Die Frage, ob eine konservative Haltung theoriefähig sei, wird oft verneint. Konservative wie Nichtkonservative stimmen überwiegend darin überein, daß Konservatismus Verzicht auf Theorie bedeute. Der Autor unterscheidet zwischen formalem Konservatismus und inhaltlichem Konservatismus. Der erste bedarf keiner „konservativen Theorie", sondern allenfalls einer „Theorie der Konservation" dessen, was jeweils bewahrt werden soll. Formaler Konservatismus ist nicht notwendig irrational, seinen Kern bilden vielmehr ewige elementare Klugheitsregeln. \ Konservatismus im inhaltlichen Sinne war und ist „rechts". Solcher Konservatismus ist, wie ein Blick auf die Geschichte zeigt, durchaus theoriefähig. Im Anschluß an Armin Mohler wird unterschieden zwischen dem Konservatismus vor und nach der „Achsenzeit". Der Konservatismus vor der Achsenzeit kann noch an „haltende Mächte" anknüpfen und sich der Hoffnung hingeben, vorrevolutionäre Verhältnisse zu erneuern. Dieser Konservatismus ist in Europa in einer liberalen, romantischen oder traditionalistisch-legitimistischen Form wirksam geworden. Der Konservatismus der Nach-Achsenzeit sieht hingegen seine Aufgabe nicht mehr darin, den Status quo zu bewahren. Er will vielmehr Bedingungen schaffen, die Dauer, Bewahrung und Stabilität erst möglich machen. Er ist deshalb, wo er theoretisch wird, weder romantisch noch traditionalistisch, sondern „Systemkritik von rechts" aufgrund bestimmter anthropologischer und „transzendentalsoziologischer" Prämissen. Der Autor teilt die konservativen Theoretiker in „Essayisten" und „Systematiker" ein, betont die Diskontinuität konservativen Denkens und unterscheidet drei Grundmuster konservativer Aussagen zum Problem: „Was bleibt? Was ändert sich?" Am Schluß des Beitrags werden unter Bezug auf Arnold Gehlen die anthropologischen Grundannahmen einer modernen konservativen Theorie skizziert.
Die Frage, ob eine konservative Haltung theoriefähig sei, wird oft verneint. Konservative wie Nichtkonservative stimmen überwiegend darin überein, daß Konservatismus Verzicht auf Theorie bedeute. Polemische Autoren gehen sogar so weit zu behaupten, daß es nicht einmal konservative Intellektuelle geben könne, da Konservatismus notwendig irrational sei Eine konservative Zielsetzung, so heißt es, sei „mit einer rationalen Einsicht in den Geschichtsprozeß nicht in Einklang zu bringen", der Konservative „führt Analysen nicht radikal zu Ende, fragt nicht nach der Legitimität von Voraussetzungen; weil er seine Argumentation vorschnell beenden muß, ist seine ultima ratio die Gewalt, die Diktatur" Er „verpaßt die Erkenntnis der historischen Prozeßhaftigkeit" und verkörpert den „Sieg des Gemütes über den Geist" Ein dem Konservatismus mit Sympathie gegenüberstehender Autor wie Gustav E. Kafka pflichtet diesen Feststellungen weitgehend bei, wenn er ausführt': „Während die progessistische Politik eine progressistische Theorie voraussetzt, weil sie auf die Verwirklichung einer angeblich vernünftigen und naturgesetzlichen idealen Ordnung abzielt, bedarf konservative Politik eigentlich keiner konservativen Theorie, denn der Konservatismus kann kein perfektionistisches Bild einer zukünftigen Gesellschaft entwerfen, nach dem die konkrete Wirklichkeit gestaltet werden müßte."
Diesen Aussagen, die die Möglichkeit einer konservativen Theorie leugnen, liegt, wie sich unschwer zeigen läßt, ein verengter, an einseitig ausgewählten historischen Beispielen sich orientierender Konservatismus-Begriff zugrunde. Sie gehen überdies von einem Theorie-Verständnis aus, das sich überwiegend am Paradigma progressiver oder „linker" Theorie, insbesondere der Marxschen Interpretation von Gesellschaft und Geschichte, ausrichtet. Konservatismus und Theorie werden so definiert, daß sich die These von der Unmöglichkeit einer konservativen Theorie von selbst ergibt. Es handelt sich um ein analytisches Urteil, in dem das Prädikat B im Begriff A bereits enthalten ist. Der Satz, daß Konservatismus theorielos oder gar theorie-unfähig sei, erläutert dann lediglich die bereits festgelegte Bedeutung des Wortes „Kon-servatismus", ohne eine historische oder sonstige Auskunft zu liefern. Es handelt sich also um eine Definition, nicht um Information.
Der Streit um Worte Schon Aristoteles hat empfohlen, nicht um Worte zu streiten, sondern um die Sache Allerdings war er keineswegs blind für die Tatsache, daß gelegentlich die Worte selber die Sache sind, um die gestritten wird. Auch nach Pareto ist es unwissenschaftlich, um Definitionen, die bloße Etiketten sind, zu disputieren; man kann Termini ohne weiteres durch andere ersetzen, sofern nur gesichert bleibt, daß man weiß, worum es geht. In diesem Sinne ordnet Pareto in seinem System der Soziologie den von ihm konstruierten Begriffen Buchstaben oder neutrale Kunstworte zu, um jene von umgangssprachlichen Assoziationen zu befreien; erst im späteren Verlauf seiner Analysen ersetzt er der Vereinfachung und leichteren Verständlichkeit wegen die artifiziellen Symbole gelegentlich wieder durch Ausdrücke aus der Umgangssprache.
Insofern könnte es scheinen, daß terminologische Divergenzen wie etwa bei der Frage, was Konservatismus sei, nur eine Folge willkürlicher, beliebig veränderbarer Konventionen seien. Zwar determiniert die Wahl der Begriffe, mit denen man operiert, und die Begrenzung ihres Umfangs das zur Diskussion stehende Sachproblem, doch grundsätzlich können dieselben Denkprozesse mit Hilfe der verschiedensten Termini vollzogen werden; man kann sie in verschiedenen Sprachen vollziehen, wenn es sich nur um exakt ineinander übersetzbare Sprachen handelt.
