Was in Griechenland im Juli 1974 geschah, ist ohne Vergleich in der Geschichte: Eine Militärdiktatur tritt aus freien Stücken von der politischen Bühne ab und überläßt sie den Demokraten. Nicht ohne Not freilich, da sie auf sämtlichen Gebieten gescheitert war und durch ihren Putsch auf Zypern, gefolgt von der türkischen Invasion, die Nation an den Rand eines aussichtslosen Krieges geführt hatte. Der Wiederaufbau der Demokratie erfolgt in Griechenland unter ungleich günstigeren Bedingungen als in Portugal: Die relativ kurze Dauer der Diktatur (7 Jahre, 3 Monate) hatte die demokratische Substanz nicht aufzuzehren vermocht; im gemeinsamen Widerstand gegen das Militärregime hatten die traditionell zerstrittenen Parteien Notwendigkeit und Nutzen der politischen Kooperation erfahren. Zudem fand sich in Konstantin Karamanlis, der dem Land die längste und stabilste Aufbauphase seiner Nachkriegs-geschichte beschert hatte, der Nothelfer, den die Stunde forderte. Von integrer Autorität und charismatischer Integrationskraft, auch international hoch angesehen, verhalf er seiner neuen liberalkonservativen Partei bei den ersten Parlamentswahlen im November 1974 zu einem überwältigenden Sieg. Schon vorher hatte er durch die Wiederzulassung der (seit 1936 verbotenen) kommunistischen Parteien den alten Konflikt aufgehoben, der das Volk tief gespalten hatte. Eine Volksabstimmung, die sich mit 70 Prozent gegen die Monarchie entschied, legte eine weitere permanente Streitfrage der Innenpolitik zu den Akten. Weniger populär war sein zu sanftes Vorgehen bei der Säuberung jener Militärkreise, die für die Junta verantwortlich gewesen waren; er motivierte es mit der Notwendigkeit der Wiederversöhnung zwischen Volk und Armee, welche die außen-politische Bedrängnis — bis hin zur Kriegsgefahr — erfordere. Noch mehr Opposition erregte Karamanlis durch die Vorlage seiner „gaullistischen" Präsidialverfassung, die, ihm auf den Leib geschneidert, das Verlangen der Griechen nach „reiner" Demokratie unbefriedigt läßt. Nicht weniger zu schaffen macht seiner Regierung die ökonomische Hinterlassenschaft der Junta, die zerrüttete Wirtschaft und die chronische Sozialmisere, verschärft noch durch die Auslandsabhängigkeit des griechischen Marktes, der von der Weltrezession und -Inflation besonders schwer getroffen wird. Vor die härteste Bewährungsprobe aber wird Karamanlis durch die außenpolitischen Probleme gestellt: der Doppelkonflikt mit der Türkei, durch den die NATO-Südostflanke in Frage gestellt wird. Zum einen erhebt Ankara Anspruch auf die Hälfte des ägäischen Meeresbodens, seit dort Erdölbohrungen (vor der Insel Thasos) erfolgreich waren, zum anderen hat die militärische Besitznahme von 40 Prozent des (zu 80 Prozent von Griechen besiedelten) Inselstaates Zypern durch die Türkei die schlafende „Erbfeindschaft" der beiden Völker reaktiviert. Da die USA im letzteren Fall aus geostrategischen Erwägungen mit den türkischen Tnteressen sympathisierten und sie auch lange die Junta gestützt hatten, glaubte sich Athen zum Teilrückzug aus der NATO genötigt. Nicht zuletzt wird der Ausgang dieser beiden Konflikte über das künftige Schicksal der Demokratie in Griechenland entscheiden — und auch über seine Zugehörigkeit zum Westen.
? 150jährige Geschichte des neuen Grienland verzeichnet: zwei Dynastien, sieben nige, sechs Absetzungen oder Abdankuni sowie drei Suspendierungen von Monar-en, sieben Regentschaften; sieben Wechsel er grundsätzliche Änderungen der Verfasng, drei Republiken, sieben Diktaturen (in Anarchie und Republik), fünfzehn Revolution bzw. militärische Staatsstreiche, davon hn mit Erfolg, 155 Regierungen, davon 43 in r Nachkriegszeit; ferner zwölf Kriege oder Idzüge und einen fünfjährigen Bürgerkrieg, anderer Perspektive: zwölf Jahre absolutischer, 114 (mehr oder minder) konstitutiodler und vier Jahre diktatorischer Monarde, zehn Jahre Republik und über zwölf ihre Diktatur. . diese Bilanz der Instabilität schrieb sich iS zweiaktige Junta-Regime (erst unter Georgios Papadopoulos vom 21. April 1967 bis zum 25. November 1973, dann unter Demetrios Joannides bis zum 23. Juli 1974) als die längste, die härteste und (unter letzterem) als die dümmste Diktatur ein: mit sieben Jahren, drei Monaten und zwei Tagen die gründlichste und schmerzhafteste Lehrzeit der Griechen — Lehrzeit für die Demokratie.
Die einzige Chance der Autoritären ist der Selbstmord der Demokraten — so in Portugal, Spanien, Italien, Deutschland und schließlich im Griechenland der sechziger Jahre. Doch dieser Satz gilt auch in der Umkehrung (wofür nur noch Spanien das letzte Beweisstück schuldig bleibt): auch die Diktaturen gehen an sich selber zugrunde, und zwar meist durch Krieg. Ihn freilich schaffte Joannides nicht einmal — er stürzte schon über den Beinahekrieg; weshalb sich sein Untergang nicht in Blut rötete.
Selbstmord der Junta
las Ende des Regimes von Joannides marierte Zypern, bzw.dessen Präsident Erzbi4of Makarios III. — ob als Ursache oder nur ls äußerer Anstoß, darüber läßt sich rechten, o seiner Überheblichkeit blind vor aller Reaität, ermaß Joannides nicht die Folgen seines Kitsches gegen den Inselstaat am 15. Juli 974. Ausgeführt von der griechisch-zypri-chen Nationalgarde unter dem Kommando 'M 650 festlandsgriechischen Offizieren und m konspirativen Bündnis mit der heimischen -OKA II des jüngst verstorbenen Parti-inengenerals Georgios Grivas richtete sich sein Coup nicht allein gegen Makarios, der 4 demokratischer Störfaktor und Kristallisa-tonskern der Athener Opposition dem Obri-stenregime schon zu Zeiten von Papadopoulos schwer zugesetzt hatte. Langfristig zielte der Staatsstreich zweifellos auf die Aufhebung der Inselautonomie durch „enosis", durch den Anschluß Zyperns an das hellenische Mutterland — gegen die bestehenden Verträge, über die Köpfe der inseltürkischen Minderheit und der Türkei hinweg, gegen den Willen selbst der griechisch-zyprischen Mehrheit. Ein Anschlag, dessen kriminelle Torheit in den Annalen der Geschichte ihresgleichen sucht. Denn mit Gewißheit war vorauszusehen, daß Ankara solche Provokation als legalen Vorwand zur militärischen Intervention auf der Insel (am 20. Juli) nutzen würde. Nicht minder präzis ließ sich an den Fingern abzählen, daß in einem Waffengang — sei es auf Zypern, sei es an den ägäischen oder thrakischen Grenzen — Griechenland der dreifachen Heeresmacht (und dem vierfachen Be-völkerungspotential) der Türkei hoffnungslos unterlegen wäre, ganz zu schweigen von ihrem geostrategischen Vorteil: die Insel liegt von der südanatolischen Küste nur 65 km bzw. 3 Flugminuten entfernt, von Athen aber 800 km. Zudem befand sich die griechische Armee in übler Verfassung: an die 2 500 Offiziere, und nicht gerade die schlechtesten, waren den diversen Säuberungen zum Opfer gefallen, Mißtrauen und Furcht hatten sich in ihre Kader eingenistet und den Korpsgeist zersetzt, indessen in den Mannschaften der Haß gegen die Juntaoffiziere schwelte und nur auf die Gelegenheit zur Entladung wartete; auch war das Heer in den vergangenen Jahren mehr auf die polizeiliche Kontrolle des Landes als auf den Kriegsfall gedrillt worden. Schließlich traten bei der Generalmobilmachung noch schwere Mängel in Ausrüstung und Organisation zutage. Unter solchen Umständen stellte die türkische Landung auf Zypern das Athener Regime vor die Kriegsfrage. Joannides optierte für das Losschlagen — und das hieß in den Augen der Generalität: für den Untergang der Nation.
Der Juntachef hatte sein zyprisches Abenteuer im Sologang inszeniert, ohne Befragung der Armeeführung, die sich eben dadurch erst bewußt wurde, mit wem sie sich da eingelassen hatte. Daher entband sie sein selbstherrliches Vorgehen aller Loyalität zu ihm. Und weiterhin sah sich Joannides seines persönlichen Kräfterückhaltes in der Armee beraubt, nachdem die Masse ihrer Einheiten wegen der akuten Kriegsgefahr vom politischen Zentrum Attika weg nach Makedonien und Thrakien geworfen worden war. Damit wechselte der Schwerpunkt der Entscheidungsgewalt von Athen nach Saloniki, aus den Händen von Joannides in die des Generals Davos, des hochangesehenen Kommandeurs des ausschlaggebenden III. Armeekorps. Schon vordem hatt er Joannides mißtraut, und nun gebot Davos auch über die Macht, sich gegen ihn als Sprecher der Armee durchzusetzen. Am 23. Juli, wahrhaft in letzter Minute, erzwang die Generalität die Kaltstellung von Joannides, den Rücktritt seiner Marionettenregierung unter Androutsopoulos und die Berufung eines Zivilkabinetts aus den Reihen der demokratischen Opposition unter Führung von Konstantin Karamanlis.
Wirtschaftlicher Dilettantismus Nicht allein an ihrem zyprischen Desaster und an der außenpolitischen Isolierung (die nur die USA durchbrochen hatten) starb die Junta, und ihren Selbstabbau betrieb sie auch nicht allein an ihrer militärischen Machtbasis. Sie erlitt — gleichfalls selbstverschuldet — auch einen wirtschaftlichen Kollaps. Unter Papadopoulos hatte sich zwar das Regime viel auf seine ökonomische Entwicklungsarbeit zugute getan, applaudiert vor allem von den ausländischen Unternehmern, die in jenen unruhigen Jahren Griechenland zu schätzen wußten als Hort von , law and order', als Eldorado der niedrigen Löhne und des Streik-verbots, und die angesichts der ungewohnten Pünktlichkeit der Züge oder des . handlicheren'Umgangs mit den Behörden nur zu willig ihre Augen verschlossen vor der Diktatur. Mit respektablen Wachstumsraten in der Industrie und der Infrastruktur, mit expansivem Außenhandel und Tourismus, mit der bis Mitte 1972 behaupteten Härte der Drachme gegen den internationalen Währungsverfall sammelte denn auch das Regime Pluspunkte bei einem Teil der heimischen Bevölkerung, der übersah, daß diese Lorbeeren mehr eine Folge der überhitzten Weltkonjunktur waren. Und auch erst später wurde sichtbar: die ökonomische Regimeblüte beruhte auf einer gründlichen Fehlkonstruktion, sie war Fassaden-werk, das der soliden Fundamentierung und der durchgeplanten Architektur entbehrte. Denn dieses Scheingebäude war mit ungedeckten Zukunftswechseln finanziert: in der Juntazeit verdreifachte sich die öffentliche Verschuldung von 31, 5 auf 91 Milliarden, vervierfachte sich die Auslandsschuld sogar von 7, 3 auf 29 Milliarden Drachmen zu überhöhten Bedingungen, da die Diktatur, in Ermangelung fremdstaatlicher Geldgeber, meist auf die teurere Kreditwilligkeit privater Geldinstitute angewiesen war. Die griechische Staatskasse (und der griechische Steuerzahler) hat es heute und morgen auszubaden: die Großspurigkeit der Junta kostet sie fortan jährlich 450 Millionen Dollar an Zinsen und Amortisation. Vor allem aber war ihr kleines „Wirtschaftswunder" durch überaus ungünstige Verträge mit den großen „Multinationalen“ erkauft, oft für Projekte, die nur dem Prestigebedürfnis der Athener Obristen dien ten. Zwar kam es auch zu einer Anhebung der realen Kaufkraft und des Lebensstandards, zur Verbreiterung des Mittelstandes in den großen Städten, doch blieb der Einkommenszuwachs der Arbeiter weit hinter den Gewinnen zurück, die das Großkapital aus seinem profitablen Bündnis der Diktatur mit schöpfte. Da die staatlichen Investitionen vorwiegend in spektakuläre Industrieobjekte flossen, fiel nur wenig für die Landwirtschaft ab; zwar wurden den Bauern die alten Staatsschulden gestrichen, die ohnehin nicht mehr einzutreiben waren, doch mangels staatlicher Förderung stagnierte ihre Produktion — sie partizipierten nur wenig am geborgten Aufschwung.
