Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik Grundkonflikte und Konvergenzerscheinungen
Wolfgang Behr
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Zusammenfassung
Ziel dieser Arbeit ist es, Grundkonflikte und Konvergenzerscheinungen in den gesellschaftlichen Systemen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Wege eines Systemvergleichs aufzuzeigen. Methodischer Ausgangspunkt dabei ist ein Bezugsrahmen, der es ermöglicht, eine Grundorientierung zu gewinnen und daraus Kriterien für die Analyse beider Gesellschaftssysteme abzuleiten. Innerhalb dieses Bezugsrahmens werden für den Vergleich folgende Kategorien benutzt: a) Ökonomie/Gesellschaft, b) Herrschaft /Macht, c) Ideologie /Legitimität. Durch die Einordnung dieser Kategorien in den jeweiligen Bezugsrahmen (Bundesrepublik, DDR) lassen sich Einseitigkeiten vermeiden, wie sie etwa bei Konvergenztheoretikern zu finden sind, die die Kategorie . Ökonomie" allzusehr in den Vordergrund stellen; andere Ansätze überbewerten die Unterschiedlich-lichkeit der Herrschaftssysteme in idealtypischer Manier (Demokratie — Totalitarismus). Eine Antwort auf die Frage nach den Grundkonflikten und Konvergenzerscheinungen in den beiden gesellschaftlichen Systemen wurde in den folgenden Problembereichen gesucht: 1. ökonomisch-gesellschaftliche Funktions-und Entwicklungsfähigkeit der bestehenden Systeme; 2. Herrschaftsmechanismen und Herrschaftsentwicklung; 3. ideologische Absicherung der Systemlegitimität in der Bundesrepublik und in der DDR. Zu 1: Die Steigerung der Produktivität und Rentabilität im ökonomischen Bereich ist primäres Interesse der Eliten in der Bundesrepublik wie in der DDR und entspricht damit den Bedürfnissen breiter gesellschaftlicher Schichten in beiden Systemen. Während allerdings diese Dominanz des ökonomischen Bereichs als systemkonform im Sinne kapitalistischer Wirtschaftsinteressen für die Bundesrepublik verstanden werden kann, ist für die DDR mit der Übernahme kapitalistischer Produktionsweisen und -techniken eine sehr pragmatische Interpretation sozialistischer Zielsetzungen erforderlich, die zu ideologischen Konflikten führt. Konvergenzerscheinungen im ökonomischen Bereich zwischen beiden Systemen sind von diesen Zielsetzungen her nicht zu übersehen. Sie haben sich allerdings bis heute als nicht stark genug erwiesen, um westliche Systeme dem Sozialismus, östliche Systeme dem Kapitalismus anzunähern. Jede Konvergenzkonzeption erweist sich als verkürzt, die — ausgehend von ökonomisch parallelen Entwicklungen — nachweisen zu können glaubt, daß damit ein Automatismus gegeben sei, der auch Herrschaft und Ideologie unterschiedlicher Systeme determiniere. Zu 2: In beiden Systemen haben sich konsolidierte funktionale Eliten herausgebildet, die sich in der DDR durch relativ mehr Homogenität als in der Bundesrepublik ausweisen. Beide Systemeliten sind allerdings insofern gegensätzlich, als sie ihre Bestandsgarantie nur im Rahmen der jeweiligen Systeme haben. Hinzu kommt, daß in der Bundesrepublik ökonomische, in der DDR (partei) politische Eliten dominieren. Die gegenseitigen Interessen der Eliten in beiden Systemen bewegen sich innerhalb des Rahmens der „Friedlichen Koexistenz“, in dem die ideologischen Grundwidersprüche aufrechterhalten bleiben. Dies schließt Kooperation im Sinne des beiderseitigen Nutzens ein, kann jedoch weder theoretisch noch praktisch als Konvergenz der Systeme gedeutet werden. Zu 3: Die Systeme der Bundesrepublik und der DDR stützen sich auf Legitimitätsgrundlagen, die weitgehend unvergleichbar sind. Es läßt sich zeigen, daß trotz vergleichbarer ökonomischer Sachzwänge die jeweiligen Legitimitätsgrundlagen von den Eliten weiterhin zur Rechtfertigung ihres Handelns herangezogen und von den Gesellschaften beider Systeme mehrheitlich akzeptiert werden. Was die Entwicklungstendenzen für die Zukunft betrifft, so zeigen sich für beide Systeme als Industriegesellschaften zwar vergleichbare Problemstellungen, die auch mit durchaus vergleichbaren Mitteln gelöst werden mögen. Dies läßt jedoch keine Folgerung dahin gehend zu, daß dies zu Änderungen im Herrschaftssystem und im ideologischen Selbstverständnis der Systeme im Sinne einer Konvergenz führen müßte.
I. Theoretische, methodische und didaktische Vorüberlegungen
Hypothesen Kapitalistische wie sozialistische Systeme haben bestimmten funktionalen Erfordernissen zu genügen, um bestehende Strukturen zu bewahren und daraus sich entwickelnde Prozesse systemkonform zu verarbeiten. Dies soll die zentrale Ausgangshypothese sein, die bereits entscheidende Elemente des Konflikts und der Konvergenz unterschiedlicher Staats-, Gesellschaftsund Wirtschaftsordnungen in höher entwickeltem Zustand enthält. Der Konflikt der Systeme wird dadurch akzentuiert, daß sich ideologische Normen und Zielsetzungen von westlicher Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft einerseits mit sozialistischer Demokratie und sozialistischer Planwirtschaft andererseits nicht in Einklang bringen lassen. Diese normativ-ideologischen Unterschiede schließen jedoch nicht aus, daß sich in ihrem Bezugsrahmen Notwendigkeiten und Interessen ausbilden, die konvergierende Tendenzen in kapitalistischen und sozialistischen Systemen nachweisen lassen.
Als abgeleitete These wäre hierzu aufzuführen: Es bestehen Interessen von kapitalistischen und sozialistischen Eliten, den Status quo politisch-ökonomischer Systeme beizubehalten und konform weiterzuentwickeln. Das gesamte Konflikt-Konvergenz-Problem zwischen höher entwickelten sozialistischen und kapitalistischen Systemen — im folgenden demonstriert am Beispiel der Systeme Bundesrepublik Deutschland — DDR — zeichnet sich von den hypothetischen Vorüberlegungen her durch dialektische Differenzierungen aus, die bei den folgenden Konkretisierungen zu berücksichtigen bleiben. Die daraus abzuleitende These müßte lauten: Kapitalistische and sozialistische Systeme sind interessiert an der Aufrechterhaltung ihrer jeweiligen zentralen Systemeigenschaften. Um diese zu sichern, bedürfen sie kooperativer Mechanismen, um politische, gesellschaftliche und ökonomische Schwierigkeiten primär im inneren Systembereich durch politische Absicherungen nach außen meistern zu können. Kooperation bedingt allerdings notwendigerweise gewisse Interessenparallelitäten, da es sonst überhaupt nicht zu gemeinsamen Abmachungen kommen könnte. Interessenparallelitäten wiederum sind — so gering ihre Anzahl auch sein mag — identisch mit Konvergenzerscheinungen. Das Hauptproblem der weiteren Überlegungen wird es sein, herauszufinden, inwieweit die spezifischen inneren Systemmechanismen in der Bundesrepublik und der DDR in der Lage sind, einem fortgesetzten Systemkonflikt gewachsen zu bleiben und inwieweit Konvergenzerscheinungen sichtbar werden, die das Konfliktprinzip abbauen und einem der beiden Systembereiche ein Übergewicht zu verschaffen bzw. Möglichkeiten für die Entwicklung eines sogenannten dritten Weges, also eines Mischsystems zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zu eröffnen vermögen 1).
Das in diesem Zusammenhang schwierige Problem einer befriedigenden Operationalisierung kann an dieser Stelle nicht gelöst werden. Es bedürfte einer umfangreichen theoretischen Abhandlung und stieße gerade im Bereich des Vergleichs von Systemen auf Fragen, die bis jetzt noch nicht einmal systematisch gestellt, geschweige denn beantwortet sind Dies kann allerdings nicht heißen, daß auf theoretisch und methodisch begründete Parameter als Grundlage des Vergleichs von Aussagen über die Systeme Bundesrepublik und DDR verzichtet und scheinbar konkreter Beliebigkeit der Ergebnisgewinnung Vorschub geleistet wird. 2. Paradigma In den oben genannten Hypothesen wurden wiederholt Begriffe gebraucht, die für den gesamten Bereich der Politikwissenschaft den Rang von Kategorien beanspruchen können. Kategorien sollen hierbei als Mittel verstanden werden, die Komplexität von Strukturen und Prozessen reduzierbar, systematisierbar und damit einsehbar und rational diskutierbar zu machen Die anschließend kurz zu beschreibenden Kategorien sind in einem interdependenten Verhältnis zu verstehen, das sei-, ne normative Substanz aus dem paradigmatischen Rahmen des jeweiligen Bezugssystems (in unserem Falle Bundesrepublik Deutschland bzw. DDR) erhält. Unter paradigmatischem Rahmen bzw. Paradigma ist hierbei zunächst in Anlehnung an Thomas S. Kuhn zu verstehen, „daß einige anerkannte Beispiele für konkrete wissenschaftliche Praxis — Beispiele, die Gesetz, Theorie, Anwendung und Hilfsmittel einschließen — Modelle abgeben, aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen" Kuhn fährt fort: „Menschen, deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmata beruht, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden. Diese Bindung und die offenbare Übereinstimmung, die sie hervorruft, sind Voraussetzungen für eine normale Wissenschaft, d. h. für die Entstehung und Fortdauer einer bestimmten Forschungstradition."
Es mag genügen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß der Begriff des Paradigmas auf mindestens 22fach verschiedene Weise gebraucht wird um nicht einzelne seiner Varianten darzustellen und zu diskutieren, sondern sofort den für die folgenden Analysen maßgeblichen Begriff zu erhellen. Paradigma ist dabei zu begreifen als Festlegung eines Be. zugsrahmens, der es ermöglicht, eine verbindliche (normative) Grundorientierung und daraus abzuleitende Perspektiven für die Analyse eines Gegenstandes zu gewinnen Der Gebrauch eines Paradigmas ist im allgemeinen nicht beliebig zur Wahl gestellt, sondern in engem Zusammenhang mit der ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Wirklichkeit und den Entwicklungstendenzen eines Systems zu sehen Es wird sich aus den noch zu behandelnden Abschnitten über Ideologie und Legitimität in der Bundesrepublik und der DDR ergeben, daß beiden Systemen «derartig verbindliche Paradigmen eigen sind, die für beide jeweils unterschiedliche „normale Wissenschaft'konstituieren. Es ist deswegen bei der Benutzung des Instruments „Paradigma“ darauf zu achten, daß es offensichtlich problematisch ist, für die Bundesrepublik und die DDR ein gemeinsames Paradigma als Bezugsrahmen und Orientierungssystem zu verwenden. Daraus resultieren u. a. teilweise unterschiedliche Fragestellungen, die sich auf das unterschiedliche Selbstverständnis und entsprechende Selbstinterpretationen der Systeme Bundesrepublik und DDR beziehen. 3. Dimensionen Die Erklärungen zu Begriff und Anwendung von Paradigmen blieben unvollständig, würde nicht ihr dimensionaler Aspekt zumindest erwähnt. Unter Dimensionen von Paradigma und Kategorien sind hierbei zu verstehen:
1. Theorierahmen 2. Methode(n)
3. Realitätserfassung 4. Eigenkomplexität 5. Geschichtlichkeit 6. Ideologiehaltigkeit 7. Kritikfähigkeit 8. Theorie-Praxis-Bezug Die dimensionalen Aspekte sind in den jeweiligen Systemanalysen enthalten, ohne sie hier jeweils im einzelnen zu verdeutlichen.
Ein zusätzlicher Hinweis ist allerdings an dieser Stelle noch wichtig. Der dimensionale Aspekt von Paradigmen und Kategorien hat neben der Klärung des theoretischen Rahmens und der methodischen Perspektive(n) im Rahmen des Systemvergleichs vor allem folgende komplexen Aufgaben zu erfüllen:
1, Die sozio-ökonomischen, politischen und ideologischen Prozesse der Systeme Bundesrepublik Deutschland und DDR zu erhellen
2. entsprechende Strukturen und Funktionen (Dysiunktionen) zu analysieren;
3. zu klären, inwieweit Prozesse, Strukturen und Funktionen (Dysfunktionen) mehr auf systemkonforme Anpassung oder systemtranstendierende Gestaltung (gemessen an Parametern des Status quo) zu interpretieren sind. Ein Theorie-Praxis-Bezug im Sinne der Auswertung der Analyseergebnisse und der Formulierung von konkreten politischen Handlungsanleitungen ist damit (noch) nicht verbunden. Es soll versucht werden, Defizite in dem für Politikwissenschaft wie Politische Bildung gleichermaßen wichtigen Gegenstandsbereich „Systemvergleich" abzubauen und Anregungen für die weitere Diskussion zu geben. Damit verbunden ist ein anderes erkenntnisleitendes Interesse, wie etwa bei Fragestellungen nach der Kooperation zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern unter der Perspektive internationaler Friedenssicherung 4. Kategorien Auf die Funktion eines Paradigmas in seinem Bezug zu ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Bedingungen und Entwicklungen eines Systems wurde hingewiesen. Die ebenfalls bereits erwähnten Kategorien dienen hierbei als weiteres Strukturierungsinstrument. Drei Kategorien in interdependentem Zusammenhang sind zu unterscheiden: 1. Okonomie/Gesellschaft 2. Herrschaft/Macht 3. Ideologie/Legitimität. ad 1: „Das Problem Herrschaft (und im weiteren Sinne Macht) ohne Einbeziehung der Wirtschaft, der Produktions-und Einkommensstruktur zu behandeln, heißt, es, wenn auch nicht aller, so doch hauptsächlicher Problemelemente entkleiden. Die Definition von Herrschaft ohne Ökonomie wird leer, prozessual, reduziert sich auf abstrakte Sanktionsmechanismen, deren allgemeiner Schein sich nicht mehr ursächlich zurückführen, ent-scheinen läßt." Die Ökonomisierung höher entwickelter Industriegesellschaften und ihrer ausdifferenzierten Teilbereiche ist ein nicht zu leugnendes Faktum, unabhängig von sonstigen spezifischen Systemeigenschaften. Der Ökonomisierung der Gesellschaft verläuft die Vergesellschaftung der Ökonomie parallel, ohne daß Letzteres allerdings in unterschiedlichen Systemen so zu verstehen ist, daß Vergesellschaftung (im Sinne von stärkerer gesellschaftlicher Einbindung) notwendigerweise mehr Partizipation bedeuten muß. Vielmehr dominieren weithin ökonomische Strukturen und Prozesse (Sachzwänge) die gesellschaftlichen Beziehungen und Bedürfnisse und entscheiden damit politische und gesellschaftliche Konflikte in Richtung des von ihnen bestimmten Status quo
ad 2: Die funktionale Zuordnung von Ökonomie, Gesellschaft und Herrschaft bedeutet nicht notwendigerweise die einseitige Abhängigkeit des ökonomisch-gesellschaftlichen Sektors von dem politisch-administrativen oder umgekehrt Herrschaft hat vielmehr im allgemeinen — und dies gilt für politische wie ökonomische Herrschaft in kapitalistischen wie sozialistischen Systemen — mehrfache Koordinationsaufgaben, die die Funktionalität und Weiterentwicklung eines bestehenden Systems zu garantieren vermögen. Diese Koordinationsaufgaben lassen sich in drei Bereiche aufgliedern: a) Koordination zum Zwecke der Systemsta. bilisierung, b) Koordination zum Zwecke der Systementwicklung, c) Koordination zum Zwecke der Systemlegitimierung. In den drei genannten Koordinationsbereichen fallen weitgehend System-und Herrschaftsidentität zusammen. Bestehende Herrschaft in einem gegebenen System tendiert dazu, die Systemeigenschaften zur eigenen Herrschaftssicherung zu nutzen und umgekehrt die eigene Herrschaft unter den Bedingungen des bestehenden Systems und seiner möglichen gesteuerten Entwicklungstendenzen abzusichern und zu erweitern ad 3: System und Herrschaft legitimieren sich aufgrund einer Idee. Funktion dieser Idee ist es, die Gesellschaft und ihre ausdifferenzierten Teilbereiche zu integrieren und zu der systemnotwendigen Loyalität zu verpflichten. Ein weiteres damit verbundenes Ziel ist die systemkonforme Regelung von gesellschaftlichen Konfliktpotentialen. Da jedes System und jede Herrschaft auf Dauer notwendigerweise auf Legitimität angewiesen ist, versuchen sie, die Legitimität in ihrem Sinne zu interpretieren und nehmen dabei deren ideologische Verklärung im Sinne von Rechtfertigung bestehender Herrschaft in Kauf Ideologisch werden somit ebenso bestehende Herrschaft und spezifische Systemeigenschaften wie Disziplinierungsmaßnahmen und Gewaltanwendungen als systemnormal gegen systemanomale Dysfunktionalität gerechtfertigt. 5. Paradigmatische Systemrahmen Sind damit die zentralen Untersuchungskategorien knapp erhellt worden, so gilt es nun noch, den paradigmatischen Systemrahmen (theoretische Dimension des Systems in Sy: stemtheoretischen bzw.der Totalität in marxistischen und kritisch-theoretischen Ansätzen) kapitalistischer und sozialistischer Prägung kurz darzustellen. Konkretisierungen sind im weiteren Verlauf nachzuliefern und zu diskutieren. En kapitalistisches System ist dadurch zu charakterisieren, daß sich das Eigentum über die Produktionsmittel primär in privater Hand befindet. Die gesellschaftliche Mitbestimmung über Produktion und Distribution ist nur I schwach ausgeprägt, statt dessen wird kraft Herrschaftsposition im ökonomischen Bereich über Investitionsaufwand, Rationalitätskriterien, Rentabilitätsgesichtspunkte, Produktionsausstoß, Warenverteilung und Dienstlei-I stungsangebot verfügt. Die gigantische Bedeutung des ökonomischen Sektors für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bedingt den Ausbau ökonomischer Herrschaftspositio-
nen zu gesellschaftlich verbindlichen Schalt-zentralen der Macht. Staat und Gesellschaft sind auf die Leistungen der privat geführten und gelenkten Wirtschaft angewiesen und haben sich damit gewissen Determinanten ökonomischer Prozesse anzupassen. Idealtypisch dient als allgemeine Regulierungsinstanz von gesellschaftlichen und ökonomischen Bedürfnissen und Leistungen der Markt; es wird allerdings in der konkreten Darstellung noch zu zeigen sein, inwieweit derartige Marktmechanismen in kapitalistischen Systemen eines höheren Entwicklungsgrades — wie etwa in der Bundesrepublik — noch innerhalb ihres theoretischen Anspruchs intakt sind. Gesellschaftliche und politische Zielsetzungen im Sinne eines anzustrebenden Systemziels sina nicnt gegeben, vielmehr entwickelt sich das System primär aus Gruppeninteressen, die wiederum sehr stark von ökonomischen Gesichtspunkten (möglichst großer Anteil an einem stets wachsenden Bruttosozialprodukt) orientiert sind
Unter einer Vielzahl theoretischer und praktischer Varianten sozialistischer Systeme ist hier und im folgenden das für die DDR und den sowjetisch-osteuropäischen Bereich relevante aufzugreifen. Die gesellschaftlich-ökonomische Struktur ist gekennzeichnet durch Kollektivität, was Idealtypisch die gesellschaftliche Verfügung über die Produktionsmittel beinhaltet, faktisch jedoch auf die zentrale Leitung ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse durch Partei und Staat hinausläuft. Idealtypisch sollen die für kapitalistische Systeme kennzeichnenden Klassengegensätze überwunden werden, faktisch bestehen allerdings erhebliche gesellschaftliche Ungleichheiten fort, die sich — wie im Falle der DDR noch zu zeigen sein wird — im Zuge ihrer industriellen Weiterentwicklung eher verschärfen als vermindern. Dominierend ist vor allem ein allgemeiner Zentralismus, der seinen obersten Bezugsgipfel in der Spitze der Parteihierarchie findet
II. Die Konvergenzdiskussion in West und Ost
Abbildung 2
Paradigma und Kategorien Wisserschaftstheoretisches Paradigma Ökonomie/Gesellschaft Herrschaft/Macht Ideologie/Legitimität Paradigma: Konvergenz der Systeme Behaviorismus, Funktionalismus, Analyse und Extrapolation von Einzelerscheinungen, Leugnung der dauerhaften Existenzfähigkeit des Sozialismus, Leugnung ideologischer Grundannahmen, Alternative zum Marxismus (Rostow) Industriegesellschaft: Stadienlehre (Rostow), Technostruktur (Galbraith), Zu vernachlässigende Kategorie gegenüber der Kategorie der Indust犸٬?
Paradigma und Kategorien Wisserschaftstheoretisches Paradigma Ökonomie/Gesellschaft Herrschaft/Macht Ideologie/Legitimität Paradigma: Konvergenz der Systeme Behaviorismus, Funktionalismus, Analyse und Extrapolation von Einzelerscheinungen, Leugnung der dauerhaften Existenzfähigkeit des Sozialismus, Leugnung ideologischer Grundannahmen, Alternative zum Marxismus (Rostow) Industriegesellschaft: Stadienlehre (Rostow), Technostruktur (Galbraith), Zu vernachlässigende Kategorie gegenüber der Kategorie der Indust犸٬?
Auf der Grundlage der oben dargestellten Kategorien und Dimensionen sowie im Rahmen der skizzierten Paradigmen sind wesentliche Beiträge zur Konvergenzdiskussion in West und Ost im folgenden kurz zu referieren. Diese Beiträge werden — ohne den Konzeptionen ihrer Urheber Gewalt anzutun — mit Hilfe des obigen Kategorienrasters, der Dimensionen und im Rahmen der Paradigmen strukturiert, Damit soll es ermöglicht werden, die Schwerpunkte unterschiedlicher konvergenz-theoretischer Vorstellungen und deren Kritik deutlicher herauszuarbeiten und gleichzeitig verbesserte Ansätze für deren kritischen Vergleich zu liefern. 1, Begriff und Intention von Konvergenz-theorien Zunächst sind allerdings Begrifi und Intention von Konvergenztheorien vor dem Hintergrund unterschiedlicher Staats-, Gesell-schafts-und Wirtschaftssysteme zu klären. Es sind hierunter evolutionistische theoretische Systeme zu verstehen, die sich unter dem Eindruck des Kalten Krieges entwickelten und Fragen nach einer Wandlung der kapitalistischen und sozialistischen Systeme stellten, um von der Bipolarität des Ost-West-Kon-flikts zu einer neuen übergeordneten (harmonischen) Weltordnung zu führen. Die frühen Ansätze so zu verstehender Konvergenztheorien wurden ausschließlich im Westen ent-* wickelt. Entsprechend sind sie normativ stark von der zu dieser Zeit noch anhaltenden Periode des Antikommunismus geprägt Von sozialistischer Seite wurden die im Westen konzipierten Konvergenztheorien — von wenigen spektakulären Ausnahmen abgesehen — abgelehnt (zu diesen Ausnahmen sind zu rechnen: Sacharow in der Sowjetunion, Ota Sik in der ÖSSR). So sieht Günther Rose ein Wissenschaftler in der DDR, in den westlichen konvergenztheoretischen Überlegungen lediglich subtilere und taktisch raffiniertere Methoden zur Überwindung sozialistischer Systeme durch die kapitalistisch-imperialistischen. Wie sehen im einzelnen konvergenztheoretische Ansätze westlicher Wissenschaftler aus? Welche Gegenargumente werden ihnen von östlicher Seite entgegengestellt? Grundlegende Ausgangsbasis aller westlichen Konvergenztheorien ist der Typus der „Industriegesellschaft" und dessen immanente Entwicklungsgesetze. Demnach sind die Entwicklungssystemzwänge von Industriegesellschaften ungeachtet ihrer Ideologien das dominierende und determinierende Systemelement. Antagonismen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen werden evolutionär überwunden. Es ergibt sich aus diesem grundlegend zu konstatierenden Nachweis, daß der Kategorie Okonomie/Gesellschaft eine eindeutige Bevorzugung und Überlegenheit gegenüber den anderen Kategorien ungeachtet des jeweiligen Systemparadigmas zuteil wird. Es erübrigt sich damit, an dieser Stelle nochmals auf Besonderheiten des kapitalistischen bzw. sozialistischen ökonomisch-gesellschaftlichen Systems einzugehen. Vielmehr interessiert, wie sich derartig konvergierende Prozesse im Rahmen der Entwicklungen von kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften ergeben sollen. a) Walt W. Rostow Einzugehen ist hier zunächst auf die konvergenztheoretischen Vorstellungen bei Walt W. Rostow Deutlich dominiert in Rostows evolutionistischer Stadienlehre die ökonomisch-gesellschaftliche Kategorie, wobei das Hauptgewicht auf dem ökonomischen Aspekt liegt. Rostow unterscheidet fünf Stadien des wirtschaftlichen Wachstums und konzipiert diese in bewußtem Gegensatz zu dem Versuch einer ökonomisch bestimmten historischen Entwicklungstheorie bei Karl Marx (Rostow nennt seine Entwicklungstheorie auch ein „Non-Communist Manifesto“). Der Vollständigkeit halber werden die fünf Entwicklungsstadien bei Rostow im folgenden aufgezählt; eingehender werden wegen ihres Bezugs zum Thema allerdings nur die beiden letzten Stadien behandelt.