So sehr diese Grundsätze richtig und zweckmäßig sind, so wenig kann man auf historisch-politischem Felde davon absehen, daß bestimmte Worte eine positive oder negative Aura haben und wie wenig es gleichgültig ist, ob in praktischen Direktiven, in Propaganda und Agitation dieser oder jener emotional geladene Terminus gebraucht wird. So löst zum Beispiel der Usus, die herrschenden Eliten in den kommunistischen Ländern als „konservativ" zu bezeichnen, Widerspruch bei christlichen Konservativen aus; er erweckt auch Widerspruch bei etablierten Kommunisten, wenngleich aus einem anderen Grunde, nämlich wegen der herabsetzenden Assoziationen, die der Terminus im Sprachgebrauch von Marx und Engels hat. Die Sprach-verwirrung erreicht ihren Höhepunkt, wenn zu gleicher Zeit Konservative die Möglichkeit einer konservativen Theorie leugnen, und ein Historiker wie Ernst Nolte von „konservativen Zügen" im marxistischen Denken spricht: „Weil der Marxismus dialektisch ist, muß er in gewisser Weise konservativ sein." Wäre demnach die Lehre von Marx, die dieser als Anleitung zu weltrevolutionärer Praxis verstanden wissen wollte, die einzige konservative Theorie?
Konservatismus im formalen Sinn Die Konfusion, die darin besteht, daß Stalinisten als Konservative und Konservative als Faschisten bezeichnet werden, läßt sich gleichwohl einigermaßen klären, wenn man zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Bedeutung des Wortes „konservativ" unterscheidet.
Die formale Bedeutung knüpft an die Etymologie des vom lateinischen conservare (erhalten, bewahren) abgeleiteten Wortes an. Kennzeichen konservativer Wesensart in diesem formalen Sinne ist nach Michael Oakeshott „die Bereitschaft, sich des Gegebenen zu bedienen und sich seiner zu erfreuen, statt etwas anderes herbei zu wünschen oder danach zu suchen, sich am Gegenwärtigen zu erfreuen statt am Vergangenen oder einer möglichen Zukunft": Konservativ sein heißt somit, das Vertraute dem Unvertrauten vorzuziehen, das Erprobte dem Unerprobten, den allmählichen und behutsamen Wandel der plötzlichen und radikalen Veränderung, das Gewohnte dem Abenteuer, das Nächstliegende und Konkrete dem Entfernten und Utopischen
Aus der Formalität dieses Konservatismus-Begriffs ergibt sich von selbst, daß aus ihm nicht abgelesen werden kann, was denn nun das Bewahrenswerte sei. Er impliziert kein wie immer bestimmtes gesellschaftlich-politisches Ordnungsbild. Konservatismus im formalen Sinne bedarf auch keiner Theorie; er ist dann eine Angelegenheit von Charakter und Temperament, von Gewohnheit und Erfahrung, wahrscheinlich auch des Lebensalters.
Ihm eignet weniger ein theoretisches Bedürfnis denn eine Neigung zu einem naturwüchsigen Empirismus. Wenn er überhaupt theoretisiert, dann nicht mit dem Ziel einer konservativen Theorie, sondern einer Theorie der Konservation, die angibt, auf welche Weise bestimmte Dinge am besten dauerhaft erhalten werden können. Es handelt sich dabei weniger um eine Theorie im strengen Sinne des Wortes, sondern eher um eine Vielfalt von „Künsten", artes conservandi, die ihr Gesetz von den Sachen empfangen, um deren Bewahrung es geht: sei es, daß Fleisch oder Früchte, Landschaften, alte Stadtviertel oder Gemälde konserviert werden sollen.
Keine Kultur, wie dynamisch und progressiv sie auch sein mag, kann auf einen derartigen formalen Konservatismus verzichten, auf die Bewahrung und Überlieferung gewisser materieller und immaterieller Güter, seien diese nun Institutionen, Riten, Symbole, Sitten, Ordnungen der Sprache, Schrift, der Produktion und so fort. Diesem Geschäft widmet sich in bestimmten Gesellschaften eine eigens dazu berufene Elite des Bewahrens, die sich an der Idee der Dauer orientiert und dafür sorgt, daß Veränderung, Neuerung, Fortschritt vor allem als Gefährdung, Entartung und Verschlechterung ausgelegt wurden. Das Neue, res novae, galt durch Jahrtausende als das Illegitime. Im alten Rom hieß der Verhaßte rerum novarum cupidus, und auch noch im abendländischen Mittelalter fand man, daß zum richtigen, zum „guten alten Recht" ein Gesetz erst dann würde, wenn sein Ursprung in sagenhaften Zeiten sich verlor, wenn es, gleichsam von jeher schon da, durch uralte Bewährung geheiligt war Solcher Konservatismus kann sich auch noch in Spätzeiten in der magischen Betroffenheit von der lauschen Aura alter Dinge und in einer geradezu kultischen, sublim fetischistischen Hingabe an gehegte Gegenstände handwerklich-künstlerischer Herkunft äußern, wofür Stifters „Nachsommer" als klassisches Dokument gelten kann: „Es werden viele unser Tun in Herstellung alter Bilder unbedeutend und unerheblich nennen, besonders da es so viele Zeit und so viele Anstalten erforderte; uns aber machte es eine große und eine innige Freude ... Wenn nach und nach die Gestalt eines alten Meisters vor uns aufstand, so war es nicht bloß das Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte, sondern das noch viel höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das sonst verloren gewesen wäre und das wir selber nicht hätten erschaffen können."