Kaum drehte sich der Wind der Weltkonjunktur, da platzte der ökonomische Luftballon der Junta. Das Produktionswachstum kam zum Stillstand, die Ausfuhr — vorwiegend Agrarerzeugnisse und mineralische Rohstoffe — vermochte mit dem rapiden Preisanstieg der Einfuhr — meist industrielle Fertiggüter — nicht Schritt zu halten, so daß sich die Schere zwischen den Import-und Exporterträgen noch weiter öffnete, was die Ausweitung des Zahlungsbilanzdefizits und die Anzapfung der Devisenreserven zur Folge hatte. Die Preisoffensive der Olproduzenten traf das energiearme Griechenland noch härter als die meisten anderen Länder, der Tourismus erlitt durch die Zypernkrise schwere Einbußen, indessen die Generalmobilmachung die Industrieerzeugung durch den Entzug der Arbeitskräfte drosselte und ihren Absatz schmälerte.
All diese Faktoren machten in ihrer fatalen Bündelung die Verteidigung der Drachme schlagartig zunichte. Die Inflation, jahrelang durch dirigistische Dämme künstlich zurück-gestaut, überflutete nun mit vervielfachter Wucht die griechische Volkswirtschaft, die sich 1973 mit einer Steigerung der Lebenshaltungskosten um über 30 °/o an die Spitze des internationalen Währungsverfalls setzte. Das Regime, längst gemieden von der Fachkompetenz und zur Füllung seines Kabinetts auf die zweite und dritte Garnitur angewiesen, reagierte mit totaler Hilflosigkeit; im Bewußtsein seiner Abhängigkeit von den USA löste es nicht einmal die Drachme vom Dollar ab, mit dessen Kursabstieg daher die importlastige Wirtschaft noch tiefer in die roten Zahlen geriet. Hatte sich die Junta in der ersten Phase mit ihrer materiellen Entwicklungsleistung den Rock der Rechtfertigung umgehängt, so sah sie sich nun auch dieser Existenzbegründung entkleidet. Angesichts des ökonomischen Fiaskos schaltete daher Papadopoulos vorsichtig auf einen Demokratisierungskurs um. Durch das Referendum vom 29. Juli 1973 (dem am 1. Juni die Absetzung des emigrierten Königs und die Ausrufung der Republik vorangegangen war) etablierte er eine neue Verfassung, mit der er das Volk und die bis dahin verfolgten alten Parteien auf Versöhnung und Mitarbeit einzustimmen hoffte. Da er aber mit ihr allzu durchsichtig die Fortsetzung seiner Diktatur mit anderen (scheinparlamentarischen) Mitteln ansteuerte, fand seine Konstruktion eines überzogenen Präsidialregimes, das ihm das Machtmonopol auf weitere acht Jahre sichern sollte, nicht die erwünschte Gegenliebe. Mit einer Ausnahme: der ehrgeizige Altpolitiker Spiros Markezinis, als Vater der Währungsreform von 1953 im Ruf eines hellenischen „Erhard“, gab sich mit Männern seiner rechtsliberalen Zwergpartei am 4. Oktober 1973 zur Bildung einer Zivilregierung her in der Meinung, daß die Rückkehr zur Demokratie nur in kleinen Schritten vollziehbar sei. Doch bevor sein Kabinett auf volle Arbeitstouren kam, wurde es mitsamt dem Diktator Papadopoulos am 25. November 1973 durch den Staatsstreich von Joannides hinweggefegt, ausgelöst von der blutig erstickten Studentenrevolte (16. bis 18. November) an der Technischen Hochschule Athen, die der putschende Chef der Militärpolizei auf das Versagen und den Verrat seines Vorgängers zurückführte. Es fehlte Joannides nicht an Gefolgschaft: Die Offiziere, die Papadopoulos einst zur Macht, aber nicht zur Alleinherrschaft verholten und inzwischen am Regierungsgeschäft Geschmack gefunden hatten, verziehen es ihrem Chef nicht, daß er sie nun, unter Bruch der Junta-Solidarität, aus der politischen Führung ausbootete, um den „bankrotten Kräften der Vergangenheit" zum Comeback zu verhelfen. So hatte sich Papadopoulos zwischen sämtliche Stühle gesetzt: er hatte die Armee verloren, ohne die Demokraten zu gewinnen. Die Diktatur frißt ihre Kinder Joannides hatte nichts anderes im Sinn, als die Zeitschraube wieder zurückzudrehen zum 21. April 1967, um die „Reinheit" der soge-nannten Revolution wiederherzustellen. Das Wort „Reinheit“ begründete sich im Munde des neuen Juntachefs „moralisch". Denn Papadopoulos, ausgezogen gegen die „Augiasställe" der Demokratie, hatte die Selbstrechtfertigung seiner Diktatur als sittliche Alternative zum parlamentarischen System längst verwirkt. Damit hatte es freilich vom Anfang an gehapert. Zwar verhielt sich das Regime in seinen ersten Jahren leidlich immun gegen Korruption, doch fragte es sich schon damals, ob nicht in ihre Rubrik einzuordnen sei die Privilegierung der Offizierskameraden mittels billigster Kredite beim Hausbau, durch zollfreien Autoimport und anderes mehr. Auch blühten von den ersten Juntatagen an Denunziantentum und Nepotismus. Deren Vorteile entdeckten schließlich auch die Obristen, und zwar nicht nur durch die schnellste Selbstbeförderung auf der militärischen Rangleiter. Nicht wenige ließen sich von privaten Interessenten ihre Vermittlungsbemühungen bei den eingeschüchterten Behörden vergolden, andere gründeten mit öffentlichen Geldern Unternehmen aller Größenordnungen oder ließen sich lukrative Posten in der Wirtschaft und den Staatsbetrieben zuschanzen. Schließlich übertraf die Korruption des Juntasystems noch die entsprechenden . Leistungen'der von ihr verfemten Demokratie; so gesellte sich zum Haß die Verachtung.
Ein Stichwort noch zu den Personae dramatis: Wenn schon Papadopoulos den Verfallsprozeß der Junta nicht aufzuhalten vermochte, wie dann der ihm an Intelligenz, Augenmaß, taktischer Schläue und geschickter Menschenführung weit unterlegene Puritaner Joannides, der als Politiker nie aus seinen Polizeistiefeln herauswuchs! Eines freilich hatte der „unsichtbare Diktator", der nie ein politisches Amt annahm und sich mit der Macht im Hintergrund beschied, seinem Vorgänger voraus: er schwieg (kaum aus besserer Einsicht, vielmehr aus fast schon pathologischer Scheu vor Licht und Öffentlichkeit), indessen der eitle Papadopoulos sich keine Gelegenheit entgehen ließ, seine Ignoranz vor großem Publikum zur Schau zu stellen. An das fatale Format der Salazar, Franco, Mussolini reichte keiner der beiden heran.
Der Selbstabbau hätte vielleicht nicht zum Exitus letalis der Junta geführt, hätte ihr der nach der anfänglichen Lähmung wiedererwachte Hunger nach Demokratie, die zunehmende Renitenz des Volkes nicht auch noch zugesetzt. Gewiß, zu explosivem Massenwiderstand kam es selten, wie beim Begräbnis von Georgios Papandreou oder bei der Revolte der Athener TH-Studenten und der Bauarbeiter. Auch wußte die im Geheimdienst perfekt geschulte Regimeführung mittels eines dichtmaschigen Spitzelnetzes und durch prophylaktische Gefängnishaft den Spielraum für effektive Konspiration und individuelle Aktionen erheblich einzuengen. Hingegen besaß die Junta kein Rezept gegen die passive Resistenz der Facheliten und der Massen, gegen die die Polizeiknüppel nichts vermochten — für dergleichen Praktiken hatten die Griechen in ihrer leidgeprüften Geschichte reiche Erfahrung gesammelt.
Schließlich, aber nicht zuletzt, bedurfte es des geeigneten Brückenbauers für den Übergang. Da die Generale aus eigenem Willensentscheid, wenn auch unter dem Gebot der Notwendigkeit, die Macht aus den Händen gaben, wollten sie sicher gehen, daß die Nation nicht die Scylla der Diktatur mit der Charybdis der Anarchie vertausche. Der Garant dafür war da — in der Person von Konstantin Karamanlis.
Nothelfer Karamanlis
Wenn vor dem Scherbenhaufen, den der Amoklauf der Junta hinterlassen hatte, einem die Rolle des Nothelfers zuzutrauen war, so allein ihm — darin waren sich zur entscheidenden Stunde die Hellenen aller Couleur einig, von den Royalisten auf der Rechten bis weit links zu den Kommunisten. Und eben auch die zurücktretenden Militärs sprachen ihm die Fähigkeit zu, den von ihnen verfahrenen Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Den Ruf des „starken Mannes" trägt Karamanlis nicht von ungefähr. Volle acht Jahre hatte er sich von 1955 bis 1963 in der Ministerpräsidentschaft behauptet — ein Rekord in der 150jährigen Geschichte des neugriechischen Staates und die stabilste Phase seiner labilen Demokratie. Von Haus aus konservativ, befähigte ihn sein technokratischer Pragmatismus, der Infrastruktur und der Industrialisierung des Landes die Fundamente zu legen — alle Regierungen nach ihm, einschließlich der Diktatur, füllten nur den Rahmen aus, den er damals gesetzt hatte. Auch seine außenpolitische Bilanz konnte sich sehen lassen: in enger Kooperation mit den USA integrierte er die griechische Armee in die NATO, handelte 1959 mit Großbritannien und der Türkei den Londoner Vertrag über Zypern aus, der immerhin anderthalb Jahrzehnte hielt, und 1961 assoziierte er sein Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Von nüchterner Sachlichkeit und zielstrebiger Energie, entbehrt Karamanlis des rhetorischen Pathos, der glanzvollen Selbstinszenierung und der Lust an der Intrige — all jener Eigen-schäften, die traditionsgemäß den griechischen Berufspolitiker ausmachen. Er erschien auf der Athener Bühne fast als Fremdkörper; sie mokierte sich über den „Barbaren", entstammte er doch als erster griechischer Regierungschef, später Nachfahr Philipps und des großen Alexander, dem nördlichen Makedonentum, auf das die „altgriechische" Snobiety wegen seiner rauheren Umgangsformen und gezielten Direktheit wie eh und je herabzublicken beliebt — wiewohl es ihm einräumt, daß es dem Lande die tüchtigsten Arbeitskräfte beisteuert. Mit seiner harten Hand verdarb es sich Karamanlis, obschon Führer der royalistischen Partei, schließlich auch mit dem Monarchenpaar, vor allem mit der eigenwilligen Königin Friederike, was nicht wenig 1963 zu seinem Sturz beitrug, ihm vom Volk aber als Manifestation von „Charakter" quittiert wurde — von diesem Volk, das ihn, den „hellenischen Adenauer", in jenen Jahren zum autoritären Buhmann stempelte. Heute, nach der siebenjährigen Erfahrung, weiß es ihn als „starken Mann" zu schätzen, nachdrücklich belehrt, daß auch die Demokratie zu ihrer Selbstbehauptung der klaren Führung bedarf.
