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„Frieden in Freiheit": eine zentrale Kategorie politischer Pädagogik | APuZ 15/1975 | bpb.de

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APuZ 15/1975 Ziele des politischen Unterrichts -noch konsensfähig? Drei Optionen als Vorschlag für einen Minimalkonsens im politischen Unterricht „Frieden in Freiheit": eine zentrale Kategorie politischer Pädagogik

„Frieden in Freiheit": eine zentrale Kategorie politischer Pädagogik

Hans-Günther Assel

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1. Der Beitrag geht davon aus, daß Kooperation, die dem gegenseitigen Nutzen dient, ein Gebot der Stunde geworden ist. Die Produktivkraft Wissenschaft veränderte den Faktor Arbeit. Die Mobilisierung intellektueller Fähigkeiten trägt zur Steigerung des know how und des Lebensstandards bei. Die rasante Entfaltung der Produktivkräfte schuf jedoch nicht nur Asymmetrien zwischen „Entwickelten" und „Unterentwickelten“, sondern auch heterogene Prozesse zwischen ihnen selbst, so daß wir inzwischen von „vier" Welten sprechen können. Wegen bestehender Ungleichgewichte kommt der Friedenssicherungspolitik ein hoher Stellenwert zu, zumal es erhebliche Gefahrenherde gibt, die sich mit den Stichworten: Atomtod, strukturelle Gewalt, revolutionärer Bürgerkrieg und „Grenzen des Wachstums" angeben lassen. Der Wandel in den komplexen Gesellschaften verlangt nach einer „rationalen“ Politik, die freiheitliche Strukturen nicht beeinträchtigt. 2. Hier öffnet sich das Verantwortungsfeld des Politik-Pädagogen, den Bewußtseinshorizont auf diese Herausforderungen hin zu orientieren und Lernprozesse für einen friedlichen Strukturwandel zu ermöglichen. Die erste Friedensforschergeneration, die sich für eine assoziative Politik einsetzte, stieß auf die harte Kritik einer neuen Generation, die das Interesse an rationaler Konfliktlösung durch Konfliktaktivierung ersetzte. 3. Beide Richtungen hatten ihren Schwerpunkt: die eine wollte eine Eskalation verhindern, die andere die „strukturelle" Gewalt beseitigen. Eine neue Dimension wird m der Friedensforschung und -pädagogik gewonnen, wenn sich das Prinzip der Gegenseitigkeit unter Beachtung des gleichen Vorteils und Nutzens vermittels ausgewogener Kooperationsformen durchsetzt. Diese konstruktive Kompromißpolitik, die der praktischen Schritte nicht entbehrt, kann politische Gegensätze und Zwiespalte besser überwinden als konservative Status-quo-Politik und ideologische Revolutionsstrategien, weil sie den Bedürfnissen und Interessen der Betroffenen entgegenkommt. Eine realistische Friedenspolitik verfolgt vier Hauptziele: (1) Begegnung der Gefahren: Atomtod, strukturelle Gewalt, Bürgerkrieg, Umweltzerstörung; (2) angemessene Reaktion auf den technologischen Wandel; (3) finanzieller Ausgleich zwischen Industrie-und Rohstoffländern; (4) den gegenseitigen Vorteil und Nutzen im Prinzip anzuerkennen und dafür wechselseitige Modelle zu schaffen.

I.

Eine friedliche Weltordnung hängt weitgehend davon ab, ob es gelingt, verhärtete ideologische und rassische und nationale Konflikt-fronten abzubauen und durch Kooperation und Solidarität zu ersetzen. Dazu ist die Beseitigung der Mißtrauensbarriere eine entscheidende Voraussetzung für Gesellschaftsgruppen und politische Systeme. Zusammenarbeit, welche den gegenseitigen Interessen und dem gegenseitigen Nutzen förderlich ist, gehört zum Imperativ der weltpolitischen Stunde. Für Politiker und Pädagogen lautet die Schlüsselfrage: Wie sichern wir Frieden und Freiheit, menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit für alle Völker und Menschen dieser Erde? Welche konkreten Maßnahmen sind zu treffen und welche Mittel sind einzusetzen, damit sich die politischen Bewußtseinsformen der radikalen Mutation infolge der technologischen Revolution anzupassen vermögen? Hierfür sind Antworten zu finden 1).

Die Wissenschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum wichtigsten Produktionsfaktor entwickelte, konnte durch ihren Einfluß den Faktor Arbeit insoweit verändern, als das Know how und qualifizierte Arbeit einen größeren Wert als Handarbeit erhielten. Es kam auf die Mobilisierung von intellektuellen und berufsspezifischen Fähigkeiten an, welche dazu betrugen, daß man den Lebensstandard steigerte. Besonders die westlichen Industriestaaten machten — trotz kritischer Einwände gegen ihre „Uberfluß" -Gesellschaften — eine lange Periode der Prosperität durch. Die unterentwickelten Länder waren aber nicht in der Lage, mangels der nötigen Infrastrukturen, mit der rasanten Entfaltung der Produktivkräfte Schritt zu halten. Der Entwicklungsabstand wurde immer größer und verursachte ernste politische Probleme, weil sich revolutionäre Emanzipationsbewegungen bildeten. Aller Fortschritt besaß und besitzt ein ambivalentes Gesicht, denn er bringt Vor-und Nachteile. Er teilte die Welt in die „Entwikkelten" und „Unterentwickelten" und vertiefte damit Asymmetrien und Ungleichgewichte. Aber selbst unter Entwickelten und Unterentwickelten waren und sind heterogene Prozesse zu beobachten. Die ökonomische Effizienz und Überlegenheit der ersten (westlichen) Welt gegenüber der zweiten (östlichen) Welt führte zu dem gegenwärtigen Interesse der Sowjetunion, mit den USA, Westeuropa und Japan, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, zu kooperieren. Was für die Sowjetunion gilt, trifft auf den gesamten Ostblock zu. Auch die Unterschiede zwischen den Unterentwickelten sind gewaltig, denn reiche Rohstoffvorkommen haben seit der Ölkrise die Währungsreserven, besonders bei den Ölproduzenten in der Welt, steil ansteigen lassen während die rohstoffarmen Länder noch ärmer als zuvor wurden, so daß man nicht ohne Berechtigung — von einer dritten und vierten Welt spricht, um solche Disparitäten sichtbar zu machen.