Konservative Rationalität Formaler Konservatismus hat also keine Theorie; er äußert sich vielmehr in den verschiedenen Weisen menschlicher Anhänglichkeit an gewohnte, vertraut gewordene Dinge, Zustände, Bräuche und Tätigkeiten. Er äußert sich in ganz alltäglichen Gewohnheiten und Liebhabereien, aber auch in den hohen Formen von Kult, Ritus und Stil sowie in der mystischen Faszination, die der Gedanke ewiger Wiederkehr, einer periodischen Rückgewinnung der mythischen Zeit der Fülle auf manche „archaiophile" Geister ausübt Gleichwohl ist Konservatismus dieser Art nicht notwendig irrational. Er enthält einen rationalen Kern, der nichts mit Nostalgie, Mystik und Sentimentalität zu tun hat. Diesen Kern kann man, Michael Oakeshott folgend, in die Form einiger elementarer Verhaltensregeln bringen: Jede Neuerung bringt sicheren Verlust und möglichen Gewinn. Daher ist nicht das Bestehende, sondern der Plan zu seiner Veränderung begründungsbedürftig. Der präsumptive Neuerer hat die Beweislast dafür zu tragen, daß die von ihm beabsichtigte Veränderung im ganzen nützlich sein wird. Eine solche Beweislastverteilungsregel hat nichts mit irrationaler Veränderungsscheu zu tun. Sie bedeutet lediglich ein Ernstnehmen der kaum bestreitbaren Einsicht, daß jede Neuerung auf einem speziellen Sektor nicht nur hier, sondern auch auf anderen Auswirkungen zur Folge hat, und daß diese meist unbeabsichtigten und unerwünschten Auswirkungen oft Probleme mit sich bringen, die komplexer sind, als die des Status quo ante. Je mehr eine Neuerung an bestehende Ansätze anzuknüpfen vermag, umso geringer ist die Gefahr, daß die von ihr bewirkten Verluste den Nutzen überwiegen. Die Beseitigung von erkennbaren konkreten Mißständen hat Vorrang vor Neuerungen, die sich dem Geist der Utopie verdanken
Eine derartige Haltung kann allerdings nicht nur gegenüber praktischen, sondern auch theoretischen Neuerungen eingenommen werden. Es gibt deshalb auch in den Wissenschaften Konservative und Revolutionäre Werner Heisenberg hat 1969 in einem Vortrag die Frage aufgeworfen: „Wie kommt eine Revolution in der Wissenschaft zustande?" und darauf die Antwort gegeben: „Indem man versucht, so wenig wie möglich zu ändern. Indem man alle Anstrengungen auf die Lösung eines speziellen, offensichtlich noch ungelösten Problems konzentriert und dabei so konservativ wie möglich vorgeht. Denn nur dort, wo uns das Neue vom Problem selbst aufgezwungen wird, wo es gewissermaßen von außen, nicht von uns kommt, hat es später die Kraft, zu verwandeln." Zu den Gegnern dieses (formal) konservativen Ansatzes bei der Lösung naturwissenschaftlicher Probleme gehören neben Paul K. Feyerabend vor allem Joseph Agassi und Thomas S. Kuhn. Sie lehren, daß wissenschaftlicher Fortschritt nicht das Resultat kontinuierlicher Wissensakkumulation, sondern permanenter Revolution sei Kosörvatismus im inhaltlichen Sinn Ist Konservatismus im formalen Sinne primär eine Sache der Veranlagung und des Temperaments, die sich nicht in Theorien, sondern in Methoden, in praktischen Verfahrens-und Klugheitsregeln, aber auch in mancherlei Idiosynkrasien und Schrullen äußert so haben wir es beim Konservatismus im inhaltlichen Sinne mit dem Ergebnis einer bewußten Entscheidung — oft im Widerspruch zu Herkunft, Umwelt und geschichtlichen Tendenzen —, gelegentlich sogar einer tiefgreifenden Konversion, immer jedoch mit einer dezidierten geistig-politischen Stellungnahme zu tun, die keineswegs mit dem Willen zur Konservierung des Status quo verbunden sein muß
Konservatismus im inhaltlichen Sinne ist „rechts" und sein Gegner steht auf der „linken" Seite. Es ist klar, daß es sich dabei nur um eine Kurzformel handelt, die bloß als allererste Orientierung im Dickicht der Ideologien, Programme und Konfessionen dienen soll. Konservatismus ist nicht die einzige Position auf der rechten Seite des politischen Spektrums; er steht dort in Konkurrenz mit mindestens zwei weiteren ideologisch-politischen Erscheinungen: dem Nationalismus und dem Rechtsliberalismus, wobei sich zusätzlich noch die Schwierigkeit ergibt, das Verhältnis zum Faschismus zu klären: ist letzterer ein mit linken Motiven versetzter „Radikal-Konservatismus", der die konservativen Traditionen teils bewahrt, teils aushöhlt, teils primiti-visiert und auf ihre archaischste Gestalt zurückführt, wie Ernst Nolte annimmt, oder ein „Extremismus und Radikalismus der Mitte", wie Ernst-August Roloff behauptet oder gar eine linksextreme Bewegung, als die ihn manche christlich-konservative Autoren interpretieren? Angesichts der Begrenzung des Themas können die damit zusammenhängenden Probleme hier nicht näher erörtert werden. Wir haben sie nur erwähnt, um wenigstens flüchtig anzudeuten, daß die Gleichsetzung von Konservatismus im inhaltlichen Sinne mit einer dezidiert rechten Position nicht mehr sein kann als ein grober Versuch, die ideenpolitischen Fronten zu klären.
Was bedeutet jedoch konservativ im Sinne von „rechts"? Und gibt es eine konservative Theorie in Gestalt einer „rechten Theorie", so wie der Marxismus, aber auch der Anarchismus Bakunins und der Liberalismus John Stuart Mills „linke Theorien" repräsentieren?