Katharsis auch der Demokratie Karamanlis müßte in Personalunion das schlaue Geschick des Odysseus und Herakles'Kraft aufbringen, um den Aufgaben — und Hoffnungen — gerecht zu werden, die an seine Heimkehr geknüpft werden. Zunächst geht es um den Wiederaufbau der Demokratie, der in Griechenland nach der siebenjährigen Diktatur leichter zu bewerkstelligen sein sollte als in Portugal, wo in der 50jährigen autoritären Trockenperiode die demokratischen Wurzeln fast verdorrt sind und kaum noch Tradition in das neue Gebäude einzubringen ist; ferner verfügt das iberische Land über keine politische Figur von der Integrationskraft Karamanlis’. Allerdings ermangelt das überkommene Demokratie-Verständnis des Griechen auch nicht der Problematik. Er hatte es in der Vergangenheit fast nur mit einer Feudaldemokratie zu tun, mit der Alibi-fassade für ein System konkurrierender Oligarchien, das stets wieder — in der zur Selbstzerfleischung übersteigerten Rivalität — der Diktatur den Boden ebnete. Das Parlament diente ihr als Schlachtfeld, darüber die Monarchie, die, gestützt auf die Armee, meist als eigensüchtiger Schiedsrichter amtete. Die Parteien — ohne Programm, ohne Organisation, ohne Mitglieder — erschöpften sich im Klan-und Klientelverhältnis, sie waren patriarchalische Familienfinnen, autoritär von oben geführt, kaum mehr als Transformatoren des persönlichen Ehrgeizes, des Geschäftes und der Lokalinteressen, in Gang gehalten durch das Schmieröl der Korruption und des Nepotismus. Daher denn der Hellene „Freiheit" eher als anarchisches denn als demokratisches Gut verstand.
Das innenpolitische Klientelverhältnis verlängerte sich zudem in die außenpolitische Dimension hinein. Als Knotenpunkt der militär-und handelsstrategischen Verkehrslinien im Mittelmeer stand das kleine schwache Land stets in der Abhängigkeit von Großmächten — während des 19. Jahrhunderts im Wechselspiel von England, Frankreich und Rußland, bis schließlich die USA mit der Verkündung der Truman-Doktrin (März 1947) ihr Erbe antraten. Die politische Außenlenkung Griechenlands bediente sich vor allem finanzieller und ökonomischer Steuerungsmittel, mit dem Ergebnis, daß auch die griechische Wirtschaft vom Verbundsystem eines national-internationalen Klientelverhältnisses geprägt wurde. Das magere Fundament des Landes, kaum ausgestattet mit Rohstoffen und Energiereserven, ließ keine ausreichende Kapitalakkumulation zu; das Wenige, das sich in heimischer Hand sammelte, kam aus Handel und Seefahrt und floß wieder in sie zurück. Und da die Exporte nie die Importe deckten, mußte und muß das Handelsdefizit vom Tourismus, von den Überweisungen der zahlreichen Zeit-und Daueremigranten, der Handelsschiffahrt sowie von der Kapitaleinfuhr ausgeglichen werden — letztere kam maßgeblich für die Industrialisierung auf. So ist denn von einem „Parakapitalismus" Griechenlands zu reden, von einem Kapitalismus mit fremden Federn, der keine Klassenstruktur hervorbrachte, kein Industrieproletariat und erst embryonal eine bügerliche Mittelschicht Immerhin hat die Junta mit ihrem massiven Industrialisierungsprogramm und mit der politischen Zerreissung der alten Klansnetze die verkrustete Gesellschaftsstruktur aufgeweicht. Solche Schwächung des überkommenen Klientelgeflechts rechtfertigt die Hoffnung, daß der Neubeginn auch einer realeren Demokratie zum Durchbruch verhilft. Voraussetzung dafür ist freilich eine fortschreitende Entflechtung Griechenlands aus seiner politischen und wirtschaftlichen Außenbestimmtheit — dessen sind sich sämtliche Parteien bewußt; ungleich mehr Energie als früher investieren sie daher nun auch in die Basisarbeit, in die organisatorische Expansion über das ganze Land und in programmatische Entwürfe. Jedenfalls empfiehlt sich das hellenische Schlagwort des Tages, die „Katharsis“, die „Säuberung", nicht allein zur Bewältigung der Junta-Vergangenheit — die Demokratie gestrigen Stils bedarf ihrer nicht weniger.
Problematische Armee Noch mehr belastet den demokratischen Wiederaufbau das problematische Verhältnis des Staates zur Armee, immer noch die stärkste Macht im Lande. Sie hat sich stets als „geschlossene" Gesellschaft begriffen, als Staat im Staate zum Hüter über die Nation berufen. Ihr Desaster im Junta-Intermezzo bekehrte sie zwar zu mehr Selbstbescheidung, zur Respektierung des Primats der zivilen Regierung; doch ihr Selbstbewußtsein fordert vom Staat Loyalität auf Gegenseitigkeit, und darunter versteht sie, daß ihr selber das Geschäft der. Säuberung in den eigenen Reihen überlassen bleibt — 'nicht zuletzt, weil sie ja die politische Macht freiwillig in die zivilen Hände gelegt hatte. Offenbar war es auch zu einer entsprechenden stillen Vereinbarung zwischen der Generalität und Karamanlis bei dessen Rückkehr gekommen. Von der Selbstreinigung machte die Heeresführung indessen nur wenig Gebrauch. Sie fiel ihr schwer, da sie ja durch Duldung und Förderung für die Junta mitverantwortlich war; auch hemmte sie der soldatische Ehrenkodex, über „Kameraden den Stab zu brechen. Weiterhin hielten die Generäle ein behutsames Vorgehen gegenüber der nicht abzuschätzenden Gefolgschaft der „Unverbesserlichen" in den mittleren Rängen für geraten, waren doch sieben Offiziersjahrgänge (etwa 2 000 Fähnriche) unter dem autoritären Regime aufgewachsen und mit der Abscheu vor der Demokratie infiziert worden; angesichts der kritischen inneren und äußeren Situation der Nation erschien ihre Ausstoßung nicht opportun, ihre „Heilung“ aber erforderte Zeit.
Dem Staatsmann Karamanlis empfahlen sich noch andere Gründe zur Schonung des Militärs. Ein Volk muß mit seiner Armee leben. Die von der Diktatur zwischen ihnen aufgerissene Kluft zu schließen, erschien dem Regierungschef um so dringlicher, als das Land seit 1973 unter akuter Kriegsgefahr steht, nicht nur Zyperns wegen. Sollte die Türkei ihre Drohung wahrmachen, ihre Ansprüche auf die ägäischen Erdöllager gleichfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen, dann bliebe Griechenland nur der Kampf. In dieser prekären Lage mußte alles vermieden werden, was noch zusätzliche Unruhe und Spannung in die Truppe hineintragen konnte, ganz zu schweigen von der Notwendigkeit, ihre ramponierte Schlagkraft wiederherzustellen.
So suchte denn Verteidigungsminister Aver-off die Streitkräfte von den Politikern abzuschirmen. Während die Säuberung in Staat, Verwaltung und Gemeinden, in den öffentlichen Betrieben und Hochschulen von oben bis zu den mittleren Instanzen vorangetrieben wurde blieben die hauptschuldigen Militärs, einschließlich der namhaft gemachten Folterer, lange Zeit fast völlig ungeschoren. Doch die öffentliche Meinung fand sich nicht damit ab, daß die Kleinen büßen, die Großen aber davonkommen sollten. Vor dem wachsenden Volkszorn trat daher Karamanlis, sicheren Gespürs für die Grenze des Zumutbaren in der Konfrontation mit der öffentlichen Meinung, einen Teilrückzug an: Er ließ an die 100 Rädelsführer der Junta (einschließlich Papadopoulos, Pattakos, Makarezos, Ladas, Rou-
fogalis und schließlich auch Joannides) unter Anklage des Hochverrats inhaftieren; im Kompromiß mit seiner bisherigen „Politik des Ausgleichs" sparte er jedoch weiterhin die Mehrheit der Belasteten, darunter nicht wenige Schwerbelastete, von seiner Rechenschaftsaktion aus.
Gleichwohl fühlten sich gerade diese Zirkel von Karamanlis hintergangen; sie sahen in seiner „Salamitaktik" eine Umgehung des Stillhalteabkommens, das er bei der Machtübernahme mit der Armee eingegangen war. Auch schien es ihnen nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie an die Reihe kommen würden, zumal die Verlegung ihrer Anhängerschaft an die thrakische Grenze, und das hieß ihre Zerstreuung und Entfernung vom at-tischen Entscheidungszentrum, bevorstand. Zu den „alten Kämpfern" gesellten sich noch etliche Chauvinisten, denen Karamanlis'Kriegsabstinenz im Zypernkonflikt wie überhaupt seine Zurückhaltung gegenüber den türkischen Expansionsgelüsten zu „lasch" erschien; und schließlich trieb ihnen die Abschaffung der Monarchie noch etliche Royalisten zu — eine Gruppe von insgesamt etwa 250 Offizieren, die wieder einmal die Stunde für gekommen hielten, von den alten Brutstätten der Junta aus das Vaterland retten zu müssen — wozu als erstes die Befreiung der inhaftierten Ex-Juntaführer zählen sollte.
Doch die Zeiten hatten sich geändert: diesmal ließ sich die Armee nicht von den Konspiratoren überrumpeln. Auf ihre Kontaktversuche reagierten Marine und Luftwaffe, traditionell in Rivalität zum Heer und weit weniger für Staatsstreiche anfällig, mit „Verrat", und auch das Oberkommando der Streitkräfte leistete der Zivilregierung die schuldige Loyalität. So konnte der Putsch am 24. Februar 1975 schon im Keim erstickt werden. Eindeutiger Nutznießer des mißlungenen Coups war Karamanlis, der durch ihn aus seinem Abkommen mit dem Oberkommando entlassen war; damit erst sah er sich in seiner zivilen Autorität vor den Streitkräften und dem Volk voll bestätigt und konnte nun ungehindert die letzten Nester der Junta ausräuchern — an die 250 Offi-* ziere wurden aus der Armee entlassen, darunter 75 Generale Erst seither ist die zarte Pflanze der neuen griechischen De-mokratie gegen Eingriffe seitens der Armee leidlich gefestigt — zumindest so lange, wie Karamanlis am Ruder bleibt.
Der türkische Anspruch auf die Ägäis
Es gibt kein ungünstigeres Klima für den Aufbau einer Demokratie als ein außenpolitisches Dauertief, das die nationalen Emotionen auf Siedehitze bringt. Die türkische Vergewaltigung Zyperns — hellenisches Epizentrum seit 3 500 Jahren — hat das Nervensystem Griechenlands schwer verletzt; sein Herz aber wäre getroffen, sollte Ankara seine Drohung wahrmachen, sich der halben Ägäis manu militari zu bemächtigen — wodurch Griechenland auch die neu entdeckten unterseeischen Ölquellen verlorengingen.
Es scheint manchmal noch schwieriger, mit als ohne öl zu leben. Diese Erfahrung machen die Griechen, nachdem die in ihrem Auftrag bohrende amerikanische Firmengruppe Oceanic 1973 vor der nordägäischen Insel Thasos fündig wurde. Nach den derzeitigen Feststellungen sollen die Funde einen Jahresertrag von rund 1 Million Tonnen Erdöl einbringen. Sie haben an beiden Küsten der Ägäis eine heftige Euphorie ausgelöst, scheinen sie doch erstmals eine alte Hypothese zu bekräftigen, derzufolge sich ein riesiges Erdölfeld unter dem Meeresboden von Rumänien bis Libyen erstrecke. Das ließ den türkischen Nachbarn nicht ruhen: das Glück so nah vor Augen und doch außerhalb der Armweite — da entdeckte Ankara plötzlich, daß die Ägäis doch ein griechisch-türkisches Meer sei, und also gebühre die Ausbeutung seiner Bodenschätze den beiden Anrainerstaaten gemeinsam bzw. zu gleichen Teilen. Athen ist anderer Meinung. Seine insgesamt 3 000 Inseln machen die Ägäis zum Hoheitsgebiet Griechenlands — was die Türkei im Vertrag von Lausanne 1923 akzeptiert und seither nie in Zweifel gezogen hatte; auch enthielt sie sich jeglichen Protestes gegen das seit 1952 gültige NATO-Reglement, das die Ägäis dem griechischen Seekommando unterstellte.