Nicht nur das ökonomische Ungleichgewicht zwischen diesen „vier" Welten spielt eine erhebliche Rolle. Hinzukommt der militärisch-politische Faktor, der durch die Erfindung der Atombombe und ihre erste Anwendung in Japan eine folgenschwere Veränderung erfuhr. Niemals zuvor hatte man das Problem physischer Auslöschung der Menschheit mit in das politische Kalkül einbezogen. Die technologische Entwicklung offenbarte ihre Ambivalenz: sie steigerte die Produktivkräfte und sie perfektionierte — als Kehrseite der Medaille — die modernen Waffensysteme. Man schuf Overkill-Potenzen, die wie ein Damoklesschwert über der Menschheit hängen. Der Rüstungswettlauf hielt und hält noch die Supermächte in Atem. So entstanden Drohund Gewaltformen, die sich zum „Gleichgewicht des Schreckens" an die Stelle des Friedens setzten. Atomares Patt, Rüstungswettlauf und ideologischer Konflikt machten den Frieden im Zeitalter des „kalten Krieges" prekär, paradox und zerbrechlich

Will sich die Menschheit nicht aufgeben, muß sie für Entspannung und Sicherheit, für Kooperation und Frieden eintreten. Die Friedenssicherung nimmt einen hohen Stellenwert in der gegenwärtigen Weltpolitik ein, denn insbesondere die Supermächte wissen, was auf dem Spiel steht. Friedenssicherung wird zum „kategorischen Imperativ" der Weltpolitik, dem sich niemand — ganz gleich auf welcher ideologischen Seite er steht — zu entziehen vermag. Der Gedanke, daß „Frieden“ als Wert höher steht als alle Ideologien, bricht sich Bahn, aber er wird noch vielerorts angefochten, weil man ideologische Fronten erhalten will. Der Versuch, alle Barrieren für den geistigen und materiellen Fortschritt zu beseitigen, um ungehinderte Austauschprozesse und Kommunikationen zu ermöglichen, stößt auf den Vorbehalt und Widerspruch von Ideologen, welche Einbrüche in ihre weltanschauliche Frontlinie befürchten. Das „eindimensionale Denken", das für den „Kalten Krieg“ so typisch war, läßt sich nur schrittweise überwinden. Die Nachwehen verhärteter antikommunistischer und antikapitalistischer Haltungen, welche die gefährliche Polarisation im Weltmaßstab auslösten und zur Dissoziation und Abkapselung führten, bleiben trotz partieller Schritte im wirtschaftlichen und auch atomaren Bereich nach wie vor spürbar. Marxistische Theoretiker in Ost und West klagen die ökonomischen Dominanz-Dependenz-Verhältnisse in aller Welt an, wobei sie die Abhängigkeit der Peripherienationen von ihrem jeweiligen Zentrum besonders eingehend analysieren und „strukturelle Gewalt“ für die Ausbeutung und sozialen Mißstände verantwortlich machen Westliche Pluralisten zeigen, daß der sozialistischen Gesellschaft vor allem individuelle Freiheit und Freizügigkeit, freie Meinungsäußerung und ungehinderter Austausch von Waren und Menschen fehlt. Der Westen ist gewillt, für „menschliche Erleichterungen’ seinerseits ökonomische Zugeständnisse, die vom Osten begehrt sind, zu machen. Gegenseitiges Interesse fördert besonders in Europa ein Koexistenzklima, das den „Eisernen Vorhang“ durchlässiger als je zuvor macht. Die akute Gefahr einer Anwendung von Overkill-Potenzen kann heute durch eine fortschreitende Entspannungspolitik verhindert werden. Ähnliches läßt sich für die Gefahren „struktureller Gewalt'erhoffen, weil nicht nur das Kolonialzeitalter zu Ende geht, sondern sich auch das Übergewicht der Industrie-gegenüber den Rohstoffländern — wie die Ölkrise zeigte — durch Preiserhöhungen für Rohstoffe abbauen läßt. Jedenfalls sind diese Probleme auf dieser Konfliktebene, die durch einseitige Dominanzverhältnisse entstanden, Schritt für Schritt durch neue Kooperationsformen zu lösen oder so zu gestalten, daß der Vorwurf bewußter Ausbeutung in Zukunft ungerechtfertigt ist. Hier gibt es neue Ansatzpunkte, die Fortschritte für mehr Gerechtigkeit im Weltmaßstab erwarten lassen. Neben der militärischen und ökonomischen Konflikt-ebene spielt ferner die rassisch-religiöse und die ökologische eine weitere Rolle. Eng verbunden mit rassischen und religiösen sind nationale Fragen. Der religiös oder rassisch gefärbte Nationalismus hält die Welt mit ihren nationalen Minderheitenproblemen in Atem. Nationalistische und patriotische Gefühle bilden die Ursache für viele Konflikte und militärische Auseinandersetzungen in der Welt, auch wenn diese sich nur im begrenzten Rahmen ereignen. Die Gefahr einer Eskalation ist jedoch bei solchen Aktionen, die als Bürger-oder Befreiungskriege geführt werden, niemals auszuschließen. Problematisch bleibt die Legitimation solcher Kriege, wenn im Namen der Emanzipation politische Forderungen mit äußerster Brutalität und Unmenschlichkeit durchgesetzt werden. Hierzu gehören Terror und Erpressungsmaßnahmen von Befreiungsgruppen, die von ihren Regierungen unterstützt, durch Geiselnahme unbeteiligter Personen Gewaltpolitik betreiben. Die Diffamierung bestimmter Menschengruppen und au: geprägte Feindbilder tragen zum antagonist sehen Konfliktdenken bei und verschärfen die Situation, welche man meistens mit Gewalt und ohne Vernunft löst.

Zum Problem der Selbstauslöschung den Menschheit im Atomkrieg sowie zu den Problemen „struktureller Gewalt'und na tional-revolutionärer Konflikte tritt eine weitere Menschheitsgefahr als „sublime" Gewa form auf, welche sich in schädlichen Wachs tumsformen und in der Auszehrung Voll handener Rohstoffvorräte In der Welt bemerkbar macht. Raubbau und Vergiftung der Existenzgrundlagen durch Umweltzerstörung lassen die „Grenzen des Wachstums“ erkennen und verlangen nach einer „rationalen Politik", welche solche Probleme reflektiert 5). Wer die Hauptquellen möglicher Katastrophen erkennt und infolge der technologischen Revolution Strukturveränderungen von erheblichem Ausmaß auf uns zukommen sieht, weil sich weder der Westen als Schrittmacher des „technetronischen Zeitalters" noch der Osten und die Entwicklungsländer sich diesem Sog entziehen können, der wird „politische Rationalität“ und kritischen Realismus als Vorbedingung für eine Friedenspolitik fordern, die sich um adäquate Anpassungsvorgänge zu bemühen hat. Neben den hier skizzierten Gefahren: Atomtod, strukturelle Gewalt, revolutionärer Bürgerkrieg, Rohstoffraubbau und Umweltvergiftung sind Umstrukturierungen in der Gesellschafts-und Berufsschichtung von erheblichem Ausmaß zu erwarten. Im Blick auf das Jahr 2000 hält Ossip K. Flechtheim folgende Berufsstruktur für möglich: Beschäftigte in der Landwirtschaft noch 2— 3 °/o; Beschäftigte in der Industrie 25— 30 0/o — das einst so starke Industrieproletariat unterliegt demnach einem großen Schrumpfungsprozeß, weil die „Dienstklasse“ zur herrschenden Schicht in den Gesellschaften heranwächst 8). Flechtheim schätzt die Beschäftigten in den Dienstleistungsberufen auf 70 0/o, davon 20 0/o im Bereich von Wissenschaft und Forschung.