Die fünf Stadien wirtschaftlichen Wachstums bei Rostow sind:
1. Die traditionelle Gesellschaft, die durch vortechnische Strukturen gekennzeichnet ist und sich ideologisch dem Fatalismus ergibt. Ökonomie wird primitiv betrieben. 2. Die Anlaufperiode, in der Wissenschaft und Technik beginnen, Strukturen zu prägen („Take-off" -Stadium).
3. Die Periode des wirtschaftlichen Auistiegs, in der die Technologie zur Basis des gesellschaftlichen Fortschritts wird („Drive to Modernity“).
4. Die Entwicklung zum Reifestadium, in deren Verlauf neue Industrien entstehen und sich internationale wirtschaftliche Verflechtungen ergeben („Modernity").
5. Das Zeitalter des Massenkonsums, in dem sich ein rapides Ansteigen des Pro-Kopf-Real-einkommens ergibt. Die Arbeitsqualität steigt generell an (Entwicklung von einfachen Arbeitern zu Facharbeitern). Es ist das Stadium des allgemeinen Wohlfahrtsstaats („Post-Mo-dernity"). In diesem Stadium der Entwicklung ist die Phase der Konvergenz von gleichentwickelten Systemen erreicht.
Bleibt diese Entwicklungstheorie bei Rostow inhaltlich dürftig genug, so weiß sie darüber hinaus — was für das Thema der Konvergenztheorie von besonderer Wichtigkeit ist — nichts Plausibles über Struktur und Weiterentwicklung der Post-Modernitäts-Phase als eigentlichem Konvergenzstadium zu sagen. Insbesondere fällt auf, daß kategoriale Probleme wie Macht und Herrschaft oder Ideologie und Legitimität sowie die Möglichkeit eigenständiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ungeachtet ökonomischer Ausgangsbedingungen überhaupt nicht in Betracht gezogen werden. Auch die Problematik des Erreichens von Systemgrenzen, der Rückentwicklung von Systemen oder revolutionärer Sprünge wird bei Rostow nicht berücksich-tit Man kann damit soweit gehen, Rostows Stadienlehre als extrem einseitig, wis-senschaftstheoriefern, ideologisch und damit als unbrauchbar für weiterreichende Erörte-rungen zur Konvergenz bzw. Konflikt zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen zu bezeichnen b) John K. Galbraith Ebenso wie Rostow stellt John K. Galbraith die ökonomisch-gesellschaftliche Kategorie in den Vordergrund seiner Untersuchung über das moderne Industriesystem Galbraith versucht allerdings die gesamtwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen in hochkomplexen Industriesystemen (er geht dabei insbesondere von den Verhältnissen in den USA aus) nicht pauschal wie Rostow darzustellen, sondern bezieht seine Erklärungsmuster primär von den einzelnen Betrieben (insbesondere den Großkonzernen) und deren wechselseitigen Verflechtungen. Für Galbraith zentral ist die heterogene Gruppe derjenigen in einem Betrieb, die auf irgendeine Weise leitende Funktionen aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse im betrieblichen Wirtschaftsprozeß, seiner planerischen Gestaltung und technischen Umsetzung innehaben. Der Gruppe der Kapitaleigner und des Managements im engeren Sinne stellt Galbraith diese weitere Gruppe gegenüber, der er die Bezeichnung . Technostruktur" gibt
Galbraith versucht, dem gesellschaftlichen Element der ökonomisch-gesellschaftlichen Kategorie einen höheren Stellenwert (als dies etwa bei Rostow der Fall ist) einzuräumen, indem er die Technostruktur zur Determinante einer Kapitalgesellschaft erklärt. Die Technostruktur ist überhaupt für Galbraith ein Gruppengremium, durch das partizipativ die Einzelinformationen eines Betriebes zu einer Gesamtentscheidung verarbeitet werden. Galbraith konstatiert „ein hohes Maß an Autonomie“ für die Technostruktur, da nur so deren optimale Entscheidungsfindung unbeeinflußt von verzerrten einseitigen Außeninformationen möglich ist. Galbraith geht sogar soweit, die Einmischung von Seiten der Eigentümer (der Aktionäre) als eine Gefahr zu bezeichnen. Einen entsprechenden Prozeß sieht er im vollen Gange, „da Tod und Vermögens-teilungen, die vielseitigen Interessen von Trusts und Stiftungen, die Streueffekte von Erbschaftsregelungen und Legaten sowie die künstlerischen, philanthropischen und sozialen Ambitionen unfähiger Erben dazu beitragen, das Aktienkapital einer Gesellschaft in mehr und mehr Hände zu streuen"
Fordert der Galbraithsche Begriff der Technostruktur eine eingehende Analyse heraus (die im folgenden in dem als notwendig erscheinenden Umfang geliefert werden soll), so gilt Ähnliches für seine Darstellung des Marktes, der zentralen Regelungskategorie westlicher Wirtschaftssysteme in ihrem Selbstverständnis. Galbraith stellt fest, daß durch die „übliche Firmenstrategie“ „der freie Markt durch eine autoritative Festlegung der Preise und der zu diesen Preisen verkauften oder gekauften Mengen ersetzt wird“ Diese Ausschaltung des Marktes sieht Galbraith auf dreierlei Weise: 1. durch Umgehung des freien Marktes; 2. durch einseitige Verkäufer-oder Käufer-kontrolle; 3. durch marktausschaltende Absprachen zwischen Verkäufern und Käufern. „Alle diese Maßnahmen sind vertraute Erscheinungsformen des Industriesystems"
Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, im einzelnen die Galbraithschen Ausführungen zu belegen oder zu widerlegen. Sofern es für die Thematik des Systemkonflikts bzw.
der Systemkonvergenz nötig erscheint, wird empirisches Material im Zusammenhang mit der konkreten Darstellung später nachgeliefert.
Festzuhalten bleibt allerdings für den Galbraithschen Beitrag zur Konvergenzdiskussion, daß er eine innerbetriebliche Demokratisierung in Gestalt der Technostruktur konstatiert, womit zwar einerseits eine Entmachtung der Kapitaleigner und einseitiger Unternehmerinteressen verbunden sein soll, jedoch nicht eine weiterreichende allgemeine betriebliche Mitbestimmung. Die Rolle des Marktes in westlichen Wirtschaftssystemen wird von Galbraith zunehmend geringer eingeschätzt, da die primär am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten die Marktmechanismen um-28 gehen und außer Kraft setzen. Als Konsequenz hieraus läßt sich eine Entwicklungsperspektive sehen, die — folgt man den Gedankengängen von Galbraith — die Technostrukturen unterschiedlicher Industriegesellschaften zu den eigentlichen Macht-und Herrschaftsträgern machen. Galbraith zieht diesen Schluß nicht, kann ihn auch gar nicht ziehen, da er die anderen wichtigen kategorialen Aspekte (Macht/Herrschaft und Ideologie/Le-gitimität) in seine Überlegungen nicht einbezieht. Seine Konvergenzperspektive muß daher — obwohl scheinbar präziser ausgearbeitet als bei Rostow — ebenfalls den Vorwurf der Einseitigkeit herausfordern — einer Einseitigkeit, die so weit geht, daß er — vergleichbar mit systemtheoretischen Entwicklungstheorien wie etwa von G. A. Almond, L. W. Pye und S. Verba — das Industriesystem der USA als Kategorie der Modernität schlechthin setzt, an der kein sich entwikkelndes Industriesystem auf Dauer vorbeikommt. Eine derart einseitige Entwicklungsperspektive in Verbindung mit dem darin enthaltenen nationalen Optimismus bzw. Pessimismus ist ebenso wenig wie bei Rostow haltbar. 2. Marxistisch-leninistische Kritik Den Auffassungen der beiden westlichen Vertreter zu einer primär ökonomisch-bedingten Konvergenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen werden im folgenden zwei Vertreter der marxistisch-leninistischen Theorie entgegengestellt. Wie bereits oben ausgeführt, hatten Konvergenzvorstellungen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen ihren Ursprung im westlichen Bereich und wurden nur von Außenseitern im Bereich sozialistischer Systeme rezipiert. Waren es für den westlichen Bereich vor allem Wissenschaftler der USA, die an konvergenz-theoretischen Untersuchungen arbeiteten, so waren und sind es umgekehrt primär Vertreter der DDR, die Kritik an westlichen Konvergenzvorstellungen übten und ihre Auffassungen hierzu auf der Grundlage marxistisch-leninistischer Theorie (orientiert an praktischen Interessen der DDR-Staatsräson) vortrugen“) a) Günther Rose Es ist zunächst auf die Arbeiten von Günther Rose einzugehen Rose erkennt und kritisiert den Typus der Industriegesellschaft, der in westlichen konvergenztheoretischen Vorstellungen zentral Ausgangspunkt und Entwicklungslinien bestimmt. Rose bemängelt insbesondere die Ausklammerung der Beziehungen von Herrschaft und Gesellschaft, die er primär durch Kapitalinteressen in westlichen Gesellschaften bestimmt sieht, sowie die daraus resultierenden innergesellschaftlichen Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital. Diese Widersprüche und ungelösten Herrschaftskonflikte in kapitalistischen Systemen erweitert Rose auf den Systemantagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus und interpretiert entsprechend westliche Konvergenzvorstellungen als „eine der wichtigsten konzeptionellen Grundlagen für die imperialistische Strategie der Aufweichung, Spaltung und Zersetzung des Sozialismus ..." Problematisch ist es allerdings für Rose wie für andere Kritiker westlicher Konvergenztheorien aus dem Bereich der sozialistischen Systeme, die eigenen ökonomisch-gesellschaftlichen Leistungen als eigenständig und qualitativ anders gegenüber den Leistungen kapitalistischer Systeme auszuweisen. Entsprechend liegt das Schwergewicht der Argumentation auf den Kategorien Herrschaft/Macht und Ideologie/Legitimität. Unumstößliche Grundlage ist die Ideologie des Marxismus-Leninismus und die unantastbare Führungsrolle der auf dieser theoretischen Basis agierenden Partei. So läßt sich bereits an dieser Stelle sagen, daß westliche Konvergenztheorien und östliche Erwiderungen häufig mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen aneinander vorbeiargumentieren. Rose konstatiert, daß trotz des Bestehens des Prinzips der friedlichen Koexistenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen die objektiven antagonistischen Widersprüche weder aufgehoben werden sollen noch können. Ein Ausgleich der Systemunterschie-de durch Konvergenz ist demnach überhaupt nicht möglich. Eine Aufhebung der Widersprüche kann ausschließlich erfolgen „durch die soziale Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse durch die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder .. An dieser Auffassung ist zu kritisieren, daß die marxistisch-leninistische Entwicklungstheorie dogmatisch zum ausschließlichen Maßstab der Bewertung anderer theoretischer Ansätze sowie von Paradigmen in Theorie und Praxis genommen wird. Bezeichnend ist damit für die westliche Konvergenztheorie wie für die marxistisch-leninistische Entwicklungstheorie, daß sie langfristig eine Identität der Systeme zu erkennen glauben, allerdings in völlig unterschiedlicher Perspektive und unter Benutzung schwer vergleichbarer Kategorien, Dimensionen und Argumente
In Verbindung mit der Betonung des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital und der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse hebt Rose die Bedeutung der Regelung der Eigentumsfrage in sozialistischen Systemen hervor und wendet sich gleichzeitig scharf gegen die Vernachlässigung dieser Frage in westlichen Konvergenztheorien. Insbesondere die These der Technostruktur bei Galbraith greift Rose unter diesem Aspekt an: „Die Manager-theorie gehört also offenbar zu jenen apologetischen Lügen, mit denen die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern über die wirklichen Machtverhältnisse getäuscht werden sollen und die in die sozialistischen Staaten exportiert werden sollen, um die Bedeutung des sozialistischen Eigentums für die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft zu negieren. Für den Charakter einer Gesellschaftsordnung ist die Eigentumsfrage von höchster Bedeutung." Rose stellt die Verbindung der Kategorien Okonomie/Gesellschaft und Herrschaft/Macht her, wenn er feststellt: „Das Eigentum an den Produktionsmitteln verleiht Macht über Millionen Menschen. Daran hat sich seit Karl Marx'Zeiten nur eines wesentlich verändert: Die wirtschaftliche Macht ist mit der des Staates verschmolzen." Es wird bei der konkretisierenden Überprüfung dieser theoretischen Ansätze im weiteren Verlauf der Untersuchung insbesondere dar-auf zu achten sein, inwiefern Unterschiede und — falls ja — welcher Art zwischen den Eigentumsverhältnissen in der Bundesrepublik und der DDR bestehen; inwiefern vor al-lern formal und ideologisch unterschiedliche Eigentumsformen in der Bundesrepublik und der DDR auch unterschiedliche systeminterne Macht-und Herrschaftsverhältnisse, insbesondere in bezug auf ökonomische und gesellschaftliche Prozesse (gesellschaftliche Mitbestimmung) mit sich bringen.
Trotz der Unterschiede zwischen den Stellungnahmen zu westlichen Konvergenztheorien bei Wissenschaftlern in der DDR wie Günther Rose und Herbert Meißner erfolgt an dieser Stelle keine gesonderte Problematisierung der Thesen von Rose, zumal diese teilweise bereits während der Darlegung erfolgten. Im Anschluß an die Darstellung der Antithesen bei Meißner zur Konvergenztheorie soll allerdings auf die Stärken und Schwächen beider DDR-Wissenschaftler in ihrer Auseinandersetzung mit westlichen Konvergenztheorien — insbesondere unter Berücksichtigung obiger Kategorien und paradigmatischer Rahmen — eingegangen werden. b} Herbert Meißner Noch stärker als Rose begreift Meißner die Konvergenztheorien als Ausflüsse bürgerlicher Ideologie unter den Bedingungen sich wandelnder Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Systeme und der Möglichkeiten imperialistischer Einflußnahmen Die Position Meißners führte bei den Veröffentlichungen Roses zu konvergenztheoretischen Ansätzen nach 1966 zu einer Reihe von Modifikationen, die unter dem angesprochenen Aspekt als Annäherungen an Meißner zu interpretieren sind. Bestehen zwischen Rose und Meißner Unterschiede in den Auffassungen hinsichtlich der Kontinuität konvergenztheoretischen Denkens in westlichen Gesellschaften, so sind sie sich doch darin einig, daß die gegenwärtigen konvergenztheoretischen Ansätze Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen in westlichen Systemen gegenüber sozialistischen Systemen sind
Es muß einer weiteren Untersuchung im Rahmen der Konvergenzthematik zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorbehalten bleiben zu klären, inwieweit westliche Konvergenztheorien als Ausdruck strategischen Systemdenkens zumindest teilweise zu verstehen sind. Daß diese Frage für sozialistische Systeme nicht weiter untersucht zu werden braucht, ergibt sich aus dem Theorie-Praxis-Verständnis des Marxismus-Leninismus, das diesen Systemen als ideologische Richtschnur zugrunde liegt. Es ist allerdings hier für die weiteren Überlegungen unerheblich, ob westliche Konvergenztheorien politisch-strategische Zielsetzungen verfolgen oder primär wissenschaftlich-theoretisch ohne Bezug zu aktuellen Systemanliegen im allgemeinen konzipiert worden sind. Hier geht es vielmehr darum festzustellen, inwieweit Konvergenz-theorien überhaupt in der Lage sind, auf kategorialer und paradigmatischer Basis wesentliche Merkmale kapitalistischer und sozialistischer Systeme in Struktur und Prozeß zu treffen und entsprechend überprüfbare Aussagen über die Entwicklungstendenzen kapitalistischer und sozialistischer Systeme zu machen.
Meißner räumt ein, daß es „in beiden Systemen aufgrund des annähernd gleichen Vergesellschaftungsgrades der Produktion, infolge des gleichen Entwicklungsstandes der Technik, angesichts der gleichen Entwicklungstendenzen in Wissenschaft und Forschung in bestimmten Fragen Ähnlichkeiten" gebe. Gleichzeitig hebt er wie Rose auf die zentrale Schwäche der meisten westlichen konvergenztheoretischen Ansätze ab, die ausschließlich auf ökonomischer Basis erfolgen Problematisch bei Meißner wie bei Rose ist allerdings die aus Krisenerscheinungen kapitalistischer Systeme abgeleitete Schlußfolgerung, die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus sei ein unumstößliches Gesetz der weltgeschichtlichen Entwicklung. Jeder theoretische Ansatz außerhalb des Marxismus-Leninismus kann damit lediglich vorübergehend gesellschaftliche Entwicklungstendenzen kapitalistischer Systeme zum Sozialismus aufhalten, aber letzten Endes nicht verhindern. An dieser Ausschließlichkeitskonzeption werden sämtliche westlichen Konvergenztheorien gemessen. Auch in dieser Frage wird bei der Konkretisierung im weiteren Verlauf der Untersuchung zu zeigen sein, inwieweit Meißner wie Rose eigene ideologische Positionen überbewerten und wichtige damit verbundene Perspektiven der Erhaltung von bestehenden Herrschaftsverhältnissen in kapitalistischen Systemen außer acht lassen.
Roses Betonung der Rolle der Eigentumsverhältnisse in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen findet sich in gleicher Eindringlichkeit bei Meißner. Auch in dieser Frage wird konkret zu klären sein, inwieweit formal zu konstatierende unterschiedliche Eigentumsverhältnisse und Produktionsverhältnisse in kapitalistischen und sozialistischen Systemen am Beispiel der Bundesrepublik und der DDR wesentliche qualitative Systemunterschiede bewirken, die ausschließen, daß diese Systeme an dem Stand ihrer Produktionskapazität gemessen und verglichen werden können. Falls derartige gravierende qualitative Unterschiede objektiv empirisch nachgewiesen werden können, ergibt sich daraus die Zweifelhaftigkeit jedes Unterfangens, die Bundesrepublik und die DDR quantitativ zu vergleichen, wie dies etwa in den „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971“ unternommen wurde 3. Zusammenfassung Darstellung und Vergleich konvergenztheoretischer Ansätze und deren Kritik müssen hier abgebrochen werden. Von den kategorialen und paradigmatischen Ausgangspositionen her scheint dies gerechtfertigt. Die unterschiedliche kategoriale Schwerpunktbildung in konvergenztheoretischen Ansätzen und deren Kritiken konnten ebenso aufgezeigt werden wie unterschiedliche paradigmatische Ausgangsbedingungen. Im folgenden sind diese nochmals einander gegenüberzustellen und daraus zentrale Fragestellungen abzuleiten:
III. Zentrale Fragestellungen
Die Schwerpunkte der weiteren Behandlung des Themas sind damit abgesteckt: 1. Die wissenschaftstheoretischen Paradigmen divergieren sehr erheblich. Darauf soll allerdings erst im Anschluß an vergleichende Systemanalysen im Rahmen der Thesen und Fragestellungen eingegangen werden. Es wird dann abschließend zu zeigen sein, inwieweit das industriegesellschaftlich-konvergenztheoretische oder das marxistisch-konflikttheoretische Paradigma mehr Plausibilität im Gesamtbereich oder in wesentlichen Teilbereichen für sich beanspruchen kann.
2. Der These der konvergenztheoretisch konzipierten Industriegesellschaft (Stadienlehre — Technostruktur) stehen von marxistischer Seite die kategoriale Bestimmung der Klassengesellschaft und des Grundkonflikts zwischen kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften gegenüber. Hier muß versucht werden, einen Nachweis für Existenz und Inhalt der jeweiligen Kategorie im System der Bundesrepublik Deutschland oder der DDR zu liefern. Die Unterschiedlichkeit der Paradigmen ist dabei zu berücksichtigen.
3. Der herrschaftsunabhängigen Kategorie der Evolution in konvergenztheoretischen Annahmen steht die Annahme einer gezielten Strategie in der marxistischen Theorie gegenüber. Durch Analyse der Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik und der DDR soll aufgezeigt werden, in welchem Umfang die eine oder andere These als haltbar erscheint. 4. Konvergenztheoretiker leugnen ideologische Grundannahmen in ihrem wissenschaftstheoretischen Ansatz. Demgegenüber bestehen die marxistischen Theoretiker darauf, daß sowohl die Konvergenztheorien wie die marxistischen Positionen von derartigen ideologischen Prämissen ausgehen. Entsprechende Analysen sollen vergleichend nachweisen, inwieweit Konvergenztheorien ein geringeres Maß an Ideologie aufweisen sollen als entsprechende Positionen marxistischer Theorie. Die Beantwortung der damit verbundenen Fragestellung ergibt sich aus der Überprüfung der Thesen zu den konvergenztheoretischen Annahmen von Industriegesellschaft und Evolution sowie marxistischen Positionen mit den Schwerpunkten: Kapitalistische — sozialistische Gesellschaft.
In Verbindung mit den aufgeworfenen Problemstellungen sind weitere Thesen zu formulieren, deren Beantwortung im paradigmatischen und kategorialen Zusammenhang letztlich Aufschluß darüber geben soll, inwieweit konvergenztheoretische Vorstellungen in bezug auf die Systeme Bundesrepublik Deutschland und DDR haltbar sind bzw. bis zu welchem Grade sie dies sind. Die Frage nach Grundkonflikten und Konvergenzerscheinungen der Systeme Bundesrepublik und DDR soll demnach in folgenden Problembereichen zu beantworten sein: 1. Ziele und Inhalte der Systeme Bundesrepublik Deutschland und DDR. 2. Ökonomisch-gesellschaftliche Funktionsfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit der bestehenden Systeme Bundesrepublik und DDR. 3. Herrschaftsmechanismen und Herrschaftsentwicklung in den Systemen Bundesrepublik und DDR. 4. Ideologische Absicherung der Systemlegiti-mität in der Bundesrepublik und der DDR.
Unter diesen Voraussetzungen soll dann die endgültige Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellungen in den genannten Problembereichen davon abhängen, ob 1. bestehende Ziele und Inhalte in den Systemen Bundesrepublik und DDR auf Dauer aufrechterhalten werden können oder in stärkerem Umfange revidiert werden müssen; 2. damit zusammenhängend die Funktionsfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit der Systeme Bundesrepublik und DDR auf Dauer gewährleistet werden können; 3. bestehende Eliten ihren Herrschaftsanspruch auf Dauer durchzusetzen vermögen oder einer Ablösung urch konkurrierende alternative Eliten unterliegen; 4. die Verbindlichkeit der Systemlegitimität garantiert ist.
Die Beantwortung dieser zuletzt aufgeworfenen Probleme bilden Schluß und Ergebnis der Untersuchung.