Den Juristen bereitet die Beantwortung dieser Streitfrage einige Kopfschmerzen, seit das internationale Seerecht in Bewegung geraten ist — die große Konferenz von Caracas im Vorjahr ist eine Fixierung schuldig geblieben, die auch von ihrer Wiederaufnahme in Genf (17. März) kaum zu erwarten ist Unumstritten (auch von der Türkei) ist die Sechsmeilenzone der Territorialgewässer, in denen der Küstenstaat sämtliche Hoheits-und Nutzungsrechte ausübt; inzwischen haben sie aber zahlreiche Staaten auf zwölf Seemeilen verdoppelt. Auch Griechenland strebt eine derartige Erweiterung an, stößt aber auf den Widerstand der Türkei, die sich dadurch in ihrer Bewegungsfreiheit zur See noch mehr eingeengt sähe; ihrem Protest assistiert übrigens die Sowjetunion, deren III. Eskadra westlich der griechischen Insel Kythera (unweit des NATO-und USA-Stützpunktes in der Suda-Bucht im Nordwesten Kretas) außerhalb der Sechs-aber innerhalb der Zwölfmeilenzone ständig zu ankern pflegt. Durch die Ausdehnung der griechischen Territorialgewässer verlöre Moskau nicht allein seine maritime Semi-Basis vor Kythera, die griechisehe Verlängerung des türkischen Meerengen-Korsetts in die Ägäis hinein würde den sowjetischen Spielraum im östlichen Mittelmeer erheblich einschränken. In der Abwehr dieser „Gefahr" treffen sich die Sowjets mit den Türken, und da sie auch bei der Passage der Meerengen von deren gutem Willen abhängen, legen sie sich nicht ernsthaft mit ihnen wegen Zyperns an, wo ihre Interessenlage mit der griechischen übereinstimmt. Ferner hatte sich Ankara um die Sowjetunion im Yom Kippur-Krieg verdient gemacht, da es ihr das Uberflie-jungsrecht zugestand, das es dem amerikani-ichen Bundesgenossen verwehrte — dergleihen könntte sich ja wiederholen. Vor allem iber enthält sich Moskau jeglichem Offensiviruckes gegenüber der Türkei, um nicht den Verfallprozeß an der NATO-Südostflanke aufzuhalten oder gar umzukehren.
Seit die unterseeischen Böden wirtschaftlich nutzbar wurden, haben sich die Küstenstaaten — die USA gingen 1945 mit schlechtem Beispiel voran — die ökonomische Ausbeutung der Schätze in und unter dem Meer weit über die Territorialgewässer hinaus zugeschlagen. Diese stillen Eroberungen per einseitiger Dekrete hat die Genfer Seekonvention 1958 nachträglich (und vorsorglich) legalisiert. Die Ausweitung des maritimen Bodeneigentums orientiert sich nun vertikal am „Festlandssokkel", den die 200 Meter-Tiefenlinie begrenzt, und/oder horizontal an einem Breitensaum von 200 Meilen seewärts (wovon u. a. die lateinamerikanischen Küstenstaaten Gebrauch machen). Der Anspruch auf solche „Wirtschaftszonen“ im Vorfeld tangiert übrigens nicht das alte Recht auf freie Seefahrt. Überlappen sich benachbarte Festlandssockel, so sind sie, gemäß Genf, nach dem Prinzip der „Äquidistanz" auseinander zu dividieren, d. h. entlang der Mittellinie zwischen den konkurrierenden Küsten. Mit ihm begründen nun die Türken ihren Anspruch auf die halbe Ägäis; zu seiner Rechtfertigung muß Ankara allerdings den Begriff „Continental shelf" dem Festland Vorbehalten und seine Anwendung auf die Inseln ex cathedra für rechtsungültig erklären — es verheddert sich dabei freilich in seiner Argumentation, da es — nicht eben folgerichtig — die „Territorialgewässer" der Inseln nicht in Frage stellt. Vor allem aber steht die türkische Interpretation im Widerspruch zur internationalen Theorie und Praxis, die den Kontinentalsockel gleicherweise und in unterschiedsloser Rechtsverbindlichkeit sowohl dem Festland wie „der" Insel zugesteht. Man stelle sich nur vor, welcher Konfliktstoff sich anhäufen würde, wenn die türkische Auslegung Schule machte. Doch diese Realitäten nimmt die Türkei nicht zur Kenntnis; außerdem hält sie sich nicht durch Genf gebunden, da sie die Seekonvention zwar unterzeichnet, nicht aber — im Gegensatz zu Griechenland — ratifiziert hat.
Der ungünstigen Rechtslage seines Landes bewußt, hatte sich daher Ministerpräsident Ecevit der juristischen Beilegung des Ägäisstreites widersetzt; statt dessen gedachte er ihn politisch, in bilateralen Verhandlungen, aus-zutragen, worauf sich wiederum Athen wegen seiner schwächeren Machtposition nicht einlassen wollte. Doch seine Nachfolger in Ankara, Sadi Irmak und Süleyman Demirel, akzeptierten den Vorschlag von Karamanlis, die Lösung des Konfliktes dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag anzuvertrauen. Ob aber ein Prozeß dort, der Jahre erfordert, die Kriegsverhütung garantiert, ist ungewiß. Sollte das Haager Verfahren einen der Türkei nicht genehmen Verlauf einschlagen, könnte sie sich seinem Urteilsspruch unschwer entziehen: Sie hat zwar seine Gerichtsbarkeit 1947 anerkannt, doch immer nur auf fünf Jahre; da sie aber 1974 — auf dem ersten Höhepunkt des ägäischen Konfliktes — die fällige Verlängerung nicht mehr vornahm, ist ihre Bindung an Den Haag formaljuristisch in ihr Belieben gestellt. Weiterhin hatte Irmak sein Eingehen auf den Rechtsweg durch die Ankündigung relativiert, trotz des bevorstehenden Prozesses und während seines Ablaufs in den umstrittenen Seegebieten (westlich der griechischen Inseln) Olsuche unter militärischem Geleitschutz vornehmen zu lassen. Dazu wäre es wohl schon längst gekommen, verfügte die Türkei nur über die erforderlichen Forschungsschiffe.
Der Sieg auf Zypern heizte den Nationalismus der Türken weiter an und im Bewußtsein der größeren Zahl an Waffen und Menschen geben sie sich — zu Unrecht — der Vorstellung hin, so wenig wie dort würden ihnen die Griechen in der Ägäis ernsthaft widerstehen. Vor allem aber — was der Westen kaum wahrnahm, wohl aber der Nachbar: Während der letzten Jahre vollzog sich ein tiefgreifender Klimawechsel in der türkischen Volks-und Staatsmentalität, der sie einem militanten Expansionismus zutreibt — vom europäisch-orientierten, rationalistischen Kemalismus zurück zum islamischen Traditionalismus zur ideologischen Refixierung an das osmanische Imperium, ja hinter ihm zurück an Attilas Hunnenreich, das in kühner Geschichtsklitterung der nationalen Ahnenschaft einverleibt wird. Bei solch heftiger Hinwendung zu Allah und seinem Propheten konnte es nicht ausbleiben, daß die arabischen Brüder im Glauben — voran Libyen, aber auch der Irak und Saudi-Arabien — die Heimkehr des verlorenen Sohnes, der sich im Westen verirrt hatte, mit Krediten, verbilligtem Erdöl und Waffen vergolden. Doch auch ihre Reichtümer können der chronischen Wirtschaftsmisere der Türkei und ihrem sozialen Elend nicht steuern, wohl aber ihren Ehrgeiz ermuntern, Waffen aus aller Welt zu kaufen und eine nationale Rüstungsindustrie aufzubauen — Verteidigungsminister General Sancar träumt sogar von der eigenen Atombombe dies alles unter dem rauschenden Beifall der notleidenden Volksmassen.
Schließlich weiß die Türkei von der außerordentlichen Gunst ihrer geostrategischen Lage exzessiven Gebrauch zu machen. Da die „Entspannung" ihre alte Angst vor dem russischen Erbfeind — bis auf weiteres — fast zum Verstummen brachte, hält sie es kaum noch geboten, ihre nationalen Aspirationen den Kollektivbedürfnissen der westlichen Allianz einzuordnen und weiterhin Partnerloyalität zu üben. Unter der Entschärfung im West-Ost-Verhältnis litt hingegen nicht das Bewußtsein der Türkei von ihrer Unentbehrlichkeit, die ihr die NATO aufgrund ihrer Sperriegelfunktion gegenüber der sowjetischen Großmacht und ihres ansehnlichen Truppen-und Bevölkerungspotentials zuerkennt. So baute die Türkei darauf, daß die Westmächte im Konfliktsfall für die türkische Gewalt und gegen das griechische Recht, und sei es nur in duldender Passivität, optieren würden — sie hat sich auf Zypern nicht verrechnet. Auch der UNO-Sicherheitsrat enttäuschte die türkischen Erwartungen nicht — er reagierte auf die zyprische Tragödie mit der gewohnten Halbherzigkeit.
Distanzierung von der NATO
Ganz ungerupft kam die Türkei nicht davon: ihre Vertragsbrüchige Verwendung amerikanischer Waffen bei dem Überfall auf Zypern beantwortete der Washingtoner Kongreß mit der Verhängung eines Waffenembargos zum 5. Februar 1975. Gegen den heftigen Protest übrigens von Präsident Ford und Außenminister Kissinger, die davon den weiteren Zerfall der NATO-Flanke und die zusätzliche Verhärtung des Zypern-Streites befürchteten. Und so kam es denn auch: Ankara, in seinem Stolz getroffen, „bestrafte" die Amerikaner mit der Schließung mehrerer ihrer Beobaditungsstationen und Stützpunkte sowie mit der Ausrufung eines autonomen Teilstaates auf Zypern. Es kündigte jedoch nicht seine Mitgliedschaft in der NATO, wohl in der berechtigten Hoff-nung, von den europäischen Alliierten die amerikanischen Ausfälle in den Waffenlieferungen ersetzt zu bekommen. So nahm auch die Bundesrepublik ihre Lieferungen an die Türkei, die sie wegen der Zypern-Invasion abgebrochen hatte, im bisherigen Umfang von 60 Mio. DM jährlich wieder auf; desgleichen im selben Maßstab die Rüstungsbelieferung Griechenlands, die sie 1968 eingestellt hatte. Solcher Ersatz kann freilich kaum den Bedürfnissen der türkischen Armee, deren Ausrüstung fast völlig amerikanischer Provenienz ist, weder qualitativ noch quantitativ gerecht werden; vor allem hat die Luftwaffe unter dem Ausbleiben der Ersatzteile gelitten — mit dem Ergebnis, daß sich die Griechen in der Ägäis ein wenig sicherer fühlten. Das änderte sich wiederum am 26. März, als der US-Senat unter dem Eindruck der schweren Schläge, welche die amerikanische Politik in Portugal, Indochina und im Nahen Osten erlitt, der türkischen Erpressung nachgab und die Aufhebung des Embargos einleitete. Die türkische Priorität innerhalb des Bündnisses rechtfertigt nicht die Aneignung von Land und Leuten des verbündeten Nachbarn. Der Vorgang ist erst-und einmalig in der Geschichte der Militärallianzen. Daher macht es sich die westliche Presse allzu leicht, wenn sie den Austritt Griechenlands aus der Militärorganisation der NATO als irrationalen Akt der Emotion abtut. Gewiß, die NATO versteht sich als Verteidigungsbündnis gegen Angriffe von außen — was aber taugt sie, wenn sie die Vergewaltigung des einen Partners durch den anderen, stärkeren, nicht zu verhindern vermag? Die Glaubwürdigkeit eines Bündnisses aufgrund einer derartigen Selbstverstümmelung in Frage zu stellen, läßt sich nicht als unrealistisch und irrational ab-qualifizieren. Der Westen gibt sich auch einer Fehlspekulation hin, wenn er die Abkehr Griechenlands nicht ernst oder nur als taktischen Schachzug nimmt, etwa weil es sein Ausscheren in kleinen Raten vollzieht. Es ist ferner nicht aufzuhalten mit der — bereits ausgesprochenen — Drohung, daß mit dem Austritt die automatische Beistandspflicht der NATO für Griechenland erlöschen würde. Athen dürfte sich kaum in der Annahme täuschen, daß die Westmächte aus elementarer Selbsterhaltung Griechenland auch künftig im Falle einer Aggression aus dem Osten (die es in absehbarer Zeit nicht zu befürchten hat)
verteidigen müßten. Es braucht ferner nicht mit einem Versiegen des Rüstungsnachschubes zu rechnen, die europäischen Waffenhändler reichen einander die Athener Türklinken in die Hände. Wenn Karamanlis das Band dennoch nicht völlig durchschnitt, so aus defensiver Vorsorge gegenüber der Türkei — ist doch nicht auszuschließen, daß diese auch in der Ägäis mit militärischer Gewalt zu nehmen versuchen wird, was ihr rechtens nicht zusteht. Sollten dann Europa, die NATO und die USA Griechenland abermals im Stich lassen, dann freilich wäre es mit seiner westlichen Zugehörigkeit endgültig vorbei. Der Westen wäre daher gut beraten, nähme er zur Kenntnis, daß den Griechen die unmittelbare türkische Gefahr mehr auf der Haut brennt als die ferne Drohung aus den russischen Steppen. Eine allzu lange Geschichtserfahrung läßt es ihnen zudem schrecklicher erscheinen, unter dem türkischen Halbmond zu leben als unter Hammer und Sichel.
