird hier Verantwortung begründet, die den Industriestaat zwingt, die Entwicklung des Nicht-Industriestaates zu fördern. Aus diesem Zusammenhang läßt sich die Begründung für die Entwicklungshilfe differenziert herleiten. überall dort, wo durch Austauschbeziehungen ein gesellschaftlicher Zusammenhang gebildet wird, wie schwach er auch immer ausgeprägt sei, entsteht die Verantwortung für die Erhaltung der Gesellschaft, also für die Aufhebung des Hungers. Diese Verantwortung ist daher praktisch weltweit. Je intensiver der gesell. schaftliche Zusammenhang als Austauschbeziehung konstituiert wird, je umfangreicher wird die Verantwortung für die Entfaltung der betreffenden Gesellschaft. Ein intensiver Handelsaustausch zwischen einem Industriestaat und einem Entwicklungsland, der nicht zur Industrialisierung (oder zu einer anderen Form ökonomischen Aufstiegs) des Entwicklungslandes führt, bleibt Ausbeutung. Um diese Industrialisierung zu bewirken, sind neben der entsprechenden Gestaltung der Austauschbeziehungen Hilfen erforderlich, deren Ausmaß und Richtung sich nach dem Grad der Interdependenz abstufen lassen. Je intensiver die Austauschbeziehungen, desto größer der Grad der Entwicklung, den der Industriestaat zu bewirken hat.
Konkret: Die Bundesrepublik Deutschland muß, zusammen mit allen anderen Industriestaaten, Hungertod weltweit ausschalten; sie muß im Rahmen ihrer über die EWG vermittelten intensiven Beziehungen zu den afrikanischen Staaten und den Mittelmeerländern für deren Entwicklung sorgen, und zwar nicht nur über eine entsprechende Gestaltung der Handelsverträge, sondern auch über die Entwicklungshilfe. Dies gilt ganz besonders für die Länder, mit denen sie eine intensive Austauschbeziehung unterhält.
Ist auf diese Weise die Herstellung des Prozeßmusters Kooperation in den Beziehungen zwischen der Ersten und der Dritten Welt funktional hergeleitet und differenziert worden, so kann jetzt mit den darin entwickelten Normen das praktische Verhalten der Bundesrepublik Deutschland analysiert und kritisch diskutiert werden. Es zeigt sich daß das Verhalten der Bundesrepublik gegenüber den Entwicklungsländern sowohl systematisch wie subsystemisch wie hinsichtlich der Gestaltung der Austauschbeziehungen und der Entwicklungshilfe defizient ist. Weder zählt die Bundesrepublik auf Weltebene zu den Anwälten einer energischen Anstrengung, den Hunger weltweit zu beseitigen, noch vertritt sie in den Subsystemen der OECD und EWG entschieden genug eine Politik der Anpassung an die Bedürfnisse der Entwicklungsländer. Schließlich ist auch ihre Entwicklungshilfe weder ihrem Umfang noch ihrer Struktur nach unter den hier entwickelten Normen ausreichend. Wenngleich sich die Bundesrepublik Deutschland zweifellos in der vorderen Gruppe der fortschrittlichen Geberländer bewegt und beispielsweise bereit sein würde, die Bindungsklausel aufzuheben, hat auch sie die Forderung der Entwicklungsländer, die Hilfe auf 1 Prozent des Bruttosozialproduktes zu erhöhen und zu drei Vierteln als öffentliche Mittel zu geben, 1971 nicht erreicht. Vielmehr zeigt der Anteil der öffentlichenn Hand eine fallende Tendenz
Auf dem wichtigen Gebiet der Konzeptuali-sierung von Entwicklungsstrategien, die einerseits effizient sind, andererseits die Tradition dieser Länder berücksichtigen, hat die Bundesrepublik Deutschland so gut wie nichts vorzuweisen Lediglich hinsichtlich des Waffen-handels, jener Form der Exportförderung industrialisierter Staaten, die die Entwicklungsländer am meisten belasten, hat sie sich bisher weitgehend abstinent verhalten
Mit dieser funktionalen Ableitung der Notwendigkeit und der Struktur des Prozeßmusters Kooperation fügt sich das Problem der Entwicklungsländer konseguent in eine Gesellschaftslehre ein, die den Fortschritt, den sie im Sinn hat, begrifflich wie empirisch exakt beschreibt. Sie verbindet Formation mit wertmäßig gerichteter Orientierung. Das Prozeßmuster der Kooperation erfüllt kurz-und mittelfristig alle Erwartungen der Entwicklungsländer, ohne die Industriestaaten zu zerstören.