Mögen Zahlen problematisch sein, der Trend des auf uns zukommenden Strukturwandels wird faßbar, auch wenn sich solche Prozesse nicht gleichmäßig und parallel — wegen der Ungleichgewichte in der Entwicklung — vollziehen. Dieser Strukturwandel birgt eine Fülle von sozialen Konflikten in sich, d. h. er kann friedlich nur mit einer reflektierten und kooperativen Haltung aller Betroffenen durchgeführt werden. Die Dienstleistungsgesellschaft im postindustriellen Zeitalter, in dem Automaten, Computer und Kybernetik zum Alltag gehören, zeichnet sich in ihren Konturen bereits ab. Wird dieser Umbruch von einer reflektierten und kooperativen Einstellung der Menschen begleitet, so können wir von Problemen befreit werden, welche heftige ideologische Kontroversen in der Vergangenheit auslösten. Der französische Kommunist Roger Garaudy wies auf eine solche Entwicklung hin, indem er die gravierenden Unterschiede betonte, welche sich erkennen lassen, denn . die qualitativen und intensiven Entwicklungsfaktoren (Anwendung der Wissenschaft, Erneuerung der Technick, Hebung der Qualifikation, Rationalität der Leitung) nehmen überhand gegenüber quantitativen und extensiven Enwicklungsfaktoren (Vermehrung der Maschinen und Arbeitskräfte)" Dieser Qualitätsunterschied spiegelt sich in den Begriffen mechanischer und kybernetischer Rationalität. Bedeutsam für eine Sozialphilosophie, welche nicht zuletzt dem Frieden in der Gesellschaft dient, ist die Feststellung, daß das mechanistische Prinzip, das uns lange Zeit beherrschte, den Menschen manipuliert und determiniert, weil er als kleines Rädchen in einem Getriebe eingespannt wird, in dem er keine Initiative oder Partizipation besitzt. Das kybernetische Prinzip erfordert andere Strukturen, weil eine Rückkoppelung von unten her — durch Vorschläge, Erfahrungen, Informationen — notwendig ist, so daß neben körperlicher Arbeit auch schöpferische immer dringlicher wird, wozu nicht nur eine höhere Allgemeinbildung und gediegene Berufsausbildung, sondern auch Teamarbeit gehört. Roger Garaudy betont, daß die „technische Revolution“ die „Fähigkeit für Synthese, zum Infragestellen und zur Erneuerung, was eine aktive und nicht passive Teilnahme an Entscheidungen impliziert“, stimuliert. Das heißt, daß in komplexen Gesellschaften Subordination durch Koordination ersetzbar wird. Hierarchien, die eine rigide Befehlsstruktur besitzen und auf diese Weise Herrschaft demonstrieren, lassen sich so umstrukturieren, daß man kreative Einheiten mit gewisser Autonomie aufbaut, die nebeneinander in funktioneller Kooperation wirken. Mit anderen Worten: Kybernetische Rationalität stellt eine Bedingung für freiheitliche Strukturen dar, welche innovative Kräfte freisetzen 10).

II.

