Zusammenfassung
Dieser Beitrag ist eine Stellungnahme zu dem Aufsatz von Wolfgang Protzner: Ost-kunde — Geschichte eines politisch umstrittenen Unterrichtsanliegens (B 46/74).
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Dieser Beitrag ist eine Stellungnahme zu dem Aufsatz von Wolfgang Protzner: Ost-kunde — Geschichte eines politisch umstrittenen Unterrichtsanliegens (B 46/74).
Stellungnahme zu dem Beitrag: „Ostkunde — Geschichte eines politisch umstrittenen Unterrichtsanliegens“ von Wolfgang Protzner (B 46/74)
Weithin dehnt sich der Bereich „Politische Bildung". Niemand dürfte imstande sein, alle seine Gebiete zu durchwandern oder gar zu erforschen. Eine Hauptaufgabe des demokratisch-parlamentarischen Staates besteht darin, die Jugend aufzuschließen für Verantwortungsbewußtsein, Sachlichkeit, Rechtsempfinden, Leistung, Pflichterfüllung, Friedensliebe und Duldsamkeit. Mannigfache Möglichkeiten zum Durchführen dieses bedeutsamen Anliegens bieten der Unterricht und die Erziehung in den Schulen — Volksschulen, weiterführenden Schulen, Hochschulen und Universitäten —; nicht zu vergessen den Volkshochschulen und Abendschulen. Voraussetzung für das Gelingen ist ein gründliches Eigen-wissen des Lehrenden, ist das Bemühen des in Sachkenntnis verwurzelten Lehrers und Erziehers, die ihm anvertrauten Jugendlichen zu eigenem Denken zu befähigen, gegebenenfalls die sich ihm anvertrauenden Erwachsenen in ihrer Urteilskraft zu festigen.
Ein zu wenig bekannter Distrikt der Politischen Bildung ist die für die Gegenwart und für die Zukunft wichtige Ostkunde; er ist — aus Bequemlichkeit, Kleinmut, Mangel an geistigem Rüstzeug — bisher vernachlässigt worden. Hochgesetzte Erwartungen wurden nicht erreicht. Schon zu Beginn des Jahres 1951 veröffentlichten die Kultusminister mehrerer Länder der Bundesrepublik Deutschland, angeregt durch Beschlüsse von Kultusminister-Konferenzen und von Abgeordneten der unseren Staat tragenden Parteien, Erlasse, die sich auf Probleme der Ostkunde bezogen. Es ist überflüssig, hier zu untersuchen, ob der Ausdruck „Ostkunde" oder „deutsche Ost-kunde" glücklich gewählt worden ist. Gefragt wird — und nur das ist erörternswert —: Was ist Ostkunde dem inneren Gehalt nach; von wem wird sie gegenwärtig gefordert, sachgemäß und zeitgerecht behandelt?
Ein Blick auf ihre Entstehungsgeschichte: Nachweislich gingen in den Jahren 1950 und 1951 die Kultusminister in Übereinstimmung mit dem Bundestag und den Länderparlamenten, mit der Bundesregierung und den Länder-B regierungen von dem damals verständlichen Bestreben und den berechtigten Wünschen der Vertriebenen aus, das ostdeutsche Kultur-gut im Unterricht aller Schulen zu berücksichtigen. Ein Beispiel dafür ist der Erlaß des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 28. 3. 1951: „Ich verstehe den Wunsch, daß in den heranwachsenden Vertriebenen die Kenntnis von der verlassenen Heimat erhalten, bei den jüngeren durch die Schule geweckt werden möge... Ich bin daher der Meinung, daß die Schule nach wie vor allen deutschen Kindern die Kenntnis des gesamtdeutschen Raumes zu vermitteln hat;
dazu gehört das Wissen um die ostdeutschen Landschaften, um die Art ihrer Bewohner, um die Leistungen der Kunst und des Geistes, in denen östliche Stämme die gemeinsame deutsche Kultur eigenständig ausgeprägt haben, nicht minder als das durch Lehre und Anschauung erworbene Bewußtsein von der Umwelt, in der das vertriebene Schulkind jetzt [mit dem westdeutschen lebt. Ich will nicht dazu beitragen, daß durch irgendeine Form der Absonderung das Empfinden entsteht, als !
sei der Flüchtling ein Schüler anderer Art als das einheimische Kind."