Fazit
Für den Bereich der Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern gilt es also zu erkennen und zu lernen, daß — die Positionsdifferenz zwischen den Entwicklungsstaaten und der industrialisierten Welt auf dem Gebiet der Entwicklung liegen; — die Industriestaaten daher auf dieser Dimension vornehmlich aktiv betroffen sind; — Entwicklung infolge der herrschenden Asymmetrie, des Kolonialismus als Geschichte, der ökonomischen Kapazität der Industriestaaten nur mit dem Muster der Kooperation, also mit dem Austragungsmodus der Anpassung zu erreichen ist; dazu ihrer — die Verpflichtung Ausdehnung und ihrer Intensität nach abstufbar ist; — der Maßstab für diese Abstufung funktional im Grad der Interdependenz, gemessen an der Intensität des Austausches von Gütern, Dienstleistungen, Kommunikationen, liegt; — weltweit die schwächste, aber maßgebende Verpflichtung besteht, den Hunger zu beseitigen; — regional darüber hinaus Entwicklung (vornehmlich Industrialisierung) zu leisten ist; — das Instrument dazu nicht nur die Gestaltung des Handels, sondern zusätzlich reale Hilfeleistungen sein müssen; — diese Hilfen in der gewinnfreien Überlassung von Kapital und technischem Wissen, sodann aber auch in der Hergabe von Konzepten zu bestehen haben, mit denen sich die gesellschaftlichen, ökonomischen und wirtschaftlichen Probleme der Entwicklung bewältigen lassen; — das entscheidende Kriterium in den Bedingungen dieser Hilfe, vornehmlich der Kapital-hilfe zu suchen ist; — diese Hilfen exklusiv den Entwicklungsländern nützen müssen bis zu dem Grad, an dem die soziale Gerechtigkeit in den Industriestaaten beeinträchtigt wird (Arbeitsplatzsicherung) ; — das Prozeßmuster Kooperation, das auf die ist, Entwicklungsländer gerichtet innenpolitische Voraussetzungen im Geberland hat, die die soziale Demokratie dort weiterenwickeln.
VI. Friede als Integration
Von der Kategorie der Betroffenheit wird der Region Westeuropa eine besonders hohe Relevanz für die Verwirklichung des Friedens zugewiesen. Der Prozeß der wechselseitigen Penetration hat eine solche Dichte gewonnen, daß zumindest im Bereich der ursprünglichen sechs Mitglieder, zunehmend aber auch im Rahmen der neun, das administrative Subsystem Staat eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt. Sie läßt sich kaum noch randscharf abgrenzen gegen die Überlagerungen durch Entscheidungen der Gemeinschaft oder Vorgänge in ihr. Selbstverständlich kann dieser Prozeß durchaus rückgängig gemacht werden; er hat sich zumindest nicht verselbständigt, wie das die klassischen funktionalistischen Integrationstheorien angenommen hatten Die politische Entscheidung ist nach wie vor unerläßlich. Ihre Notwendigkeit kann jedoch funktionalistisch aus dieser Interdependenzdichte abgeleitet werden. Die maßgeblichen Produktivkräfte haben sie praktisch schon vorweggenommen; die Folgen davon, wie die Folgen dieser hohen Interdependenz-dichte insgesamt, sind für den einzelnen in seiner Existenz unmittelbar erfahrbar Der etwas verschwommene Begriff der Interdependenz läßt sich auf diese Weise im Mikrobereich aufhellen und veranschaulichen; im Makrobereich ist Westeuropa gerade auch in der Dichte des Güteraustausches mehrfach als Subsystem nachgewiesen worden.
Die Integration, der Umschlag vom offenen System in ein geschlossenes mit zentraler Sanktionsgewalt, die Aufhebung der . Situation hobbesienne ist die oberste Stufe der Prozeßmuster im Internationalen System, der Beginn einer qualitativ neuen Folge weiteren Fortschritts. Hinter dieser These verbirgt sich nicht notwendig ein Weltstaatkonzept. Der Weltstaat ist auf absehbare Zeit nicht realisierbar, in aller Praxis auch nicht wünschbar. Wohl aber ist der Fortschritt des Friedens an die Beseitigung partikularer Subsysteme gebunden, insofern sich dadurch die Möglichkeiten gewaltsamer Austragsmodi verringern und die soziale Gerechtigkeit erhöhen läßt. Wie immer man zum Konzept des Weltstaats stehen mag die Integration hoch interdependenter kleiner Staaten in einem zureichend großen Staat ist eine stringent aus dem hier verwandten Friedensbegriff abzuleitende Forderung. Eine funktionale Friedenstheorie findet ihren logischen Abschluß in der Integration als Norm der Weiterentwicklung von Prozeßmustern zwischen hoch interdependenten Einheiten.