IV. Das System Bundesrepublik Deutschland
Art. 5. 3 GG bestimmt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." Formal ist dadurch für jedes wissenschaftliche Paradigma in der Bundesrepublik ein weiterer und mehr der Beliebigkeit privater Forschungs-und Lehrinteressen überlassener Rahmen gegeben als in der DDR (vgl. Kap. V). Es ist deswegen zulässig, die zuvor formulierten Fragen von sehr unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ansätzen her anzugehen, ohne dabei jeweils im einzelnen zu untersuchen, inwieweit diese dem Selbstverständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik mehr oder weniger entsprechen. Spätestens in dem Abschnitt „Sachzwang oder Legitimitätssyn-drom?" wird allerdings darauf einzugehen sein, inwieweit theoretisch abgesicherte Analyseergebnisse über wichtige Systemelemente der Bundesrepublik aktuell gesellschaftliches Bewußtsein widerspiegeln oder als Produkte „freischwebender Intelligenz" (K. Mannheim) isoliert neben oder über diesem stehen. Es kann bereits an dieser Stelle die Hypothese aufgestellt werden, daß „das Grundparadigma kritischer Politikanalyse": „die Beziehungen zwischen den Klassen, ihre Konflikte" die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik nicht trifft, somit zur Interpretation des Selbstverständnisses der Bundesrepublik und seiner Entwicklungsmöglichkeiten von nur begrenztem heuristischem, methodischem und analytischem Wert im Rahmen eines Systemvergleichs ist. Dennoch wird wegen der formalen wissenschaftlich-paradigmatischen Offenheit in der Bundesrepublik ein derartiger eigenständiger Ansatz (U. Jaeggi) neben einer konservativen (H. Schelsky) und einer kritisch-bzw. sozial-liberalen Position (R. Dahrendorf und K. v. Beyme) behandelt. Hinzu kommen empirisch ermittelte Daten zum politisch-ökonomischen Komplex der Bundesrepublik. 1. Industriegesellschaft oder kapitalistische Gesellschaft? a) Der Begriff der „Industriegesellschaft“ Auszugehen ist zunächst von dem, was Konvergenztheoretiker unter „Industriegesellschaft" verstehen. Es wird sich hierbei erweisen, daß derartige Begriffsbestimmungen nicht allzu erhellend ausfallen. Galbraith etwa führt für das System der USA aus: „Fast das ganze Nachrichten-und Fernmeldewesen, beinahe die gesamte Produktion und Verteilung von elektrischem Strom, ein guter Teil des Transportwesens, die meisten Produktions- und Bergwerksbetriebe, ein wesentlicher Teil des Einzelhandels und ein großer Sektor des Unterhaltungsgewerbes liegen in den Händen der Großbetriebe. Maßgeblich daran beteiligt sind nicht allzu viele Firmen -wenn wir von 5— 600 sprechen, dürften wir sie ziemlich vollständig erfaßt haben." Daraus leitet er in unmittelbaren Anschluß ab: „Diesen Teil der Wirtschaft identifizieren wir automatisch mit der modernen Industriegesellschaft.“ Konvergierende Tendenzen der Industriegesellschaften — „unabhängig von ihrer jeweiligen ideologischen Prägung" — sieht Galbraith durch die gleichläufige Entwicklung in der modernen Massenproduktion, dem massiven Kapitalbedarf, hochentwickelter Technologie und komplizierter Organisation gegeben. Preiskontrolle und Meinungsmanipulation der Käufer gehören ebenso dazu. Dies alles mündet in eine Planung, die für die westlichen Industriegesellschaften an die Stelle des freien Marktes tritt Die Einseitigkeit der Bestimmung des Entwicklungsprozesses von Industriegesellschaften und die unzureichende Beschreibung des Begriffs selbst lassen diesen wie die damit verbundene Konvergenztheorie kaum an wissenschaftlich überprüfbarer Gültigkeit und Zuverlässigkeit gewinnen.
Ebenso unzureichend bis unbrauchbar und einseitig ist der Zuschnitt der Kategorie Gesellschaft auf fünf Wachstumsstadien bei Rostow. Gesellschaft wird ausschließlich von einer Periodisierung der wirtschaftlichen Entwicklung her bestimmt und in die Zukunft extrapoliert Die Einseitigkeit der damit hergestellten Kausalitätsbeziehungen ohne einen zureichenden Versuch, wenigstens diese zu definieren, ergibt ein grob verzerrtes Bild gesamtgesellschaftlicher Entwicklung in Vergangenheit und Zukunft. Zur kategorialen Be-Stimmung dessen, was Gesellschaft und Wirtschaft sein soll, trägt Rostow vornehmlich nur Produktionsziffern bei, wobei er sich der Mühe unterzieht, die in Gebrauch befindlichen Automobile in bestimmten Ländern in der Zeit von 1900— 1958 quantitativ vergleichend zu erfassen
Der erstaunliche Mangel an Präzision und exakter Definition der gebrauchten Begriffe der Gesellschaft bzw. Industriegesellschaft bei Rostow und Galbraith läßt es geraten erscheinen, sich nach einer wissenschaftlichen Konzeption umzusehen, die der Konvergenz-theorie zuzurechnen ist und — international weniger spektakulär als die der beiden genannten amerikanischen Wissenschaftler — die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der einzelnen Aussagen logisch ableitbar und überprüfbar darstellt. Ein derartiger Autor ist Helmut Schelsky Für ihn ist die industrielle Gesellschaft ihrem eigenen Produktionszwang unterworfen Schelsky versucht dies u. a. damit zu begründen, daß die Entwicklung der modernen Technologie derartig hohe Kosten erfordert, daß die Privat-wirtschaft zu deren Aufbringung überfordert ist. Hinzu kommt die funktionale Notwendigkeit staatlich übergreifender Rahmenplanung, Kontrolle und Daseinsvorsorge Schelsky vermag damit allerdings nicht zu erklären, warum fortschreitende Technologie ein determinierendes Agens gegenüber Gesellschaft und Staat sein soll und nicht umgekehrt Staat und Gesellschaft Ziele und Inhalte der technologischen und ökonomischen Entwicklung bestimmen können. Er bindet die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung in die Kategorie des Sachzwanges ein, dessen einzige Zielfunktion höchste Effizienz des Gesamtsystems ist, wobei allerdings dieser Zielwert von Schelsky nirgendwo inhaltlich definiert wird. Wie bei Galbraith und Rostow haben wir es also auch bei Schelsky mit Leerformeln zu tun, die nicht in der Lage sind nachzuweisen, warum die Bestimmung von Industriegesellschaft (Galbraith), Stadien wirtschaftlichen Wachstums (Rostow) oder wissenschaftlich-technischer Zivilisation (Schelsky) ausschließlich so (und dazu noch so unzureichend) zu interpretieren sind, wie ihre Autoren dies tun, und warum nicht etwa inhaltlich mehr oder weniger anders. b) Zur Kritik des Begriffs „Industriegesellschaft" An dem undifferenzierten Konzept, das auf dem Typus der Industriegesellschaft basiert, übte aus kritisch-liberaler Position Ralf Dahrendorf bereits Ende der fünfziger Jahre Kritik und wies ihm den Rang eines Mythos zu. Dahrendorf knüpfte daran Fragen, wie etwa nach dem Problem der Ungleichheit der Menschen in einer derartigen Gesellschaft sowie der Uberund Unterordnung. Mit diesen Fragen sieht er eine Dimension der Gesellschaft verbunden, „die dem harmonisierenden Bild der industriellen Gesellschaft widerspricht"
Die theoretischen Kontroversen um den Typus der Industriegesellschaft gewinnen für die Kritiker dieses Begriffs dadurch an Bedeutung, daß sie in der Lage sind, empirisches Material vorzutragen, das den Hinweis erlaubt, daß in kapitalistischen Gesellschaften nicht allein der evolutionäre ökonomische Prozeß zum Mittelpunkt einer entsprechenden Untersuchung gemacht werden kann (die dann entsprechend Tendenzen zur Gesellschaft des Massenkonsums und einer [demokratisierten] Technostruktur erlaubt), sondern daß die Kategorien von Herrschaft/Macht sowie Ideologie/Legitimität zur Beurteilung der Gesamtzusammenhänge unbedingt einbezogen werden müssen.
Die Struktur des gesellschaftlichen Systems der Bundesrepublik kennzeichnet Ralf Dahrendorf dadurch, daß eine Machtelite die oberen zweitausend Positionen besetzt. Dahrendorf spricht von ihr als „abstrakter Elite“, die politisch multiform sei, sich jedoch nicht auf eine Konkurrenz der Interessen und Personen einlasse, sondern sich zu einem „Kartell der Angst" verbinde. „Die deutsche politische Klasse regiert ihre Gesellschaft gleichsam wider Willen." Als eine der Konsequenzen der Wirkung des konstatierten Elitenkartells sieht Dahrendorf einen modernen Autoritarismus, „der alle Nachteile seiner historischen Vorgänger teilt, nur darin noch perfider ist, daß sich das Zentrum der Autorität in ihm nicht mehr identifizieren läßt"
Die Frage nach dem Zentrum der Autorität im gesellschaftlichen System der Bundesrepublik versucht Urs Jaeggi aus marxistischer Position zu beantworten. Er stellt fest, daß von der Investitionsfreudigkeit der Unternehmer die Funktionsfähigkeit von Ökonomie und Gesellschaft abhängt. Der Staat kann hierbei nicht neutral sein, da ihm an der Effizienz des ökonomischen Systems gelegen sein muß „Für den , Staat'aber bedeutet das: entweder beugt er sich dem System, dem Gegebenen oder aber er wirkt mit an der Zerstörung des Systems."
Als einzige der großen politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland geht die SPD auf diesen Sachverhalt ein, wenn es im Go-desberger Programm heißt: „Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, er übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus". „Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht. Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind."
Die Rolle der SPD als Regierungspartei seit 1969, ihre Schwierigkeiten bei den Versuchen der Durchsetzung „innerer Reformen“, die Konflikte zwischen Mutterpartei und Jungsozialisten sowie innerhalb der Jungsozialisten machen deutlich, wie schwer und weit der Weg von theoretischer und analytischer Bestandsaufnahme des Systems der Bundesrepublik bis zur Entwicklung und Realisierung von Alternativen ist. Die Wahlerfol-ge der SPD von 1969 und 1972 können nicht als Indiz für eine Annäherung gesellschaftlichen Bewußtseins von der politisch-ökonomischen Wirklichkeit der Bundesrepublik und den Zielprojektionen offizieller sozialdemokratischer Politik interpretiert werden. Die jeweiligen Paradigmen erwiesen immer wieder in wichtigen Bereichen (Wirtschaft, Bildung, Städtebau u. a.) ihre Heterogenität. Die SPD-Parteiführung bemüht sich neuerdings wieder im Sinne einer gesellschaftlichen Anpassung, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Nichts zeigt deutlicher die Problematik der ausschließlichen Anwendung eines kritischen politisch-ökonomischen Paradigmas auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und den entsprechenden Bewußtseinsstand in der Bundesrepublik. Entsprechend vorsichtig argumentiert Klaus von Beyme. Für ihn ist die These, daß eine Machtelite ihre Auffassung durchsetze, erst noch empirisch zu überprüfen und die (Jaeg-gis Untersuchung zugrunde liegende) Spätkapitalismushypothese „bisher zu wenig auf die Kommunikation zwischen politischer und wirtschaftlicher Elite hin getestet worden“ Die von Jaeggi 1969 konstatierte . überraschend große Meinungskonformität“ im Bereich der Standard-Werte der westdeutschen Gesellschaft, die von den Elitenangehörigen weitgehend geteilt werde, versucht von Beyme zu relativieren, indem er auf die wachsende Pressekonzentration und die Verfestigung des Elitenkartells (etwa in der Zeit der Großen Koalition) verweist, die allerdings nicht eine wachsende Meinungskonformität zur Folge gehabt hätten, sondern gerade das Gegenteil sei durch die „berechtigte Kritik der Linken" eingetreten. Diese Feststellung Beymes kann wiederum Jaeggis Aussage nicht schlüssig widerlegen, da 1. Meinungskonformität zwischen Gesellschaft und Eliten deren konstellationsbedingten Wandel nicht ausschließt (Beispiel: Einstellung von Gesellschaft und Eliten in der Bundesrepublik gegenüber der DDR in den fünfziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre);
2. Meinungskonformität wegen vorhandener oder sich entwickelnder gruppenspezifischer Interessen Struktur-und normenbedingte Grenzen in einer Gesellschaft nicht überschreiten kann (Beispiel: Die über lange Zeit in der Bundesrepublik verharmlosten gesellschaftspolitischen Fragen gewinnen mehr und mehr Brisanz, so daß hierüber keine statische Meinungskonformität auf Dauer hergestellt werden kann, auch wenn dies im Interesse von Eliten oder eines Teiles von Eliten liegen sollte [Bildungsreform, Bodenrecht, Gesundheitswesen, Strukturplanung u. a. ]);
3. Meinungskonformität zwischen Gesellschaft und Eliten solange nicht grundsätzlich in Frage gestellt ist, als ein Konsensus über wesentliche gesamtgesellschaftliche Grund-normen (Grundgesetz und dessen rechtliche und politische Interpretation) und formale Spielregeln (z. B. parlamentarisches Regierungssystem) erhalten bleibt. Die engagierte Kritik linker Minderheiten in der Bundesrepublik hat bis heute diesen gesamtgesellschaftlichen Konsensus nie ernsthaft in Frage zu stellen vermocht. c) Empirische Daten zur Wirtschaftskonzentration Beyme sieht ebenso wie Jaeggi, Hirsch u. a. in der Wirtschaftskonzentration der Bundesrepublik Deutschland ein entscheidendes Systemelement, das eine einheitlich handelnde Machtelite verstärken könnte
Zu belegen ist dies durch folgende Zahlen:
1. 1968 waren in Industrieunternehmen mit über tausend Beschäftigten rund 50 °/o aller Beschäftigten tätig. Unternehmen dieser Größenordnung stellten lediglich 2, 3 0/0 aller Unternehmen dar. Sie haben allerdings einen größeren Umsatz als alle übrigen Unternehmen zusammen
2. 1967 betrug der Umsatzanteil der 10 größten Industrieunternehmen (VW, Siemens, Hoechst, Thyssen-Hütte, Bayer, VEBA, Daimler-Benz, AEG-Telefunken, BASF, Krupp) 16, 8 °/o. Die Konzentrationsbewegung wird durch folgende Vergleiche verdeutlicht: 1954 erreichten die 50 größten Unternehmen der Bundesrepublik einen Umsatzanteil von 17, 7 °/o, 1960 die 25 größten einen Umsatzanteil von 16, 1 ’/o. Im Jahr 1967, Höhepunkt der bisher schwersten Wirtschaftsrezession der Bundesrepublik mit anschließend wieder raschem Konjunkturanstieg, ging der Gesamtumsatz der Industrie um 1, 90/0 zurück. Der Umsatz der 10 größten Industrieunternehmen stieg demgegenüber um 2, 5 % und erhöhte ihren Anteil am Gesamtumsatz um fast 1 %
3. 1965 war ca. ein Viertel des Kapitals der deutschen Aktiengesellschaften durch Schachtelbesitz in Konzernen verkettet
4. Ende 1960 waren 91 Geschäftsbanken an 386 Aktiengesellschaften in 476 Fällen beteiligt. Sie hielten mit 1,025 Milliarden DM mehr als 3 % des gesamten Grundkapitals aller Aktiengesellschaften. In 210 Fällen war ihre Beteiligung höher als 25 % Von 425 börsennotierten Aktiengesellschaften befanden sich 70% des Aktienkapitals im Eigenbesitz der Banken oder in ihren Kundendepots. Knapp drei Viertel dieses Aktienkapitals wurde von den Banken auf den Hauptversammlungen vertreten
5. Von 1960 bis 1966 erhöhten 1,7 % der Haushalte in der Bundesrepublik ihren Besitz an Produktivvermögen von auf 74 % 70).
6. In den sechziger Jahren setzte sich der wirtschaftliche Konzentrationsprozeß im multinationalen Bereich der westlichen Industrie-systeme verstärkt fort; er scheint in der Gegenwart die Probleme der nationalen Wirt-sdiaftskonzentration schon zu überlagern, erst recht dürfte dies für die nahe Zukunft gelten
Der wirtschaftliche Machtzuwachs von führenden Großunternehmen bewirkt eine zunehmende Abhängigkeit von Klein-und Mittel-unternehmen, die als Zulieferfirmen fungieren Damit einher gehen vertikale, horizontale und diagonale Konzentrationen in der Wirtschaft:
1. Vertikale Konzentration: Aufeinanderfolgende Produktionsstufen (z. B. Kohle, Eisen und Stahl) oder Fabrikation und Handel werden zusammengefaßt;
2. Horizontale Konzentration: Unternehmen eines Bedarfsmarktes werden zusammenge.
faßt. Damit verbunden sind Preis-, Produktions-und Absatzabsprachen;
3. Diagonale Konzentration: Unternehmen, deren Produkte sowohl Produktions-wie absatzmäßig nichts oder fast nichts miteinander zu tun haben, werden zusammengefaßt. Angestrebt wird damit eine höhere Risikoabsicherung (Beispiel in der Bundesrepublik: Oetker-
Derartige Konzentrationsbewegungen stärken einerseits das politische Gewicht des ökonomischen Systems und ökonomischer Eliten im Rahmen des Gesamtsystems sowie des politischen Systems der Bundesrepublik. Andererseits greifen die Staaten westlich-marktwirtschaftlicher Systeme — seit dem Beginn der Großen Koalition 1966 auch verstärkt in der Bundesrepublik — in wirtschaftliche Prozesse ein. Dieser Typ des „Interventionsstaates'wird zum Zwecke der Stabilisierung des Gesamtsystems und der Krisenabwendung in Teilsystemen mit weitreichenden Folgen immer wichtiger (vgl. wirtschaftliche Rezession 1966/67 — Große Koalition — Erfolge der NPD — Außerparlamentarische Opposition (ApO) — Konzertierte Aktion — Soziale Symmetrie — Mittelfristige Finanzplanung -Orientierungsdaten für die Wirtschaft -Staatliche Konjunktursteuerungsmaßnahmen u. a.). Dem politischen Machtzuwachs ökonomischer Eliten (Großaktionäre, Spitzenmanager, Interessengruppen) auf der einen Seite entspricht der ökonomische Machtzuwachs politischer Eliten (staatliche Bürokratie, Kabinettsmitglieder, Fraktionsspitzen) auf der anderen Seite. Politische und ökonomische Planung durchdringen sich gegenseitig, wöbe der gesellschaftliche Status quo nicht in Frage gestellt wird. Dies schließt die Aufrechterhaltung ökonomischer Macht-und Herrschaftsverhältnisse und ihre entsprechenden Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft ein (vgl die langjährige Diskussion um qualifizierte Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Industriebetrieben). „Die verschiedenen Konzentrationsbewegungen ...setzen den gesellschaftlichen Pluralismus nicht ganz außer Kraft, reduzieren ihn aber weiter und lassen ihn zu einem Binnenpluralismus unter akzeptierten und undiskutierten Entscheidungsprioritäten und unrevidierbaren Institutionen werden“. „Fest steht ...der Entscheidungsrahmen, das Muster und die mehr oder minder starre Hierarchie. Derartige Konflikte und solche Konkurrenz finden sich aber auch in jedem sogenannten Totalitarismus." Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß eines der kennzeichnenden Systemelemente der Bundesrepublik eine politisch-ökonomische Elite ist, die aufgrund der stark systemdeterminierenden Bedingungen ökonomischer Prozesse in der Lage ist, gesamtgesellschaftlich wichtige politische Entscheidungen überproportional zu beeinflussen. Politisches System und ökonomische Eliten gehen damit eine Verbindung ein, die einseitige politische Herrschaftsausübung im Gegensatz zu der Theorie eines gesellschaftlichen und politischen Pluralismus begünstigt. Die fortschreitende wirtschaftliche Konzentration in der Bundesrepublik wie in anderen westlichen Industriesystemen vergrößert die Einflußmöglichkeiten des politischen Systems und ökonomischer Eliten zuungunsten der politischen Einwirkungsmöglichkeiten eines gesellschaftlichen Pluralismus. „Es ist außer Frage, daß ein Teil des Konzentrationsprozesses nicht ohne erheblichen Schaden und zum Nachteil für die Wohlstandsproduktion der Gesellschaft zu stoppen wäre. Dennoch bleibt das Problem, daß . . . wirtschaftliche und politische Konzentrationsbewegungen Hand in Hand gehen" 2. Politisch-administrative, ökonomische oder gesellschaftliche Planung?
a) Politisch-administrative und ökonomische Pegulierungsmechanismen Eine der wichtigsten Aufgaben des politischen Systems in allen hochentwickelten Industrie-gesellschaften ist die Regulierung der Gesamtnachfrage. Konsumentenbedürfnisse werden zwar vordergründig durch industrielle und landwirtschaftliche Produktion und Ver-teilung befriedigt. Art und Umfang dieser Befriedigung richten sich jedoch im Rahmen der Bestimmungen des jeweiligen Wirtschaftssystems nach den Möglichkeiten der staatlichen Absicherung wirtschaftlicher Investitionen, insbesondere in Großbetrieben. Das permanente Risiko wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ungleichgewichts mit entsprechenden politischen Folgen verlangt die permanente Präsenz des Staates, um durch Interventionen im Falle labiler Entwicklungstendenzen vorzubeugen. Dies verlangt gesetzgeberische Fixierungen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse, die mit Hilfe der staatlichen Verwaltung unter den Bedingungen des ökonomischen und gesellschaftlichen Status quo durchgeführt werden.
Die Möglichkeit gesellschaftlicher Wandlungsprozesse wird unter diesen Umständen beschnitten, da die Sicherung der ökonomischen Produktionsbedingungen Vorrang vor weiterreichenden gesellschaftlichen und politischen Reformen hat. Planung und Steuerung wirtschaftlicher Prozesse durch das politische System der Bundesrepublik erfolgen allerdings keineswegs unabhängig. Die Notwendigkeit der wenig veränderten Beibehaltung der bestehenden ökonomischen Grundbedingungen zwingt den Staat, sich Sachzwängen des ökonomischen Teilsystems zu öffnen und unter Hintanstellung anderer wichtiger gesamtgesellschaftlicher Interessen (Umweltschutz, Bildungswesen, Bodenrecht) immer wieder zu entsprechen.