Gewiß, damals — vor etwa einem Vierteljahr-hundert — erhofften die meisten Westund Ostdeutschen eine baldige Wiedervereini-
gurg des geteilten Deutschland, rechneten Vertriebene und Flüchtlinge mit einer nicht! zu fernen Rückkehr in ihre alten Wohngebiete. Jedoch entwickelte sich binnen weniger Jahre die politische Lage derart, daß Wünsche auf eine deutsche Wiedervereinigung und auf Heimkehr verblaßten. Immerhin: das Gebot, auf die Wiedervereinigung Deutschlands hinzuarbeiten, gilt bis heute. Niemand kann leugnen, daß, gleich jeden Einsichtigen, auch die aus den Vertreibung» gebieten stammenden Frauen und Männer 6 dem selbstverständlichen Bekenntnis zu ihr® I Herkunftsgebieten sich frei von Gefühlen un Absichten hielten und halten, die ihnen " Qa 1 heitswidrig angehängt werden unter e Schlagworten „Revanchismus", „Chauvin I mus", „Nationalismus" und ähnlichen Ausdrücken. Die Charta der Heimatvertriebenen vom 16. 8. 1950 beleuchtet das nicht anfechtbare Ethos ihrer Verfasser. Sie verstehen und würdigen das Bemühen von Politikern, Wissenschaftlern und Pädagogen, in der Bundesrepublik Deutschland selbst ein Geschichtsbewußtsein zu wecken; sie sind sich dessen bewußt, daß eine sachliche Geschichtsschreibung dem eigenen Volk wie den Nachbarvölkern dient. Westdeutsche, Mitteldeutsche und Ostdeutsche haben allgemein am Aus-und Aufbau der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt, also gleichfalls an Gutachten, Erlassen, Richtlinien, Empfehlungen amtlicher Stellen, wie an Entschließungen der Parlamente direkt und indirekt. Der Leistungsbeitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge war erwünscht wegen ihrer genauen Sachkenntnisse. Der Wert eines Staatsbürgers für die Bundesrepublik Deutschland ist nicht zu ermessen aus der geographischen Lage seines Heimatortes, nicht an Konfessions-oder Parteizugehörigkeit, sondern an seinem Einsatz und seiner Leistung für den Staat im Beruf und in freiwillig-freudiger Betätigung für das Zusammenschweißen der Bürger in deren fruchtbarer Wechselwirkung.
Richtunggebend wurden vom Jahre 1956 ab:
1. Das Gutachten des Deutschen Ausschusses I für das Erziehungsund Bildungswesen vom 16. 3. 1956, betitelt „Osteuropa in der deutschen Bildung".
2. Der Beschluß der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder vom 13. /14. 12.
1956, betitelt „Empfehlungen zur Ostkunde".
3-Die auf Grund der in Ziffer 1. und 2. erwähnten Schriften herausgegebenen Erlasse der Kultusminister der Länder.
4 Die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Landesflüchtlingsverwaltungen zu dem Beschluß der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder-, Datum:
29. /3O. 10. 1958 und vom 9. März 1972.
Wer sich und andere über die Probleme der Ostkunde informieren, wer über diese Probleme nachdenken, sprechen und schreiben will, mdet in den eben erwähnten Weisungen za eiche Anregungen. In jenen amtlichen lautbarungen werden aufgehellt: a) Inhalt a Ziel der politischen Bildung; b) die Wege in tieli Ratschläge für die Ostforschung anersitäten, Hochschulen, Kunsthochschu-
lun Museen, Bibliotheken), für die Vermitt-
Kn er Kenntnis der östlichen Sprachen und poittrren. Die Rückschau auf die von den sc en erbrachten Leistungen in Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik soll als eine unerläßliche Grundlage für Ostkunde angesehen werden. Herauszustellen ist aber auch die Zusammenarbeit der Deutschen mit den östlichen Nachbarvölkern, schließlich auch die eigene Leistung der östlichen Staaten. Was die Deutschen und die anderen Völker falsch gemacht haben, soll nicht verschwiegen werden. Aus der Erkenntnis eigener und fremder Schuld reift die Bereitschaft zum Miteinander. Gegenwart und Zukunftsgestaltung bedingen die „Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Denkweise sowie der kommunistischen Praxis", verlangen die Darlegung der „wechselseitigen politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der Sowjetunion und der Ostblockstaaten", andererseits „ihrer nationalen Eigenarten", ferner Kenntnisse über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Lage in den Vertreibungsgebieten und in der Deutschen Demokratischen Republik.