Die „Sünden* Kissingers Die griechische Klage ist vor allem an Washington adressiert. Sollte der CIA auch nicht seine Hand beim Putsch von Papadopoulos am 21. April 1967 im Spiele gehabt haben (obwohl einige Indizien darauf hinweisen), unbestreitbar hatten die Amerikaner durch die Wiederaufnahme ihrer Waffenlieferungen ab 1968 das Junta-Regime stabilisiert und damit seine Lebensdauer verlängert. Sodann unterließ es Kissinger, den Coup von Joannides gegen Makarios zu verhindern, der — voraussehbar — am 15. Juli 1974 das zyprische Pulverfaß entzündete; und war es nur ein Zufall, daß der (bald darauf ermordete) amerikanische Botschafter Davies als einziger unter den ausländischen Diplomaten in Nicosia Kontakt zur Regierung des Achttage-Putschpräsidenten Nicolas Sampson aufnahm? Desgleichen hatten die USA ihr prinzipielles Einverständnis (wie übrigens schon seit Achesons Zeiten — im Gegensatz zu allen UNO-Experten) mit dem türkischen Ziel der regionalen Aufteilung der Insel erklärt, was Ankara als grünes Licht für seine militärische Operation verstehen konnte und verstand — im Unterschied zu den beiden anderen Konflikts-fällen 1964 und 1968, als Washington mit der Entsendung der VI. Flotte die türkische Invasion in letzter Minute stoppte. All dies geschah ausgerechnet in dem Augenblick, da die Wiedergeburt der griechischen Demokratie der amerikanischen Hebammenhilfe bedurft hätte. Mag Kissinger in der kritischen Phase vom Watergate-Komplex und dem unfreiwilligen Rücktritt Nixons absorbiert gewesen sein — seine einseitige Parteinahme für das türkische Interesse macht Amerika mitverantwortlich für das zyprische Desaster.
Auf der Suche nach der Motivation des amerikanischen Verhaltens erspart Athen Kissinger nicht den Vorwurf, daß er seine Lehrmeister Metternich und Bismarck gar zu wörtlich aus dem 19. ins 20. Jahrhundert übersetzt. Zweifellos aber sollten Realpolitik und Staatsraision, die immer sein müssen, im Zeitalter demokratisch gewählter und kontrollierter Regierungen in anderem Stil und mit anderen Mitteln operieren als während der absolutistischen und feudalistischen Saecula. Staatsraison und Realpolitik, die heute die Mentalität, die Emotionen, die Sentiments und Ressentiments, die Ansprüche und Interessen, die „Moral" der Nationen nicht in ihr Kalkül einbeziehen, verurteilen sich selber zum Scheitern. Eben daran hat es Kissinger in der ostmittelmeerischen Krisenzone fehlen lassen. Unter Hintanstellung der Psychologie baute er seine Sache allzu ausschließlich auf die Physik der Macht, auf die größere Zahl der Gewehre, Panzer und Bomben, auf den geostrategischen Stellenwert — nicht anders sind seine Optionen erst für die Athener Militärjunta und dann für die Türkei zu erklären. Wobei er — wie die Griechen argumentieren — in seiner materiell-quantitativen Rechnung auch noch übersah, daß eine Kette, auch die NATO-Kette, nur so fest ist wie ihr schwächstes Glied (und Griechenland ist nicht einmal ihr schwächstes Glied): die NATO-Effektivität der türkischen Abwehrkraft nach Osten steht und fällt mit dem Funktionieren des griechischen Scharniers.
Die arabische Karte In der politischen Auseinandersetzung um Zypern verfügt Athen noch über eine zweite Karte: Am 6. Februar 1975 erklärte Außenminister Bitsios vor dem Parlament unter dem stürmischen Beifall aller Parteien, Griechenland stehe im Nahostkonflikt auf Seiten der Palästinenser, wobei er sich auf die schicksalhafte Parallelität zwischen ihnen und den zyprischen Griechen berief — am Tage darauf statteten sieben arabische Botschafter im Athener Außenministerium ihre Dankesvisite ab. Die Ernsthaftigkeit dieser Neuorientierung, die eine Annäherung Griechenlands an das neutrale Lager der „Dritten Welt“ signalisiert oder zumindest signalisieren sollte, wurde unterstrichen durch die Ankündigung, Regie. rungschef Karamanlis werde demnächst Ägypten und den Libanon, der Oppositionspolitiker Andreas Papandreou synchron mit ihm Syrien besuchen; auch befindet sich die Gründung von griechisch-arabischen Gemeinschaftsunternehmungen — vor allem im Erdölhandel, in der Schiffahrt, im Bankensektor und Tourismus — schon in konkreter Vorbereitung.
Der griechische Schachzug mag zunächst als Gegenmanöver zur türkischen Bemühung um die arabische Assistenz in der Zypemfrage angelegt sein. Denn der auch nur passive Anschluß Griechenlands an die arabische Front schlösse die strategische Isolierung Israels: der Entzug des griechischen Luft-, Land-und Seeterritoriums beließe im nahöstlichen Kriegsfall den USA nur noch den schmalen Schlauch zwischen Kreta und Nordafrika — ohne Warnsystem und Bewachung. Mit dieser Politik hofft sich Griechenland den Amerikanern teurer zu machen — erst recht nach dem Scheitern der Kissinger-Mission im Nahen Osten. Wiegt die Türkei für die USA in Richtung Sowjetunion schwerer — vor der akuteren und kaum geringeren Sorge Nahost (Israel und Erdöl) besitzt Griechenland durch seinen Kurswechsel das größere Gewicht. Ferner kommt durch ihn Athen seinem Ziel (das es innerhalb der NATO und vor der UNO nicht erreichte) näher, die Zypemfrage in das größere Nahostproblem zu integrieren und es damit partiell zu internationalisieren; davon verspricht es sich eine günstigere Verhandlungsposition als im Alleingang mit Ankara. Man mag in diesem Verhalten einen Verstoß gegen die westliche Solidarität sehen. Die griechische Antwort: Solidarität setzt Gegenseitigkeit voraus.
Die Rechnung mit den Waffen Angesichts der politischen Erhitzung der beiden Konfliktherde kann Athen eine kriegerische Entwicklung nicht ausschließen. Trotz der dreifachen Heeresstärke der Türkei 12a) sieht der griechische Generalstab der Eventualität ihrer militärischen Offensive mit einiger Gelassenheit entgegen-, er vermag seine Macht auf eine Front zu konzentrieren, während die Türkei ihre sowjetische Grenze nicht entblößen kann. Auch könnte Ankara bei einem Angriff zu Lande seine numerische Überlegenheit im schmalen Streifen von Thrakien kaum entfalten. Zudem begünstigen dort die topographischen Bedingungen die griechische Defensive: Mehrere Höhenwälle stellen in Nordsüdrichtung einem Stoß aus dem Osten entgegen. Ihnen legt sich noch als natürliche Barriere der Grenzfluß Evros vor, der nur an vier bis fünf luftgefährdeten Stellen überbrückbar ist, und auch dies allein im Sommerhalbjahr. Andererseits muß der Verteidiger mit der Minderheit von 120 000 Moslems in Griechisch-Thrakien rechnen. Zur See und zur Luft aber ist das türkische Über-gewicht nur gering und durch qualitative Unterlegenheit zum Pari reduziert. Auch kommt der griechischen Abwehr zugute, daß die Radar-Warnkette der NATO auf den ägäischen Inseln aus der Türkei einfliegende Maschinen erfaßt, während diese über ein vergleichbares Beobachtungssystem nur nach dem Osten, nicht aber nach dem Westen verfügt; der türkische Luftraum ist also ungeschützter als der Griechenlands. Schwer zu verteidigen wären hingegen die Inseln unmittelbar vor der anatolischen Küste gegen türkische Landungen; sie würden wohl mit griechischen Luftangriffen auf die türkischen Städte beantwortet werden.
Wie immer — Griechenland muß sich wohl oder übel dem von der Türkei eröffneten Rüstungswettlauf stellen. Daher hat die Regierung Karamanlis die Verteidigungsausgaben für 1975 gegenüber dem Vorjahr um 46, 5 Prozent stark erhöht, was ihren Anteil am Gesamthaushalt von 20, 6 (1974) auf 24, 3 Prozent steigerte. Die Aufblähung des gesamten Ausgabenvolumens auf 172 Milliarden Drachmen bedingte massive Steuererhöhun-gen, welche die an Rezession und Inflation (1974: 13, 5%) leidende Wirtschaft, aber auch den Konsumenten schwer belasten. Kein Trost für die Griechen, daß die wirtschaftliche und soziale Lage der geringer entwickelten Türkei noch um vieles prekärer ist: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung setzen ihr in weit höherem Grade zu, wie auch eine gewaltige Bevölkerungsexplosion — ihre Geburtenrate liegt bei fast drei, die griechische unter einem Prozent. Dabei liegt das türkische Bruttosozialprodukt je Kopf der Bevölkerung mit 487 Dollar bei einem Drittel des griechischen (1 410 Dollar), das wiederum nur ein Drittel des bundesdeutschen (4 961 Dollar, jeweils 1973) ausmacht. Weiterhin erforderte der Feldzug auf Zypern einen tiefen Griff in die leeren Kassen Ankaras, das sich auch noch zur Erhaltung seines „autonomen“ Inselstaates einen ständigen Aderlass gefallen lassen muß. So kann sich keiner der beiden Staaten den Luxus eines unsinnigen Krieges leisten. Gerade aber die heimische Misere der Türkei könnte sich in die Ultima (ir-) ratio eines Abenteuers nach außen flüchten, zumal die permanente Regierungskrise in Ankara (seit Anfang November 1974) der politisch ohnehin starken Machtstellung der Generalität das entscheidende Übergewicht zuspielt; ob ihre Vernunft durch die Wiederaufnahme der NATO-und US-Waffenlieferungen gefördert wird, bleibt nicht ohne Skepsis abzuwarten.
Rasche Wiederherstellung der Demokratie
So fand Karamanlis das Land nach seiner Heimrufung am 24. Juli 1974 vor: das Staatswesen an Haupt und Gliedern schwer lädiert, der Verwaltungskörper bis in die letzte Zelle hinein verschlackt von Gefolgsleuten und Mitläufern der Diktatur, die Armee moralisch angeschlagen, in sich zerrissen und in ihrer Leistungsfähigkeit verschlampt, eine heruntergewirtschaftete Ökonomie im Sog der globalen Wirtschafts-und Währungskrise — auf der anderen Seite das auch politisch überaus erhitzbare Temperament des Volkes, ausgehungert nach Demokratie und bis zur Explosionsgrenze emotionell aufgestaut durch seine siebenjährige Ohnmacht, im nationalen Stolz tief getroffen durch den türkischen Schlag gegen die Brüder auf Zypern, in seinen Nöten sich gestern und heute verlassen wähnend von den westlichen „Freunden", und zu all dem noch die kriegsbedrohende Konfrontation mit dem mächtigeren Nachbarn jenseits der Ägäis: die Bedingungen hätten kaum ungünstiger sein können, vor die sich Karamanlis bei seiner Aufgabe gestellt sah, die griechische Demokratie wieder auf die Beine zu stellen.
Doch dieser Aufgabe wurde er bisher geradezu schulbuchmäßig gerecht — in diesem Urteil sind sich In-und Ausland weithin einig.