In der besonderen Situation der Bundesrepublik stößt eine solche funktionale Theorie natürlich auf die Schwierigkeiten des Problems der Wiedervereinigung und des deutschen Nationalstaates. Eine Lösung kann hier nur angedeutet werden Sie liegt in einer Entmythologisierung des Staatsbegriffs, in seiner Reduktion auf funktionale Leistungen für die Existenz von Gesellschaft. Wie aus der Interdependenzdichte funktional die Notwendigkeit eines westeuropäischen Staates, also die Aufhebung des Nationalstaates im traditionellen Sinne, abgeleitet werden kann, so hat das Nationalstaatkonzept seine Bedeutung auch für die Wiedervereinigung verloren. Entscheidend ist die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Kommunikationen, damit die soziale Einheit Deutschland als spezifische Kommunikationsdichte wiederhergestellt wird. Auch die kulturelle wie die historische (deren Nachweis schwierig ist) Identität ist zu rekonstruieren. Sie läßt sich aber wiederherstellen, ohne die politische Einheit Deutschlands zu erfordern.
Auf diese Weise ist zunächst einmal das gesellschaftliche Wiedervereinigungsproblem getrennt worden von der Wiederherstellung Deutschlands als Herrschaftssystem und als Machtfaktor. Ergibt sich dann daraus später auch eine zunehmende Dichte im Austausch von Gütern und Dienstleistungen, der sich bekanntlich nach dem Kriege zwangsweise auseinanderentwickelt hat, wird sich das Problem der administrativen Überwölbung der dann gegebenen Interdependenzstruktur neu stellen, freilich kaum auf der Basis der Wiederherstellung von Nationalstaaten. Am plausibelsten sind für diese ferne Zukunft Projektionen, die in Mitteleuropa ein Prozeßmuster durchsetzen, wie es gegenwärtig in Westeuropa herrscht Jedenfalls braucht das Problem der Wiederherstellung der deutschen Einheit wenn es in dieser Weise reformuliert wird, die funktional begründbare Integration Westeuropas nicht zu hindern.
Die funktionalistische Theorie begründet als solche natürlich nicht die Notwendigkeit der Integration. Die Theorie hilft aber diejenigen Räume zu bezeichnen, in denen der Fortschritt des Friedens zum Prozeßmuster der Integration möglich ist. Begründet wird dieser Fortschritt durch die Möglichkeit, mit der Integration die Gewalt durch die Herrschaft des legitimen Rechts zu ersetzen, und damit auf dem Kontinuum der Prozeßmuster einen Punkt zu erreichen, jenseits dessen eine neue Qualität der Weiterentwicklung sichtbar wird.
Friede als Integration läßt sich aber auch von der dadurch möglichen Vermehrung sozialer Gerechtigkeit ableiten. Die Entfaltungschancen des einzelnen dessen Möglichkeiten anzupassen, also Gewalt zu mindern ist praktisch an die Herstellung entsprechend großer öko-nomischer Räume gebunden. Hat sich der europäische Lebensstandard mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schon erheblich verbessert, so wird er, und zwar für jeden einzelnen, mit der Errichtung eines integrierten Wirtschaftsraumes weiter steigen. Anders ausgedrückt: Soziale Gerechtigkeit als Vermehrung der Chancen zur Entfaltung der Existenz ist an die Integration ökonomisch zureichend großer Räume gebunden.