Dieser skizzierten Problemstellung kann sich die politische Bildung nicht entziehen, denn sie soll durch Aufklärung und Transparenz wirken und Heranwachsende vor unreflektierter Parteinahme mit «falschem Bewußtsein“ bewahren. Heranwachsende verfügen zunächst über begrenztes Urteilsvermögen und einen unzureichenden Erfahrungshorizont, so daß politische Erzieher mit ihrem Informa-tionsund Erfahrungsvorsprung die Einstellungen junger Menschen erheblich beeinflussen können. Hier öffnet sich das Verantwortungsfeld des politischen Pädagogen, weil er kritisches, rationales und realistisches Denken ebenso fördern oder unterdrücken kann wie parteilich-ideologisches, antagonistisches und polarisierendes Denken. Auf eine Analyse unterschiedlicher Denkweisen und der dahinter-stehenden Intentionen aber kommt es anl Wer einen Ausgleich der politischen und sozialen Spannungen und Konflikte herbeiführen will, um den Frieden zu erhalten und zu stabilisieren, wird nicht einem diktierten Zwangsfrieden einer Partei oder der Diktatur von Funktionären oder Ideologen folgen, die noch nie einen Beitrag zur Erweiterung des Politikverständnisses und zur friedlichen Erneuerung einer Gesellschaft leisteten. Die Erweiterung des Bewußtseinshorizontes im Angesicht der Gefahren und Herausforderungen ist nötig, damit sich jene Lernprozesse vollziehen und der Reifegrad im Heranwachsenden entwickelt wird, der friedlichen Strukturwandel begünstigt. Noch stellen sich viele Hemmungen, Besorgnisse und Zweifel ein, die ideologische Konfrontation zu überwinden und mutige Schritte auf eine ideologische Toleranz hin zu unternehmen. Die ersten Schritte in das Koexistenz-Zeitalter hinein ließen sich auf der pragmatischen Ebene der Politik erzielen — unter Ausklammerung ideologischer Fragen. Konstruktive Zusammenarbeit wird aber erst dann zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen, wenn auf eine ideologische Diskriminierung der Partner verzichtet wird. Zum rationalen Interessenausgleich gehört Reziprozität auf allen Ebenen sowie die Beachtung des gegenseitigen Vorteils, d. h. eine Politik des „do-ut-des“. Aber die traditionelle Machtpolitik mit ihrer einseitigen Verurteilung des Feindes und des Widersachers steht einer überzeugenden friedlichen Koexistenz-und Friedenspolitik noch im Wege Hier ist politischer Realismus am Platze. Dennoch wird in Zukunft nicht auf die Devise: Fortschritt und Wandel ohne Krieg und Revolution verzichtet werden können, wenn die Kräfte einer „Politik der Stärke* nicht über die Kräfte einer „Politik des Ausgleichs“ triumphieren sollen. Anders formuliert: dissoziative Kräfte müssen wieder in assoziative, revolutionäre Kräfte wieder in innovative verwandelt werden. Dissoziation beruht auf bewußter Abgrenzungs-und Abtrennungspolitik, während Assoziation bemüht ist, Getrenntes zu verbinden und Gegensätzliches zu versöhnen. Weil der Trend, über eine Koexistenzpolitik hinweg eine assoziative Politik zu verfolgen, stärker geworden ist, gibt es auch zahlreiche Stimmen, welche statt einer Versöhnung eine totale Konfliktpolitik propagieren und alle Integrationserscheinungen mißtrauisch verfolgen. Die assoziative Politik trifft der generelle Vorwurf als konfliktüberwindende Strategie allein der Beschwichtigung und Verschleierung, der Manipulierung und Befriedigung zu dienen, ohne die Probleme zu regeln. Diesem massiven Vorwurf sah sich bereits die erste Friedensforschergeneration ausgesetzt, welche in der Mitte der fünfziger Jahre auf dem Höhepunkt des Ost-West-Konfliktes als Protest gegen eine „Politik der Stärke“ die Friedensforschung ins Leben rief. Ein Zusammenstoß der Supermächte mit dem Risiko einer Eskalation zum atomaren Vernichtungskrieg wurde als Anfang vom Ende der Menschheit gebrandmarkt. Die gegenseitige Abschrekkung als negatives Prinzip verhinderte den totalen Krieg, obwohl damit nicht der Wille und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung ausgeschaltet wurde. Man vermied zwar die direkte Gewalt und setzte die Droh-und Abschreckungspolitik ein, weil ein positiver Konfliktausgleich auf den politisch entscheidenden Ebenen nicht durchsetzbar war. Dieser negative Friedenszustand bedeutete zwar die Abwesenheit des Krieges: aber auf den Einsatz kollektiver Gewalt wollte man nicht verzichten. Daher konzentrierten sich die Friedensforscher auf Gewaltverhinderung und auf Konfliktlösung, auf eine assoziative und integrative Strategie. Die konservative Haltung, den Schwerpunkt der Aufgabe in der Reduktion und Regelung der Konflikte zu sehen, stieß seit dem Vietnamkrieg und der Renaissance des Marxismus, welcher sich in Protestaktionen artikulierte und für gewaltsame Lösungen eintrat, auf deutlichen Widerstand einer jungen kritischen Friedensforschergeneration Für ihre Betrachtungs weise galt der Unterschied von symmetrischen und asymmetrischen Konflikten als fundamental. Obwohl die meisten Konflikte asymmetrischer Natur sind, gingen die analytischen Konzepte vom klassischen Beispiel des Ost-West-Konfliktes aus, d. h. man beschäftigte sich nicht genügend mit dem Nord-Süd-Konflikt und seinen Asymmetrien. Angesichts der unversöhnlichen Gegensätze und krassen Ungleichgewichte wurde rationale Konfliktschlichtung, überhaupt jede Form von rationaler Politik als schiere Unmöglichkeit bewertet, weil die Kluft zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten nicht schließbar und überbrückbar war. Damit stellte sich den „kri-tischen" Friedensforschern eine neue Kernfrage: Wie überwand man asymmetrische Konflikte? Jetzt ging es nicht mehr um die Verhinderung einer Eskalation, welche die Supermächte veranlassen konnte, einzugreifen, sondern um den Kampf der Unterentwickelten gegen Ausbeutung und strukturelle Gewalt. Deshalb verwarf man jede ungenügende und folgenlose Reformstrategie. Eine rationale Regelung der Konflikte tastete die bestehenden Strukturen nicht an, d. h. man erhielt die gegebenen Abhängigkeiten aufrecht. Die Kategorie der „Abhängigkeit" spielte in den Analysen unterentwickelter Länder eine überragende Rolle, wobei man die „negative Kovarianz", d. h. die Gewinne des technologisch überlegenen topdog zu Lasten des unterlegenen underdog, durch die einseitige vertikale Arbeitsteilung erklärte Aber auch andere vertikale Interaktionen spiegelten die Unterschiede im Verhältnis von Zentral-und Peripherienation