Das Gutachten des Deutschen Ausschusses und die durch ihn inspirierten Richtlinien sind fast 20 Jahre alt. Entwicklungsbedingt werden einige Aussagen — nicht jedoch die grundsätzlichen — hinsichtlich Methodik, Verfahrensweise und Wortwahl jetzt weniger aktuell, vielleicht gar überholt erscheinen. Es ist unangebracht, deswegen das Gutachten und den Grundinhalt der Richtlinien abzuwerten oder gar zu verwerfen, über Modalitäten mag gesprochen werden. Hierzu braucht der Staat den Rat und die Mitsprache der fachkundigen Bürger. Der Staat wird im Urteil der Geschichte nach dem Grad des Vertrauens gemessen werden, das die Bürger ihm entgegengebracht haben — als einzelner oder vermittels Organisationen.
Dem Problem „Ostkunde im Unterricht" widmet sich seit über 21 Jahren die „Bundesarbeitsgemeinschaft für deutsche Ostkunde im Unterricht", fern jeder Polemik, frei von Sentimentalität, erhaben über — auch ihr nicht ersparte — unqualifizierte und abwegige Angriffe Nichtwissender oder böswilliger Widersacher. Sie ist von Lehrkräften gegründet worden, die dem Osten entstammen; sie ist keine Vertriebenenorganisation. In ihr überwiegen die Westdeutschen — 30 Jahre nach dem Kriege junge Lehrkräfte und künftige Pädagogen. In der Bundesarbeitsgemeinschaft und den Landesarbeitsgemeinschaften für Ostkunde im Unterricht arbeiten Pädagogen aller Schularten und Wissenschaftler zusammen. Ihre Tätigkeit besteht sowohl in der eigenen Weiterbildung wie auch in der Weitergabe von Kenntnissen über Osteuropa in der Schule und in der Erwachsenenbildung. Geschichtsunterricht, politische Bildung, Geschichtsbewußtsein befähigen in gleicherweise zu selbstbewußtem Verhalten im Dienste des eigenen Volkes und zur Aufgeschlossenheit für die Leistungen, für das Lebensrecht anderer Völker und Staaten. Ostkunde ist ein organischer Bestandteil der politischen Bildung, ist eine Aufgabe der deutschen Kulturpolitik. Dieser Auftrag ist verankert im § 96 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG). Weitere Grundlagen sind die Präambel des Grundgesetzes, die „Gemeinsame Entschließung des Bundestages vom 17. 5. 1972", die „Presseerklärung der Ständigen Konferenz der Kultusminister vom 26. 6. 1973" und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. 7. 1973.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft und die ihr zugehörigen Landesarbeitsgemeinschaften führen in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland ihre Tätigkeit entsprechend den Richtlinien der Kultusministerkonferenz und der Länderministerien durch.
Hugo Novak, Dr. phil., geb. 1899 in Wormditt; Studium der Geschichte, Geographie, Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Königsberg/Preußen; seit 1924 im Schuldienst; 1955— 1965 Beauftragter des Schulkollegiums beim Regierungspräsidenten in Münster für Ostkunde im Unterricht; Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für Ostkunde im Unterricht in Nordrhein-Westfalen seit 1955-, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft für deutsche Ostkunde im Unterricht seit 1965. Veröffentlichung von Aufsätzen über Geschichte, Ostpolitik und Ostkunde in verschiedenen Zeitschriften und Büchern. Mitarbeiter in wissenschaftlichen und pädagogischen Institutionen.
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