Das komplexe System der Bundesrepublik verlangt — vergleichbar dem entsprechenden Entwicklungsstadium anderer Industriegesellschaften — einen funktionsfähigen, gigantischen Verwaltungsapparat. Die Problematik des Wirkens demokratischer Repräsentativorgane — wie etwa des Bundestages — wird dabei offenkundig da ihr Handlungsspielraum ebenso wie der des gesamten legalen Herrschaftsapparates (z. B. Regierung und Verwaltung) „durch eine charakteristische Verbindung von ökonomischer Effizienz und politischer Legitimität geprägt“ wird. Dies schließt Formen heteronomer Herrschaft im Gegensatz zu dem normativen Postulat demokratischer Herrschaftskontrolle mit den Mitteln des parlamentarischen Regierungssystems ein. * Vordergründig scheint dies die These Schelskys zu bestätigen, der den Staat „als einen technischen Körper" begreift, „der funktionieren muß, und zwar mit höchster Leistungsfähigkeit, mit einem Optimum an Ertrag, gemessen an dem, was an Kräften darin steckt" Diese Bestimmung versteht allerdings den Staat als eine auf allgemeine Effizienz ausgerichtete objektive gesamtgesellschaftliche Verteilerapparatur. Schelsky unterläßt es (bzw. begründet es mit seinem spezifischen soziologischen Vorverständnis), die in seiner postulierenden Definition des Staates benutzten Begriffe und Phrasen wie „funktionieren muß", „mit höchster Leistungsfähigkeit", „Optimum an Ertrag" und „was an Kräften in ihm steckt“ an irgendwelchen Parametern zu messen und von daher Ziele, Richtungen und Inhalte zu bestimmen. Die Einwirkung des ökonomischen Teilsystems auf alle Belange des Gesamtsystems, konkreter gesprochen: die Vormachtstellung der Großkonzerne gegenüber der gesamten Gesellschaft und ihre bestimmende Wirkung auf Regierung, Bürokratie und öffentliche Meinung zeigen, daß die Entwicklungstendenzen des Systems der Bundesrepublik nicht schlechthin wissenschaftlich, planungstheoretisch und politisch objektiv sind, sondern maßgeblichen Gruppeninteressen und der funktionalen Auswirkung ihrer gesamtgesellschaftlich relevanten Positionen entspringen. „Die Rolle der herrschenden, Prioritäten fixierenden, den Prozeß ohne politische Prioritätendiskussion am Laufen haltenden Bürokratie ist dabei kaum zu überschätzen." Die Ein-und Anbindung der demokratisch legitimierten Regierung und ihrer parlamentarischen Kontrolle in/an ökonomisch Vorentschiedenes und bürokratisch routinemäßig Verwaltetes ist ein Charakteristikum des Systems der Bundesrepublik. Dies ist historisch-genetisch und aktuell-funktional erklärbar, entspringt jedoch nicht objektiven Notwendigkeiten, sondern in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder neu zu treffenden politischen Entscheidungen, die in bestimmten Konstellationen durchaus alternativ ausfallen können und entsprechend alternative Konsequenzen nach sich ziehen. b) Entwicklung und Intentionen politischer Planungssysteme Letztere Aussage läßt sich augenfällig überprüfen an einem Phänomen, dem bis in die jüngste Vergangenheit in der Bundesrepublik erhebliche Aversionen entgegenstanden, das allerdings in den letzten Jahren ungemein an Bedeutung gewonnen hat, obwohl sich teilweise damit verbundene euphorische Vorstellungen nicht einstellten: dem Instrumentarium politischer Planungssysteme.
Im wesentlichen waren es zwei Gründe, die in der Vergangenheit gegen den Aufbau politischer Planungssysteme in der Bundesrepublik sprachen: 1. Neoliberale Wirtschaftstheorie und Praxis der Sozialen Marktwirtschaft postulierten die Eigenentscheidung des Unternehmers im Rahmen der Gesetze des Marktes. Planungsrationalität widersprach nach dieser Auffassung der Marktrationalität und war somit ein systemfremdes Element 2. Planung wurde weithin identifiziert mit Sozialismus bzw. Kommunismus, Systemideologien also, von denen man sich absetzen wollte. Hinzu kamen erhebliche Mängel in der Planungspraxis sozialistischer Staaten, die in der Tat eine Nachahmung ihrer Projekte in den fünfziger und beginnenden sechziger Jahren (insbes. auf dem Gebiete hochgesteckter und nicht erreichter ökonomischer Wachstumsziele) als nicht geraten erscheinen ließen. Allerdings wurde hierbei der Begriff der Planung im allgemeinen undifferenziert angewandt und keine Unterscheidung getroffen zwischen zentraler Partei-, Staats-und Verwaltungsplanung einerseits und demokratischer, dezentraler, unter Einbeziehung der Interessen Betroffener veranstalteter Planung andererseits.
Die wirtschaftliche Rezession in der Bundesrepublik 1966/67 mit ihren politischen Konsequenzen bewirkte einen Umdenkungsprozeß. Insbesondere die erfolgreiche Wiederankurbelung der wirtschaftlichen Konjunktur in der Ära der Großen Koalition bewirkte einen Umschlag in eine politische Planungseuphorie, die allerdings weniger nach gesellschaftlichen und politischen Gesamtzielprojektionen fragte, als vielmehr Planungsinstrumente in den Dienst bestehender und im Sinne der Aufrechterhaltung weiterzuentwickelnder ökonomischer und politischer Verhältnisse stellte. Die in diesem Zusammenhang geprägten Schlagworte geben über die Intentionen der Planungsvorhaben Aufschluß: „Aufschwung nach Maß", „Orientierungsdaten“, „Globalsteuerung", „Mittelfristige Finanzpla-nung", „Konzertierte Aktion“, „Soziale Symmetrie'u. a.
Alle diese Planungsvofhaben und -ansätze, die hier nicht im einzelnen weiter thematisiert werden können, gehen von der Vorüberlegung aus, daß die zunehmende Komplexität des Systems der Bundesrepublik Tendenzen zu anarchischer Unkontrollierbarkeit und entsprechender Krisenanfälligkeit aufweist, die nach einer politisch-ökonomisch koordinierten Planungs-und Steuerungskapazität zentraler Instanzen verlangt, um im Sinne eines Krisen-managements dysfunktionale Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und durch die Bereitstellung von Planungsmechanismen zu überwinden. Es ist bezeichnend für das Dilemma einer so zu interpretierenden politischen Planung, daß sie bis heute etwa auf dem wichtigen Gebiet der Bildungsplanung nicht in der Lage war, verbindliche Zielprojektionen festzulegen, die eine entsprechende inhaltliche und formale Gestaltung politischer Planung erlaubten. c) Systemimmanente Grenzen poJitischer Planung Damit werden systemimmanente Grenzen politischer Planung in der Bundesrepublik sichtbar. Theoretisch lassen sich entsprechende Mängel und Lücken im politischen Planungssystem der Bundesrepublik zurückführen auf:
1. das Unvermögen, bereits erreichte wissenschaftstheoretische, sozial-und politikwissenschaftliche planungstheoretisch relevante Standards für die politische Planungspraxis und deren Umsetzung nutzbar zu machen;
2. die Komplexität des Systems Bundesrepublik, die sowohl in ihrem vorgeschalteten gesellschaftlichen Pluralismus wie in den Auswirkungen politisch-ökonomischer Elitenherrschaft die Verbindlichkeit von Planungsansätzen für Theorie und Praxis politischer Pla-nungssysteme nicht zuläßt;
3.den mangelhaften Informations-und Kommunikationsfluß im System Bundesrepublik, wovon alle intrasystemaren Teilbereiche (politisches, soziales und ökonomisches System) sowie deren Subsysteme (z. B. Parlament, Wissenschaft, Massenmedien, Belegschaften von Betrieben) betroffen sind; * 4. die pathologische Lernfähigkeit (K. W. Deutsch) des Gesamtsystems. Voraussetzung für eine normale Lernfähigkeit wären Korrekturen der in den Punkten 1— 3 aufgezeigten Mängel.
Trotz der Bemühungen der Bundesregierung Brandt/Scheel zeigten sich entsprechende Mängel in den von ihr initiierten Planungsvorhaben und Planungsgremien. Bestehende Systemzwänge (wie etwa das industrielle Wachstum und seine Konsequenzen) wurden dabei programmatisch (vgl. Regierungserklärung Brandt 1969) ebenso unzureichend berücksichtigt wie effektive Möglichkeiten kurz-, mittel-und langfristig angelegter Reformplanung („innere Reformen"). Strukturelle Barrieren in der Bundesrepublik (wie etwa der Föderalismus) wurden ebenso ignoriert wie notwendigerweise auftretende politische, ökonomische und gesellschaftliche Interessenkonflikte, die — soweit sie CDU/CSU-Op-Position, die Mehrzahl wirtschaftlicher Unternehmer, die Mehrzahl der vermietenden Hausbesitzer und Bodenspekulanten betraf — vorhersehbar waren. Entsprechend wurden Reformpolitik und dafür nötige Planung versprochen, die in der politischen Realität aufgrund der aufgezeigten Schwierigkeiten und Hindernisse nicht zu bewältigen sind.
Gleichfalls hindernd, allerdings ebenfalls vorhersehbar, war und ist das relativ immobile gesellschaftliche Bewußtsein, das sich weitgehend selbst bei politisch und ökonomisch negativ Betroffenen bis zu einem gewissen Grade feststellen läßt. Ein derartiges Verhalten entspricht nicht den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland angelegten Möglichkeiten, da es von demokratisch-normativ selbstverständlichen Freiheits-und Kontrollrechten keinen oder im allgemeinen nur unzureichenden Gebrauch macht. Gelegentliche Bürgerinitiativen können bis jetzt nicht als durchschlagendes Gegenargument angeführt werden.
Entscheidend für die politische Planung und Steuerung der Bundesrepublik bleibt das Problem der Veto-Gruppen und ihre weitgehende Neutralisierung und Paralysierung auf dem Boden des Status quo. Dies läßt sich zwischen Bundesregierung und parlamentarischer Opposition, zwischen nichtbürokratischen Planungsstäben und der staatlichen Bürokratie, zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, zwischen Bund und Ländern feststellen. Der sozio-ökonomische Wandel vollzieht sich unaufhörlich, verläuft in einer exponentiellen Kurve und gestaltet System und Umwelt zunehmend komplexer und weniger übersichtlich. Durch politische Manipulationen (dema21 gogische Auftritte im Wahlkampf, Lobbyismus u. a.) sind die anstehenden und drängender werdenden politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme in der Bundesrepublik nicht zu bewältigen.
Von der Bundesregierung wurden 1968 ein besonderer Kabinettausschuß (Reformkabinett) und eine Projektgruppe für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung eingesetzt Nach dem Regierungswechsel von 1969 wurde auf der Grundlage von Vorarbeiten des Planungsstabes im Bundeskanzleramt und der Projekt-gruppe verstärkt mit dem Ausbau der Institutionen für die ressortübergreifende „Aufgabenplanung" begonnen. Die erste Entwicklungsstufe bildete das „Frühkoordinierungssystem der Bundesregierung“ Diese Maßnahme stand in engem Zusammenhang mit den Absichten des Regierungsprogramms, „innere Reformen" in der Bundesrepublik zu realisieren. Als wichtigstes Hilfsmittel hierbei diente das in den USA entwickelte Konzept des „Planning-Programming-Budgeting-System" (PPBS)
Die anfängliche Reform-/Planungs-Euphorie machte bald einer ernüchterten Betrachtungsweise Platz. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen erwiesen ihre Resistenz — mehr noch: im Vorfeld politischer Planungsvorgänge, im Regierungsapparat selbst, begünstigte die unerwartet restriktive Einstellung gegenüber der Durchführung von Planungsvorhaben eine Entwicklung, die „heute von bestimmten Gruppen innerhalb und außerhalb der Ministerialbürokratie zum Anlaß genommen (wird), die Praktikabilität und Wirksamkeit von politischer Planung als Strategie zur Rationalisierung des gesellschaftlichen Zielfindungs-und -realisierungs-Prozesses generell in Frage zu stellen" In einem ersten empirischen Befund kommt Heribert Schatz u. a. zu folgenden Thesen, die systemimmanente Grenzen politischer Planung im Bereich von Bundesregierung und Bundesverwaltung dokumentieren 1. Die Zielangaben sind im allgemeinen formal und lassen einen breiten Interpretationsspielraum zu.
2. Die den Planungsmitgliedern gesetzten zeitlichen Fristen sind meist eng.
3. Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft sollen herangezogen werden, was de facto jedoch nur in relativ geringer Zahl geschieht.
4. Die möglicherweise betroffenen Ressorts sollen frühzeitig beteiligt werden (was die Lenkung der Planung in bürokratisch vertraute Bahnen begünstigt).
5. Die Ressorts (einschließlich der Fachabteilungen des Bundeskanzleramtes) verhalten sich in bezug auf ressortübergreifende Strukturplanungen im allgemeinen eher passiv und abwartend, z. T. auch ablehnend.
6. Außerhalb von Bundesregierung und Bundesverwaltung werden nur in geringem Umfange Zielvorstellungen für Strukturplanungen artikuliert, die als „brauchbar“ empfunden werden.
7. Funktionsüberschneidungen der einzelnen Planungseinheiten lösen immer wieder Kompetenzkonflikte aus.
8. Alle Planungseinheiten zeigen die Tendenz zur Anpassung an Strukturmuster ihrer hierarchischen Umgebung (Probleme der Größe von Planungseinheiten, individuelle Karriere-motive). Auch der nicht näher festgelegte Auswahlmodus mag hierbei eine Rolle spielen. 9. Das Reformkabinett tagt meist nur zweimal jährlich. Zu den Mitgliedern der Planungseinheiten bestehen insgesamt nur begrenzte und zudem statusmäßig stark differenzierte Kommunikationsbeziehungen. Vorherrschend ist ein Dienstweg über drei bis vier Zwischenstationen mit entsprechender „Störanfälligkeit“ Ein beträchtlicher Teil der Kommunikationskanäle zur Umwelt des Planungsvorhabens steht nur einzelnen Mitgliedern (aufgrund von Status-, Partei-oder Ressortzugehörigkeit, außerdienstlichen Verbindungen usw.) offen.
10. Zwischen den einzelnen Planungseinheiten bestehen überwiegend sporadische, mitgliederspezifische Kommunikationsverbindungen, die allenfalls für funktionelle „Negativ-Koordination" ausreichen. 11. Die Kommunikationsbeziehungen zwischen Ressortangehörigen und Strukturplanern sind selten und inhaltsarm.
12. Über die Zielsetzungen der verschiedenen Planungseinheiten ist weder zwischen diesen noch in der Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung in Gang gekommen. In der Ministerialbürokratie besteht eine weitgehende Abneigung gegen die Mobilisierung latenter Konflikte.
13. Wegen der weitverbreiteten Tendenz zur . Personalisierung" von Erfolg und Mißerfolg haben sich bei Planungsvorhaben bestimmte Verhaltensmuster zur individuellen oder kollektiven Risikoverminderung etabliert. d) ökonomische Stabilitätsorientierung, Bürokratisierung und Planung Wird davon ausgegangen — wie oben dargelegt —, daß politische Globalplanung unter Teilnahme von Wissenschaft, Politik und betroffener Gesellschaft bzw.deren Gruppen für die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik unumgänglich ist, so zeigen die in Angriff genommenen-Planungsvorhaben scheinbar positive Ansätze an. Der faktische Zustand von Planungsgremien, deren Verhältnis zu staatlicher Bürokratie, gesellschaftlichen Gruppen und direkt Betroffenen läßt allerdings in Verbindung mit der Dominanz politisch-ökonomischer Eliten politische Planung als primär ökonomisch-stabilitätsorientiert erscheinen. Die ökonomische Stabilität und Funktionalität unter den Bedingungen des Status quo in der Bundesrepublik verlangen deren dauernde Reproduktion. Daraus resultiert die staatliche Bereitstellung einer Vielzahl von Institutionen und Instrumenten, die primär ökonomischen Stabilitäts-und Wachs-tumsinteressen entsprechen und erst in ihrer sekundären Konsequenz gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben. Diese primär ökonomischen, sekundär gesellschaftlichen Institutionen und Instrumente sind:
1 Finanzielle Begünstigung von industrieller Forschung und Entwicklung;
-Erziehung und Ausbildung, die immer stärher auf Berufsfelder bezogen sein sollen;
3 Ausbau und Instandhaltung von Verkehrs-Wegen für wirtschaftliche Transporte und zur Steigerung des privaten Kraftfahrzeugverkehrs (vgl. hierzu etwa die gescheiterten Versuche, eine Limitierung der Höchstgeschwin-----------digkeit auf Autobahnen der Bundesrepublik durchzusetzen);
4. Erschließung von Gewerbegebieten;
5. wirtschaftliche Subventionen (auch im gesellschaftlich-privaten Bereich: Wohngeld, Heizungsgeld u. a.);
6. Sicherungsmaßnahmen sozialer und polizeilicher Art, um Arbeitskonflikten in der Wirtschaft vorzubeugen;
7. Maßnahmen zur Verhinderung einer ökologischen Katastrophe, die auf ungehemmte ökonomische Wachstumsprozesse zurückzuführen ist.
In Verbindung mit den Planungssystemen (jedoch nicht nur hierl) in der Bundesrepublik und der DDR ist das wichtige Problem der Bürokratisierung zu beachten. Frieder Naschold stellt hierzu fest, daß „Bürokratisierung ... nur für ganz bestimmte Entscheidungsbereiche eine adäquate Rationalisierungsstrategie (ist), sie führt selbst in dafür geeigneten Handlungsbereichen zu dysfunktionalen Nebenfolgen, sie wirft verstärkt das zentrale Problem des Verhältnisses von Demokratie und Effektivität in komplexen Gesellschaften auf“ Ohne die aufgeführten bürokratisch bedingten Restriktionen gegenüber politischen Planungssystmen kritisch einzubeziehen, bezeichnet Naschold hypothetisch „Planung als eine weitergehende Stufe im Rationalisierungsprozeß des politischen Systems", als einen „Versuch, die dysfunktionalen Folgen bürokratisierten Handelns zu kompensieren, wie gleichzeitig auch die nicht durch Konditionalprogramme erfaßbaren Entscheidungsabläufe zu rationalisieren" Diese Hypothese läßt sich bei Überprüfung anhand bürokratischer Realität und politischer Planungspraxis und in Anwendung auf diese nicht aufrechterhalten. Naschold kommt denn auch bei seiner Untersuchung zu Möglichkeiten und Problemen einer mehrjährigen Finanzplanung in der Bundesrepublik zu resignierenden Ergebnissen, wie etwa folgendem: „Weitergehende Lernerfolge in Richtung einer zusätzlichen Steigerung der Rationalität und Zielstrebigkeit des politischen Systems konnten auf Grund restriktiver Faktoren der Umwelt wie systeminterner Art nicht erzielt werden: So stellt die Finanzplanung hinsichtlich der Beziehung zur Umwelt, vor allem dem ökonomischen System, vorwiegend eine Anpassungsplanung, nur zum geringen Teil jedoch eine politische Gestaltungsplanung dar. Systemintern konnte die Finanzplanung nicht über eine mittelfristige Ausgabenplanung zu einer politischen Aufgabenplanung transformiert werden." 3. Sachzwang oder Legitimitätssyndrom?
Die analytische Darstellung des Systems Bundesrepublik unter der Schwerpunktsetzung der Kategorien Okonomie/Gesellschaft und Herrschaft/Macht hat mit hinlänglicher Deutlichkeit aufgezeigt, wie problematisch bis unhaltbar Interpretationsschemata sind, die dem Typus der Industriegesellschaft beigegeben werden. Die Schelskyschen Begriffsbildungen und -erläuterungen des „effizienten Staates“, des „Sachzwanges" und der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ erwiesen sich als nur angeblich unideologische Charakterisierungen von Sachverhalten, die ihrer Eigenart nach zutiefst ideologisch sind. Diese „routinierte Pflege ideologischer Orientierungen“ verschleiert, was gerade das Wesen von Ideologien in komplexen Systemen ausmacht: Sie liefern Entscheidungsregeln für „die normalerweise vorkommenden Divergenzen in der Bewertung der nichtneutralisierten Folgen“ von Handlungen. Für den Fall eines Wertkonflikts ist es Funktion einer Ideologie, eine verbindliche Rangordnung der Werte festzulegen. „Effizienter Staat“, „Sachzwänge" und „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ sind Ausdruck einer derartigen ideologischen Wertorientierung, die, wissenschaftstheoretisch konzipiert, eine weitgehende Identität mit der offiziellen ideologischen Selbstinterpretation des Systems Bundesrepublik nicht verleugnen kann. Allerdings er-mangelt es diesen ideologischen Begriffen der inhaltlichen Ausfüllung. Es wurde gezeigt, daß ein „effizienter Staat" in vielfältiger Weise einsetzbar und legitimierbar ist. Gleiches gilt für die Inhalte von „Sachzwängen" und „nivellierter Mittelstandsgesellschaft". Einer kritischen Analyse halten alle diese Begriffe nicht stand, wohl aber sind sie in der Lage, die Funktionsfähigkeit des Systems Bundesrepublik — und auch gegebenenfalls seine Dysfunktionalität — zu erhellen. Sie treffen die integrativen Muster des Systems besser als ideologiekritische und konflikttheoretische Ansätze „Nicht nur die unmittelbaren Nutznießer des staatlich organisierten Kapitalismus, also Kapitaleigner und hochbezahlte Manager, sondern auch die überwältigende Mehrheit der politischen Führung, der maßgebenden Gruppen in öffentlich-sozialen Einrichtungen und der Bevölkerung bejahen, fördern und verteidigen grundsätzlich den Typus des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus der Bundesrepublik."
Wiederum gilt es nicht, das hier Konstatierte kritisch zu bewerten und mögliche Alternativen aufzuzeigen. In diesem Sinne soll auch nicht der im folgenden benutzte Begriff des Legitimitätssyndroms verstanden werden. Der Syndrombegriff soll hierbei insbesondere hinweisen auf die Problematik der Identifizierung der Legitimität des Systems Bundesrepublik im Spannungsfeld von grundgesetzlichen Normen und realen Funktionen. Als wesentliche Interpretationsbegriffe neben oder teilweise über die Normen der Demokratie, der Freiheit, des Sozialstaats und des Rechts-staats sind Stabilität, Sicherheit und Wachstum getreten. Die letzteren bestimmen in der Wirklichkeit des Systems Bundesrepublik die Interpretation der ersteren — nicht umgekehrt. Als aktuelles Fallbeispiel und zum Beleg m. ag die jüngste „Energiekrise“ in der Bundesrepublik dienen, die deutliche Schlag-lichter auf die Existenz eines derartigen Legitimitätssyndroms warf.
In der parallelen Behandlung der Kategorie Ideologie/Legitimität des Systems DDR wird darauf zu achten sein, inwieweit dem Grundgesetz entsprechende sozialistische Normen der Verfassung der DDR auf die aktuelle Systementwicklung und ihre Implikationen hin interpretiert und legitimiert werden.
V. Das System Deutsche Demokratische Republik
Die marxistisch-leninistischen Konvergenzkritiker der DDR stellen dem Typus der Industriegesellschaft die Begriffe der Klassengesellschaft für kapitalistische Systeme und der sozialistischen Gesellschaft für sozialistische Systeme gegenüber. Die Unterschiedlichkeit der Paradigmen in beiden Systemen bedingt unterschiedliche Fragestellungen
Die Verfassung der DDR von 1968 bindet Wissenschaft und Forschung an die sozialistische Gesellschaft. In Artikel 17 (1) heißt es: . Wissenschaft und Forschung sowie die Anwendung ihrer Erkenntnisse sind wesentliche Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und werden durch den Staat allseitig gefördert.'Artikel 17 (3) bestimmt weiter: „Die Deutsche Demokratische Republik fördert Wissenschaft und Bildung mit dem Ziel, die Gesellschaft und das Leben der Bürger zu schützen und zu bereichern, die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern sowie den ständigen Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft zu gewährleisten." Die Unterschiedlichkeit „normaler Wissenschaft" in der DDR und der Bundesrepublik ist damit verfassungsrechtlich belegt und findet in der wissenschaftlichen Produktion in beiden Systemen ihren entsprechenden Niederschlag.
Für eine vergleichende Analyse der Systeme Bundesrepublik Deutschland — DDR hat dies die Konsequenz, daß das sozialistische System der DDR sachgerecht von seinem Selbstverständnis und seiner politischen Praxis her nur im Rahmen eines sozialistischen Paradigmas zu interpretieren ist. Hierbei ist die Verbindlichkeit der Interpretation von KPdSU und SED über das, was Sozialismus sein soll, als offizielle Richtschnur zu beachten, schließt allerdings im Rahmen einer kritischen Analyse ein, daß Varianten innerhalb des sozialistischen Paradigmas zum Verständnis dessen, was Sozialismus in der DDR ist und was er sein könnte, berücksichtigt werden. Von dieser Ausgangsposition her ist nachfolgend das System DDR im Rahmen der gestellten Thematik, des sozialistischen Paradigmas, der Kategorien und Dimensionen zu analysieren. 1. Industriegesellschaft oder sozialistische Gesellschaft?