Als Vertreter dieser neuen Dimension von Friedensforschung traten Herman Schmid und Lars Dencik auf. Das Interesse an Konfliktlösung wurde nun durch Konfliktaktivierung ersetzt. Unmißverständlich plädierten beide für eine Polarisationstheorie im Gegensatz zu einer Integrationstheorie. Die funktionalistische Perspektive und die unterstellte Interessenharmonie und Interessenidentität wurde explizit abgelehnt, weil man damit die Status-quo-Mächte unterstützte und allein ihren Interessen diente Schmid arbeitete mit der Begriffsdichotomie: Integration und Polarisation. Der Integrationsbegriff faßte drei wesentliche Aspekte zusammen: Konsens, Konformität und kompatible Interessen und Ziele. Der Polarisationsbegriff unterschied einen qualitativen und quantitativen Aspekt. Ein polarisiertes System konnte zwei Subsysteme beziehungslos nebeneinanderstellen. Diese statische Situation war im „Kalten Krieg" eingetreten; sie hatte jede Veränderung sehr erschwert. Dagegen zeigte die Polarisation in einer dynamischen Situation feindselige und gespannte Beziehungen, wie sie im Bürgerkrieg auftraten. Durch Konfliktverschärfung konnte man bei Anwendung progressiver Gewalt drastische Veränderungen durchsetzen, denn die strukturbedingte Inkompatibilität der Interessen legte den bestehenden Klassenkonflikt frei, der Dissens, Antagonismus und Revolution förderte. Schmid bemerkte: „Ein Klassenkampf z. B. ist nicht deshalb ein Konflikt, weil die Klassen inkompatible Ziele haben, einander bekämpfen und hassen. Vielmehr ist er ein Konflikt, weil die Gesellschaftsstruktur dergestalt ist, daß die eine Klasse verliert, was die andere gewinnt, und dergestalt, daß Ausbeutung profitabel ist." Der strukturelle Gesichtspunkt und die „negative Kovarianz“ wurden damit deutlich herausgearbeitet. Das hieß mit anderen Worten: War der Konflikt in die Sozialstruktur eingebaut, so ließ er sich allein durch Strukturwandel bereinigen. Damit stellte sich die Frage, wie man den Strukturwandel vornehmen konnte. Hier kam die Polarisierung ins Spiel. Die Frage nach dem „Wie" beantwortete Schmid: „Polarisierung ist der Mechanismus, durch den ein Konflikt im Verhalten in Attitüden manifest wird." Diese Konfliktperspektive hatten die konservativen Friedens-forscher vernachlässigt, weil sie nicht das Problem der Konfliktverschärfung thematisierten, sondern Konfliktschlichtung verlangten. Die Friedensforschung diente nach dieser Auffassung nur denen, welche sich für di« Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse einsetzten. Friedensforscher, die dieser Intention folgten, strebten nach Schmid Kontrolle, Manipulation und Ausschaltung jeglicher Gewalt an. Sie wurden zu Ideologen des Internationalismus, welche Konfliktlösung, Systemintegration und Gewaltlosigkeit propagierten. Diese Art von Friedensbegriff blieb nach Schmid deswegen „negativ", weil es hier um die Vermeidung der Katastrophe ging, um die Verhinderung von größeren Systemstörungen und um die Stabilisierung und Integration des internationalen Systems. Hierin erblickte Schmid den „ideologischen Aspekt" der Friedensforschung, weil man die strukturelle Veränderung als Bedrohung der Herrschenden auffaßte und deshalb nur eine „adaptive Veränderung" befürwortete Ähnlich fragte Lars Dencik: Welche Relevanz hat der Begriff der Revolution für die Friedensforschung? Auch er ging von der Spaltung der Friedensforschung in zwei Lager aus und unterschied zwischen konservativer und revolutionärer Friedensforschung. Er stellte die etwas provokatorische Frage: „Muß Frie-densforschung pazifistisch im absoluten Sinne des Wortes sein? Warum wäre das ein Vorteil — und für wen?“ Auch er kritisierte das Integrationsstreben und den Konfliktre-duktionismus, weil man damit nur der stärkeren Seite nütze, denn „strukturelle Gewalt" könne man nur mit progressiver Gewalt beseitigen. Konfliktbeilegung und Konfliktunterdrückung spiegelten als Begriffe einen wichtigen Sachverhalt. Der beigelegte Konflikt existiere nicht mehr, aber der unterdrückte Konflikt sei noch „latent" vorhanden: „So stellen z. B. bestimmte Arten von Kompromißund Verhandlungslösungen eher eine Unterdrückung als eine Beilegung des Konfliktes dar", wie Dencik bemerkte Fragte man nach den Techniken, welche dazu dienten, so hieß die Antwort, daß jeder Typ der Friedens-forschung sich auf die für ihn genuine Art konzentrierte. Lars Dencik plädierte für die Beseitigung unversöhnlicher Interessenkonflikte, wobei er nicht zögerte, daß man die strukturelle „lautlose“ Gewalt, weil sie noch schlimmere Folgen habe — z. B. Ausbeutung—, durch „direkte Gewalt" beseitige. Er wollte den Pazifismus durch Marxismus, Konfliktlösung durch Klassenkampf, Frieden durch Revolution ersetzen. Bei ihm brach der Marxismus als Denkrichtung in die Friedensforschung ein, in dem er den absoluten Konflikt und die Revolution als Patentlösung empfahl. Dies wurde als ein realistischer Weg zum Frieden bezeichnet, weil man Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit infolge „struktu-reller Gewalt" nur durch Revolution überwand. Mit anderen Worten: der Befriedigungsstrategie, die das Konfliktverhalten einfrieren ließ, stand die Revolutionsstrategie gegenüber, die Konflikte „manifest" machte, um die Unvereinbarkeit der Interessen herauszustellen. Friedensforschung wurde unter diesem marxistischen Aspekt reine Revolutionsforschung. Mit Nachdruck betonte Lars Dencik, daß es „ansonsten vernünftige Friedensforscher" gab, die sich von dem Gedanken beeindrucken ließen, daß eine Revolution „in sich gefährlich und inakzeptabel sei, weil sie Gewalt als Selbstzweck darstelle Demgegenüber hielt Dencik die Revolution für „eine komplizierte, aber notwendige Methode zur Erlangung einer qualitativen Veränderung der etablierten Machtstrukturen ... Und da die etablierten Machthaber gewöhnlich nicht willens sind, ihre Position kampflos aufzugeben, ist die Anwendung offener Gewalt voraussagbar. Als Revolutionär muß man darauf vorbereitet sein, solcher Gewalt zu begegnen und sie zerschlagen." Hier wurde die Friedensforschung, die sich als „kritisch“ begriff, zum Instrument des Marxismus und seiner Ziele, und die Frage wurde legitim, ob es zwischen konservativer und marxistischer Friedensforschung keine Strategie mehr gab, welche die Probleme auf anderen Wegen löste.

Was die Vertreter der Revolutionsforschung und die Revolutionspädagogen nicht bedachten, war die nüchterne Gegenrechnung der Kosten einer Revolution. Ganz zu schweigen von den postrevolutionären Begleiterscheinungen durch Gleichschaltung der Opposition und Liquidierung der Konterrevolution. Und ferner verschwieg man die immer wieder auftretende Tatsache, daß die Revolution ihre eigenen Kinder frißt. Gerade darüber verfügen wir über hinreichende Erfahrungen, um den Heranwachsenden eine anschauliche Vorstellung davon zu vermitteln.

III.

Diese beiden Richtungen in der Friedensforschung haben die Friedenspädagogen beeinflußt, weil die einen den Schwerpunkt auf eine Verhinderung der Eskalation legten und die anderen die „strukturelle Gewalt", die sich besonders in Südamerika und anderen unterentwickelten Staaten als Skandalon erwies, zum Gegenstand ihrer Kritik machten. So stand These gegen These, Begriff gegen Be-griff und jede Richtung verteidigte ihren Standpunkt, so daß man von diesen Denkunterschieden ausgehen muß, wenn man sich um neue Ansätze in der Friedensforschung und Friedenspädagogik bemüht. Das scheint aber im Augenblick des Zustandes „gegenseitiger Nicht-Überlebensfähigkeit" insofern nötig zu sein, weil angesichts der konkreten Weltlage Friedensstrategien wichtiger und dringlicher sind als Kriegs-, Bürgerkriegs-und Revolutionsstrategien. Weil auf die meisten Gesellschaften erhebliche Umstrukturierungen durch die „technologische Revolution“ zukommen, die innenpolitisch zu verarbeiten sind, müssen sich alle politischen Akteure und Gesellschaftsgruppen kooperativ verhalten, um die Probleme zu lösen. Selbst die Supermächte dürfen sich wegen ihres „overcommitment“ kooperativen Prozessen nicht entziehen, denn sie sind nicht mehr in der Lage, überall in der Welt mit Erfolg präsent zu sein. Auch sie unterliegen Sachzwängen, die es untunlich erscheinen lassen, eine bewußte Konfliktverschärfung und Polarisierung herbeizuführen. Hier wird der Unterschied von politischer Praxis und Ideologie signifikant. In der politischen Praxis muß man immer größere Zugeständnisse als in der Ideologie machen. Pragmatische und ideologische Politik erweisen sich als nicht identisch. Starre ideologische Prämissen stellen ein großes Hindernis dar, um zu vertrauensvoller Kooperation und zu loyaler Zusammenarbeit zu gelangen, weil man an abstrakten und fiktiven Formeln festhält, die für die politische Praxis bedeutungslos sind, und weil sie einen realistischen Weg versperren. Weder bloße Systemstabilisierung noch überstürzte Systemüberwindung durch revolutionären Akt tragen dem kritischen Realismus Rechnung, der mit Augenmaß und Nüchternheit Umstrukturierungen vollzieht, um den betroffenen Menschen freien Spielraum in ihrem Wirkungsfeld zu sichern. Eine moderne Organisationsstruktur stellt eine notwendige Voraussetzung für Innovationen und Systemerneuerung dar.