Freilich entscheidet nicht allein die Größe eines Wirtschaftsraumes, sondern auch seine Organisation, seine Struktur. Existenzentfaltung des einzelnen erfordert seine Mitbestimmung und seinen angemessenen Anteil am erwirtschafteten Vermögen. Beides muß also in einer europäischen Integration verwirklicht werden, ist aber andererseits wieder an sie gebunden. Ohne sie können weder die multinationalen Organisationen, insbesondere die Banken, kontrolliert noch beispielsweise die Agrarpreise gesenkt werden
Für diese Neuordnung sind politische Entscheidungen erforderlich, die die in der westeuropäischen Integration liegenden Möglichkeiten, die soziale Gerechtigkeit anzuheben, ausschöpfen. Es versteht sich, daß auf diese Weise auch der Begriff des legitimen Rechts auf einem entscheidenden Sektor seine Operationalisierung erfährt. Ein Rechtsordnung ist nicht schon als solche eine Friedensordnung: alle autoritären Regime und Diktaturen sämtlicher ideologischer Orientierungen weisen dies zur Genüge aus. Der Grad der Legitimität des Rechts, oder in den Begriffen der Friedensforschung: das (weitgehende) Fehlen struktureller Gewalt, wird vielmehr ausgedrückt durch die Verwirklichung der beiden zentralen Inhalte des Friedensbegriffs. In der westeuropäischen Integration ist also ein höherer Grad von Legitimität als soziale Gerechtigkeit zu gewinnen, in dem die Entfaltungschancen des einzelnen durch die Vergrößerung seiner Freiheit politisch und ökonomisch durchgesetzt und rechtlich fixiert werden. Das Konzept dieser Integration läßt sich mit dem Begriff der sozialen Demokratie wenigstens der Richtung nach andeuten. Er grenzt sich ab, sowohl von dem Sozialismus orthodox-marxistischer Provenienz, der die in ihn gesetzten Hoffnungen durch seine Konkretisierung nach 1917 kontinuierlich enttäuscht hat. Er grenzt sich andererseits ab von einem orthodoxen Kapitalismus, dessen partielle Restaurierung in der Bundesrepublik nach 1949 die soziale Marktwirtschaft der Attraktivität beraubt hat, die sie konzeptuell zunächst auszeichnete.
Dieses Konzept im westeuropäischen Rahmen politisch durchzusetzen, ist sicher nicht einfach. Die sozialpolitischen Fortschritte, die innerhalb der EWG durch Angleichung bereits erzielt worden sind, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den einzelnen Mitglieds-staaten unterschiedliche sozio-ökonomische Konzepte vorherrschen. Ihre Harmonisierung ist den politischen Kräften der zukünftigen Union zuzuweisen, den Parteien, den Verbänden, den Gewerkschaften. Die Integration bietet ihnen ebenfalls Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und damit zur Effizienzsteigerung, die sie vordem nicht besessen haben. Ihr Erfolg wird um so größer, je mehr es gelingt, einzelne Mitgliedsstaaten auf diese Konzepte und ihre partielle Realisierung zu verpflichten. Die Strategie des Systemwandels — auf die zum Schlüß noch kurz hingewiesen werden wird — bietet hier einen Katalog von Möglichkeiten, politisch-fortschrittliche Ziele gewaltfrei zu verfolgen.
Fazit
Im Hinblick auf die Integration Westeuropas als einer regionalen Perfektionierung des Friedens gilt es also zu lernen und zu erkennen, daß — bei hoher funktionaler Interdependenz die Ausbildung eines zureichend großen administrativen Subsystems den notwendigen Friedensfortschritt darstellt, weil auf diese Weise die direkte Gewalt (der Krieg) endgültig eliminiert werden kann; — durch eine solche Integration (und nur dadurch) auch die indirekte Gewalt gemindert werden kann, nämlich einmal durch die Verbesserung der Entfaltungschancen mit Hilfe von Rationalisierung, Arbeitsteilung, Größmarkträumen, zum anderen durch die Kontrolle der entscheidenden Produktivkräfte auf der geographischen Basis ihrer Wirksamkeit; — das traditionelle Konzept des Nationalstaates entmythologisiert und durch ein funktionales Konzept ersetzt werden muß;
— die Wiedervereinigung Deutschlands von der Forderung nach Integration Westeuropas nicht betroffen wird, weil sie sich nicht mehr als Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates auffassen läßt, sondern in erster Linie als Restaurierung des sozialen Zusammenhangs und der kulturellen Identität der Deutschen; — politisch diese Restaurierung der deutschen Gesellschaft an das Prozeßmuster Kooperation in Mitteleuropa gebunden ist, das seinerseits durch die Ausbildung einer westeuropäischen Union ermöglicht Und stabilisiert werden wird; — der Schritt zur Integration Westeuropas und zu ihrer entsprechenden Ausgestaltung demzufolge integraler Bestandteil einer auf den Frieden ausgerichteten Politik sein muß;
— die Legitimität dieser Integration durch den Grad an sozialer Gerechtigkeit als Verminderung auch struktureller Gewalt ausgedrückt werden muß-, — die entsprechende sozio-ökonomische Struktur durch die Kooperation von Parteien und Verbänden, schließlich auch durch Teilverwirklichungen in einzelnen Mitgliedsländern mit Vorbildwirkung angestrebt werden muß;
— die Integration als wichtiger Punkt auf dem Kontinuum der Prozeßmuster zu gelten hat, jenseits dessen eine qualitativ neue Problematik des Friedens als der Herausbildung immer größerer Grade von Gerechtigkeit zu gelten hat.