Erich Honecker sprach auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 davon, daß die beiden „Phasen der kommunistischen Gesellschaftsformation" (d. i. Sozialismus und Kommunismus) durch „keine starre Grenzlinie“ getrennt seien. Kurt Hager weist darauf hin, daß „im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt des sozialistischen Aufbaus in der DDR“ noch „Klassenunterschiede" vorhanden seien. Von dieser Feststellung aus ist es nur konsequent, wenn Hager „die philosophische Forschung“ in der DDR auffordert, „stärker als bisher von den realen Prozessen des gesellschaftlichen Lebens, von den konkreten Arbeitsund Lebensbedingungen, von den Widersprüchen bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft" auszugehen. In diesem Zusammenhang bemüht sich Hager, eine Definition dessen zu entwickeln, was „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ sein soll
Da Hagers Versuch einer begrifflichen Bestimmung sehr vage bleibt und mehr Fragen aufwirft als klärt, wird anstelle seiner Aus-führungen im folgenden der Kriterienkatalog von Harry Nick benutzt, der Aufschluß darüber zu geben vermag, inwieweit das Selbstverständnis einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft von dem Typus der Industriegesellschaft zu unterscheiden ist. Von Nicks Kriterien sind insbesondere zu nennen: 1. Die neue Qualität der Produktions-und Eigentumsverhältnisse; 2. die Wirkfaktoren der überkommenen gesellschaftlichen Entwicklung; 3. die „relativ lange historische Phase der Entwicklung des Sozialismus auf den ihm eigenen, d. h. überwiegend von ihm selbst geschaffenen Grundlagen"; 4. „Entfaltung der dem Sozialismus eigenen Vorzüge und Triebkräfte".
Entsprechend sind im Vergleich „Entwickelte sozialistische Gesellschaft" — „IndustriegeSeilschaft" die folgenden Fragen zu beantworten: 1. Was macht die neue Qualität der Produktions-und Eigentumsverhältnisse in der DDR aus?
2. Welche Faktoren der überkommenen gesellschaftlichen Entwicklung (Kapitalismus)
wirken in der DDR nach und wie wirken sie sich aus?
3. Was sind die überwiegend durch den Sozialismus in der DDR geschaffenen Grundlagen? '4. Welche Entfaltung von Vorzügen und Triebkräften des Sozialismus lassen sich in der DDR feststellen?
Nick selbst charakterisiert die sozialistische Gesellschaft der DDR als eine Übergangsgesellschaft, in der einerseits Eigenschaften vorhanden sind, „die die gleichen sind wie die der kommunistischen Produktionsweise im ganzen"; andererseits werden die „Muttermale der alten Gesellschaft in der Ubergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus in gewisser Hinsicht auf sozialistischer Grundlage auch reproduziert, wenn auch auf sich verengender Stufenleiter (Typ der Arbeitsmittel, materiell-technische und bestimmte subjektive Bedingungen des Charakters der Arbeit u. a. m.)" Entsprechend befindet sich die Gesellschaft der DDR noch im Prozeß der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ohne unmittelbar vor dessen Abschluß zu stehen
Die oben aufgeworfenen Fragen für den gesellschaftlichen Entwicklungszustand der DDR lassen sich wie folgt beantworten:
1. Die DDR hat eine neue Qualität der Produktions-und Eigentumsverhältnisse dadurch erreicht, daß die Gesamtheit des gesellschaftlich relevanten Produktionsapparates verstaatlicht und entsprechend die Eigentumsverhältnisse (staatlich) kollektiviert wurden. 2. Kapitalistische Faktoren wirken in der sozialistischen Gesellschaft der DDR insofern nach, als der Einsatz technologischer und technischer Instrumente mit denen westlicher Industriegesellschaften identisch ist oder die Identität angestrebt wird. Die entsprechende Nutzung der Produktivkräfte wirkt sich auf die Produktionsverhältnisse in der DDR so aus, daß — wie etwa Kurt Hager feststellte — die Existenz von Klassen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR noch nicht überwunden ist.
3. Die Gesellschaft der DDR ist somit durch Konflikte gekennzeichnet, die sich sozio-ökonomisch aus der Unvereinbarkeit kapitalistischer Produktionstechniken und (teilweise) -methoden einerseits sowie den Bedürfnissen einer sozialistischen Gesellschaft in Verbindung etwa mit der Beachtung der Rolle des „subjektiven Faktors" andererseits ergeben. 4. Der kapitalistisch-sozialistische Konflikt im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft der DDR soll im Sinne des Sozialismus gelöst werden. Hierzu wird im weiteren Verlauf der Analyse zu zeigen sein, inwieweit ein derartiger sozialistischer Prozeß in der DDR feststellbar ist, oder ob sich Stagnation im Sinne eines technologischen Pragmatismus mit einer schrittweisen Aushöhlung der marxistisch-leninistischen Ideologie oder gar eine „Restauration des Kapitalismus“ abzeichnen.
Zur Klärung dessen, was den Typus der Industriegesellschaft in der DDR ausmacht, sind die nachstehenden Fragen zu beantworten:
1. Ist die Gesellschaft der DDR zielstrebig auf dem Wege der Vollendung des Sozialismus?
2, Findet eine Restauration des Kapitalismus statt?
3. Laviert die DDR technologisch-pragmatisch unter Beibehaltung sozialistischer Errungenschaften?
In diesem Zusammenhang sind insbesondere folgende Fragen zu klären:
Welche Art von Klassenstruktur weist die DDR-Gesellschaft auf?
Welche Rolle spielen Herrschaft und Macht und wie werden sie politisch relevant ausgeübt?
Wie findet Planung, wie findet Mitbestimmung statt?
Wie steht es um das ideologische Selbstverständnis des DDR-Systems und seine Legitimität?
Der für die Konvergenztheorie zentrale Typus der Industriegesellschaft soll von den kategorialen Fragestellungen her im Rahmen des Systemparadigmas der DDR erhellt werden. 2. Ist die DDR-Gesellschaft auf dem Wege zur Vollendung des Sozialismus?
Zunächst kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, zentrale Kategorien und Begriffe der marxistischen Theorie, wie „Klasse", . Produktionsverhältnisse“ u. ä., zu erläutern Als Ausgangspunkt mag die Fest-Stellung genügen, daß die DDR mit dem Typus der kommunistischen Gesellschaft über eine langfristige, mit dem Typus der sozialistischen Demokratie über eine mittelfristige Zielperspektive verfügt. (Entsprechendes gilt weder gesellschaftlich noch ideologisch oder politisch für das System der Bundesrepublik.) Hier interessiert lediglich die mittelfristige Zielperspektive der sozialistischen Demokratie. Sie wird wie folgt umschrieben: „Die sozialistische Demokratie ist ein qualitativ neuer und der geschichtlich höchste Typ der Demokratie. Sie entsteht mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse als Diktatur des Proletariats.“ Nach den in der Gegenwart erkennbaren Entwicklungsstadien zur Vollendung dieser sozialistischen Demokratie ist hier zu fragen.
Am ehesten läßt sich diese Frage beantworten, indem anhand von systemimmanenten Kriterien der DDR überprüft wird, inwieweit sie den selbst gestellten Aufgaben zur Vollendung sozialistischer Demokratie in ihrem System bisher gerecht geworden ist. Aufgaben sozialistischer Demokratie als Diktatur des Proletariats sind demnach
1. Enteignung der Kapitalistenklasse;
2. politische Unterdrückung der besiegten Bourgeoisie;
3. Kontrolle über die bürgerlichen Spezialisten, die jetzt für den proletarischen Staat arbeiten; 4. Kontrolle „über die Arbeiter, die durch den Kapitalismus tief demoralisiert worden sind"; 5. Verteidigung „gegen die verschiedensten Formen und Methoden der imperialistischen Expansionspolitik", also auch gegen ideologische Diversion;
6. rasche Entfaltung der Produktivkräfte über das in der bürgerlichen Gesellschaft erreichte und mögliche Maß hinaus;
7. Organisation der Distribution unter den Bedingungen eines relativen Mangels an Gütern, der die teilweise Aufrechterhaltung des „engen bürgerlichen Rechtshorizonts" insofern erzwingt, als die Güterverteilung noch* als Zumessung von Äquivalenten für geleistete Arbeit erfolgt und noch nicht das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ herrscht; diese Form der Distribution wird einige Zeit lang beibehalten werden müssen, nachdem die Repressionsaufgaben bereits beseitigt werden konnten;
8. Qualifizierung der Produzenten für die selbsttätige Übernahme der Leitung und Organisation gesellschaftlicher Prozesse.
Es läßt sich nachweisen, daß die Kriterien 1— 5 in der DDR umgesetzt wurden. Anders verhält es sich mit den entscheidenden Kriterien 6— 8.
Kriterium 6: Die Produktivkräfte wurden in der DDR weiterentwickelt und gehen erheblich über den Entwicklungsstand zu Ende der Periode des „Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus" (1949— 1961/62) hinaus. Gemessen allerdings an der Entwicklung und dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte in der Bundesrepublik als einer im DDR-Verständnis bürgerlichen Gesellschaftsformation bleibt die entsprechende Entwicklung in der DDR — von Branche zu Branche unterschiedlich — zurück.
Berechnet zu Preisen von 1967 in D-Mark (Bundesrepublik) bzw. Mark (DDR) hat das reale Bruttoszialprodukt in beiden Systemen von 1960 bis 1969 in nahezu gleichen Wachstumstempo zugenommen (jährliche durchschnittliche Wachstumsrate Bundesrepublik: 4, 8%; DDR: 4, 5 °/o). Die Wachstumskurven von Bundesrepublik und DDR weisen allerdings insbesondere in der Zeitspanne zwischen 1965 und 1968 erhebliche Unterschiede auf, die auf den massiven rezessiven Konjunkturausschlag in der Bundesrepublik und den anschließenden rapiden Aufschwung zurückzuführen sind. Ungeachtet der Produktionsstrukturen in einzelnen Sektoren der Bundesrepublik und der DDR nimmt in beiden Systemen die Industrie den entscheidenden Anteil ein (Bundesrepublik: 47 %; DDR: 51 %). Wirtschaftliche Strukturveränderungen weisen in beiden Systemen eine Tendenz auf, die für hochentwickelte Industriegesellschaften typisch ist: Die Industrie expandierte überdurchschnittlich, der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt sank.
Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität nahm in beiden Systemen erheblich zu (1969 [gemessen am Wert von 1960]: Bundes-113) republik: 148%; DDR: 143%). Hierbei ist die Arbeitsproduktivität in der Bundesrepublik und in der DDR in den letzten Jahren gleich schnell gewachsen. In beiden Systemen war 1968 der Anteil von Wachstumsindustrien erheblich höher als 1960 (Bundesrepublik: Chemische Industrie; DDR: Metallverarbeitende Industrie). Insgesamt unterschieden sich die Bundesrepublik und die DDR in bezug auf die industrielle Produktionsund Beschäftigten-struktur Ende der sechziger Jahre weniger voneinander als zu Beginn des Jahrzehnts. Trotz Unterschieden in der Entwicklung der Kapitalintensität in einzelnen Sektoren sind in beiden Systemen die technologischen Gegebenheiten ähnlich. Die Rangordnung des Wachstums der Kapitalintensität in beiden Systemen weist allerdings erhebliche Unterschiede auf. Nur in Ausnahmefällen nehmen gleiche Industriezweige in der DDR und in der Bundesrepublik den gleichen Rang ein. Beide Systeme zeigen — ein Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung von komplexen Industriesystemen — sich ständig ändernde Kombinationen der Produktionsfaktoren, um damit eine ständige Zunahme der Produktivität ihrer Wirtschaft zu erreichen Bei vergleichbaren Zuwachsraten betrug der Rückstand der Industrie der DDR 1968 gegenüber der Bundesrepublik in bezug auf die Kapitalintensität rund 3 Jahre, in bezug auf die Arbeitsproduktivität rund 7, 5 Jahre.
Zu beachten ist dabei allerdings, daß es gerade ein Kennzeichen entwickelter kapitalistischer Systeme ist, daß sie sich ungeachtet gesamtgesellschaftlicher Disproportionen, die ökonomisch bedingt sind, entwickeln. Ziel eines sozialistischen Systems ist es demgegenüber, entsprechende Disproportionen zu vermeiden. Das Kriterium 6, das auf eine entsprechende Passage von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" zurückgeht, zeigt damit den entsprechenden Mangel des entwickelten Sozialismus in der DDR. Kriterien 7 und 8: Beide Kriterien müssen zusammen gesehen werden, da sich „Repressionsaufgaben“ und „Qualifizierung der Produzenten für die selbsttätige Übernahme der Leitung und Organisation gesellschaftlicher Prozesse“ gegenseitig ausschließen. Es ist hier danach zu fragen, inwieweit die DDR eine Entwicklungstendenz aufweist, die Repression im allgemeinen, des Partei-und Staatsapparates im besonderen abbaut und Selbstbestimmung sowie Mitbestimmung in der Gesellschaft zuläßt, ermutigt und aufbaut. In diesem Zusammenhang stellen sich gleichfalls die Fragen nach einem Abbau von Klassenstrukturen, überflüssig gewordener Herrschaft, gesellschaftlicher Kontrolle von Macht, gesellschaftlicher Planung und deren Rechtfertigung und Absicherung in Ideologie und Legitimität des Systems DDR.
Ihre dialektische Legitimität bezieht diese Dichotomie in der Entwicklung des Systems DDR aus den Bestimmungen der DDR-Verfassung von 1968, in deren Artikel 21 Abs. 1 es heißt: . Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten." Es gilt der Grundsatz „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!" Diese Bestimmung gilt als „das entscheidende Grundrecht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, weil hierin das tragende Prinzip der Verfassung — die Ausübung aller politischen Macht durch die Werktätigen — seine Ausgestaltung und Verwirklichung als das persönliche Recht jedes Bürgers findet..." Eine Einschränkung erfährt die umfassende Mitgestaltungsmöglichkeit durch die Gesellschaft allerdings dadurch, daß ausschließlich die Arbeiterklasse und an ihrer Spitze die marxistisch-leninistische Partei (SED) Führung und Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR übernimmt Es bleibt weiter zu fragen, inwieweit innerhalb der Arbeiterklasse und der marxistisch-leninistischen Partei „durch das Mitdenken, Mitarbeiten und Mitverantworten aller Bürger“ ein Prozeß in Gang gesetzt und gehalten wird, der es zuläßt, von einer Verwirklichung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu sprechen. Von einem sozialtechnologischen Ansatz und teilweise anderen Fragestellungen her ist Peter Christian Ludz zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen, die im folgenden knapp wiedergeben werden:
1. Die strategische Führungsgruppe der SED initiiert notwendige Wandlungsprozesse, hält sie allerdings beständig unter Kontrolle und nimmt sie gegebenenfalls auch teilweise wieder zurück
2. Die Differenzierung der Organisationssysteme in Partei und Staat lassen Machtzentren der strategischen Clique wie der institutionalisierten Gegenelite der Parteifachleute erkennen. Die strategische Clique besetzt die eigentlichen politischen Entscheidungsgremien: das Politbüro, das Sekretariat des Zentral-komitees, die Positionen der ersten Sekretäre der SED-Bezirks-und Kreisleitungen sowie den Staatsrat. Zentren der Parteifachleute sind: der Ministerrat, die staatliche Plankommission, der Forschungsrat und zum Teil das Zentralkomitee der SED
3. Im Zuge der zunehmenden Bedeutung von Gesellschafts-und Wirtschaftspolitik seit 1962/63 gewann die funktionsspezifische Autorität von Experten Bedeutung gegenüber der Amtsautorität alter Parteifunktionäre und ersetzte diese teilweise. Dies bewirkte gleichzeitig eine steigende Mobilität des Organisationssystems der SED. Eine entsprechende Entwicklung ist für das Zentralkomitee der SED nachweisbar, das sich von einem Akkla-mations-und Deklamationsgremium zu einem fachbezogenen Koordinations-und Transformationsgremium wandelte, „in dem Beschlüsse des Politbüros im Kreis von Parteifunktionären und (Partei-) Fachleuten sachlich diskutiert und für die Weiterleitung , nach unten'
vorbereitet werden". Ludz sieht darin die Organisationsform eines „konsultativen Autoritarismus"
4. Wandlungen der Herrschaftsstruktur und Herrschaftsausübung der SED sind nachweisbar. Sie bleibt allerdings — ungeachtet der konstatierbaren Flexibilität und Elastizität — das ausschließliche zentrale Führungsorgan des Systems DDR.
Ludz ging bei seiner Untersuchung von der Prämisse aus, daß — entsprechend den Vorstellungen der Konvergenztheoretiker — Wandlungen in Industriegesellschaften bestimmte gleichartige Ergebnisse zur Folge haben müßten, die er in der SED-Führung nachzuweisen suchte. Im Rahmen seiner entsprechenden Fragestellungen sind ihm durchaus überzeugende Ergebnisse gelungen. Offen bleibt allerdings die Frage, inwieweit Wandlungen in der SED-Führung lediglich Ausdruck von Entwicklungslinien der Industriegesellschaft der DDR sind oder ob umgekehrt die zielstrebige Politik der SED-Führung zur Vollendung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR entsprechende Änderungen bewirkte.
Dies ist im folgenden zu untersuchen. 3. Findet in der DDR eine Restauration des Kapitalismus statt?
Die entsprechende marxistische Argumentationsweise geht davon aus, daß sich das alte, stalinistische ökonomische System in der DDR „in der vergangenen Periode durchaus bewährt" hat. Das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NOS oder NOSPL) entstand als notwendige Reaktion auf die immer stärkere Arbeitsteilung und Diversifikation in der Produktion und reicht in seinen Anfängen zurück bis 1954 (21. Tagung des ZK der SED am 12. 1 1. 1954) Diese Differenzierung war nicht mehr durch administrative zentrale Planung bis ins Detail zu beherrschen, sondern nur durch Dezentralisierung.
Walter Lindner unterscheidet idealtypisch zwei Wege der Dezentralisierung, „von denen der eine genuin sozialistisch ist, der andere einen Rückgriff auf kapitalistische Praktiken bedeutet", Im ersten fall erfolgt — wie in Kuba und der Volksrepublik China — die Planung ökonomischer Gesamt-wie Teilprozesse zentral durch die Partei, die Gestaltung der Produktionsprozesse und Produkte im einzelnen dezentral in den Betrieben. Entscheidend für die Funktionsfähigkeit einer derartigen Planung ist das sozialistische Bewußtsein der Produzenten (Arbeiter), ihre Arbeit als einen Teil sinnvoller und notwendiger gesellschaftlicher Arbeit zu begreifen, was wiederum einigermaßen gleiche Verteilung der Erträge nach sich zieht. Lindner räumt ein: „Ein solches System setzt freilich voraus eine politisierte und hoch motivierte Arbeiterklasse, also das sozialistische Bewußtsein, das in der Sowjetunion und den anderen Volksdemokratien längst verschwunden war" An anderer Stelle schreibt Lindner: „An die Mobilisierung der Arbeiterschaft wurde gar nicht erst gedacht." Für die DDR vergißt er, daß das dazu uherläßliche revolutionäre sozialistische Engagement in der Arbeiterschaft nie in einer breiten Mehrheit vorhanden war, da das System der DDR nicht durch eine sozialistisch aktive Arbeiterklasse, sondern durch kommunistische Parteifunktionäre (Gruppe Ulbricht) und die sowjetische Militäradministration geschaffen wurde. Aussagen über das verschwundene sozialistische Bewußtsein und die unterlassene Mobiliserung der Arbeiterklasse in der DDR entbehren damit jeder wissenschaftlich fundierten Grundlage. Das Faktum des Mangels an sozialistischem Bewußtsein und entsprechender Mobilisierungsmöglichkeit in der DDR ist ein entscheidendes Indiz dafür, daß der von Lindner am Beispiel Kubas und der Volksrepublik China skizzierte Weg sozialistischer Entwicklungsplanung für die DDR nicht gangbar ist und keine praktikable Alternative zur realen DDR-Entwicklung darstellt.
Den zweiten Fall nimmt Lindner für die DDR an, wobei er davon ausgeht, daß die Aufrechterhaltung der bürokratischen Herrschaft primäres Ziel ist. Wieder stellt sich die Frage nach einer Alternative, die von Lindner nicht beantwortet wird. Das Dilemma stellt sich hierbei für die DDR-Führung so dar, daß es ihr in keiner Phase der Entwicklung des Systems DDR gelungen ist (sofern sie das überhaupt jemals zu realisieren suchte), administrative Herrschaft zugunsten von gesellschaftlich maßgeblich beeinflußten Prozessen abzubauen und damit sozialistische Demokratie erst zu ermöglichen. Für Lindner führt die für die DDR angestrebte technisch-organisatorische Lösung („ohne die sozialen Wurzeln des Übels anzurühren") in eine „Einbahnstraße", von der er mit Paul Sweezy meint, daß sie, „wie lang der Weg auch sein mag, nur ein Ziel hat: den Kapitalismus“ Wesentliche Merkmale einer Restauration des Kapitalismus in der DDR sind für Lindner:
a) Materielle Anreize gewinnen die Oberhand gegenüber Resten sozialistischen Bewußtseins. Dies führt zur Entpolitisierung.
b) Die Betriebe werden als ökonomische Einheiten dezentralisiert.
c) Einführung des Profitmotivs und des Marktes, teilweise Freigabe der Preise.
d) Machtzuwachs des Managements.
e) Brechung des Außenhandelsmonopols des Staates, wodurch die ökonomische Macht des Managements internationalen Rückhalt gewinnt. Als restaurativ werden diese Elemente deswegen angesehen, weil in ihnen die Identifizierang von maximalem Wirtschaftswachstum und Aufbau des Sozialismus zum Ausdruck kommt Am Beispiel des materiellen Anreizes wird aufgezeigt, daß dieses Instrument zwar in der Phase der Übergangsgesellschaft notwendig ist, allerdings mit der Tendenz, es systematisch abzubauen. Sozialistisches Bewußtsein soll an seine Stelle treten und dazu beitragen, die Einkommensunterschiede zu verringern. Die Beibehaltung und gar die Verstärkung materieller Anreize bewirkt die Förderung individueller zu Lasten gesellschaftlicher Interessen mit dem Resultat der Atomisierung der Arbeiterklasse. Es kommt hinzu, daß durch die Dezentralisierung von Entscheidungen auf der Ebene der Betriebe die Macht der Manager und des Marktes gestärkt wird, während die weiterreichende Kontrolle des sozialistischen Staates zurückgeht
Wieder wird bei Lindner keine konkrete Alternative für die von ihm kritisierte Entwicklung in der DDR erkennbar. Die anti-sozialistische Funktion von materiellen Anreizen und Marktmechanismen wird dabei erheblich überschätzt. Zeigen sich in westlich-marktwirtschaftlichen Systemen die oben beschriebenen Machtkonzentrationen durch die Wettbewerbsbeschränkungen von Großunternehmen mit der Angleichung materieller Anreize auf den unterschiedlichen Ebenen (Arbeitsteilung) und der Abschwächung und Aufhebung von Marktmechanismen, so bedeutet eine vergleichbare Entwicklung in der DDR die Stärkung des Herrschaftsapparates von Partei und Staat, solange diese in der Lage sind, entsprechend legitimiert zu sein und davon effektiven Gebrauch zu machen. Eine Entwicklung zu einer Restauration des Kapitalismus in der DDR kann so nicht belegt werden.
Es wird bei Lindner eingeräumt, daß dasÖkonomische System des Sozialismus" (OSS) (1968— 1971) in der DDR eine Wieder-verstärkung der zentralistischen Kontrolle gegegenüber der Phase des NOS (1962— 1967) mit sich brachte. Zentrale Planung und Eigenverantwortung bleiben allerdings widersprüchlich. „Es handelt sich nun einmal um Tendenzen, die in verschiedene Richtungen zielen. Wohin die Entwicklung tatsächlich verläuft, ist durchaus nicht entschieden.“ Ledig-lieh die Verstärkung von Planungselementen und zentraler Planung kann die restaurativen Tendenzen der DDR zum Kapitalismus bremsen oder neutralisieren. Nur durch die geplante Überwindung der Klassenverhältnisse in der DDR ist die sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen, nicht durch die ökonomische Bestimmung des gesellschaftlichen Fortschritts im Sinne von industriellem Wachstum.