Als ein „neuer" Karamanlis hat der Heimgekehrte seine alte Legende noch überholt: im Jahrzehnt des Pariser Exils wuchsen seiner Energie und Härte noch Behutsamkeit und Geschmeidigkeit zu, und er hat aus seiner Biographie die Lehre gezogen, daß die beste Strategie ohne adäquate Taktik auf Sand baut. Er widerstand dem ungeduldigen Drängen der öffentlichen Meinung nach rascher und radikaler „Katharsis", nach Säuberung. Statt dessen sorgte er — wie in der Armee, so auch in der Verwaltung und in den Schulen — im Schritt-für-Schritt-Verfahren für einen möglichst reibungslosen Übergang, der das kontinuierliche Funktionieren der Amtsapparaturen sicherstellte; auch suchte er unter Schonung der „Kleinen" die Säuberung auf die wirklich Schuldigen zu beschränken, um nicht neue Klüfte aufzureißen. So viel Vor-und Nachsicht er bei der „Bewältigung der Vergangenheit" walten ließ — am ersten Tage schon leerte er die Gefängnisse und stellte die Grund-und Menschenrechte, die Presse-und Meinungs-, die Versammlungsund Vereinsfreiheit wieder her; Parteien und Gewerkschaften warteten gar nicht erst auf das Startzeichen, sie spurteten von selber los. Vor allem aber investierte Karamanlis seine Autorität und Integrationskraft, beraten von den bitteren Erfahrungen der frühen sechziger Jahre, in den Kurs der Versöhnung, deren das vielgespaltene griechische Volk so dringend bedarf.
Sein Bemühen um Verständigung fand zunächst uneingeschränkte Resonanz im Volk und bei den Parteien. Alle politischen Kräfte gaben sich entschlossen, die Gemeinsamkeit aus dem Kampf gegen die Diktatur auch in den Neubau der Demokratie einzubringen. So konnte er Kontakte mit der liberalen Zentrumsunion, seinen erbittersten Gegnern zum Beginn der sechziger Jahre, herstellen und mit ihnen sowie mit den sozialdemokratischen Widerstandskreisen am 24. Juli 1974 die Notregierung „der nationalen Einheit" bilden. Ihr Name war etwas hoch gegriffen, schloß sie doch sowohl die Linkssozialisten von Andreas Papandreou und die EDA unter Elias Eliou wie auch die beiden kommunistischen Parteien aus.
Brückenschlag zwischen Rechts und Links Noch wichtiger für die innere Gesundung Griechenlands war der Friedensschluß (oder Waffenstillstand?) in der alten Fehde zwischen Rechts und Links. 1936 hatte General Metaxas mit der Ausrufung der Diktatur auch die Kommunistische Partei verboten. Im Zweiten Weltkrieg aber, unter der deutsch-italienisch-bulgarischen Besetzung, entwickelten sich die Kommunisten zur führenden Kraft im Widerstandskampf. Doch ihr Konzept zielte weiter: auf die Machtübernahme im Lande nach dem Abzug der Deutschen. Als es so weit war und im Dezember 1944 die reguläre Regierung aus dem Kairoer Exil mit der Armee nach Athen zurückkehrte, kam es zum offenen Bürgerkrieg. Es bedurfte vier Jahre zur Niederwerfung der Kommunisten (1949), und auch sie gelang nur mit der Hilfe erst der Engländer, dann — nach der Ausrufung der Truman-Doktrin 1947 — der Amerikaner sowie dank der Abspaltung Jugoslawiens 1948 von der Sowjetunion, die den Aufständischen die Nachschubbasis entzog. Ein-hunderttausend flohen damals über die nördliche Grenze in die Ostblockländer. Ihnen allen — viele Bauernsöhne Makedoniens waren wider Willen zum Mitkämpfen gezwungen worden — wurde die Staatsangehörigkeit aberkannt, während die zurückgebliebenen Parteigänger, auch die nur als solche (manche zu Unrecht) verdächtigten, in Konzentrationsoder sog. Umerziehungslager geworfen wurden. Nicht wenige davon, die als gute Demokraten sich im Kriege der auf Volksfront-basis aufgebauten Partisanenorganisation angeschlossen hatten, erlitten das Schicksal des „Mitgefangen, Mitgehangen".
Der von beiden Seiten grausam geführte Bürgerkrieg hinterließ in der Armee, genährt noch vom Kalten Krieg, unversöhnlichen Haß und im Volk eine tiefe Wunde, die sich erst in der gemeinsamen Gegnerschaft zur Diktatur zu schließen begann. Die Regierung Karamanlis hat nun die Ostflüchtlinge amnestiert, was ihnen „grundsätzlich" die Heimkehr ermöglicht, und auch die kommunistischen Parteien wieder zugelassen. Strittig ist noch die Verfahrensfrage für die Rückkehr: Die linke Opposition wünscht die Kollektivlösung ohne Auflagen. Die Regierung hingegen denkt an die Überprüfung der Einzelfälle (und hat mit ihrer Anwendung auch schon eine Reihe prominenter KP-Führer repatriiert), um die Einschleusung von Spionen und Agitpropleuten nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Auch will sie ihr Placet jeweils von der Anforderung durch heimische Verwandte abhängig machen, schon aus Gründen der wirtschaftlichen Absicherung. Die Eingliederung der Heimkehrer wirft ohnehin genug Probleme auf, da seinerzeit das Agrareigentum der Flüchtlinge vom Staat an landlose Bauern verkauft wurde, die er nun nicht zugunsten der früheren Besitzer einfach enteignen kann. Entschädigungsverfahren aber dürften aufgrund der chronischen Ebbe der Staatsfinanzen kaum in Frage kommen. Schließlich ist offen, wieviele der 100 000 Flüchtlinge (ihre Nachkommenschaft nicht mitgerechnet) von der Rückkehrmöglichkeit Gebrauch machen wollen;
viele haben ja, auch durch Heirat, in ihren Gastländern Wurzeln geschlagen — vor allem im makedonischen Jugoslawien, nicht im sowjetischen Uzbekistan (wo allein in um Taschkent 14 000 Griechen siedeln). Einer ihrer Sprecher, in Belgrad ansässig, veranschlagt die Heimkehrwilligen mit 60 000. Man sagt ihnen einen guten Berufsausbildungsstandard nach, der sie zu einem Aktivposten für die weitere Entwicklung des Landes machen könnte.
Spektrum der Parteien Karamanlis war sich von der ersten Stunde an bewußt, daß er die schweren Entscheidun-gen, die auf das Land zukamen, nicht allein tragen könne, sondern sie dem parlamentarischen Willensprozeß zu überantworten habe. Daher schrieb er Wahlen zum November '974 aus die ersten seit zehn Jahren. Gegen 1 ren frühen Termin, nur vier Monate nach dem Sturz der Junta, opponierte die Linke vehement: er ließe nicht genügend Zeit zum Aufbau der Parteien, und solange der Säuberungsprozeß nicht abgeschlossen sei, könnten die noch in den Ämtern verbliebenen Gefolgsleute der Diktatur einen unheilvollen Druck auf das Wählervolk ausüben; auch müßte die Grundfrage der Staatsform — Monarchie oder Republik — vor dem Urnengang geklärt werden. So schwer diese Einwände wogen, sie waren der Notwendigkeit untergeordnet, auf schnellstem Wege das parlamentarische Forum für die nationalen Probleme zu schaffen, deren Lösung keinen Aufschub mehr gestattete. Gewiß verordnete Karamanlis das frühe Wahldatum auch, um den starken Aufwind zu nutzen, solange er den „Retter der Nation" noch trug, bevor er unter den unpopulären Belastungen abflaute, die dem griechischen Volk aufgebürdet sind. Aus dem gleichen Grund, doch mit umgekehrten Vorzeichen, hätten seine Opponenten die Wahlen gerne vertagt, zumal die Furcht vor einem erneuten Staatsstreich der Militärs, die Parole „Karamanlis oder die Tanks" im Stimmungsklima zu seinen Gunsten dominierte. Ferner kam ihm zugute, daß auch das Volk aus der jüngsten Vergangenheit genug gelernt hatte 17), um nicht gleich wieder seiner traditionellen Passion für die demokratische Selbstzerfleischung zu verfallen, die der Diktatur erst freie Bahn gegeben hatte. Auch konnte sich der „starke Mann" der Vorliebe der Frauen, welche in den Stimmregistern überwiegen, sicher sein. Schließlich hatte Karamanlis — gegen die Opposition — für ein in Griechenland schon früher praktiziertes Wahlsystem gesorgt, das durch die Bevorzugung der großen auf Kosten der kleinen Parteien die Grundlagen für regierungsfähige Parlamentsmehrheiten schuf.
Eine veränderte Szenerie also gleichfalls auf der Bühne der Parteien — sie fuhren nicht einfach fort, wo sie 1967 hatten aufhören müssen. Auch Karamanlis begnügte sich nicht mit einer bloßen Neuauflage seiner 1955 gegründeten ERE-Partei (konservativ und royalistisch), die 1964 bei der letzten Wahl auf 35 Prozent der Stimmen gekommen war. Er nutzte vielmehr seine alte Stammwählerschaft als Startbasis für eine breite Sammlungsbewegung, die unter dem Firmennamen „Nea Demokratia" (Neue Demokratie) zum Zentrum und darüber hinaus bis zu den halb-linken Liberalen vorstieß. Auf programmatischen Aufwand glaubte er wohl im Vertrauen auf sein Charisma verzichten zu können. Vom Odium der „Reaktion" entband ihn der Auszug seiner rechten Flügelleute, die sich unter Ex-Verteidigungsminister Petros Garoufalias in der „Nationaldemokratischen Union" auf die Monarchie einschworen und die heimatlos gewordene Gefolgschaft des Junta-Regimes unter ihrer Fahne zu sammeln suchten.
Auf eine Revision der Vergangenheit legte es auch die einst von Venizelos gegründete liberale „Zentrumsunion“ (Wahlen 1964: 52, 7 Prozent) an, nach dem Tod des populären Georgios Papandreou geführt von Georgios Mavros, der sich durch seinen unerschrockenen Kampf gegen die Junta profiliert hatte. Gleichfalls „bürgerlich" gibt sich die EK doch sozial progressiver, in der Kulturpolitik aufgeschlossener und im Erziehungswesen aktiver als die mehr an Wirtschaft, Außen-und Verteidigungspolitik interessierte Partei von Karamanlis. Der EK verbanden sich die „Neuen Politischen Kräfte" — ein „Club" jüngerer prominenter Widerstandskämpfer die wieder einmal den (wievielten?) Anlauf unternahmen, die Lücke einer Sozialdemokratie europäischen Zuschnitts im griechischen Parteienspektrum zu schließen. Doch als Offiziere ohne Fußvolk vermochten sie den Ausfall bei weitem nicht wettzumachen, den die alte EK durch die Abspaltung ihres starken linken Flügels unter der Führung von Andreas Papandreou erlitt.