Die drei großen konservativen Richtungen im 19. Jahrhundert Konservatismus ist ein ungemein vielschichtiges und facettenreiches Phänomen, das mehr noch als andere geistig-politische Bewegungen von der jeweiligen geschichtlichen Situation geprägt wird. Aus der Vogelschau werden innerhalb des europäischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts drei große Strömungen sichtbar: der liberaie Koservatismus, zu den man Burke, Alexis de Tocqueville, August Wilhelm Rehberg und den Reichsfreiherrn vom Stein rechnen kann; den romantischen Konservatismus, als dessen Repräsentanten vor allem Adam Müller, Friedrich Schlegel, Coleridge und Görres, mit Einschränkungen auch Savigny, Schelling und Bachofen angesehen werden können; den legitimistisch-traditionalistischen Konservatismus, der Gestalten wie de Bonald, de Maistre, Donoso Cortes und Carl Ludwig von Haller umfaßt. Die Grenzen zwischen diesen drei Gruppen verlaufen nicht starr. Es gab wechselseitige Beeinflussungen und manche Konservative lassen sich überhaupt nur gewaltsam in eine der Strömungen einordnen. Friedrich Julius Stahl weist zum Beispiel Züge auf, die ihn mit allen drei Richtungen verbinden; ähnliches gilt für Franz Baader, der sowohl mit der deutschen Romantik als auch mit dem französischen Restaurationsdenken und überdies mit der Theosophie der griechisch-orthodoxen Kirche Rußlands kommunizierte. Konservative Praktiker wie Metternich, Bismarck und Disraeli lassen sich überhaupt kaum unterbringen, wenngleich auch sie in verschiedenem Grade von wenigstens einer der erwähnten Richtungen beeinflußt waren oder ihr zeitweilig nahestanden. Spuren dieser Strömungen lassen sich bis in unser Jahrhundert verfolgen, wobei freilich nur der liberale Konservatismus, der in der englischsprechenden Welt sowie in Skandinavien, also in durchweg protestantisch geprägten Ländern, seine Schwerpunkte hat, nach wie vor eine politische Potenz darstellt Der romantische Konservatismus, an den in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg der Kreis um Othmar Spann anzuknüpfen versuchte, ist heute ebenso tot wie die politische Theologie des Spaniers Donoso Cortes, auf die Carl Schmitt nachdrücklich hingewiesen hat und das gegenrevolutionäre Denken des Franzosen de Bonald sowie des Savoyarden de Maistre, dem noch Charles Maurras viel verdankte
Die „Achsenzeit" des Konservatismus Alle drei Konservatismen konnten noch an religiöse und kulturelle Bestände anknüpfen, die heute völlig untergegangen sind oder nur mehr als Residuen existieren, von denen kaum zu erwarten ist, daß sie sich als tragfähige Basis konservativer Politik erweisen können. Es gibt, wie Armin Mohler nachgewiesen hat, so etwas wie eine „Achsenzeit", nach deren Eintritt man nicht mehr in der bisherigen Weise konservativ sein kann. Diese Achsen-zeit führte zu einer Mutation des Konservatismus und damit auch zu einer auffälligen Diskontinuität in seinen theoretischen Hervorbringungen: „Vor dem Passieren der Achsen-zeit ist der Konservatismus rückwärts gewandt, nachher richtet er sich der Zukunft entgegen. Vor der Achsenzeit ist das konservative Bemühen darauf konzentriert, das überlieferte zu bewahren oder gar einen verflossenen Zustand wiederherzustellen. Die Achsenzeit wird dann zur Zeit der Ernüchterung. In ihr erkennt der Konservative, daß andere politische Gruppen einen Status quo geschaffen haben, der für ihn nicht mehr akzeptabel ist; in ihr sieht er ein, daß frühere Zustände, denen er zustimmen konnte, nicht mehr restaurierbar sind. Von nun an richtet sich sein Blick nach vorne." Der Konservatismus der Nach-Achsenzeit sieht somit seine Aufgabe nicht mehr darin, bestehende Verhältnisse zu bewahren, sondern Bedingungen zu schaffen, die Dauer, Bewahrung, Tradition überhaupt erst wieder möglich machen.
Als erste hat, nach Mohler, die Französische Rechte ihre Achsenzeit passiert in einem langwierigen Umwandlungsprozeß, der nicht zuletzt durch die Abkehr Papst Leos XIII. von der monarchistischen Bewegung und seine Aufforderung an die französischen Katholiken, die republikanische Staatsform anzuerkennen, ausgelöst wurde Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde den politisch aktiven Rechten in Frankreich klar, daß das Ancien Regime unwiderruflich vergangen war; an die Stelle des bisherigen konservativen Legitimismus trat nun der „intregale Nationalismus" der von Charles Maurras begründeten „Action fanpaise". In Deutschland führte der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen zur Krise und zum Zerfall des traditionellen Konservatismus; an seine Stelle traten die verschiedenen Gruppen der „Konservativen Revolution", die sich zum Teil dem ansteigenden Nationalsozialismus auslieferten, zum Teil von ihm ideologisch enteignet wurden und schließlich zu seinen Opfern gehörten
Essayistischer und systematischer Konservatismus Blicken wir auf die drei großen Erscheinungsweisen des Konservatismus im 19. Jahrhundert, dann zeigt sich, daß alle in einem weit umfänglicheren Maße theoriefähig gewesen sind, als gemeinhin angenommen wird. Als Chateaubriand 1818 die Zeitschrift „Le Conservateur" gründete, sprach er weder einem Bewahren des Status quo noch einem theorie-losen Pragmatismus das Wort. Vielmehr verkündete er bereits auf der ersten Seite, die Redakteure der Zeitschrift würden kämpfen „en conservant les saines doctrines". Nicht die Erhaltung der bestehenden Verhältnisse, sondern das Festhalten an den „gesunden Doktrinen" war das Programm dieser Konservativen der ersten Stunde
Schon damals zeigte sich freilich eine Mannigfaltigkeit von Ausprägungen konservativer Theorie: man denke nur an so unterschiedliche Gestalten wie Burke, Rivarol und de Bonald, an Baader, Tocqueville und Donoso Cortes, an Adam Müller, Carl Ludwig von Haller und Friedrich Gentz. Aus einiger Entfernung betrachtet, lassen sich freilich diese Väter konservativen Denkens in zwei große Gruppen einteilen: in Essayisten und Systematiker. Während jene auch dann, wenn sie keine Essays im literaturwissenschaftlichen Sinne, sondern Monographien und Traktate vorlegten, sich damit begnügten, eine bestimmte geschichtliche Situation (z. B. die Französische Revolution), gewisse in der geschichtlichen Bewegung sich durchhaltende Konstanten (z. B. die drei großen „Potenzen'in Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen") oder auch säkulare Tendenzen (z. B. die Tendenz zur Egalisierung, die Tocqueville beschreibt) zu untersuchen, haben diese den Ehrgeiz, eine Totalerklärung der gesamten Wirklichkeit in Verbindung mit politischen Handlungsdirektiven zu liefern. Zur ersten Gruppe gehören Burke, Rivarol, Tocqueville, Lord Acton, Fustel de Coulanges, Augustin Cochin und Friedrich Gentz; zur zweiten zählen de Bonald, Haller, Othmar Spann und Charles Maurras.