Lindner setzt sich mit diesen Postulaten einem unaufhebbaren Widerspruch aus, worauf Renate Damus zu Recht hinweist. Wenn Lindner nämlich der DDR-Führungselite eine Politik des technologischen und ökonomistischen Pragmatismus zuschreibt, so ist nicht zu sehen, wie diese Führungselite im Falle forcierter Zentralisierung, also verstärkter Herrschaftskonzentration, von eben dieser Politik abrücken sollte. Lindner vermengt hier offensichtlich seine theoretisch-sozialistischen Zielvorstellungen mit seiner realen Analyse der DDR, wobei ihm die Unvereinbarkeit beider Positionen gar nicht auffällt. Unhaltbar ist es weiterhin, zentrale Planung „von vornherein für sakrosankt" und zum maßgeblichen Parameter sozialistischer Entwicklung und Dezentralisierungsmaßnahmen (etwa durch stärkere Autonomie der Betriebe) zu Instrumenten kapitalistischer Restauration zu erklären.
Kennzeichnend für Lindners Argumentation ist die an Idealtypen orientierte Dichotomie Marxistischer Sozialismus — Westlicher Kapitalismus. Sie bestimmt seine Prämissen und Ziele nach dem Motto: „Was nicht das eine ist oder wird, ist oder wird das andere!" Die SED interpretiert und praktiziert den marxistisch-leninistischen Sozialismus nach eigenen taktischen Überlegungen im Zusammenwirken mit der KPdSU, worauf Lindner auch hinweist Seine polarisierende Argumentation, der grundlegende theoretische Überlegungen über die marxistischen Kategorien des Warencharakters von Produkten und der Wirkungsweise des Wertgesetzes in Uber-gangsgesellschaften vorausgehen vermag allerdings nicht zu erfassen, daß die DDR sehr wohl als eine Variante eines sozialisti-sehen Systems begriffen werden kann: als ein repressiv-zentralisierter Staatssozialismus unter der Führung einer Partei, die sich als Partei der Arbeiterklasse in eigener Interpretation des Marxismus-Leninismus versteht. Grundlage ihrer Macht ist die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Fähigkeit, die eigene Legitimation durch Zentralisierung und autoritäre Nutzung aller Herrschaftsmittel für gesamtgesellschaftlich verbindlich zu erklären. Eine Tendenz zu kapitalistischer Restauration ist hierbei nicht zu erkennen.
Die „Schlüsselfrage" zur Beurteilung einer Entwicklung der DDR im sozialistischen Sinn oder im Sinn einer kapitalistischen Restauration ist bei Lindner: „Wer ist im Besitz der Staatsmacht? Das Proletariat oder zumindest eine Führung, die in den Grundfragen objektiv im Interesse des Proletariats Politik macht, oder eine vollständig revisionistische Führung, die die Widersprüche nicht im sozialistischen, sondern im kapitalistischen Sinn behandelt und damit objektiv Politik im Interesse der sich eben neu herauszubildenden Bourgeoisie macht...“ Wiederum bezieht sich eine zentrale Fragestellung auf extreme und verkürzte Typen, die radikal-alternativ einander gegenübergestellt werden. Ter-tium non datur. Varianten werden nicht in Betracht gezogen. Es wird nicht aufgezeigt, wie konkret „objektiv" im Interesse des Proletariats Politik gemacht werden soll und inwieweit eine „vollständig revisionistische Führung" aus Bedingungen von Systemzwängen und Strukturerfordernissen heraus taktisch laviert, ohne deswegen den Weg der sozialistischen Entwicklung prinzipiell zu verlassen und sich dem Kapitalismus zuzuwenden. Die Universalität von Klassenverhältnissen unterschiedlichen Grades in allen ökonomisch höher entwickelten Systemen kapitalistischer wie sozialistischer Prägung muß als Indiz dafür gelten, daß diese Kategorie der marxistischen Entwicklungstheorie und Analyse nur wenig geeignet ist, um daran derart rigoros die Entwicklungs-, Konvergenz-und Divergenztendenzen von Systemen zu messen.
Lindner ist zwar zuzustimmen, wenn er konstatiert, daß „das OSS nicht als lineare, sondern als widersprüchliche Fortsetzung des NOSPL verstanden werden muß" Auch kann die Widersprüchlichkeit der ökonomi-* sehen Reformmaßnahmen in der DDR als Ausdruck der Widersprüche einer Übergangsgesellschaft interpretiert werden. Widersprüche sind allerdings sozialistischen wie kommunistischen Systemen — wie an anderer Stelle gezeigt wurde — immer noch immanent, und politische Strategien haben deren Faktoren zu berücksichtigen, ohne deswegen notwendigerweise prinzipielle Zielsetzungen aufzugeben.
Es ist deswegen nicht haltbar, wenn Lindner glaubt, die völlige Liquidierung sozialistischer Ziele und Mittel für die DDR feststellen zu können, da „die DDR-Theorie ... längst keine Anleitung zum Handeln mehr (war), sondern eine im nachhinein ausgearbeitete Legitimationsideologie, in der bereits abgelaufene gesellschaftliche Prozesse ihren ideologischen Ausdruck finden" Die im folgenden zu behandelnden Interpretationen führender Mitglieder der SED sowie sozialistisch-kritisch orientierter Wissenschaftler in der Bundesrepublik zu Problemen der politischen und sozio-ökonomischen Entwicklung in der DDR bringen ungleich plausiblere (Gegen-)
Argumente. Die These von einer kapitalistisch-restaurativ ausgerichteten Konvergenztendenz der DDR kann Lindner selbst nicht ausreichend belegen.
4. Laviert die DDR-Führung technokratisch-pragmatisch unter Beibehaltung sozialistischer Errungenschaften?
Anhand von Problemen im Bereich der Planung in der DDR und den damit zusammenhängenden Fragen von Leitung (Herrschaft/Macht) und Mitbestimmung läßt sich das Dilemma der DDR in der Frage der Weiterentwicklung des Sozialismus oder des pragmatischen Stillstandes aufzeigen. Drei Argumentationsketten lassen sich hierbei unterscheiden:
a) Die offzielle SED-Interpretation b) Eine kritische marxistische Interpretation c) Eine kritische sozialistisch-funktionsanalytische Interpretation.
Die drei Interpretationen sind in ihren Schwerpunkten darzustellen und auf ihre jeweilige Plausibilität hin zu untersuchen.
a) Die offizielle SED-Inteipretation Zu Beginn der sechziger Jahre hatten sich die objektiven Bedingungen für die Weiterentwicklung des ökonomischen Systems in der DDR dadurch geändert, daß a) sich die sozialistischen Produktionsverhältnisse in der gesamten Volkswirtschaft durchgesetzt hatten; bweitgehend überwunden waren, die wissenschaftlich-technische Revolution in ihren Anfängen stand und der Reproduktionsprozeß in eine vorwiegend intensive Phase überging;
c) durch den Bau der Mauer externe Faktoren, „die zu vielseitigen Störungen des Produktionsablaufs geführt haben" in ihrer Wirkung wesentlich eingeschränkt wurden
Walter Ulbricht sprach die wichtige Formel aus, der Sozialismus sei keine „kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab“ Wichtig für diese Einschätzung des Sozialismus ist die Feststellung Ulbrichts, die SED habe sich als fähig erwiesen, „den Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechend den deutschen Bedingungen zu finden und zu beschreiten“
Diese Äußerung Ulbrichts wiederum ist in Verbindung zu sehen mit dem als grundlegend wichtig bezeichneten ökonomischen Lehrbuch der DDR „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“ Ulbricht wies wiederholt auf die Bedeutung dieses Lehrbuches hin, in dem es u. a. heißt: „Auffassungen, nach denen allgemeine ökonomische Gesetze, die in mehreren Produktionsweisen wirken, beim Aufbau des Sozialismus verdrängt oder eingeschränkt werden sollen, um den spezifischen Gesetzen des Sozialismus Platz zu machen, hindern daran, alle Potenzen des wirtschaftlichen Wachs-tums zu mobilisieren." Die seit Jahrzehnten auch für die DDR-Wirtschaft maßgebliche Perspektive ökonomischen Wachstums erhielt damit die unbedingte Priorität gegenüber der möglichen Übernahme früher verfemter Instrumente westlicher Marktwirtschaften wie etwa Preis, Zins und Gewinn 6. Eine revisionistische Abweichung von den ideologischen Grundlagen politischer Ökonomie des Sozialismus-Kommunismus läßt sich hierbei unschwer feststellen, da in den Theorien von Marx und Lenin wirtschaftliches Wachstum, d. h. die möglichst umfassende Entwicklung der Produktivkräfte, als ein ausschließliches Ziel sozialistischer Politik formuliert wurde
Bei Ulbricht kommt der pragmatisch orientierte sozio-ökonomische Revisionismus, besonders deutlich zum Ausdruck, wenn er sich auf der einen Seite dagegen verwahrt, „Kategorien der sozialistischen Ökonomik, die formal den Kategorien der kapitalistischen Ökonomik ähnlich sind (Geld, Anreiz, Gewinn u. a.), als unvermeidliches „Übel“ zu betrachten, da „die Aufgabe der wissenschaftlichen Führungstätigkeit beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsformation nicht darin (bestehe), diese Kategorien zu überwinden, sondern darin, sie im Interesse der Werktätigen vollständig auszunutzen“. Andererseits sieht Ulbricht „unter den entstandenen historischen Bedingungen" den Sozialismus als „keine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft“ an
Entsprechend wurde Ulbricht von ideologie-treuen Kritikern in der Bundesrepublik wie — mit starker Verspätung und dann nur zögernd — in der DDR vorgeworfen, eine „neue Theorie der Führer der DDR" entwickelt zu haben
An anderer Stelle beantwortete Ulbricht die Frage: „Wann werden wir endlich den Gipfel erreicht haben?" An dieser Fragestellung bleibt offen, was mit „Gipfel" konkret gemeint ist. Ausgehend von der Ideologie des Marxismus-Leninismus kann es sich allerdings allein um das angestrebte Ziel der kommunistischen Gesellschaftsordnung handeln. Ulbricht weicht einer Antwort aus, wenn er feststellt: „Uns geht es dabei wie den Bergsteigern, wenn der eine Gipfel bezwungen ist, kommt der nächste dran. Seien wir uns stets bewußt, Sozialismus, das ist Arbeiter-und Bauern-Macht plus Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution." Von Bedingungen und Anforderungen der Weiterentwicklung des Sozialismus als Übergangsphase zum Kommunismus ist keine Rede. Immer wieder wird hingewiesen auf die Notwendigkeiten taktischer Varianten rasches Wachstumstempo der gesellschaftlichen Produktivkräfte wissenschaftlich-technischen Höchststand, Konzentration und Zentralisierung das System der materiellen Interessiertheit, die generellen volkswirtschaftlichen Erfordernisse zur Steigerung der Effektivität und maximalen Ökonomie sowie die Vergrößerung des Nationaleinkommens als Grundlage des Lebensniveaus „Sozialistische Planwirtschaft“ wird hierbei begriffen als „weder eine verwaltungsmäßig geführte Wirtschaft noch eine sogenannte Marktwirtschaft, die sich spontan regelt" Es wird allerdings zugegeben, daß „der Markt eine ganz bedeutende Rolle" spielt. Als bestimmender Faktor der sozialistischen Planwirtschaft wird „die gesellschaftliche Planung und die hierauf begründete bewußte rationelle Organisation der Volkswirtschaft" angesehe 15n Das notwendige „Wechselverhältnis von Plan und Markt" umschreibt Ulbricht selbst folgendermaßen: „Die gesellschaftlichen Erfordernisse sind grundlegender und umfassender als die Markterfordernisse. Aber wer den Markterfordernissen nicht genügt, kann auch den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht entsprechen."
Zur permanenten Rechtfertigung eines sozioökonomischen Revisionismus wird die „Globalstrategie des USA-Imperials und seines westdeutschen Gehilfen" benutzt Es sei unter diesen Umständen „widersinnig, über den Abbau des Staates unter sozialistischen Verhältnissen zu philosophieren“ Da es allerdings weder der DDR noch der Gesamtheit der sozialistischen Staaten unter der Führung der Sowjetunion gelingt, den Einfluß der westlichen Systeme entscheidend einzudämmen und damit den Antagonismus zu ihren Gunsten zu überwinden, ist das weiterbestehende Konkurrenzverhältnis zwischen den Systemen die Folge. Hierbei wird von Seiten der DDR-Führung eingeräumt, daß dem wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Entwicklungstempo eine entscheidende Rolle zukommt. Dieses Entwicklungstempo wird nach Ulbrichts eigener Aussage wesentlich bestimmt „durch den Zwang zu wissenschaftlich-technischen Höchstleistungen, um auf dem Weltmarkt günstig verkaufen und einkaufen zu können. Deshalb ist es so wichtig, die effektivste Struktur der Volkswirtschaft durchzusetzen und in der gesamten Wirtschaft wie in jedem einzelnen Betrieb die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern" Daß dieser Zwang zu wissenschaftlich-technischen Höchstleistungen die Übernahme effektivitätssteigernder Instrumente westlicher Wirtschaftssysteme einschließt, ergibt sich aufgrund deren Überlegenheit in der Bewältigung permanent neu auftretender Probleme des wissenschaftlichen und wirtschaftlich-technologischen Prozesses.
Eine der wesentlichen Veränderungen in der DDR-Wirtschaft der sechziger Jahre war in Verbindung mit der Einführung des NOS die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung über den Gewinn der einzelnen Betriebe. Zwar wird dies ideologisch gerechtfertigt. Die DDR-Führung mußte allerdings bereits in der Endphase des Parteivorsitzes von Ulbricht immer wieder an die als entschei-dend hervorgehobenen Unterschiede zwischen dem Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland und der DDR erinnern:
Als Instrument der Monopole intensiviert der Bonner Staatsapparat die Methoden der Regulierung und der staatlichen Steuerung, um die Profite zu erhöhen. Er unterwirft in immer stärkerem Maße auch alle anderen gesellschaftlichen Bereiche der staatlichen Beeinflussung und Administration mit dem Ziel, alle gesellschaftlichen Regungen und Kräfte der formierten Herrschaft der Monopole unterzuordnen. Die Monopolbourgeoisie sucht daher nach Mitteln und Methoden, die es ihr ermöglichen sollen, die wachsenden ökonomischen und politischen Widersprüche des staatsmonopolistischen Systems im staatsmonopolistischen Kapitalismus selbst zu lösen. Sie will und kann die Wirtschaft nicht mehr dem sogenannten freien Spiel der Kräfte überlassen und muß zu Mitteln und Methoden der staatsmonopolistischen Regulierung Zuflucht nehmen, die im Grunde genommen dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise widersprechen und die Notwendigkeit des Übergangs zum Sozialismus deutlich machen."
Die DDR befand sich damit im sozio-ökonomischen Bereich im Übergang zu den siebziger Jahren insofern in einer vergleichbaren Lage zur Bundesrepublik, als sie — bei prinzipiellen Unterschieden in der Ideologie und einer Reihe in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelter Grundbedingungen einer sozialistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung — den Herausforderungen einer sich rapide weiterentwickelnden Industriegesellschaft mit vergleichbaren Instrumenten und Strukturmaßnahmen begegnen mußte wie die Bundesrepublik Deutschland
Der VIII, Parteitag der SED beschäftigte sich -im Gegensatz zu den Vorschlägen Ulbrichts auf der 15. Tagung des Zentralkomitees der SED — erneut primär mit wirtschaftlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Fünfjahresplan von 1971— 1975. Hatte Ulbricht auf dem VII. Parteitag deutliche revizionistische Abweichungen von der ideologi-schen Generallinie vorgenommen, so kehrte der VIII. Parteitag unter dem neuen Parteivorsitzenden Erich Honecker nominell zu den ideologischen Prinzipien zurück. Die Bedingungen der Zwänge einer modernen, sich rapide weiterentwickelnden Industriegesellschaft, die Ulbricht in seinen letzten Jahren als Parteivorsitzender wiederholt skizziert hatte, konnten und können allerdings von der SED und ihrem neuen Parteivorsitzenden nicht ignoriert werden. Als vorläufiges Ergebnis präsentiert die SED ein dialektisch-einheitliches Konzept der Gestaltung von Theorie und Praxis auf der ideologischen Basis des dialektischen Materialismus Das Dilemma zwischen ideologischen Prinzipien und den Herausforderungen eines komplexen Industriesystems wird damit allerdings nicht gelöst. Deutlich wird dies etwa, wenn Honecker betont: „In ihrer gesamten Tätigkeit läßt sich die SED vom Marxismus-Leninismus als der revolutionärsten und fortgeschrittensten Wissenschaft unserer Zeit leiten." Auf der anderen Seite wird allerdings unter Bezugnahme auf Systemzwänge hochentwickelter Industriegesellschaften hervorgehoben: „Wichtigstes volkswirtschaftliches Kriterium intensiv erweiterter Reproduktion ist das Wachstum der Produktion durch die Steigerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, des Anteils des Produktionszuwachses bzw.des Zuwachses an Nationaleinkommen, der der Steigerung der Produktivität der Arbeit geschuldet ist. Daran zeigt sich schon, daß die Intensivierung der Produktion nicht ein notwendiges, durch die Erschöpfung bestimmter Wachstumsfaktoren hervorgerufenes Übel ist, sondern objektive Notwendigkeit.'
Daraus läßt sich schließen, daß die SED bemüht ist, das Verhältnis von Ideologie und Praxis erneut auf einen Stand zu bringen, wie er fast für die gesamte Entwicklung der DDR (Ausnahme: VII. Parteitag) typisch war. Die Prinzipien der Ideologie werden in Abstimmung mit der jeweiligen sowjetischen Interpretation als ausschließlich richtig und wegweisend für die weitere Entwicklung hervorgehoben, gleichzeitig wird unter Hinweis auf das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis der Realität — insbesondere der ökonomischen Realität — taktisch-pragmatisch Rechnung getragen. Gewannen allerdings unter Ulbricht auf dem VII. Parteitag Taktik und Pragmatismus im Rahmen einer feststellbaren Revision ideologischer Prinzipien teilweise die Oberhand, so gilt seit dem VIII. Parteitag wiederum die Ideologie des Marxis-mus-Leninimus als absolute Richtschnur. An den objektiven Notwendigkeiten ökonomischer Prozesse ändert dies allerdings zugegebenermaßen nichts, es heißt lediglich, daß die jeweils zu treffenden Maßnahmen ideologisch abgesichert und rückversichert sein müssen.
Wichtig für die Reideologisierung der po-litisdi-ökonomischen Bedingungen und Entwicklungen in der DDR ist die Feststellung Honeckers: „Die Bedürfnisse der Menschen sind nicht Punkt zwei, drei oder vier, sondern Punkt eins der Planung." Dies demonstriert einen Realismus, der ideologisch nicht abgesichert ist, da für die sozialistische Übergangsperiode das Prinzip gelten soll: „Jeder nach seinen Fähigkeiten — jedem nach seiner Leistung." Die Priorität menschlicher Bedürfnisse soll nach den Bestimmungen der Ideologie erst in der kommunistischen Gesellschaftsordnung zum Durchbruch kommen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten — jedem nach seinen Bedürfnissen." Honecker geht damit sogar über Ulbricht hinaus, der als Prioritätenfolge des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus zuerst die sozialistische Demokratie, dann das einheitliche sozialistische Bildungssystem, die Durchdringung aller Sphären des gesellschaftlichen Lebens durch die sozialistische Ideologie und erst an vierter Stelle die „stetige Verbesserung der Ar-beitsund Lebensbedingungen" nannte Festzuhalten bleibt danach, daß für die SED und damit das gesamte System der DDR das Verhältnis von Ideologie und Praxis so wenig in Einklang zu bringen ist wie eh und je. Die Bedingungen und Erfordernisse eines komplexen Industriesystems, seiner Entwicklungstendenzen und -zwänge stellen die Partei vor stets neue, nur bedingt in Einklang mit der Ideologie zu bewältigende Probleme.
Von der Partei erkanntes und immer wieder hervorgehobenes, in der Praxis ideologiebedingt jedoch nicht befriedigend gelöstes Hauptproblem der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR ist die proportionale Abstim188) mung des komplexen ökonomischen Prozes.ses. Dies verlangt Zugeständnisse an Dezentralisierung und Differenzierung ökonomischer Strukturen und die Hebung der Eigenverantwortung auf den verschiedenen betrieblichen Organisationsebenen. Das NOS versuchte in diesem Bereich in den sechziger Jahren Grundlagen zu schaffen, die allerdings in einem frühen Stadium der Entwicklung von der Parteiführung an ihrer weiteren Entfaltung gehindert wurden.
Die Tatsache, daß Partei-und Staatsapparat in der DDR weiterhin Zwangsfunktionen ausüben, wird damit gerechtfertigt, daß „der Prozeß der ständigen Erhöhung des Wirkungsgrades der sozialistischen Demokratie als integrierender Faktor zur allseitigen Stärkung der DDR ... nicht nur unter dem Blickwinkel der quantitativen Zunahme der schöpferischen Mitwirkung der Werktätigen in den verschiedensten Formen der Machtausübung in den Volksvertretungen, Betrieben, Einrichtungen, Institutionen und Wohngebieten verstanden werden" kann. „Vielmehr rückt auch hier die qualitative Seite in den Vordergrund: Die Erhöhung des Bildungs-und Kulturniveaus der Leiter und aller Werktätigen beeinflußt den Wirkungsgrad der sozialistischen Demokratie ganz außerordentlich.“ Es wird allerdings eingeräumt, daß Mängel konstatierbar sind, die der optimalen Ausgestaltung sozialistischer Demokratie in der gegenwärtigen Entwicklungsphase in der DDR entgegenstehen. Dies betrifft insbesondere die innerbetriebliche Demokratie (Rechenschaftslegung; Informationsfluß zwischen Leitungen, Gremien und Arbeitskollektiven) sowie die Beziehungen zwischen Betrieben, kommunalen und regionalen Vertretungskörperschaften
Der VIII. Parteitag der SED 1971 ließ erkennen, daß sich die SED mit einer Bestandsaufnahme derartiger Mängel nicht zufriedengibt, sondern insbesondere durch entsprechend neue Aufgabenstellungen für die Gewerkschaften versucht, „die ganze Klasse“ in die politische und ökonomische Leitungsar beit einzubeziehen. Beabsichtigt ist in diesem Zusammenhang die Initiierung eines dialektischen Prozesses. Durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse sollen sich jene Interessen herausbilden, die „die Menschen in der sozialistischen Gesellschaft zielgerichtet zur Tätigkeit anregen". Die Analyse dieser Interessen soll wiederum aufdecken, „wie und in welcher Richtung sie die Menschen zum Handeln veranlassen". Die Rückkoppelung der gesellschaftlichen Interessen auf die sozialistischen Produktionsverhältnisse „muß bei der Gestaltung ökonomischer Regelungen sorgfältig beachtet werden. Generell ist davon auszugehen, die Übereinstimmung in den grundlegenden Interessen der Gesellschaft, der Betriebskollektive und der einzelnen Werktätigen zu erreichen, wobei ihre Interessenunterschiede exakt und differenziert zu beachten sind“
Erreicht werden soll dies u. a. im Bereich des Wettbewerbs und der Neuererbewegung Zielsetzungen sozialistischer Demokratie sollen dabei im ökonomischen, politischen und kulturellen Bereich realisiert werden. Neben ihrer Funktion als Produzenten sollen sich die Werktätigen vor allem als Eigentümer begreifen
Auf dem VIII. Parteitag der SED wurde deutlich, daß ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Rationalisierung und der Entwicklung sozialistischer Demokratie in der DDR besteht, wobei die Priorität nicht einseitig zugunsten der Entwicklung sozialistischer Demokratie gesetzt werden kann. „Sozialistische Demokratie setzt einen hohen Stand der Produktivkräfte voraus; die Zielstellung, den gesellschaftlichen Reichtum schnell zu vermehren, führt dazu, daß etwa die Gewerkschaftsfunktionäre ihre Rolle bei der Produktionsförderung stärker betonen mußten als ihre Aufgabe der Heranführung der Produzenten an die selbständige Planung und Leitung.“ Die SED versucht, den Zusammenhang zwischen Rationalisierung und Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie in der DDR nicht aus den Augen zu verlieren und stellt entsprechende Aufgaben im Rahmen des Fünfjahrplans 1971— 1975.