Papandreous Attraktivität, besonders für die intellektuelle Jugend, beruht nicht allein auf dem großen Namen seines Vaters, der ihm ein ansehnliches Kapital an demagogischem Talent vererbte — er ist (in den USA ge. schult) ein Wirtschaftswissenschaftler von Rang, bestechend durch die Radikalität seines ideologischen Utopismus. Seine „PASOK“ die einzige neue Partei von Gewicht, steht auf der innenpolitischen Skala mit ihren sozialistischen Postulaten noch links von den Kommunisten, außenpolitisch aber rechts von ihnen, da sich ihr rigoroser Neutralismus gleicherweise vom Osten wie vom Westen distanziert. Es ist nicht auszuschließen, daß Papandreou nach Karamanlis eine Zukunft hat, sofern er als politischer Stratege und Taktiker noch dazu lernt. Zunächst aber leistete er Karamanlis wider Willen treffliche Hilfsdienste, indem er wesentlich zur Parzellierung der Opposition beitrug: Seine PASOK zapfte das Wählerreservoir nicht nur der Zentrums-union, sondern auch der Kommunisten an, ohne jedoch ihre Zuflüsse zu einem respektablen Strom zu vereinen. Die äußerste Linke freilich ließ auch ohne sein Dazutun an Zersplitterung nichts zu wünschen übrig. Die aus dem Untergrund wieder aufgetauchten oder aus dem Exil heimgekehrten Kommunisten sind seit 1968, seit dem Einmarsch der War-schauer Paktmächte in Prag, derart tief gespalten, daß sie kaum noch miteinander reden können: in die auf nationale Eigenständigkeit bedachte, reformerische KP-Inland unter Drakopoulos (sie hat kaum Geld) und in die orthodoxe, „moskowitische" KP-Ausland unter Florakis (sie hat Geld). Uber beiden schwebend die alte EDA unter dem fähigen und integren Rechtsanwalt Elias Eliou, welche die Interessen der KP während ihrer Verbotszeit seit 1950 in getarnter Stellvertretung wahrgenommen hatte. Auch sie meldete sich wieder zu Wort, wohl um ihren überkommenen Anhang im linksliberalen Bürgertum bei der Stange zu halten. Mit Mühe gelang es Eliou, die feindlichen Brüder mit seiner EDA wenigstens für die Wahlen unter ein Dach (der „Vereinigten Linken") zu bringen, da sie vereinzelt gar zu vernichtende Niederlagen hätten befürchten müssen; ihre Notehe hat den Jrengang nur um wenige Monate überebt. Wahlen ohne Zweifel Unter solchen Voraussetzungen hatte Karamanlis am 17. November 1974 leichtes Spiel. Sie bescherten ihm einen überzeugenden Sieg Es erhielten:
Das Votum für Karamanlis fiel um so eindeutiger aus, als er den ersten Rang sowohl in den Städten wie auf dem flachen Lande gewann, und zwar in allen Provinzen — außer auf Kreta, der alten liberalen Hochburg, wo ihn die Zentrumsunion überholte und ihm die PA-SOK dicht auf den Fersen folgte.
Der Zentrumsunion hat die Abspaltung durch die PASOK zweifellos schwere Einbußen zu-gefügt, und kaum weniger Stimmen dürfte sie an die Nea Demokratia verloren haben. Unter seiner (und der allgemeinen) Erwartung schnitt auch Papandreou ab; ohne Kreta (das ihm 23,4% seiner Stimmen gab) hätte das Ergebnis für ihn noch schlechter ausgesehen. Nicht weniger enttäuscht war die „Vereinigte Linke“; bezeichnend für ihr internes Kräfte-verhältnis war, daß die KP-Ausland fünf der dem Linksblock zugefallenen neun Sitze für sich buchen konnte.
Das in seiner Eindeutigkeit sehr „ungriechische" Ergebnis zeugt noch nicht für eine dauerhafte Stabilisierung des Landes — es war bedingt durch eine einmalige Ausnahmesituation, durch die Notlage der Innenpolitik (Angst vor der Armee) und der Außenpolitik (Angst vor dem Krieg), welche die nationale Konzentration erzwang; selbst notorische Kommunisten optierten in dieser kritischen Stunde für Karamanlis. In dem Maße, wie Karamanlis Erfolg hat und den Druck von innen und außen abbaut, wird die Wiederholung seines hohen Wahlsieges unwahrscheinlich.
Nicht einmal das bestehende Parteiengefüge ist als konstant anzusehen. Im Lager der Nea Demokratia ist mit der Absprungbereitschaft mancher Royalisten zu rechnen. Umgekehrt ist ein künftiges Zusammengehen von Zentrumsunion und PASOK nicht auszuschließen. Folgerichtiger wäre freilich der Verbund der PASOK mit der EDA und KP-Inland im Falle einer langwierigen Wirtschaftsdepression, stimmen sie doch programmatisch weithin überein. Addiert man ihre Stimmenanteile vom 17. November, so erscheint das linkssozialistische Wählerpotential mit Prozent keineswegs überschätzt — die EDA hatte es schon einmal im Alleingang auf ihr Konto versammelt 25). Zu berücksichtigen ist dabei, daß die neomarxistische Welle, die Westeuropa etwa ab 1968 überflutete und dort inzwischen abebbte, durch die Junta-Diktatur aufgestaut wurde und jetzt erst Griechenland erreicht — bei den letzten Wahlen wäre sie bereits sichtbarer geworden, hätte nicht Karamanlis an der unteren Grenze des Wahlalters bei 21 Jahren festgehalten. Kläglich scheiterte der Versuch von Garoufalias, in seiner . Nationaldemokratischen Union" ein demokratisches Auffangbecken für die einstige Anhängerschaft der Junta zu schaffen: ihre Ausbeute von 1, 1 Prozent berichtigt jene naiven Reisenden aus Westeuropa, die in den vergangenen Jahren mit dem Eindruck heimkehrten, das Griechenvolk sei in seiner Mehrheit dem Militärregime gar nicht so abgeneigt.
Entscheidung gegen den König Nach der parlamentarischen Legitimierung blieben Karamanlis zwei Aufgaben zur Vollendung des demokratischen Wiederaufbaus:
die Entscheidung über die Staatsform und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Den Königen hatten die Griechen das Leben immer schwer gemacht und die Griechen hatten selten Glück mit ihren Königen. Vordem hatte das Volk die Monarchie als überparteilichen Stabilisierungsfaktor in seiner politischen Zerrissenheit zu schätzen gewußt, sofern sie nicht, wie in den Händen der Königin Friderike, ihr „Gottesgnadentum“ gar zu selbstherrlich-kapriziös zelebrierte. Der Unmut gegen sie übertrug sich auf den Sohn Konstantin II. Die öffentliche Meinung verübelte es dem jungen König auch, als er im Widerspruch zu seiner nationalen Integrationsfunktion, gestützt auf die Armee sich selber zur Partei machte und eine desintegrierende Interessenpolitik betrieb durch den Sturz der ihm nicht genehmen Regierung von Georgios Papandreou. Er spaltete mit nicht gerade königlichen Praktiken dessen absolute Parlamentsmehrheit auf und herrschte fortan am Rand der Verfassung mit zweifelhaften Minderheiten — jenen Anarchisierungsprozeß einleitend, der schließlich 1967 in den Staatsstreich der Obristen umschlug. Nicht glückhafter operierte Konstantin dann in seinem mehr oder minder passiven Widerstand gegen die Junta. Kein Anlaß zur Bewunderung bot auch sein dilettantischer Gegenputsch mit Hilfe einiger Generale am 13. Dezember 1967 — das Militärregime brauchte nur einen Tag zu seiner Niederschlagung. Seiner darauffolgenden Flucht in das Exil (erst nach Rom, später nach London) vermochte das Volks-empfinden nur noch Mitleid mit dem „jungen Bub" nachzuschicken — dergleichen be-kommt keinem König. Keine Aufregung de her, als Papadopoulos am 1. Juni 1973 die Me narchie abschaffte und sich seine Entsche düng am 29. Juli durch eine Volksbefragun (mit 73 Prozent Ja-Stimmen) bestätigen lief Der Sturz der Junta und die Rückkehr der De mokraten vollzog sich dann ohne Beteiligun des Königs.
Da die neue Demokratie das Verdikt der Dik tatur über das Königtum nicht als verbindlicl ansehen -konnte, überantwortete sie die Fragt „Monarchie oder Republik" am 8. Dezembe 1974 einem Volksentscheid. Die gesamte Op Position propagierte den Königssturz — nich der einstige Royalist Karamanlis, der seiner zeit als Regierungschef problematische Erfahrungen mit dem Monarchenpaar Paul und Friderike gemacht hatte und angesichts der veränderten Zeitverhältnisse dieser Frage keine Relevanz mehr abgewinnen konnte: um seine Parlamentsfraktion und die Wählerschaft nicht einer Zerreißprobe auszusetzen, verordnete er sich und seiner Partei neutrales: Schweigen.
Das Referendum ergab eine-klare Antwort:
Nur 30, 8 Prozent sprachen sich für die Monarchie aus — 36 in der Provinz, 24 in den Großstädten. Die geringste Zustimmung markierte das stets antiroyalistische Kreta — mit lediglich 9 Prozent seiner Stimmen; zur absoluten Mehrheit brachten es die Befürworter — wie schon seit Menelaos Zeiten — nur in Lakonien (Sparta) mit 59, 5 Prozent und auch noch mit 50, 5 Prozent im thrakischen Grenzbezirk Rodope, wo die türkische Nachbarschaft den konservativen Rücken steift. Ob damit die Monarchie für alle Ewigkeit aus dem griechischen Verkehr gezogen ist, steht dahin — dieses Land kennt keine Endgültigkeit. Schon einmal hatte ein hellenischer König elf Jahre lang, von 1924 bis 1935, mit dem trockenen Brot des Exils vorlieb nehmen müssen — und wurde dann doch zurückgerufen. Die Wiederholung dieses Vorgangs hat freilich geringe Chancen — die Zeiten sind nicht mehr so. Die Enttäuschung der Royalisten, denen keine Nachkommenschaft zuwächst ergeht sich im Halbschmerz der Resignation. Die Wiederherstellung des demokratischen Instrumentariums kam mit den Gemeindewat en am 30. März 1975 zum Abschluß. Da Kara-manlis ihre Entpolitisierung für geraten hielt, stellte seine Partei keine eigenen Kandidaten auf. Hingegen ließ sich keine der Oppositionsparteien diese Gelegenheit entgehen, um wenigstens eine optische Korrektur an der politischen Kräftekonstellation, sei’s auch nur auf der unteren Ebene, herbeizuführen; vielfach einigten sie sich daher auch auf gemeinsame Bewerber. Da jedoch der starre Zentralismus der griechischen Verwaltung der Gemeindeautonomie nur geringen Spielraum gewährt, fallen ihre „Erfolge" kaum ins Gewicht.
Verfassung mit Zähnen
Vermochte Karamalis auf seinem Kurs der stabilisierenden Versöhnung die alten Gräben Mischen Volk und Armee, zwischen Rechts und Links, zwischen Monarchie und Republik mehr oder minder zuzuschütten — ein neuer Riß geht auf seine Verantwortung (wenngleich er mehr die Politiker und die „Politischen“ als die „Leute" trennt): seine semi-
gaullistische, gar zu perfekt auf seine Person maßgeschneiderte Verfassung bewirkte eine neue Polarisierung.
Die Bitterkeit seiner griechischen Regierungserfahrungen und die positiven Eindrücke, die er — persönlicher Freund de Gaulles und seiner Nadifolger — seinem zehnjährigen Pariser Exil abgewonnen hatte, machten den auf Effizienz und Stabilität bedachten Karamanlis zum Anwalt der Präsidialdemokratie. Seine Intention läuft auf eine „Monarchie auf Zeit" hinaus, die den Präsidenten fast noch mit mehr Machfülle ausstattet, als sie die Verfassung von 1952 dem König einräumte. Sein Konzept verschiebt das Gewichtsverhältnis der „Gewalten": es stärkt die Exekutive auf Kosten der Legislative — das Staatsoberhaupt . benscht“ nicht nur (wie in der Monarchie), es steht ihm nun ein dominierender Einfluß sowohl auf die Regierungstätigkeit wie auch auf die parlamentarische Gesetzgebungsarbeit m. So hat der Präsident u. a. das Recht, den Ministerpräsidenten zu berufen und zu entlassen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, er kann dem Kabinett vorsitzen und ein Veto gegen parlamentarische Gesetzesbeschlüsse einlegen, das dann nur eine D. reifünftelmehrheit des Parlaments zu überwinden vermag. Stehen Fragen von schwerwiegender nationaler Bedeutung" zur Entscheidung, so kann er über sie — unter mgehung des Parlamentes — Volksabstim-mungen befinden lassen. Daß in seine Hand Kriegserklärung und Friedensschluß gelegt sind, versteht sich nahezu von selber, ebenso die Ausrufung des Ausnahmerechtes unter Aufhebung der ganzen Verfassung oder ihrer Teile, im ganzen Lande oder in bestimmten Regionen.
In fast allen diesen Fällen ist er freilich gehalten, den neuen „Rat der Republik“ (in etwa die Neuauflage des königlichen „Kronrates") anzuhören-er setzt sich zusammen aus den (demokratisch gewählten) früheren und amtierenden Staats-und Ministerpräsidenten, dem Parlamentspräsidenten und dem Führer der stärksten Oppositionspartei, auch kann er gegebenenfalls den Außen-und Verteidigungsminister beiziehen. Offen bleibt, ob dieses Gremium nur beratende oder beschließende Funktion hat — den Präsidenten kann er jedenfalls nicht überstimmen. Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, daß der „Rat" vor allem dazu dienen soll, die Entscheidungen des Präsidenten nach außen zu entpersönlichen und ihnen zu einer breiteren Autoritätsbasis zu verhelfen.