Es gibt also von allem Anfang an eine konservative Theorie. Chateaubriands „Le Con-servateur" war der erste publizistische Versuch, aus den Konservativen eine Partei der Intelligenz zu machen. Zu ihr gehörten durch die Französische Revolution ins Exil vertriebene Aristokraten wie de Bonald und de Mai-stre, romantische Konvertiten wie Adam Müller und Friedrich Schlegel, Exjakobiner wie Joseph Görres, Diplomaten wie Friedrich Gentz und Donoso Cortes. Eine Zeitlang war Wien das Zentrum der „konservativen Internationale", vor allem nach der Gründung des unter dem Protektorat Napoleons stehenden Rheinbundes und der vernichtenden Niederlage Preußens von 1806/1807; nach dem Wiener Kongreß wurde Paris zur zweiten Metropole konservativer Intelligenz Eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Frankreich und Österreich spielte die katholische Schweiz, genannt seien nur der zum Katholizismus konvertierte Berner Staatstheoretiker Carl Ludwig von Haller und die drei Führer der konservativen Schweiz in den Revolutionskriegen: Nikolaus Friedrich von Steiger, Pankraz Vorster und Johann Konrad von Hotze. In dieser Zeit, die die Massenparteien noch nicht kannte, war Konservatismus entweder eine Angelegenheit der Diplomatie fürstlicher Kabinette (Metternich, die „Heilige Allianz") oder von Theoretikern, die oft, wie die Beispiele Haller, Müller, de Maistre und Donoso Cortes zeigen, im Dienste von Regierungen standen.
Von der Diskontinuität konservativen Denkens Konservative Theorie weist allerdings drei Eigentümlichkeiten auf, die miteinander Zusammenhängen, und diese politische Philosophie von anderen, vor allem von der marxistischen, nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell und soziologisch unterscheiden.
1. Konservatives Denken entfaltet sich in einer Mannigfaltigkeit produktiver Einzelgestaltungen, doch hat es bis heute kein System von schulebildender Wirkung hervorgebracht.
Wo es überhaupt über längere Zeiten hinweg wirksam geworden ist, dann nicht in seiner systematischen Form, sondern in seiner essayistischen, um nicht zu sagen: aphoristischen. Wer liest heute noch de Bonald oder auch Othmar Spann? Rivarol und Cesterton sind dagegen lebendig wie am ersten Tag.
2. Es gehört zu den zumindest auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Zügen konservativer Theorie, daß sie, die den Wert von Tradition stets betont, eine in weit geringerem Maße ausgebildete und verbindliche Überlieferung besitzt als etwa der mit weltrevolutionärem Anspruch angetretene Marxismus. Konservatismus, zumindest in seiner theoretischen Gestalt, ist weniger traditionsgebunden und offenbar auch schwieriger zu tradieren als linke Ideologien. Ein Anarchist des Jahres 1974 könnte sich durchaus mit Bakunin verständigen; einem Liberalen von heute ist die Sprache und Argumentation etwa eines John Stuart Mill keineswegs unzugänglich; der Marxismus hat sich durch alle Dogmatisie-rungen und Revisionismen hindurch als ideenpolitische Kontinuität bis in unsere Tage erhalten.
Dem theoretischen Konservatismus ist dagegen ein diskontinuierlicher Zug eigentümlich. Das mag an einem Idearium irritieren, das, nach einem Wort von Albrecht Erich Gün-ther, nicht, „ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt" auf den Begriff zu bringen versucht. Ein Konservativer von heute, der etwa bei Arnold Gehlen, Carl Schmitt, Konrad Lorenz oder Karl Löwith in die Schule gegangen ist, könnte sich mit Adam Müller, Friedrich Julius Stahl oder auch Othmar Spann kaum verständigen. Geistig-politische Voraussetzungen, Sprache, Begriffe, Ziele, Affekte des Konservativen im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert sind durch Abgründe getrennt von denen, die für einen Konservativen der Zeit des Biedermeier oder auch noch des Zweiten Reiches charakteristisch waren Es gibt keine dem Marxismus oder der katholischen Scholastik vergleichbare kohärente und kontinuierliche konservative Theorie etwa von Burke und de Bonald bis zu Bertrand de Jouvenel, Ernst Jünger und Michele Frederico Sciacca. Sogar, wenn konservative Denker sich auf frühere berufen — etwa Othmar Spann auf Adam Müller, Charles Maurras auf de Mai-stre, Sciacca auf Antonio Rosmini —, hat eine solche Nennung nicht allzu viel zu bedeuten; sie hätten auch ohne Kenntnis ihrer „Älterväter" dasselbe gesagt. 3. Ohne kanonische Texte, ohne dogmatisier-te Lehrgehalte, die in jeweils neu kommentierter Form an die nächste Generation weitergegeben werden, haftet konservativer Theorie meist etwas von einer Geheimlehre an. Meist eignet ihr auch etwas Düsteres, wenn sie nicht gar im Gerüche steht, menschenverächterisch, pessimistisch und elitär zu sein. Das Diktum über Pareto, das uns Raymond Aron überliefert hat, widerspiegelt eine verbreitete Haltung nicht nur gegenüber diesem großen Konservativen, sondern gegenüber konservativer Theorie überhaupt: Pareto habe höchstens Menschen eines bestimmten Alters, die sich von der Welt abgestoßen fühlen, etwas zu sagen Schon aufgrund ihrer Axiomatik und ihres Blickwinkels vermag eine konservative Doktrin kaum in dem Maße kollektive Begeisterung zu erwecken wie eine linke Lehre; und wenn ihr eine solche Mobilisierung gelegentlich doch gelingt, dann nur um den Preis nicht nur unvermeidlicher Primitivisierung, sondern auch der Aufnahme genuin linker Motive
Georg Quabbe, einer der intelligentesten und menschlich sympathischsten deutschen Konservativen, war sich dieser Schwierigkeiten gut bewußt, als er vor bald fünfzig Jahren schrieb: „Der Nachteil für die Propagierung der konservativen Ideen liegt auf der Hand. Unser tiefster Sinn ist der Masse nicht verständlich; die letzten Rückzugslinien liegen so hoch, daß sie nur von wenigen erreicht werden. Die schmeichelhaften, im hellen Lichte des Tages geformten, optimistischen Thesen des Fortschritts passen für Geister und Gimpel; der gleiche Satz kann von Locke geschrieben und von einem obskuren Versammlungsredner mit gleichem Glück an den Mann gebracht werden. Unsere Lehre lebt rein nur in einem kleinen esoterischen Kreise; kaum sind wir imstande, sie so zu formen, daß alle Leute unserer Gesinnung gefeit gegen die . Wahrheit'von drüben bleiben, und aussichtslos wäre es, auf die Massen wirken zu wollen. Das bedingt ohne Zweifel eine große Diskrepanz zwischen reiner und . praktischer'konservativer Theorie, eine Senkung des Niveaus der populären Agitation, ein Ignorieren bedeutsamer, ein Betonen nebensächlicher, wirkungsvoller Momente, das Abstellen auf Tagesfragen und die systemwidrige Heranziehung populärer Schlagworte und Gedanken."