Die technologische Revolution zwingt die politischen Systeme, unabhängig von ihren ideologischen Grundlagen, Systemerneuerung zu betreiben. Das gilt für den Westen ebenso wie für den Osten und noch mehr für alle Unterentwickelten. Zum kritischen Realismus unserer Gegenwart gehört die enge wechselseitige Verflechtung, welche aber auf ideologische Vorurteile stößt. In vielen politischen ystemen setzen sich daher Pragmatiker mit deologen über den geeigneten Kurs der Poli-

1 auseinander. Nur wenn die Auffassungen flexibel bleiben — weil auch Ideologien veralten und verkrusten — und sich an den Fakten und Gegebenheiten orientieren, entfalten sich innovative Kräfte. Die drastische Erhöhung des Ölpreises und anderer Rohstoffe korrigiert die Auffassung, daß topdogs immer nur underdogs ausbeuten. Pointiert ausgedrückt ließe sich heute fast die Gegenthese wagenI Dieser neuen Entwicklung müssen wir rational begegnen. Alle Prozesse, die zu Lasten der einen Seite gehen, sind im Verbund einer interdependenten Welt existenzgefährdend. Aus der Konsequenz dieser grundlegenden Erkenntnis folgt, daß das Prinzip der Gegenseitigkeit höchste Aktualität erhält. Gegenseitiges Interesse und gegenseitiger Vorteil verlangen nach ausgewogenen Kooperationsformen, die eine echte Partnerschaft ermöglichen. Partnerschaft über ideologische Barrieren hinweg verlangt Risikobereitschaft, denn ideologische Vorurteile sind nicht ad hoc eliminierbar. Aber angesichts der Herausforderungen unserer Zeit und der Großprojekte, die zur Hebung des Lebensstandards der Völker durchzuführen sind, weil nur so neue Infrastrukturen entstehen, müssen übernationale Funktionsapparate geschaffen werden, die das Know how mit dem nötigen Kapital und den Arbeitskräften verbinden. Aufgaben solcher Größenordnungen sind kaum noch in den engen Grenzen eines ideologischen Blocks zu leisten. Die Größe der Herausforderungen und die Größe der Aufgaben verlangen nach einer Kompromißpolitik, welche ideologische Rivalitäten auszugleichen vermag. Hier stoßen wir auf die Grenzen der Konfliktverschärfungsstrategien, die sich weigern, mit den als Feind erklärten zu kooperieren, obwohl gerade er unschätzbare Dienste zu leisten vermag. Hier wird die Paradoxie der gegenwärtigen Lage transparent und die Notwendigkeit für konstruktive Kompromisse erhärtet.

Im Grunde geht es um die Rückgewinnung des „dialogischen* Prinzips, um das Miteinander-Sprechen, ohne dabei Druck und Gewalt auszuüben. Jede Trennungs-und Abgrenzungsstrategie sieht den Gesprächspartner als Konfliktgegner. Demgegenüber sind, wie Theodor Wilhelm treffend bemerkte: „Kompromisse . . . Stationen des Konflikt-prozesses, die geeignet sind, den Konfliktverlauf zu verändern“ Zwischen Konflikt und Partnerschaft stellt sich ein Zwischenzustand ein, der für unsere gegenwärtige Koexistenz-phase nicht untypisch ist. Von der marxisti-sehen Theorie her gesehen ist der Kapitalist der Feind, den es zu vernichten gilt, aber in der Realität ist er nur „der leibhaftige, unangenehme, aufsässige, böswillige Gegenspieler, den ich, selbst wenn ich wollte, mit keiner Macht der Welt abschütteln kann, den ich aber zu allem Unglück auch gar nicht ernst-lieh loswerden möchte, weil ich ihn nämlich zur Wahrung meiner Interessen brauche" Kooperation und Rivalität bleiben erhalten, je nachdem, ob das pragmatische oder ideologische Interesse überwiegt. Dieser Zwischen-zustand, der sich mit „Koexistenz" im großen und ganzen adäguat bezeichnen läßt, aber eine „Koexistenz" mit ideologischem Vorbehalt beinhaltet, setzt restriktive Bedingungen, welche die Feind-Mentalität nicht überwinden. Daher ist es nötig, zu einem Kodex zu gelangen, der verbindliche Verhaltensformen fixiert, denen sich die politischen Akteure aus politischer Rationalität unterwerfen.

Erst wenn man eine „konstruktive" Koexistenzphase erreicht, stellt sich das Problem ideologischer Tolerenz dringlicher als zuvor. Eine gedeihliche Zusammenarbeit, welche auf der Grundlage nicht-ausbeuterischer Kooperation erfolgt, kann als konkreter Schritt eines Füreinander ein Klima schaffen, das für politische und ideologische Toleranz zur Vorbedingung wird. Politische Rationalität wächst auf dem Boden einer auf Kompromiß und Ausgleich, d. h. auf gegenseitige Zugeständnisse hin gerichteten Politik. Sie wird zu einer neuen Dimension praktischer Friedenspolitik, wenn sie ihr Leitziel nicht auf bloße Erhaltung des Status quo und nicht auf revolutionäre Veränderung bestehender Zustände ausrichtet, sondern sich am Zielwert des dauerhaften und realistischen Friedens orientiert. Das Problem von heute heißt: den Graben von Ost nach West und von Süd nach Norden und umgekehrt durch praktische und friedliche Verhandlungen und Vereinbarungen, die dem Nutzen und Vorteil aller Beteiligten entsprechen, zu überwinden. Gelingt es nicht, eine realistische Friedenspolitik, die sich als nicht-ausbeuterisch und als vorteilhaft für alle Beteiligten erweist, einzuleiten und zum grundlegenden Handlungsaxiom zu machen, verdüstert sich unsere Zukunft.

Realistisch und rational ist eine Friedenspolitik, welche sich folgende Ziele setzt: 1.den Herausforderungen der Zeit: Atomtod, strukturelle Gewalt, Bürgerkrieg, Umweltzerstörung etc. zu begegnen, 2. auf die strukturellen Veränderungen infolge der fortschreitenden technologischen Revolution angemessen zu reagieren, 3. einen höheren Gewinnanteil den Rohstoff-ländern zu ihrer eigenen Entwicklung und zum Ausgleich erheblicher Disparitäten zu garantieren, 4. eine auf Ausgleich und gegenseitige Kompromisse abzielende Politik einzuleiten, die den gegenseitigen Nutzen mit gegenseitiger Abhängigkeit verbindet, um wechselseitige Sicherheitsbedürfnisse nicht zu verletzen -eine solche Friedensstrategie kann als Alternative zur konservativen und marxistischen Friedensstrategie bezeichnet werden.