Das Dilemma sozialistischer Demokratie in Theorie und Praxis kommt in einer Formulierung Kurt Hagers zum Ausdruck: „Es hilft uns keinen Schritt weiter, wenn bestimmte Forschungsergebnisse und Publikationen von vornherein als Tabu gelten ... wir verteidigen mit aller Konsequenz die Einheit und Reinheit des Marxismus-Leninismus, aber das heißt nicht, daß über verschiedene offene Fragen keine Diskussion erfolgen kann und soll" Partei und Ideologie bestimmen somit offiziell die Entwicklungslinien des gesamten DDR-Systems. Sie müssen sich zu Zugeständnissen auf der Grundlage objektiver Bedingungen des ökonomischen Entwicklungsstandes bereit finden, sind allerdings aufgrund der ihnen zustehenden gesamtgesellschaftlich verbindlichen Herrschaftspositionen in der DDR in der Lage, Zugeständnisse an aktuelle Entwicklungsbedingungen auf das notwendige Minimum zu begrenzen. Dies demonstriert die Macht von Partei und Ideologie auf der einen Seite, objektive Zwänge und permanent sich erneuernde Herausforderungen durch das sozio-ökonomische System auf der anderen Seite. Dazwischen stehen die gesellschaftspolitisch erreichten Bedingungen in der DDR, die sich in der Vergrößerung der Chancengleichheit, in verstärkter sozialer Mobilität und rechtlichen Reformen (z. B. Recht auf Arbeit, Reform des Scheidungsrechts, Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs) niederschlagen und Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung eröffnen. Rüdiger Thomas charakterisiert diese Möglichkeiten mit dem Begriff der „kalkulierten Emanzipation" einer Formel, der etwa Ernst Richert sehr skeptisch gegenübersteht, indem er zum einen darauf hinweist, daß ein derartiges Konzept noch zu wenig reflektiert sei, zum anderen betont: „Die Idee, daß die Führung eine Sozialregie ausübe, die allmählich in Eigenregie übergeht, reibt sich an der Praxis, daß die Emanzipation systematisch gebremst wird."
Ihre dialektische Legitimität bezieht diese Situation aus den Bestimmungen der DDR-Ver-fassung von 1968, in der Artikel 21 fordert: die umfassende Mitwirkung und Mitgestaltung der Bürger bei allen staatlichen Entscheidungen durch Wahlen, Rechenschaftslegungen der Volksvertretungen und der Leiter staatlicher Organe, Aktivität der gesellschaftlichen Organisationen, Eingaben-und Vorschlagsrecht sowie Abstimmungen Demgegenüber steht die Führungsrolle der SED in den zentralen Instanzen wie auf allen gesellschaftlichen Ebenen sowie ihre Funktion als ausschließlicher Auslöser gesellschaftlicher Aktivitäten Festzuhalten bleibt damit, daß jede Einfaktorenanalyse, die Ideologie, Partei oder sozio-ökonomischen Prozeß in der DDR isoliert oder ausschließlich behandelt, die Wirklichkeit des Systems DDR notwendigerweise verfehlen muß.
Gemäß den ideologischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus ist der Sozialismus durch das bewußte und planmäßige Handeln des Volkes zu schaffen und zu entwickeln. Grundlage hierfür kann nach der ideologischen Konzeption nur die Theorie des Marxismus-Leninismus sein. Die Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse bedient sich hierbei während einer Übergangsperiode der Staatsmacht und sorgt für die immer stärkere Beteiligung und Mitbestimmung der gesamten Gesellschaft an der Vollendung des Sozialismus sowie dem Aufbau und der Vollendung des Kommunismus. Die SED bemüht sich, diese ideologischen Prinzipien zu realisieren, wenn sie immer wieder zu einer „wachsenden schöpferischen Aktivität der Werktätigen auf allen Gebieten" aufruft Gleichzeitig dient allerdings das Instrument des demokratischen Zentralismus dazu, Initiativen von unten zu kanalisieren und der zentralen Leitung und Planung des Gesamtsystems durch die Parteiführung den absoluten Vorrang einzuräumen. Ein wie auch immer gearteter Beleg dafür, daß in der SED-Führung sozialistische Zielsetzungen in der Entwicklung der DDR aufgegeben seien, läßt sich somit den Verlautbarungen führender Parteifunktionäre und den Veröffentlichungen in verschiedenen Publikationen in der DDR nicht entnehmen. Es wird zwar eingeäumt, daß Fortschritte auf dem Gebiet ökonomischer Produktivität Abstriche von Zielsetzungen sozialistischer Demokratie erfordern, jedoch wird dies als zeitbedingt erklärt, ohne daß dadurch die langfristige Zielsetzung der Realisierung sozialistischer Demokratie in der DDR aufgegeben wird. b) Eine kritische marxistische Interpretation Eine marxistisch-kritische Analyse der politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung des DDR-Sozialismus kommt zu den Ergebnissen, daß sich die Klassengegensätze in der DDR verschärfen und daß dies auf Ziele, Inhalte und Mittel bürgerlicher Planung zurückzuführen ist, mit denen die DDR-Führung versucht, politisch-gesellschaftliche Aufgabenstellungen auf ökonomische Weise zu lösen Es ist hierbei anzumerken, daß sich die entsprechende Analyse von Philip Neumann auf die politische Ökonomie der DDR zu Ende der Ara Ulbricht bezieht und sich mit deren theoretischen Grundlagen und praktischen Konsequenzen beschäftigt. Neumann wie Lindner gehen davon aus, daß trotz Änderungen in der Planungskonzeption in der DDR vom NOS zum OSS (Eindämmung und Beseitigung von Elementen, die die zentralistische Kontrolle untergraben würden) und trotz der verbalen Zurücknahme der Ulbrichtschen Sentenz vom Sozialismus als „relativ selbständiger sozial-ökonomischer Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab" durch Kurt Hager die antisozialistische Entwicklungstendenz der DDR gleichgeblieben ist. Für Neumann ist in seiner polarisierenden Argumentation — Lindner vergleichbar — entscheidend, „ob sich die sozialistische Gesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft hinentwickelt oder ob erneut eine bürgerliche Klasse die Herrschaft ausübt" Unterschiede zwischen den Wirtschaftsreformen in der CSSR 1968 oder in Ungarn und in der DDR sind für ihn „nur quantitativer, nicht qualitativer Art"
Im einzelnen argumentiert Neumann folgendermaßen: Detaillierte Planauflagen der übergeordneten Instanzen (VVB, Industrieministerien oder Planungsbehörde) oder größere Selbständigkeit der Betriebe, administrative oder ökonomische Leitungsmethoden spiegeln die falsche Alternative wider, vor die die DDR-Führer sich gestellt sehen" Um dies zu belegen, weist Neumann auf drei Ebenen der Aneignung der Natur durch den Menschen hin, „die eng miteinander verknüpft sind“:
1. Die Ebene der gesamtgesellschaftlichen Aneignung.
2. Die Ebene der Aneignung durch die Produzentenkollektive.
3. Die Ebene der individuellen Aneignung durch die Werktätigen.
„Das Grundinteresse ist zwar allen drei Ebenen gemeinsam: Das Interesse am Aufbau des Sozialismus und am maximalen Zuwachs des Nationaleinkommens; dennoch gibt es Interessenwidersprüche, die nichtantagonistischen Charakter tragen. Die Werktätigen haben ein Interesse an möglichst hohem Lohn, die Betriebe an möglichst hohem Gewinn und niedrigen Lohnkosten, der Staat an maximalem Produktionszuwachs.
Neumann stellt hierzu die Frage: „Wie werden diese verschiedenen Interessenebenen miteinander verbunden; wie werden die Interessenwidersprüche zwischen den Betrieben und zwischen Werktätigen, Betrieb und Gesellschaft gelöst?“ Und er gibt die Antwort: „Sie werden ökonomisch gelöst, durch Geldbeziehungen, und entstehen erneut, damit sie wiederum durch ökonomische Hebel und Ware-Geld-Beziehungen gelöst werden — in einem unendlichen Prozeß." Die Wirtschaftsreformen in der DDR und in anderen osteuropäischen Ländern wurden somit „nicht aus einer neuen Theorie abgeleitet, sondern sie waren eine pragmatische Antwort auf diejenigen Schwierigkeiten, die aus dem alten System der Planung aufgrund der neuen Entwicklungen entstanden"
Die Erkenntnis, daß „der Betrieb . . . nicht an ta Senkung, wohl aber an der Erhöhung der Preise seiner Erzeugnisse materiell interessiert“ ist, wird dahin gehend interpretiert, daß die Betriebsleitungen bestrebt sind, den Anteil des gesellschaftlichen Produktionsfonds, über den sie verfügen, so hoch wie möglich zu verwerten. Die Selbständigkeit der Betriebsleitungen wird dadurch erhöht. „Sie sind die eigentlichen . Besitzer'der Produktionsmittel, sie bestimmen über den Ablauf, die Methoden und Ziele des Produktionsprozesses."
Die Relationierung von Gewinnmaximierung einerseits sowie Investitionen, Abschreibungen und Prämienfonds andererseits soll zu einer Interessenharmonisierung zwischen Betriebsleitung und Werktätigen führen; die Klassenverhältnisse werden damit allerdings nicht aufgehoben. Im Gegenteil:
Die Orientierung am Gewinn führt zu scharfer Konkurrenz zwischen den Betrieben, es entsteht die Tendenz, die Gewinne durch Lohnsenkungen zu erhöhen, die Arbeitsmethoden werden verschärft und Arbeitsplatzbewertungsmethoden eingeführt. Dies alles führt zu einem Interessengegensatz zwischen Arbeitern und Geschäftsleitungen, den Neu-mann mit dem Gegensatz Lohnarbeit — Kapital vergleicht („das alte Lohnarbeiterbewußtsein"
— „Interesse des kapitalistischen Managers, des Agenten, der Charaktermaske des gesellschaftlichen Kapitals") Den Produktionsleitern wirft er innerhalb aller Phasen von Planungssystemen in der DDR antisozialistische Interessen vor, die jeweils nur in andere Bahnen gelenkt wurden
Im Vordergrund der Bemühungen der SED-Führung stehen damit ökonomische Effektivität und internationale Konkurrenzfähigkeit.
Die Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie in der DDR wird ökonomischen Prinzipien nachgeordnet und spielt nur insoweit eine Rolle, als sozialistische Demokratie und ökonomische Effektivität miteinander in Einklang zu bringen sind, mehr noch, insofern sozialistische Demokratie der ökonomischen Effektivität nützt, nicht umgekehrt, ökonomische Zwänge dominieren politische Entscheidungen.
„Dadurch wird der Status quo aufrechterhalten, ja die Klassenstruktur wird verschärft."
Es wird eingeräumt, daß der Staat „noch" die Aktivitäten der Betriebe „beeinflußt", aber deren Selbständigkeit wachse. Das Verhältnis von Staat und Betrieben, staatlicher Zielplanung und betrieblich möglicher autonomer Aktivität rediziert sich auf „das Streben nach möglichst hohem Nettogewinn“ Der Prozeß der Verflechtung der DDR-Wirtschaft mit der Weltwirtschaft bewirkt, daß die kapitalistischen Weltproduktionsverhältnisse mehr und mehr die Binnenstruktur der DDR-Wirtschaft bestimmen; dies gilt auch für den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW). Neumanns Therapie: Beseitigung korrupter Kader, Mobilisierung der Massen, Beschränkung von Umfang und Gewicht des Außenhandels mit kapitalistischen Ländern, Politik der „Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Vertrauen auf die eigene Kraft" (als Beispiel für die ökonomisch unabhängige Entwicklung und politische Selbstbestimmung eines Landes wird die DDR auf Albanien [! ] verwiesen) Solange die DDR nicht diesen Weg geht, ist sie für Neumann ein System, in dem „der-Plan• • nicht Instrument des Klassenkampfes, Mittel zur Beseitigung des Erbes der alten Ausbeutergesellschaft, zum Kampf um eine klassenlose Gesellschaft (ist). Er ist zu einem technokratischen Instrument geworden, das einige Krisenerscheinungen, wie sie unter dem Kapitalismus üblich sind, beseitigen soll
Obwohl Neumanns theoretischer Ansatz, seine Analyse und seine Interpretation in vielem mit denjenigen Lindners übereinstimmen, kommt er nicht zu dessen radikaler Schlußfolgerung, die DDR befinde sich auf dem Wege der kapitalistischen Restauration. Wohl aber geht er so weit, der DDR-Führung den Willen und das Können zu einer konsequenten Weiterentwicklung einer sozialistischen Gesellschaft abzusprechen. Im Verhältnis zur Bundesrepublik hat für Neumann die DDR trotz aller Mängel als sozialistisches System eine andere Qualität. Von einer Konvergenz der Systeme kann aufgrund seiner Analyse keine Rede sein. Grundkonflikte werden — wenn sie auch nicht idealtypisch nachgewiesen werden können — deutlich.
Vergleichbar der Untersuchung Lindners bedarf der Beitrag Neumanns einiger kritischer Anmerkungen und Richtigstellungen. Ich beschränke mich hierbei im folgenden auf Passagen, der nicht bereits im Zusammenhang mit der Darstellung Lindners der Kritik unterzogen wurden. 1. Neumanns Unterscheidung von drei Ebenen des „ökonomischen Systems des Sozialismus" (gesamtgesellschaftlich, Produzentenkollektive, einzelne Individuen) ist ein zu wenig komplexer Raster, um damit die differenzierten Zusammenhänge des entwickelten Industriesystems der DDR und seine internationalen Beziehungen erhellen zu können. Insbesondere Neumanns Aufforderung an die DDR-Führung zu einer Politik der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und des Vertrauens auf die eigene Kraft ignoriert von einer derartig „grob gezeichneten“ Prämisse her grundlegende Tatbestände, die zu illusionären Aussagen und grotesken Fehldeutungen etwa der Art führen, daß das Entwicklungsland Albanien für die DDR Vorbildcharakter haben sollte. Die zunehmende Verflechtung der DDR-Wirtschaft in die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge veranlaßt Neumann zu scharfer Kritik, ohne die hierfür zwingenden Ursachen anzusprechen oder plausible Alternativen anzubieten. Das gleiche gilt für die Abhängigkeit der DDR-Wirtschaft von der Sowjetunion. Wie soll diese Abhängigkeit „in Frage gestellt" werden?
2. Die drei Ebenen sind „eng miteinander verknüpft" Die Gesamtleitung der DDR durch Partei und Staat wird von Neumann an keiner Stelle in Zweifel gezogen. Wohl aber sieht er die Tendenz der ausschließlichen Gewinnorientierung Diese Aussage ist allerdings daran zu messen, daß allen drei Ebenen neben dem Interesse am maximalen Zuwachs des Nationaleinkommens das Interesse am Aufbau des Sozialismus als Grundinteresse gemeinsam ist (wofür Neumann im einzelnen den Beweis schuldig bleibt!). In bezug auf diesen Parameter vermag Neumann nicht zu erklären, warum das Element der „bürgerlichen Planung" des „antisozialistischen Interesses“ (Widerspruch zu oben!) und des „antisozialistischen Verhaltens" der Produktionsleiter sowie die Aufrechterhaltung und tendenzielle Verschärfung der Klassenstruktur in der DDR ein Problem größeren Ausmaßes für deren sozialistische Entwicklung darstellen soll. Um diese Widersprüche zu überwinden, ist entweder der Nachweis zu führen, daß die DDR auf dem Wege einer kapitalistischen Ökonomisierung ist (was Lindner versucht, s. o.), oder zu belegen, daß Partei und Staat in der DDR — ungeachtet der Übernahme kapitalistischer Produktionsniethoden und der Inkaufnahme stärkerer Einkommensunterschiede — an der strategischen Zielsetzung des Sozialismus-Kommunismus festhalten und ihre politische Gesamtplanung danach ausrichten. Neumann leistet keinen der beiden Nachweise.
3. Neumann überschätzt wie Lindner die Möglichkeit der Mobilisierung der Massen (s. o.) und unterschätzt die Planungs-und Steuerungsprobleme in dem Verhältnis technologisch-ökonomischer und politisch-geselli schaftlicher Prozesse. Er unterstellt autonome Handlungsmöglichkeiten der Partei, die unter den Bedingungen eines komplexen Industrie-systems und dessen vielfältigen nationalen und internationalen Verflechtungen nicht gegeben sind. Insofern weisen vergleichbar entwickelte Industriesysteme zweifellos Konvergenzerscheinungen auf; zu berücksichtigen bleiben allerdings die jeweils als verbindlich gesetzte Systemordnung, ihr Herrschaftssystem und die von diesem zu interpretierende und anzuwendende Ideologie. 4. Neumann deutet für die DDR die Entwicklung zu einem gesellschaftlichen Interessen-gegensatz von Lohnarbeit und Kapital an was auf das Theorem von Lindner und die Möglichkeit einer kapitalistischen Konvergenz DDR — Bundesrepublik Deutschland hinausläuft. Er berücksichtigt dabei nicht die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem betrieblichen und gesellschaftlichen Staatskapital in der DDR und dem (Groß-, Klein-) Aktionärskapital in der Bundesrepublik Deutschland, das sich überwiegend in privater Hand befindet. Daraus resultieren unterschiedliche Kapital-Herrschaftsbeziehungen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, die sich in einem anderen Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft niederschlagen und dem — zweifellos auch für die DDR konstatierbaren — Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital in der DDR eine andere Qualität geben als in der Bundesrepublik Deutschland. c) Eine kritische sozialistisch-iunktionsanalytische Interpretation Das Dilemma von zentraler Planung und gesellschaftlicher Mitentscheidung in der DDR mündet in die Fragestellung, ob zentrale Entscheidungsstrukturen Vergesellschaftungsprozesse von Entscheidungen ermöglichen oder intendieren, ob sie dazu überhaupt geeignet sind. In den Mittelpunkt der Untersuchung rücken damit nicht Fragen nach Klassengegensätzen, sondern nach Planungsproblemen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Planungsorganisation wird nicht als „ökonomi-stisch" (so Lindner) interpretiert, sondern immer noch als sozialistisch, solange die Ökonomie im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gesehen wird
Voraussetzung für die Änderung des Planungssystems der DDR 1963 war nicht die mangelnde Vergesellschaftung der Planungs-------------und Leitungsprozesse sondern die „unstrittige Ineffizienz des früheren Planungssystems" Gesamtwirtschaftliche Effizienz sollte durch Steigerung der einzelwirtschaftlichen Rentabilität erzielt werden, was erweiterten Entscheidungsspielraum und verbesserte materielle Anreize für die Betriebe beinhaltete. Diese „indirekten Zentralisierungsmaßnahmen" konnten allerdings nur dann zu den angestrebten Ergebnissen (Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und ökqnomi-sehe Effizienz) führen, wenn die zentral festgelegten gesamtgesellschaftlichen (sozialistischen) Erfordernisse mit den ökonomischen (einzelbetrieblichen) möglichst optimal zu koordinieren waren. Dies scheiterte allerdings weitgehend aufgrund massiver Interessengegensätze innerhalb und zwischen den verschiedenen politischen und ökonomischen Ebenen (vgl. etwa die stark steigende Tendenz gerichtlicher Verfahren zwischen einzelnen Betrieben). Es bleibt hierbei festzuhalten, daß in der Planungsphase des NÖS die zentrale Globalplanung und -Steuerung des Systems DDR niemals zur Disposition stand. Wirksame administrative Ansätze zu einer Vergesellschaftung der Planungsund Leitungsprozesse sind allerdings ebensowenig feststellbar
Der Wechsel der politisch-ökonomischen Organisationsformen in der DDR von 1961 bis heute (NÖSPL, ÖSS, Rezentralisierungspe-riode seit 1971) hat „wenig mit einer tendenziellen Vergesellschaftung der Planungs-und Leitungsprozesse, soweit diese auf dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik, ihrer Anwendung im Produktionsprozeß und des gesellschaftlichen Bewußtseins möglich erscheint, zu tun" Die Abstimmung von Plänen zwischen zentraler Wirtschaftsführung und den Betrieben sollte ab 1966/67 eine neue Periode politisch-ökonomischer Planung in der DDR einleiten. Stellungnahmen führender Wirtschaftspolitiker der DDR ließen erkennen, daß im Zuge des NÖS und seiner neuen Planungsmethoden das Problem auftrat, „Erscheinungen des Selbstablaufs energisch den Kampf an(zu) sagen" Entsprechend hervorgehoben der Betriebe verbunden werden, was allerdings wurde in der Direktive des eine weiterreichende zentrale Pla. VIII. Parteitages „die weitere Stärkung der nung unmöglich machen würde. Es kommt Rolle der zentralen staatlichen Leitung und damit gleichzeitig zu einem Konflikt zwischen Planung" Die Betonung der zentralen staatlichen staatlicher Zielplanung Leitung und Planung für den Bereich der und den Möglichkeiten deren Realisierung, da Wirtschaft löst allerdings keineswegs die immer Wachstumstempo ... mit den geltenden neu auftretenden Probleme, wie etwa die Regelungen nur unzureichend stimuliert Bilanzierung des Plans in Anbetracht der Komplexität 219).
von Daten und deren dauernden Veränderungen Zentral geplante und bilanzierte Erzeugnisse sowie die Vereinheitlichung ökonomischer sowie die Mengenplanung erschweren die Bewertungskriterien für wirtschaftliche einer konsistenten Produktionsstruktur, Regulationsmechanismen wie Kosten, da die Erfassung aller i
von Daten und deren dauernden Veränderungen Zentral geplante und bilanzierte Erzeugnisse sowie die Vereinheitlichung ökonomischer sowie die Mengenplanung erschweren die Bewertungskriterien für wirtschaftliche einer konsistenten Produktionsstruktur, Regulationsmechanismen wie Kosten, da die Erfassung aller interdependenten und Gewinne 216). Hinzu kommen ein unzugängliches Faktoren (insbesondere im Bereich der Informationssystem mit beträchtlichen Mängeln der Informationsbeziehungen Zulieferungen) weder durch Ökonometrie noch durch ein entsprechendes Informationssystem Betrieben und staatlicher Planungszentrale gelöst werden konnten. Immer wieder sowie insgesamt immer wieder mangelhafte Disproportionen im wirtschaftlichen Koordination, Flexibilität und Elastizität. Prozeß zwingen zu aufwendigen Verän- Die Rezentralisierung der Planung seit derungen zentraler Planungsvorhaben, führen dem Herbst 1970 verschärft diese Probleme zu Unsicherheit und Ungenauigkeit und bewirken politisch-ökonomischen Planung eher, als einen wenig effektiven time lag zwischen sie sie löst. Anhand des Instrumentes der Planung und ökonomischem Prozeß.
Planung zeigt sich erneut deutlich der Grund-widerspruch des DDR-Systems insgesamt: 3. Die für die Planung unerläßlichen Daten Ideologie und Parteiherrschaft auf der einen sind unzureichend aufeinander abgestimmt. Seite konfligieren mit den Anforderungen bestehen vielfach Widersprüche zwischen eines modernen Industriesystems. Partei Produktionskennziffern und tatsächlich vorhandenen Staat versuchen zwar, die auftretenden Kapazitäten (z. B. Warenproduktion Probleme optimal zu lösen, sind jedoch hierbei Export einerseits, Arbeitskräftezahl andererseits). nicht willens, durch Ansprüche der Ideologie Innerbetriebliche Schwierigkeiten und der Parteiherrschaft gezogene und Nichteinhaltung von Plänen sind die Folge. zu überschreiten. Der Ruf nach Experimenten, Vorschlägen und Diskussionen im Die Schwergerichte der Wirtschaftsreform in Rahmen der politisch-ökonomischen Planung der DDR im Zuge des NÖS waren auf die muß so zu einer Resonanz in vorgeschriebenen der Organisationsstrukturen Bahnen führen, die möglicherweise optimale B. Dezentralisierung) und Schaffung von Lösungsmöglichkeiten außer acht lassen (z. B. materielle Anreize) gelegt 217). worden. Eine Verbesserung des Informationssystems Probleme ökonomisch-politischer Planung als eines „hierarchischen Systems in der DDR — wie sie sich gegenwärtig zeigen Datenspeicherung mit schnellem Zugriff" — lassen sich folgendermaßen zusammenfassen wurde zwar gefordert, stößt jedoch 218): in der Praxis auf Schwierigkeiten, die mit den im Zusammenhang mit Problemen der Planung Es bestehen Konflikte zwischen zentralen genannten Faktoren nahezu identisch Planungsinstanzen und Betrieben, die darin sind:
ihre Ursache finden, daß den Betrieben kein genügender Anreiz zur Aufdeckung aller 1. Uneinheitliche Kennziffernabstimmungen Leistungsreserven gegeben wird. Dieser Anreiz -definitionen.
könnte nur mit höherer Eigenverantwor-
2142. Anpassungsänderungen des Lenkungssystems werden nicht nur durch in der Praxis geänderte Kennziffern hervorgerufen, sondern bedingen wiederum neue Kennziffernsysteme. 3 Die Organisation eines umfassenden Informationssystems als eines Systems von Datenbanken setzt die Konstruktion eines gesamt-
wirtschaftlichen Schlüsselsystems zur Kennzeichnung und Systematisierung aller anfallenden Informationen voraus.