Wandel und Bestand Was aber ist der Inhalt dieser konservativen Theorie, von der Quabbe sagt, daß sie auch Konservativen oft genug verdächtig ist, weil sie es für eine Art Profanierung halten, gewisse Dinge überhaupt erst beweisen zu wollen, und „Theorie" ihnen allzu sehr nach Ideologie, Utopie und linker Intellektualität riecht? Obwohl der Konservatismus kein abgeschlossenes, verbindlich fixiertes System besitzt und in jeder Epoche neu formuliert wird, so daß fast alle konservativen Theoretiker stets von vorn anfangen, gibt es in der Geschichte konservativen Denkens sich durchhaltende Konstanten, so wie es auch in den sich wandelnden Situationen, auf die der Konservatismus antwortet, gleichsam „übergeschichtliche" Elemente gibt, die den historischen Wandel überdauern, zumindest eine von der „normalen" Geschichte verschiedene Frequenz haben. Es gibt gewisse große Themen, die in jeder konservativen Theorie auftauchen, und es gibt auch so etwas wie eine Grundstimmung, die gewissermaßen das Te-leskop bildet, durch das allein bestimmte Wirklichkeitsaspekte überhaupt erst sichtbar werden.
Die Grundfrage einer jeden konservativen Theorie ist allemal die gleiche: „Was bleibt? Und was ändert sich?" Da Konservative regelmäßig mit einem ausgeprägten Sinn für Geschichte begabt sind ist es ihnen nicht verborgen geblieben, daß sehr vieles wandelbar und vergänglich ist. Die Frage, die sie bewegte, war vielmehr die, ob und in welchem Ausmaße den sich wandelnden Verhältnissen persistierende Strukturen zugrunde liegen.
Drei Grundmuster konservativer Haltung Die Antworten, die im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte Konservative gegeben haben, kann man auf drei Grundmuster zurückführen: 1. Imgrunde ist alles so, wie es immer schon war und immer sein-wird. Es gibt nur oberflächliche Veränderungen, substantiell kann den bestehenden Zuständen nichts Neues hinzugefügt werden: „Was einst gewesen, das ist jetzt, und was geschehen, das geschieht. Nichts Neues gibt es unter dieser Sonne. Ist etwas da, wovon man sagen kann: , Sieh, dies ist neu!'? Es war schon längst zu einer Zeit, die vor uns liegt." (Ekklesiastes, Kap. 1). Ein solcher Konservatismus ist nicht unbedingt blind für die Wandelbarkeit der Dinge; er ist allerdings des Glaubens, daß alles Vergängliche nur Gleichnis eines Unvergänglichen ist und um dieses kreist. Wir finden diese antiker Kosmos-Weisheit sich nähernde Haltung bei Vico, Goethe und dem späten Ernst Jünger, der in seinem Essay über Rivarol die Frage stellt, „ob das Grundkapital der Welt durch menschliche Anstrengung überhaupt vermindert oder gar erschöpft werden kann, oder ob es nicht einer Goldmine gleicht, für die einfach der Blick verlorengegangen ist ... Dann würden sich nur die menschlichen Ordnungen erschöpfen, nicht aber die Ordnung der Welt. Das Vertrauen auf sie ist in der Tat ein Grundzug des konservativen Denkens, selbst dann, wenn alles verloren scheint ..." 2. Revolutionäre Änderungen irreversibler Art sind möglich, doch ändern sie nichts an der conditio humana, daß der Mensch „zwar alles zu verändern, aber nichts zu schaffen vermag", wie de Maistre sagt Revolutionen sind radikale Ausbrüche menschlichen Hochmuts und zugleich Strafgerichte, Schauspiele kreatürlicher Eigenmacht und Akte gottgewollter Züchtigung. Eine solche Haltung findet sich vor allem bei katholischen Konservativen wie bei de Maistre und Donoso Cortes 3. Auch tiefeingreifende, die conditio humana transmutierende Veränderungen sind möglich.
Sie sind sogar erheblich leichter zu verwirklichen, als frühere Generationen glaubten. Der Konservative dritten Typs steht dann vor dem Problem, das Nikolai Berdjajew so formuliert hat: „Es scheint, daß Utopien viel leichter zu verwirklichen sind, als wir früher annahmen. Wir sehen uns jetzt einer Frage gegenüber, die uns auf eine neue Art plagt: Wie ist ihre faktische Verwirklichung zu verhindern? .. . Utopien lassen sich verwirklichen. Das Leben bewegt sich auf eine Utopie zu. Und vielleicht stehen wir am Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die Intellektuellen und die gebildete Klasse Methoden ersinnen werden, um die Utopie zu vermeiden und zu einer Gesellschaft zurückzukehren, die nicht utopisch, weniger , vollkommen'und freier ist." Wenngleich diese drei Einstellungen zur Frage, was veränderlich ist und was nicht, immer wiederkehrende Grundmuster konservativen Verhaltens darstellen, so gibt es dennoch Epochen, in denen die eine überwiegt und die anderen zurücktreten. Die erste Grundhaltung, die davon ausgeht, daß es keinen wirklichen Wandel gebe, ist am verbreitetsten in Zeiten lang andauernder Stabilität: die bestehenden Verhältnisse werden als selbstverständlich, gleichsam als Teil der Natur empfunden, die keiner besonderen Rechtfertigung bedürfen. Die zweite Grundhaltung findet sich vor allem bei christlichen Konservativen, die Zeugen und Opfer revolutionärer Erschütterungen geworden sind, und die dritte entspricht dem konservativen Bewußtsein, das die „Achsenzeit" (vgl. oben S. 7) passiert hat.