VII. Friede als Systemwandei
Ist die auf den Frieden gerichtete Strategie bei den einzelnen Lernfeldern und Lernzielen immer schon konkretisiert worden, so muß sie ihrer fundamentalen Bedeutung wegen abschließend wenigstens kurz systematisch bezeichnet werden. Das Kardinalproblem der Friedensstrategie heißt, Wandel gewaltfrei zu erreichen. Wandel darf weder zugunsten der Gewaltfreiheit vernachlässigt noch mit Gewalt durchgesetzt werden. Die Verbindung von Gewaltfreiheit und Wandel in Richtung auf größere soziale Gerechtigkeit stellt sich damit als das bedeutendste Problem der politischen Praxis dar.
Wandel bezieht sich einmal immer auf eine konkrete Einheit, deren Zustände verändert werden müssen. Er bezieht sich darüber hinaus aber auch auf alle anderen Mitglieder eines internationalen Systems, deren Zustände ebenfalls verändert werden müssen. Damit sind zwei unterschiedliche Bereiche des Wandels und entsprechend auch zwei unterschiedliche Sätze von Strategien angesprochen.
Während für den Wandel des jeweils eigenen Systems die entsprechenden Regeln existieren, gibt es für die gewaltfreie Bewirkung des Wandels in anderen Einheiten kaum Ansätze. Hier ist Innovation wirklich dringend Denn der Wandel einer Einheit ist ohne den der an-deren Einheiten im System nicht möglich. Unter strategischem Aspekt ist Friede nur als gewaltfreier Systemwandel denkbar, wobei die Grenzen des Systems durch die Dichte der Interaktionen gegeben sind. Friede als System-wandel bedeutet demnach, von einer Einheit aus in allen Einheiten einen Prozeß des Wandels einzuleiten, der auf ihre für den Frieden als Prozeßmuster erforderlichen innenpolitischen Strukturen gerichtet ist.
Von diesem Problem der Strategie des Friedens als eines gewaltfreien Systemwandels gewinnt das Lernfeld nicht nur seinen äußersten Grad von Komplexität; es eröffnet sich von hier aus gleichzeitig auch ein weiterer Durchblick von der Ebene des einzelnen über die des Staates hin zu der des Systems. Da Friede als gewaltfreier Systemwandel abhängig ist von der entsprechenden Organisation der Systemglieder, ist der einzelne in einem Staat im Hinblick auf seine Entfaltungschancen mittelbar betroffen von den Bedingungen, die in anderen Staaten herrschen. Er kann sich daher nicht darauf beschränken, die Entfaltungsbedingungen in seinem Staat zu verbessern, sondern muß auch dessen Außenverhalten so organisieren, daß es Prozeßmuster erzeugt, die friedlich und somit geeignet sind, die Vorbildwirkung der erreichten Entfaltungsbedingungen unbehindert im System zu verbreiten.
In der Strategie des Systemwandels zeigt sich damit erneut die Verbundenheit der drei Ag-gregationsniveaus des einzelnen, des Staates und des Systems, wie sich auch die Beziehung zwischen Innenpolitik, Außenpolitik und Internationaler Politik manifestiert. Diese komplexe Verbindung für jeden einzelnen durchsichtig zu machen und ihn dadurch zu motivieren, sich für die Verwirklichung des Friedens auf allen drei Ebenen einzusetzen, ist dann der dem obersten Lernziel entsprechende oberste Auftrag der Gesellschaftslehre.
Ernst-Otto Czempiel, geb. 1927, Professor für Auswärtige Politik und Internationale Politik an der Universität Frankfurt, Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens-'und Konfliktforschung, Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung. Veröffentlichungen: Das amerikanische Sicherheitssystem 1945— 1966, Berlin 1966; Das deutsche Dreyfus-Geheimnis, München 1966; Macht und Kompromiß. Die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen 1956— 1970, Düsseldorf 1971; Schwerpunkte und Ziele der Friedensforschung, München 1972; sowie zahlreiche Aufsätze zu theoretischen und empirischen Problemen der Auswärtigen und der Internationalen Politik.