Hinzu kommen Informationsfehler aufgrund bewußter Fehlangaben durch die Betriebe, die ihre Ursachen in dem oben genannten Grund mangelnden Leistungsanreizes und zu geringer Eigenverantwortung der Betriebe und ihrer Führungsorganisationen haben Weiter sind die erheblichen Probleme zu berücksichtigen, die sich aus der Komplexität wirtschaftlicher Beziehungen auf dem Binnenmarkt wie im Außenhandel ergeben. Ein funktionierendes Informationssystem setzt Kommunikation voraus, wie sie in der DDR-Wirtschaft — etwa zwischen Einzelhandel und Industrie — nicht besteht. Die Filter-wirkungen durch Kontrollmechanismen in Partei und Staatsapparat und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft tun ein übriges, um die Erstellung eines der Systemkomplexitätentsprechenden Informationssystems in der gegenwärtigen Entwicklungsphase in der DDR als unmöglich erscheinen zu lassen. Der mit der Planung befaßte Verwaltungsapparat in Partei und Staat der DDR erweist sich als zu schwerfällig, um die dynamischen Prozesse eines entwickelten Industriesystems entsprechend planen und steuern zu können.
Zwar werden seit 1971 im Bereich der Konsumgüterindustrie Planabweichungen in einem bestimmten Umfang zugelassen Vorschläge von Betriebsleitern, die gesamte Jahresplanung auf eine Planung in Bandbreiten umzustellen (sogenannte „Toleranzplanung“), wurden allerdings bisher abge-lehnt Diese Ablehnung dürfte darin begründet sein, daß es nach dem Stand der gegenwärtigen Planungstechniken immer noch einfacher ist, „alles bis zum i-Punkt (zu) planen und dann — da Abweichungen in jedem Falle auftreten — nach ausführlicher Begründung
nachträglich alles (zu) ändern" als die mit einer Erhöhung der Bandbreiten verbundene weitere Komplexität der Verknüpfung von Kennziffern zu leisten.
Nach den neueren Forschungsergebnissen sind für das Planungs-und Lenkungssystem der DDR Übereinstimmungen mit westlichen Management-Science-Ansätzen zu konstatieren. In beiden Fällen liegen nämlich prinzipiell Annahmen zugrunde, die Strukturen eines Systems enthielten nur eine geringe Zahl von Elementen, befänden sich auf einem niedrigen Ordnungsniveau, wiesen geringe interne Verknüpfungen auf und seien demnach mit relativ einfachen Mechanismen zu steuern. Weitere Annahmen betreffen die Verhaltensweisen von Systemen, die sowohl das DDR-Planungs-und -leistungssystem wie herkömmliche westliche Management-Science-Konzeptionen als linear und relativ stabil in der Zeit kennzeichnen. Demgegenüber weisen neuere systemtheoretische Forschungen, die sehr stark technologisch und industriewirtschaftlich orientiert sind, nach, daß der Ordnungsgrad komplexer Systeme hoch (hundert und mehr Elemente), Rückkoppelungen nicht nur negativ, d. h. korrespondierend und reagierend, sondern gerade im Falle sozialer Systeme positiv sind, was exponentielle Wachstumsprozesse bewirkt, damit in Verbindung stehend, die Beziehungen der Systemelemente nicht linear und die Rückkoppelungsschleifen vielfältig sind. Planung und Steuerung komplexer sozialer und ökonomischer Systeme sind demnach nur bei Berücksichtigung der entsprechenden vier Dimensionen möglich. Andernfalls verhalten sich komplexe Systeme häufig kontra-intuitiv, d. h., sie reagieren als Ganzes oder in ihren Teilen und Elementen zufällig auf bestimmte Planungs-und Steuerungsmaßnahmen, zeigen allerdings auch häufig gegenteilige und unerwartete Reaktionen. Ursachen und Symptome von Systemdysfunktionen sind mit traditionellen Planungsund Steuerungsansätzen häufig nicht präzise zu ermitteln, so daß Eingriffe in den Prozeß des Systems teilweise dessen Schwierigkeiten vergrößern und die Behebung von Mängeln zusätzlich erschweren Die systemtheoretisch konstatierbaren, durch Interessenkonflikte, mangelnde Kommunikation und Information sowie permanente Partei-und Staatskontrolle gegebenen Mängel des DDR-Planungssystems bewirken permanente Reibungsverluste und Fehlentscheidungen. Die DDR-Führung versucht, die auftretenden Engpässe im Ablauf der Mehrjahrespläne durch einen Mehraufwand bürokratischer Verordnungen und Regelungen zu kompensieren, scheitert jedoch an den konstatierten Grundübeln. Diese allerdings sind — jenseits der Problematik ihrer praktischen Behandlung, wie sich ja auch in westlichen Systemen zeigt — durch die Aufrechterhaltung ideologischer Prinzipien und den Absolutheitsanspruch der Parteiherrschaft nicht in weiterreichendem Maße zu überwinden. Häufige staatliche Eingriffe und Planrevisionen beeinträchtigen kontinuierliche ökonomische Produktionsund Wachstumsprozesse. Neuere Vorschläge von Mitarbeitern des ökonomischen Forschungsinstituts der Staatlichen Plankommission müssen mit großer Skepsis betrachtet werden, da sie in den vorgeschriebenen systemimmanenten Bahnen bleiben und somit bisher nicht erkennbar ist, wie die damit in Verbindung stehenden Probleme für die politisch-ökonomische Planung im Sinne der gesteckten Wachstumsziele überwunden werden sollen
Das Dilemma der Entwicklung der sozialistischen Demokratie in der DDR besteht von diesem Untersuchungsergebnis her darin, daß Vergesellschaftung im ökonomischen wie politischen Bereich ein Verfassungspostulat und eine Systemideologie darstellt, die in dem Widerspruch zwischen massiven Zentralisierungsmaßnahmen durch die Spitzen von Partei und Staat einerseits sowie die Duldung und teilweise auch Ermutigung der Artikulation und Durchsetzung privater Interessen durch die gleichen Organe andererseits offenbar nicht einzulösen sind Die als kritische sozialistisch-funktionsanalytisch zu charakterisierende Interpretation von Renate Damus erwartet eine der Komplexität des Systems DDR entsprechende Differenzierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, die notwendigerweise (Sachzwänge) die Zentralisation und Repression durch Partei-und Staatsapparat überwinden. „Auf die Dauer kann ... die Zentrale nicht stellvertretend die gesellschaftlichen Verhältnisse planen und Mitwirkungsorgane ausschließlich als Ubermittlungsinstanz für zentrale Entscheidungen oder als Sachwalter der Erhöhung der Arbeitsproduktivität betrachten." Die Möglichkeit und Notwendigkeit der verstärkten Artikulation und Einbringung gesellschaftlicher Interessen in Planungsprozesse schließt demnach längerlristig Tendenzen der Vergesellschaftung — im Gegensatz zu den Instrumentalisierungsbemühungen privater Interessen durch den Herrschaftsapparat — ein. 5. Zusammenfassung und Bewertung der unterschiedlichen Ergebnisse Die unterschiedlichen Interpretationen der Entwicklungsprobleme der sozialistischen Demokratie in der DDR erbringen folgende Ergebnisse:
1. Eine marxistisch-zentralistische Interpretation (Lindner) der sozialistischen Entwicklung der DDR bemängelt alle Dezentralisationsmaßnahmen des Systems (Verstärkung von Marktelementen) und sieht darin die Fixierung oder gar Verschärfung bestehender Klassenverhältnisse bestätigt. Nur durch Verstärkung und Zentralisierung sozialistischer Planung sind demnach die Reste des Kapitalismus in der DDR zu überwinden. Da „die Perspektive des Übergangs zum Kommunismus . . . verlorengegangen" ist, befindet die DDR sich auf dem Weg der kapitalistischen Restauration. Als Schlußfolgerung ergibt sich damit die Möglichkeit der Überwindung der Grundkonflikte zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland sowie ihre Konvergenz im Rahmen eines kapitalistischen Paradigmas.
2. Die SED-Führung als offizielle Interpretin der sozialistischen Entwicklung in der DDR stellt den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozeß als stetigen Weg der Vollendung des Sozialismus in der DDR dar. Die Grundkonflikte zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland bleiben demnach bestehen oder verschärfen sich sogar, Konvergenzen werden ausgeschlossen.
3. Eine marxistisch-kritische Interpretation (Neumann) weist darauf hin, daß die DDR durch die Übernahme kapitalistischer Produktionsweisen im ökonomischen Bereich we sentliche Elemente für die Vollendung des Sozialismus preisgibt. Antisozialistische und revisionistische Strömungen gewinnen an Einfluß. Die Grundkonflikte zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland werden dadurch gemindert und Konvergenz-
erscheinungen deutlich sichtbar.
4. Eine funktionsanalytisch-kritische Interpretation der sozialistischen Entwicklung in der DDR zeigt auf, daß sowohl in Phasen der direkten wie der indirekten Zentralisation (von Dezentralisation wird überhaupt nicht gesprochen) von Vergesellschaftung in der DDR keine Rede sein kann. Es wird damit gleichzeitig dreierlei festgestellt:
a) Herrschaftssystem und Ideologie in der DDR werden ungeachtet aller Reformmaßnah-men gleichbleibend aufrechterhalten; bdient im Zuge von Reformmaßnahmen lediglich der Steigerung ökonomischer Effizienz, führt allerdings nicht zu stärkerer Mitbeteiligung der Gesellschaft an politischen und ökonomischen Prozessen; c) Zentrale Planung und Steuerung einerseits und gesellschaftliche und private Interessen andererseits weisen Widersprüche auf, die entsprechend der gesellschaftlichen Bedürfnisstruktur tendenziell eher zu-als abnehmen. Partei und Staat in der DDR stehen deswegen immer wieder vor dem Dilemma, auf Repressionsmechanismen zurückzugreifen und diese eventuell sogar zu verstärken oder sozialistische Vergesellschaftung zuzulassen. Beide möglichen Tendenzen beinhalten allerdings keine Konvergenz der Systeme DDR — Bundesrepublik Deutschland, da die Entwicklung entweder vom Herrschaftsapparat der SED ideologisch abgesichert gesteuert wird oder ein sozialistischer Vergesellschaftungsprozeß in Gang kommt, der keine Entsprechung in der Bundesrepublik Deutschland findet.
In allen aufgeführten Interpretationen zur Entwicklung der sozialistischen Demokratie in der DDR wird nicht plausibel nachgewie-sen, inwieweit die DDR sich auf dem von ihr selbst beanspruchten Weg zur Vollendung einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft befindet. Dies kann auch gar nicht geschehen, da Anspruch und Wirklichkeit erheblich divergieren. Festzuhalten bleibt allerdings, daß ebenfalls keine Argumentation zuverlässig und gültig Konvergenzerscheinungen in der DDR gegenüber dem System der Bundesrepublik Deutschland nachzuweisen vermag. Die Funktionsfähigkeit des Herrschaftsapparates der SED und des Marxismus-Leninismus als ihrer Legitimationsbasis wird prinzipiell nicht in Frage gestellt. Wohl wird eingeräumt, daß der Herrschaftsapparat taktisch begründete Abweichungen von der sozialistischen Globalstrategie vornimmt — die Konsequenz einer Aufhebung der Grundkonflikte und tendenzieller Konvergenz läßt sich allerdings nicht ableiten.
VI. Zusammenfassung: Grundkonflikte und Konvergenzerscheinungen
Die paradigmatischen Bezugsrahmen der Systeme Bundesrepublik Deutschland — DDR sind in ihrem Selbstverständnis und in der Realität verschieden. Ein kategorialer Vergleich in verschiedenen Bereichen unter der zentralen Fragestellung nach Grundkonflikten und Konvergenzerscheinungen führt zu folgendem Gesamtergebnis:
Kategorie Herrschaft/Macht:
In beiden Systemen haben sich konsolidierte funktionale Eliten ausgebildet, die sich — bei aller systeminternen Interessenverschiedenheit — in der DDR durch relativ mehr Homogenität als in der Bundesrepublik Deutschland dusweisen.
Beide Systemeliten sind allerdings insofern gegensätzlich, als sie ihre Bestandsgarantie nur im Rahmen der bestehenden Systeme (Systemkonformität) haben, die sich — wie bereits festgestellt — gravierend voneinander unterscheiden. Hinzu kommt, daß in der Bundesrepublik Deutschland ökonomische, in der DDR (partei) politische Eliten dominieren. Die Interessen beider Eliten sind dialektisch zueinander insofern zu interpretieren, als sie einerseits mit vergleichbaren Mitteln versuchen, den Bedingungen optimalen Wachstums ihrer Systeme gerecht zu werden (insofern Parallelität der Interessen), andererseits damit die Effizienz des eigenen Systems gegenüber dem anderen zu stärken, um dadurch dessen Überlegenheit nach außen (Außenpolitik, Außenwirtschaft, militärische Sicherheit) zu garantieren.
Die gegenseitigen Interessen der Eliten in beiden Systemen bewegen sich innerhalb des Rahmens der „Friedlichen Koexistenz", indem die ideologischen Grundwidersprüche aufrechterhalten bleiben und die damit begründeten Systemkonflikte im politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich fort-45 bestehen. Dies schließt Kooperation im Sinne des beiderseitigen Nutzens ein, kann jedoch weder theoretisch (ideologisch) noch praktisch (z. B. Abkommen über Handelsbeziehungen, Austausch technologischen Wissens usw.) als Konvergenz der Systeme mißdeutet werden. Oberstes gemeinsames Interesse ist hierbei die Sicherung des Friedens auf der Basis des Status quo, wobei dessen Veränder-barkeit lediglich im Falle gravierenden inneren Systemwandels denkbar ist. Dieser kann allerdings nur im Zusammenhang der Block-systeme NATO und Warschauer Pakt und insbesondere der Führungsmächte USA und UdSSR von Relevanz sein.
Kategorie Ökonomie/Gesellschaft:
Die Steigerung der Produktivität und Rentabilität im ökonomischen Bereich ist primäres Interesse der Eliten in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR und entspricht damit den Bedürfnissen breiter gesellschaftlicher Schichten in beiden Systemen. Während allerdings diese Dominanz des ökonomischen Bereichs als systemkonform im Sinne kapitalistischer Wirtschaftsinteressen für die Bundesrepublik verstanden werden kann, begibt sich die DDR — insbesondere durch die Übernahme kapitalistischer Produktionsweisen und -techniken zum Zwecke der Effektivierung ihrer Wirtschaft — in eine Entwicklung, die die pragmatische Einordnung sozialistischer Zielsetzungen in die als sozialistisch interpretierten Wachstumsziele erfordert.
Konvergenzerscheinungen im ökonomischen Bereich zwischen beiden Systemen sind von diesen Zielsetzungen her nicht zu übersehen. Sie haben sich allerdings bis heute als nicht stark genug erwiesen, um westliche Systeme dem Sozialismus, östliche Systeme dem Kapitalismus anzunähern. Jede Konvergenzkonzeption erweist sich als verkürzt, die — ausgehend von ökonomisch parallelen Entwicklungen — glaubt, nachweisen zu können, damit sei ein Automatismus gegeben, der Herrschaft und Ideologie unterschiedlicher Systeme determiniere. Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR kann als Beleg dafür genommen werden, daß diese These falsch ist. Die DDR-Wirtschaft hat erhebliche Produktivitätsfortschritte erzielt — die Unterschiede zwischen den Systemen Bundesrepublik Deutschland — DDR sind dadurch allerdings nicht geringer geworden.
Kategorie Ideologie/Legitimität:
Die Systeme Bundesrepublik Deutschland und DDR stützen sich auf Legitimitätsgrundlagen (Bundesrepublik Deutschland: Westliche Demokratie; DDR: Marxismus-Leninismus), die weitgehend inkommensurabel sind. Es gehört mit zu den Auffassungen der Konvergenz-theoretiker, daß Systemideologien an Wirkkraft eingebüßt hätten und statt dessen ökonomisch-technische Sachzwänge die Entwicklung bestimmten. Es läßt sich allerdings sowohl für das System der Bundesrepublik Deutschland wie das der DDR zeigen, daß die Legitimitätsgrundlage, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung der DDR von 1968 zum Ausdruck kommt, weiterhin von den Eliten zur Rechtfertigung ihres Handelns herangezogen und von den Gesellschaften beider Systeme in einer breiten Mehrheit akzeptiert wird. Dies läßt sich im Bereich der inneren Sicherheit für beide Systeme verdeutlichen. In der Bundesrepublik Deutschland hat z. B.der Extremistenbeschluß der Ministerpräsidenten der Länder und des Bundeskanzlers vom 28. Januar 1972 die Funktion, jedem Bewerber für den öffentlichen Dienst, der nicht „die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt" die Einstellung zu verweigern In der DDR gilt die Interpretation des Marxismus-Leninismus durch die SED als allgemein verbindliche Richtschnur des gesellschaftlichen und individuellen Handelns. Sanktionen treffen jeden, der sich in dieses System sozialistischer Rollenerwartung nicht einpaßt. Die ideologische Rechtfertigung der Politik der „Abgrenzung" gegenüber der Bundesrepublik Deutschland tut ein übriges, abweichendes Verhalten innerhalb des Systems DDR im Ansatz zu unterbinden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die ideologischen Positionen der DDR gegenüber der Ostpolitik der Regierung Brandt Scheel als primär defensiv interpretiert werden Dies zeigten bereits die massiven ideologischen und theoretischen Reaktionen auf westliche Konvergenztheorien. Gegenwärtig gelten als theoretische Grundlage und praktische Handlungsanleitung die Inhalte und Ergebnisse von Konferenzen der Institute* für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU und der SED 1972/73 Es ist hier nicht weiter aufzuzeigen, inwieweit die Durchsetzung von Systemlegitimität in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR differiert. Sicher ist, daß auch hierbei erhebliche Unterschiede bestehen, die ebenfalls wieder als Indiz dafür dienen können, daß unterschiedliche Systemlegitimitäten von unterschiedlichen Eliten mit unterschiedlichen Mitteln durchgesetzt werden.
Es bleibt abschließend die Feststellung, daß konstatierbare Parallelitäten im ökonomisch-technischen Bereich keinen Schluß dahin gehend zulassen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland und die DDR unter Aufgabe ihrer spezifischen systemeigenen Merkmale einander annähern. Herrschaft und Ideologie in beiden Systemen sind unterschiedlich. Was Entwicklungstendenzen für die Zukunft betrifft, so zeigen sich für beide Systeme als Industriegesellschaften zwar vergleichbare Problemstellungen, die auch mit durchaus vergleichbaren Mitteln gelöst werden mögen. Dies läßt jedoch keine Folgerung dahin gebend zu, daß dies zu Änderungen im Herrschaftssystem und im ideologischen Selbstverständnis der Systeme im Sinne einer Konvergenz führen müßte. Wandlungserscheinungen in beiden Systemen werden sich ergeben. Die Funktionsfähigkeit der Eliten in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (nicht zuletzt abgesichert durch Bündnisverträge und wirtschaftliche Vereinbarungen im westlichen bzw. östlichen Bereich) ist nach allen Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht in Frage zu stellen. Anzeichen für gravierende gesellschaftliche Umwälzungen gibt es nicht. Westliche und östliche Systeme haben je für sich genommen und im Verbund soviel Krisenmanagement entwickelt, daß dies — trotz Störfaktoren wie politisch-ökonomisch gesteuerte Rohstoffverknappung — als Garantie ihrer Existenz für die überschaubare Zukunft gewertet werden muß. Die Entwicklung oder Übernahme neuer Systemelemente und kooperative Vereinbarungen dienen der Stabilisierung des jeweiligen Systems. Die Grundkonflikte zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, bestehen weiter.
VII. Theoretischer, methodischer und didaktischer Ausblick
Mit Hilfe der Kategorien im jeweiligen paradigmatischen Bezugsrahmen der Systeme Bundesrepublik Deutschland und DDR sollte der Versuch unternommen werden, vergleichend Grundkonflikte und Konvergenzerscheinungen aufzuzeigen. Was damit primär erreicht werden sollte, war, Einseitigkeiten in Theorien, Analysen und Darstellungen zu vermeiden, die eine Kategorie oder einzelne Kategorien gegenüber anderen bevorzugen, ihre Interdependenz nicht berücksichtigen oder sogar die eine oder andere Kategorie völlig außer acht lassen. Bei den Konvergenz-theoretikern ist die durch nichts zu rechtfertigende Bevorzugung der Kategorie Ökonomie festzustellen. Andere Ansätze bewerten übermäßig die Unterschiedlichkeit der Herrschaftssysteme in idealtypischer Manier (Demokratie — Totalitarismus). Derartige Mängel sollten hier angesprochen und mit Hilfe der Kategorien wenigstens ansatzweise überwunden werden. Es wird weiteren Arbeiten vorbehalten bleiben, die Kategorien oder ähnI-------------liehe Strukturmuster zu differenzieren und weiter zu systematisieren. Verzichtbar werden sie weder für die Analyse eines einzelnen Systems noch eines Systemvergleichs sein.
Die Kategorien verstehen sich als analytische Instrumente, die sowohl theoretisch wie didaktisch brauchbar sind. Das Thema sollte nicht dazu dienen, eine Diskussion über die Brauchbarkeit von Konvergenzvorstellungen in bezug auf die Systeme Bundesrepublik Deutschland — DDR unter primär didaktischen Gesichtspunkten zu führen. Wohl aber war es ein Anliegen zu zeigen, daß die theoretisch abgeleiteten Kategorien bei einem komplexen Vorhaben wie einem Systemvergleich zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR konkret anwendbar sind und weiter für die Anforderungen des politischen Unterrichts elementarisiert werden können. Hiermit kann lediglich ein Anfang gemacht sein, der übergreifenden theoretischen, analytischen und didaktischen Vorstellungen Rechnung zu tragen versucht, im folgenden allerdings zu überprüfen und vielfältig weiterzuentwickeln ist.
Wolfgang Behr, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; geb. 1940; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Anglistik und Pädagogik. Veröffentlichungen: Sozialdemokratie und Konservatismus, Hannover 1969; Der Beitrag der Gemeinschaftskunde zur Sexualerziehung, in: Die Schulwarte 22/1969; Politikwissenschaftliche und politisch-didaktische Grundkategorien, in: Gesellschaft-Staat-Erziehung 17/1972; Strukturprobleme der politischen Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/73; BRD — DDR. Elemente eines politischen Systemvergleichs, Politik und Soziologie, Villingen 1973; Vermittlungsprobleme der Politikwissenschaft, in: Materialien zur Politischen Bildung, H. 3, 2/1974; Dimensionen in Politikwissenschaft und politischer Pädagogik, in: H. -J. Winkler/G. Wuthe (Hrsg.), Politikwissenschaft als Erziehungswissenschaft?, Köln und Opladen 1974.