Die gegenwärtige Koexistenzperiode wird sich als nützliche Übergangsphase auf diesem Wege erweisen, wenn sie diese Etappe nicht als andere Form des Klassenkampfes propagiert. Solange diese Theorie als Fortsetzung des Klassenkampfes — nur mit anderen Mitteln — verstanden wird, bleibt die ideologische Zwietracht erhalten. Eine realistische Versöhnungspolitik stellt solange ein bloßes Wunschgebilde dar, als es nicht gelingt, die beiden großen Sozialsysteme dieser Welt in eine konstruktive Koexistenzphase zu überführen. Solange das eine oder das andere Sozialsystem hofft, das andere überwinden zu können, solange ist die Vorstellung von „ideologischer Koexistenz" als dem notwendigen Brückenprinzip, auf dem sich eine realistische Friedenspolitik aufbauen läßt, irreal. Wenn man Koexistenzpolitik nur auf der pragmatischen Ebene vollzieht, wenn man ferner an der Differenzierung der Prinzipien „Koexistenz“ und „sozialistischer Internationalismus" festhält, dann kann der Eindruck eines vorübergehenden Waffenstillstandes nicht als Friedenspolitik interpretiert werden Setzt sich dieses Dilemma fort, läßt sich die Entzweiung der Welt auf friedlichem und freiheitlichem Wege nicht mehr überwinden. Der Rückfall in den „Kalten Krieg", in Klassenkampf und Revolution wäre die Folge. Diese Polarisationsstrategie mit ihrer Argumentation ist ein bewußtes Hindernis auf dem Wege, zu einem „Frieden in Freiheit“ und zur Solidarität über die Blöcke hinweg zu gelangen.

IV.

Damit wird die neue Zielrichtung einer Po tik, welche „Frieden in Freiheit“ anstrebt, im Gegensatz zu einer ideologisch orientierten Polarisationsstrategie deutlich hervorgehoben. Es gibt für die politische Bildung, die sich an der Kategorie „Frieden in Freiheit" orientiert, keine bessere Einsicht und kein nützlicheres Engagement, als sich gegen destruktiven Klassenkampf oder den diktierten Zwangsfrieden — in welcher Form auch immer — zu wehren und alle schöpferischen Kräfte der Jugend für den „Frieden in Freiheit“ zu mobilisieren, der in konkreten Schritten durch eine rationale und innovative Strategie zu verwirklichen ist.

Es gibt in der gegenwärtigen schwierigen Situation, die von zahlreichen Konflikten in der Weltpolitik und in den politischen Gesellschaften überschattet wird, keine bessere Entscheidung für Politik und Erziehung, als Feindschaften und Lasten der Vergangenheit durch nicht-ausbeuterische Kooperation und gegenseitige Dependenz abzutragen und für das Daseinsrecht auch ideologisch unterschiedlicher Gesellschaften einzutreten. Nur der Verzicht auf Indoktrinierung, auf Haß und Feindschaft, auf Abgrenzung und Polarisierung wird jene doppelgleisige Politik überwinden, welche das Mißtrauen wachhält und auf verschiedenen Ebenen der Politik unterschiedliche Verhaltensweisen empfiehlt. Weil wir uns nicht der Euphorie hingeben, als würde die politische Bildung, die sich an der Kategorie: „Frieden in Freiheit" orientiert, bereits in der Praxis erprobt, sehen wir mit aller Deutlichkeit die Hypotheken, welche in unserer Zeit zu bewältigen sind. Wir stecken noch tief in einer Reideologisierungsphase drin, die unsere Jugend zu einem ideologischen Monopolismus erziehen will. Die Leitvorstellung, Frieden durch Zwang und nicht durch gemeinsames Bemühen aller Betroffenen zu erreichen, wirkt noch stark nach.

Hier liegt der gravierende Unterschied, über den die Gegenwart zu entscheiden hat, ob wir den Frieden auf dem Wege des Zwanges oder auf dem Wege freiwilliger Mitarbeit der Betroffenen organisieren. Eine politische Bildung, welche die Kategorie „Frieden in Freiheit“ als Leitkategorie anerkennt, sieht weder in der „Diktatur des Kapitals" noch in der . Diktatur des Proletariats" den Schlüssel für die bessere Zukunft. Sie will die Paradoxien, die heute vor allem im Osten und Westen auftreten, durch eine realistische und politisch rationale Strategie, die zu Innovationen führt, überwinden. Dazu ist es nötig, daß diese transparent Paradoxien werden, um die zwielichtige Situation zu erkennen, die der truktur eines „Friedens in Freiheit'entgegensteht.

Für den Osten besteht die grundlegende Paradoxie darin, daß gegenwärtig ohne Mithilfe kapitalistischer Staaten, die auf der ideologischen Ebene heftig bekämpft werden, eine generelle Modernisierung der Infrastruktur der Sowjetunion nicht zu bewältigen ist, weil dazu weder das Know how noch das Kapital ausreichen. Das gilt auch für die übrigen Ostblockstaaten, da das ökonomische Gefälle noch zu groß ist. Andererseits setzt man den ideologischen Krieg fort, um den Westen durch subversive Strategie, welche von den kommunistischen Parteien im Sinne der Zentrale betrieben wird, zu schwächen. Dabei werden die „großen Widersprüche des Monopolkapitalismus“ angeklagt und die „Vorzüge des Sozialismus" gepriesen» der sich auf der pragmatischen Ebene — wegen seiner Ineffizienz — zur Koexistenzpolitik genötigt sieht. Diese widersprüchliche Verhaltensweise blockiert den Aufbau einer realistischen Friedensstruktur und zementiert Denkvorstellungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und die im Blick auf das 21. Jahrhundert und seine Erfordernisse obsolet sind. Dem ideologischen Monopolismus und seiner Intoleranz wird nicht mehr die Zukunft gehörenI

Ebensowenig gehört die Zukunft einer imperialistischen Ausbeutungspolitik und ihren superimperialistischen Strukturen, die man bei den großen Weltkonzernen analysieren kann. Kleine Mengen von Kapital reichen aus, um eine erfolgreiche Penetration und Beherrschung von weniger produktiven Nationalwirtschaften vorzunehmen. Die Dominanz der Metropolen, die nur einem attraktiven Investitionsklima folgen, drückt sich in ihrer Strategie aus, solche rückständigen Gebiete zu fördern, die profitable Anlagemöglichkei-ten für das Privatkapital versprechen. Manche vertreten bei solcher Grundhaltung die Ansicht von James O’Connor: „Die unterentwickelte Welt wird noch stärker an ein neues imperialistisches System gekettet ... Eine neue Ara des Imperialismus ist gerade angebrochen, eine Ara, die für die imperialistischen Mächte und ihre zahlreichen Satelliten widersprüchliche Versprechen bereithält. 27) Diese neue Ära des Superimperialismus hängt von 2 Hauptfaktoren ab: „von der Widerstandskraft der Völker in den Ländern, wo noch Ausbeutung sich vollzieht, und von der Flexibilität der Struktur des imperialistischen Systems." Der eine Faktor würde für eine Befreiungsstrategie als notwendige Bedingung für die Überwindung solcher Strukturen sprechen. Der andere Faktor aber hebt hervor daß dieser Revolutionsweg eben nicht mit Notwendigkeit zu beschreiten ist, wenn es gelingt, neue Strukturen aufzubauen oder Strukturinnovationen vorzunehmen. Die Chance, eine Struktur des „Friedens in Freiheit“ zu schaffen, wird von James O'Connor damit nicht in Abrede gestellt Die westliche Welt wird sich auf nicht-ausbeuterische Kooperationen, nicht zuletzt aus dem Zwang der Verhältnisse, einzustellen haben. Das Denken in Kategorien von Ausbeutung und Höchstprofiten muß der Vergangenheit angehören, denn mit Unterdrückung und Unterprivilegierung läßt sich keine freie Welt gestalten. Hinweis:

Der Titel des Aufsatzes von Dr. Hermann Boventer in der . Beilage'B 13/75 muß statt „Emanzipation durch Entwicklung?" heißen: „Emanzipation durch Curriculum?"

Die Redaktion

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Arnulf Baring, Gleichgewicht oder Chaos? Neue Tendenzen der Weltpolitik, in: Europa Archiv, Folge 11, 1974, S. 353 ff.; Baring bemerkt, daß die Uberflußgelder, die den Olproduzenten für freie Investitionen zur Verfügung stehen, sich auf 42 Milliarden Dollar in einem Jahr belaufen, d. h. in Wirklichkeit ein „gewaltiger Transfer von Wohlstand aus den Industriestaaten in die Olländer stattfindet" (Walter Levy). Andere monopolistische Rohstoffländer können auf diesem Wegefolgenl (S. 355).

  2. Vgl. Hans-Günther Assel, Friedenspädagogik, Bonn 1971 (Heft 88 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung) S. 85 ff.; zur Kritik der Abschreckung und „organisierten Friedlosigkeit" Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, Frankfurt 1969, S. 5 ff.

  3. Vgl. Dieter Senghaas (Hrsg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt 1972; in diesen Beiträgen wird das Dominanz-Dependenz-Verhältnis und die strukturelle Abhängigkeit der Underdogs von den topdogs eingehend dargestellt.

  4. Vgl. Zbigniew Brzezinski, Amerika im techne-tonischen Zeitalter, in: Aus Politik und Zeitge-Stichte, B 22/1968, S. 9; Brzezinski bemerkt, daß iin Großteil der strategischen Planung für die snere und internationale Politik“ von der Universla . ausgeht. Sie sollte auch eine vorbildliche In-5 y i“ für politische Rationalität werden

  5. Vgl. Ossip K-Flechtheim, Futurologie. Der Kampf Hmdie Zukunft, Köln 1970, S. 372 f.

  6. Vgl. Roger Garaudy, Die große Wende des Sozialismus, München 1972, S. 25.

  7. Vgl. Hans-Günther Assel, Tendenzen internationaler Politik und Probleme friedlicher Koexistenz, in: Politische Studien, Heft 216/1974, S. 353. In diesem Aufsatz wandte ich mich gegen eine Euphorie in der Koexistenz-Politik.

  8. Vgl. Hans-Günther Assel, Innovation, a. a. 0 S. 126 ff.

  9. Ebd., S. 135, 136.

  10. Vgl. Johan Galtung, Eine strukturelle Theorie es Imperalismus, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), d . S. 29 ff., besonderes S. 57, Schaubild 6, S. 74, 0 zwischen »spin off" und „spill-over“ Effekten erschieden wird. Vgl. auch Alberto Martinelli, uualismus und Abhängigkeit, ebd. S. 356 ff., der ine sorgfältige Untersuchung der strukturellen erogenität der Unterentwickelten als Vorausfo den s. 7 Analyse der Abhängigkeitsstruktur

  11. Vgl. Herman Schmid, Friedensforschung und Politik und Lars Dencik, Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung, in: Dieter Senghaas (Hrsg.) Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1971, S. 25 ff. und S. 247 ff.

  12. Vgl.derselbe S. 44.

  13. Vgl.derselbe S. 46.

  14. Vgl.derselbe S. 51.

  15. Vgl. Lars Dencik, a. a. O., S. 247 f.

  16. Vgl.derselbe S. 249.

  17. Vgl.derselbe S. 263 ff., S. 267.

  18. Vgl.derselbe S. 267.

  19. Vgl. Theodor Wilhelm, Traktat über den Kompromiß, Stuttgart 1973, S. 90.

  20. Vgl.derselbe S. 124.

  21. Vgl. Hans-Günther Assel, Tendenzen internationaler Politik, a. a. O., S. 360 ff.

  22. Dabei darf man die Leistungen der UdSSR auf dem Rüstungssektor, der Schwerindustrie und der Raumfahrttechnik, in der sie vorübergehend führend war, nicht falsch einschätzen. Aber mit der rasanten Entwicklung im kapitalistischen Weltdreieck: USA-Westeuropa-Japan konnten die UdSSR und die Ostblockstaaten nicht Schritt halten. Botschafter Carl H. Lüders formulierte diesen Sachverhalt prägnant: „Ein Land mit einer sozialistischen Wirtschaft, das den Anspruch erhebt, gerechter und für die breiten Massen effizienter zu wirtschaften als die westliche kapitalistische Marktwirtschaft, känn sich auf die Dauer den Abstand zum Westen auf verschiedenen Gebieten (wie z. B.der chemischen Industrie, der computer-gesteuerten Betriebe, der Elektronik, der Rationalisierung der Arbeit) nicht leisten.“ Vgl. Carl H. Lüders, „Gedanken zur sowjetischen Entspannungspolitik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/74 S. 8; Die Freilegung solcher Widersprüche von sozialistischer Theorie und Praxis gehört ebenso zur Aufgabe politischer Bildung wie die Sichtbarmachung von superimperialistischen Strukturen.

  23. Vgl.derselbe S. 186.

Weitere Inhalte

Hans-Günther Assel, Dr. oec., Dr. phil., geb. 1918 in Breslau, o. Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Erziehungs-und Kulturwissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Weltpolitik und Politikwissenschaft. Zum Problem der Friedenssicherung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 77, Bonn 1968; Die Perversion der politischen Pädagogik im Nationalsozialismus, München 1969; Ideologie und Ordnung als Probleme politischer Bildung, München 1970; Friedenspädagogik, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 88, Bonn 1971; Demokratie auf dem Prüfstand. Unsere Gesellschaft und ihre Kritiker, A 41 — Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 19742; Demokratischer Sozialpluralismus, München, Wien 1975 (Bd. 187/188 der Reihe „Staat und Geschichte“).