Anthropologische Grundlagen konservativer Theorie Wir haben im europäischen Konservatismus drei Hauptströmungen festgestellt — die liberalkonservative, die romantische und die traditionalistische —, drei Eigentümlichkeiten konservativer Theorie skizziert und schließlich, in idealtypischer Vereinfachung, drei Grundmuster konservativer Haltung zum Problem von Wandel und Bestand beschrieben. Nun wäre an der Reihe, die Aussagen konservativer Theorie über die menschliche Natur, über Geschichte und Gesellschaft, Recht, Staat und Religion, Kultur und Wirtschaft, Tradition und Revolution in ihrem inneren Zusammenhang zu entfalten und zu analysieren. Einen solchen Versuch hat Martin Greiffenhagen unternommen wobei er freilich vor allem die romantische Linie im konservativen Denken betont, abgesehen davon, daß er sich ausschließlich mit dem deutschen Konservatismus befaßt, der von dem anderer Nationen stark abweichende Züge aufweist. Da es im gegebenen Rahmen nicht möglich ist, in kritischer Auseinandersetzung mit Greiffenhagen, die Grundzüge konservativer Theorie zu entwickeln sei nur noch im Anschluß an die oben gegebene Bestimmung, daß Konservatismus im inhaltlichen Sinne „rechts" stehe, bloß auf dessen Grundlagen hingewiesen.
Alles politische Denken wurzelt in einem bestimmten Menschenbild. Ohne eine Vision vom Menschen — seiner Stellung in der Natur und zu seinesgleichen, seiner grundlegenden Bedürfnisse, Kräfte und Grenzen — kann es keine politische Theorie geben, die mehr ist als eine bloße Beschreibung äußerer Verhaltensweisen
Jede konservative Theorie geht davon aus, daß der Mensch ein begrenztes, endliches, auf Bindung, Disziplin und Tradition angewiesenes Wesen ist. Sie hält dafür, daß er ein bestimmtes Ausmaß an Entfremdung nicht entbehren kann, wenn er überhaupt lebensfähig sein soll. Der Mensch ist nicht gut genug, um völlig frei zu sein, betont in diesem Sinne de Maistre Edmund Burke weist auf die Unaufhebbarkeit von „Vorurteilen" hin und wie alle konservativen Denker definiert er den Menschen auch als ein der Religion bedürftiges Wesen. Religion bedeutet aber Bindung an eine numinose Ordnung, von der sich der Mensch bis in elementare, quasi instinktive Schichten seines Wesens hinein verpflichtend angesprochen weiß.
Während der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine essentiell linke Parole ist, kann man als konservativ (im Sinne von „rechts") den Primat von Ordnung, Autorität, Disziplin bezeichnen. Von diesem Primat leitet sich alles weitere ab: die Bewertung von Familie, Eigentum und Staat, die Interpretation von Fortschritt und Dekadenz, der Rolle von Kultur und Erziehung usw.
Den Konservativen, der sich der Naturverhaftetheit des Menschen bewußt ist, zeichnet -eine Immunität gegen die „babylonische"
Versuchung des modernen Menschen aus.
Obwohl mit einem ausgeprägten Sinn für die historische Dimension aller Dinge begabt, huldigt er gleichwohl keinem „Historizismus", wie er sich in sämtlichen „progressiven" Ideologien findet. Geschichte ist ihm nicht das Ganze, sondern nur ein Moment der Welt: so wie auf dem Bild von Altdorfer die Schlacht zwischen Alexander und Dareios sich vor einer kosmischen Bühne abspielt, vor Sonne und Mond, die unbeteiligt bleiben und ihren eigenen, von allem „weltgeschichtlichen" Treiben unbeeinflußten Lauf nehmen.
Konservativer Institutionalismus Daß einer etwas bewahren will, macht ihn noch nicht zum Konservativen im inhaltlichen, politischen Sinn. Es kommt vielmehr darauf an, was mit welchen Mitteln im Hinblick auf welche Ziele bewahrt oder verändert werden kann und soll. Was damit gemeint ist, mag ein abschließender Hinweis auf ein Streitgespräch zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen aus dem Jahre 1965 erhellen Im Namen der Autonomie des Menschen kritisierte Adorno damals nicht nur bestimmte Institutionen, sondern die Institution als Institution selbst. Ihre „Fatalität" liege darin, „daß menschliche Verhältnisse und Beziehungen zwischen Menschen sich selbst undurchsichtig geworden sind". Ihr Wesen sei Zwang und Repression. Die Po-tentialitäten des Menschen verkümmerten und würden unterdrückt durch die heteronome Gewalt der Institutionen. Jede Institution erheische Anpassung und Unterordnung und verhindere die Bildung eines freien Subjekts. (Die praktischen Konsequenzen aus dieser an-tiinstitutionalistischen Philosophie zogen zwei Jahre später die antiautoritären Studenten mit ihrer aktiven „Verunsicherung aller Institutionen.")
Gehlen hingegen betonte gegenüber Adorno, „daß die Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft des Menschen sind", daß sie zwar auch die Freiheit beschränken, doch nicht minder „den Menschen vor sich selber schützen". Ausdrücklich nannte er Recht, Ehe und Familie „Bestände, die mit dem Menschen wesensmäßig Zusammenhängen". In unserem Jahrhundert sei bereits ungeheuer viel an Institutionen zerrieben und abgebaut worden: „Der Erfolg ist eine allgemeine innere Unsicherheit und das, was ich als subjektivistisch mit einem Minuszeichen versehe. Ich meine das innere Gewoge. Das wird jetzt laut, das ist die Öffentlichkeit. Und dagegen habe ich einen therapeutischen Standpunkt. Da bin ich doch dafür, daß man das, was an Institutionen da ist, nun auch — jetzt nehme ich das Wort —: konserviert.“
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als stünde Adorno für das Glück und die Freiheit menschlicher Individualität, Gehlen hingegen für einen menschenverachtenden Pessimismus, der das Individuum der totalen Entfremdung durch die Institutionen überantwortet. Doch am Schluß des Gesprächs zeigt sich, daß die Fronten anders verlaufen. Adorno verneint ausdrücklich, daß der Mensch durch Institutionen „entlastet" werden solle, und plädiert für die Verzweiflung als das eine, das not tut. Gehlen hingegen hält Adornos Anthropologie für utopisch: sie überfordere den Menschen und mache ihn sogar mit dem bißchen unzufrieden, „was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand noch in den Händen geblieben ist".
Es handelt sich hier um zwei nicht mehr weiter aufzulösende Grundhaltungen, die sich in den verschiedensten Gestalten durch die Jahrhunderte hin verfolgen lassen. Jede hat ihre Größe und Legitimität. Im Lichte der modernen Anthropologie und Verhaltensforschung, aber auch der geschichtlichen Erfahrung erscheint freilich der von Gehlen präsentierte Ansatz gegenüber einer antiinstitutionalistischen Subjektivitätslehre als der realistischere. Wer den Menschen für ein Mängelwesen hält und dessen natürliche Güte nicht überschätzt, wird im Institutionenverfall nicht die Morgenröte des Reiches der Freiheit erblicken, sondern das Vorspiel zu Reprimitivierung, Dekadenz und schließlich Gewalt.
Den Menschen aus den ihn fordernden, aber auch entlastenden Institutionen herauszunehmen, kann nicht nur ein Akt der Befreiung zur Mündigkeit, sondern auch der Vergewaltigung sein.
Von Paul Valery stammt das Wort: „Zwei Gefahren bedrohen die Welt, die Ordnung und die Unordnung." So sind auch die Standpunkte, die Adorno und Gehlen in geradezu idealtypischer Reinheit formuliert haben, nicht frei von Gefahren, Fragwürdigkeiten und Entartungsmöglichkeiten. Beide stehen für elementar verschiedene Weisen von Lebensgefühl und Weltbegegnung, wie sie gegensätzlicher nicht gedacht werden können. Beide gehören zu den Konstituenten der menschlichen Geschichte wie Systole und Diastole: Institutionalisierung und Emanzipation, Tradition und Revolution, Autorität und Kritik, Bindung und Freiheit, Begrenzung und Protest, Alienation und Desalienation. In dieser historisch-anthropologischen Dialektik haben beide Prinzipien, die sich bald in religiösen, bald in politischen, bald in kulturellen Haltungen inkarnieren, ihre komplementäre Funktion: der konservative Ansatz, der den Menschen als ein von Natur begrenztes und unvollkommenes, aber disziplinierbares, auf Bindung und Halt angelegtes Wesen interpretiert; der emanzipatorische, der von seiner Perfektibilität ausgeht und ihn als zur Selbstbefreiung berufenes, nur durch äußere Umstände verdorbenes Wesen ansieht. Man kann diesen beiden Polen die verschiedensten Namen geben und hat es auch getan: klassisch und romantisch, rechts und links, realistisch und utopisch, autoritär und anarchistisch, konservativ und revolutionär.
Das Dilemma der „linken" Haltung besteht darin, daß sie um der künftigen Befreiung des Menschen diesen immer wieder entmündigt und dem Joch fremder Mächte ausliefert, die meist gnadenloser sind, als die Autoritäten, von denen er ursprünglich emanzipiert werden sollte. Das Dilemma der „rechten" Haltung zeigt sich darin, daß sie trotz ihres anthropologischen Realismus kaum je ohne Willkür zu bestimmen vermag, auf welche konkreten Institutionen der Mensch unaufhebbar angewiesen ist. Gottesgnadentum, Sklaverei und Parteidiktatur sind ebenso Institutionen wie liberale Verfassungsstaaten oder spontan entstandene Freundschaftsbünde. So ist „Institution" bloß ein formaler Begriff, der nur klarstellt, welche „transzendentalsoziologischen" Bedingungen erfüllt sein müssen, damit menschliche Gemeinwesen überhaupt funktionieren. Aus dieser Formalität des Institutionsbegriffs ergibt sich, daß aus ihm nicht abgelesen werden kann, was, auch für einen Konservativen, in sozialer, politischer, ethischer und kultureller Hinsicht wünschbar sei.
Notdürftig lebende Krüppel beweisen nicht, daß die Extremitäten überflüssig sind. So liefert zumindest die bisherige philosophische Anthropologie aus konservativer Sicht ein Bild nur vom Skelett des sozial schlechthin Notwendigen, nicht aber stringente Aussagen über das Fleisch und Blut einer dem Wesen des Menschen optimal angemessenen Gemeinschaftsordnung. Wo Konservative dies dennoch versucht haben, sind sie entweder politischer Romantik oder den Leerformeln natur-rechtlicher Argumentation erlegen
Mit diesen Hinweisen haben wir bereits eine der Herausforderungen angesprochen, denen sich heute jede ernst zu nehmende konservative Theorie zu stellen hat. Konservatismus ist theoriefähig auch dann, wenn er der halsbrecherischen Illusion entsagt, daß es, analog zum angeblich „wissenschaftlichen Sozialismus", den Engels vor hundert Jahren propagiert hat, einen „wissenschaftlichen Konservatismus" geben könne. Konservatismus ist keine Wissenschaft und kann keine sein. Er ist eher eine Kunst oder eine Therapie. Und im Gegensatz zu früheren Konservativen — denen, die noch vor der „Achsenzeit" agierten und reagierten — weiß der Konservative des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, daß er seine Position nicht durch Rekurs auf irrationale Gefühle und Traditionen, auch nicht durch einen unmittelbaren Rückgriff auf die christliche Offenbarung und Theologie legitimieren kann.
Konservative Therapie bedarf der Theorie, der rationalen Argumentation, der Anstrengung des Begriffs. Elemente zu einer solchen Theorie finden sich heute auf den verschiedensten Gebieten: von der Anthropologie, Verhaltensforschung und Humangenetik bis zur Kybernetik und Systemwissenschaft, von der Ökologie und Institutionenlehre bis zur wissenschaftlichen Ideologie-und Utopiekritik, Weltanschauungsanalyse und Symbolforschung. Hier stehen Konservative vor einem weiten Feld, dessen sie sich noch kaum in genügendem Maße angenommen haben. Konservative Theorie, um die seit zweihundert Jahren gerungen wird, hat heute angesichts tief-eingreifender Veränderungen, die zu einer Neuorientierung unserer gesamten Praxis zwingen, mehr Aufgaben, aber auch mehr Chancen als je zuvor.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner, geboren 1939 in Wien, studierte dort Rechts-und Staatswissenschaften. Seit 1962 in der Bundesrepublik als Verlags-lektor und Herausgeber tätig. Seit 1974 Herausgeber der Taschenbuchreihe „Initiative" im Herder-Verlag. Veröffentlichungen u. a.: Hegel und die Folgen, Freiburg 1970 (Hrsg.); Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg 1972 (Hrsg.); Konservatismus international, Stuttgart 1973 (Hrsg.). Außerdem zahlreiche geistesgeschichtliche Arbeiten über den utopischen Sozialismus, die politische Romantik und den Neomarxismus.
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