Allerdings kann der Präsident seine außerordentlichen Kompetenzen nicht willkürlichranwenden, sie bleiben auf „Sonderfälle" beschränkt — ihre vage Formulierung engt jedoch seine Bewegungsfreiheit nur wenig ein. So, wenn er das Parlament auflösen will, weil es sich nach seiner Meinung nicht mehr „in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung" befindet oder weil eine nationale Frage von großer Tragweite ansteht; verständlicher, daß er das Parlament im Falle seiner Unfähigkeit, eine stabile Regierung zu bilden, nach Hause schicken kann. Deutlicher sind die Auflagen für den Präsidenten bei der Regierungsbildung: Er muß dem Führer der Partei, welche über die absolute Mehrheit gebietet, die Ministerpräsidentschaft antragen; haben die Wahlen die führende Partei nur mit relativer Mehrheit versehen, so ist der Präsident verpflichtet, deren Chef einen „Erkundungsauftrag" zu erteilen, der in die definitive Beauftragung mit der Ministerpräsidentschaft umzuwandeln ist, sobald er sich auf dem Koalitionsweg einer absoluten Majorität im Parlament versichert hat. Mißlingt dies, ist der Präsident berechtigt, einen Mann seiner Wahl (wiederum nach Anhörung des „Rates") zum Premier zu berufen; wird auch ihm das Vertrauen verweigert, sind Neuwahlen anzusetzen.
Erläßt der Präsident im Ausnahmezustand Gesetze, so sind diese zwei Monate nach dessen Aufhebung vom Parlament zu billigen, andernfalls sie dann ihre Rechtskraft verlieren. Das Parlament unterliegt noch weiteren Begrenzungen: Es kann keine Untersuchungsausschüsse in Sachen der Außenpolitik und der nationalen Verteidigung einsetzen. Die Abgeordneten büßen in Fällen „verleumderischer Diffamierung" (wem gegenüber?) automatisch ihre Immunität ein; auch ist es ihnen untersagt, in der laufenden Legislaturperiode die Partei zu wechseln oder eine neue Partei zu gründen (womit einem chronischen Laster der griechischen Politiker ein Riegel vorgeschoben ist) — es sei denn, sie werden zur Demission gezwungen. Zur Auflösung des Parlamentes kommt es ferner, gelingt es ihm auch im dritten Wahlgang nicht, einen Präsidenten mit Zweidrittelmehrheit zu bestellen; schafft das neue Parlament dieses Quorum im ersten Wahlgang ebenfalls nicht, so hat es den Präsidenten zwischen den beiden Kandidaten, welche die meisten Stimmen erhielten, mit einfacher Mehrheit zu wählen.
Vom, Parlament auf fünf Jahre gewählt und dann nur nochmals für eine Periode wählbar, schuldet ihm der Präsident dennoch keine Verantwortung. Er kann lediglich abgesetzt werden, wenn er durch physische oder psychische Erkrankung an der vollen Erfüllung seiner Amtspflichten gehindert wird oder wenn er sich des Hochverrats oder einer sonstigen Verletzung der Verfassung schuldig gemacht hat. Ein Verfahren gegen ihn kann nur von der Hälfte der Abgeordneten beantragt und von der Zweidrittelmehrheit des Parlaments beschlossen werden; das Urteil bleibt einem „Spezialtribunal" aus höchsten, durch Los zu bestimmenden, Richtern Vorbehalten.
Um der heftig aufbegehrenden Opposition jede Chance zu nehmen, die Verabschiedung „seiner" Verfassung mittels der Filibustermethode ad calendas graecas zu vertagen, hatte ihr Karamanlis eine Dreimonatsfrist gestellt (sie wurde inzwischen zweimal um Wochen verlängert) — mit der Drohung, im Falle der Terminüberschreitung die Verfassungsvorlage einem Volksentscheid zu überantworten. Auch ließ seine Partei im Verfassungsausschuß des Parlamentes an keinem Buchstaben jener Bestimmungen rütteln, die ihr Entwurf für das Dreiecksverhältnis Parlament-Regierung-Präsident vorsah. Hingegen ließ sie sich auf einige liberale Korrekturen an den Grund-und Freiheitsrechten ein: So kann die politisch motivierte Verbannung — ein uralter griechischer Brauch — nicht mehr durch administrativen Regierungsakt, sondern nur noch durch Gerichtsurteil verfügt werden; sodann ist für politische Vergehen die Verhängung der Todesstrafe nicht mehr zulässig — es sei denn, sie bedienten sich krimineller Methoden. Ferner konnte nun das vorgesehene Verbot von politischen Streiks in die positive Absicherung des Streikrechts zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ungewandelt werden. Gestrichen wurde auch ein Artikel, der die Presse auf die Erfüllung einer „gesellschaftlichen Mission“ festlegen wollte — er hätte der mißbräuchlichen Auslegung durch die Staatsgewalt Tür und Tor geöffnet. Schließlich wurde die verfassungsrechtliche Fixierung des Wahlalters auf 21 Jahre angehoben, so daß einem künftigen Parlament seine Herabsetzung auf 18 Jahre offen steht. Nicht zu vergessen: Die Folter wurde ausdrücklich unter Verbot gestellt.
Doch diese Konzessionen waren nach dem Geschmack der Oppositionsparteien lediglich Brosamen. So viel Verständnis sie — auch sie gebrannte Kinder der Vergangenheit — fur eine Stärkung der Exekutive und für das Ein ziehen stabilisierender Korsettstangen auf brachten, sie hätten sie lieber der Regierung zugeteilt anstatt dem Präsidenten, welcher der Kontrolle durch das Parlament entzogen t und ihm keine Verantwortung schuldet, uch konnten sie sich nicht abfinden mit der artiellen Entmachtung des Parlamentes, mit en Prärogativen des Präsidenten, mit denen r die Volksvertretung ständig unter Druck tzen kann. Und nicht zuletzt sind sie sich ewußt, daß dieser Verfassung keine Dauer eschieden sein kann: die weiten Kleider, die ie dem Staatsoberhaupt anlegt, passen allen-alls auf Karamanlis, sonst aber auf keinen, er morgen auf der politischen Bühne Griehenlands agiert.
Aan mag darüber rechten, ob die Konstituion »stark" oder „autoritär" zu nennen ist — in liberaler oder progressiver Geist durchveht sie nicht. Auch weckt sie die Befürchung, daß sie die Oppositionsparteien im Geühl ihrer parlamentarischen Ohnmacht prorazieren könnte, ihren Kampf auf die Straße ra tragen. Akademisch ist der Streit, ob sich dieser Verfassung das Etikett „gaullistisch" aufkleben läßt. In Bezug auf die Machtkonzentration des Präsidenten sicher ja; die Rechtfertigung aber, aus der sie sich allein abzuleiten vermag, lieferte ihr Karamanlis nicht mit: Im Gegensatz zu seinem französischen (und amerikanischen) Vorbild begründet er seine majestätische Machtautorität nicht plebiszitär, nicht unmittelbar aus dem Entscheid des Volkes — seine Wahl obliegt dem Parlament. Mit gutem Grund übrigens, mußte ihm doch selber fraglich erscheinen, ob ihm ein Referendum — nach dieser Verfassungskonstruktion — nochmals die absolute Mehrheit beschert hätte. Auch der zweiten Konsequenz de Gaulles wich daher Karamanlis aus: Er bezog nicht wie jener die Position über den Parteien, sondern präsentierte sich (wie in den USA) als Parteiführer. Selbst seine Freunde (wie etwa der angesehene Professor Kanellopoulos, der ihn während der Exil-zeit in der Parteiführung vertreten hatte) begreifen nicht, was ihn zu solch exzessiver Kompetenzenhäufung in seinen Händen bewog, gebietet doch seine Partei mit 71 Prozent der Mandate über eine derart solide Parlamentsmehrheit, daß er mit ihr alles und jedes durchsetzen kann, ohne der unpopulären Gewaltenballung im Präsidentenamt zu bedürfen. Nicht zuletzt trieb er mit ihr die Mitte-Links-Opposition in dem Vorhof einer Volksfront (so schon bei den Gemeindewahlen). Gleichwohl, Griechenland geht mit dieser Verfassung unter Karamanlis stabilen Zeiten entgegen, vielleicht bis zum Jahre 1984, über das hinaus Karamanlis, dann 77jährig, nach seinem eigenen Gesetz nicht mehr wählbar ist. Die große Unbekannte in dieser Rechnung ist jedoch die Außenpolitik: auf Zypern und in der Ägäis entscheidet sich auch sein Schicksal, und mehr noch, das Schicksal Griechenlands.
Die zyprische Tragödie
We westliche Presse machte es sich im Bestreben, zwischen ihrer Sympathie für die oriechische Sache und der militärstrategisch notwendig erscheinenden Kapitulation vor türkischen Ansprüchen eine Kompromiß-Position zu beziehen, etwas zu leicht, indem sie den Zypern-Konflikt auf die uralte Erbsindschaft zwischen den beiden Völkern zu-
tuekführt.
Daran ist schon etwas. Der „Türkenschreck , der einst Europa in . Untergangs-iummung versetzte, ist in den Ländern der tsvante mehr als Erinnerung, mehr auch als n nur irrationaler Impuls. Unvergessen ist in en Balkannationen, daß sie durch die Osma" enherrschaft um vier Jahrhunderte von der europäischen Entwicklung getrennt wurden. In Anatolien hatten sie länger zu leiden, die Armenier, Kurden und die Griechen; der Sieg Kemal Atatürks 1922 kostete 500 000 Griechen das Leben, eineinhalb Millionen wurden aus Kleinasien vertrieben — drei Jahrtausende hatten sie dort gesiedelt. Von den 100 000 Griechen, die zunächst in Istanbul bleiben durften, konnten sich bis Ende 1974 knapp 30 000 halten, von den 10 000 auf der Insel Imbros noch 1 200. Anders sieht die Bilanz der türkischen Minderheit in Griechisch-Thrakien aus: sie nahm im letzten Jahrzehnt von 100 000 auf 120 000 Personen zu. Griechenland und die Türkei haben sich jeweils im Kampf gegeneinander als moderne Nationalstaaten begründet — Griechenland im Freiheitskrieg 1821— 1830, die Türkei ein Jahrhundert später unter Kemal Atatürk, nachdem sie 1922 bei Smyrna (Izmir) das griechische Invasionsheer (und mit ihm die drei-tausendjährige griechische Geschichte) ins Meer geworfen hatte. Seither war und ist griechischer Patriotismus ein Synonym für „antitürkisch“ und türkischer Nationalismus gleichbedeutend mit „antigriechisch". Es gab danach Anläufe von beiden Seiten, die Ketten des wechselseitigen Hasses aufzubrechen: Durch den Vertrag zwischen beiden Ländern am 18. Oktober 1933, aus dem der Balkanbund (am 10. Februar 1934) hervorging; 1953 erfuhr er eine Neuauflage, nachdem schon ein Jahr zuvor mit beider Aufnahme in den NATO-Pakt versucht worden war, den griechisch-türkischen Gegensatz unter dem Dach des Kalten Krieges, in der gemeinsamen Abwehr der sowjetischen Expansion, zu neutralisieren. Doch die Brücke hielt nicht lange stand. Sie bröckelte in dem Maße ab, wie die fortschreitende Entspannung zwischen Ost und West die kollektive Verteidigungsnotwendigkeit abzuschwächen schien und die Türkei sich dank der westlichen Wirtschafts-und Waffenhilfe ihres Kraftzuwachses bewußt wurde.
Die griechisch-türkische Spannung verschonte auch Zypern nicht, das ein ganzes Jahrhundert später als das Mutterland in die os-manische Hand fiel und ein halbes Jahrhundert länger in ihr verblieb (Von 1571 bis 1878). Dennoch kam es auf der Insel zu einer differenzierten Symbiose zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Ihr gutes Verhältnis dokumentiert die Tatsache, daß von den 625 Dörfern 120 rein türkisch und fast ebenso viele, 113, in griechisch-türkischer Mischung besiedelt waren, und zwar bis zuletzt. Bis zuletzt auch, d. h. bis zum 20. Juli 1974, lebte nahezu die Hälfte der türkischen Inselbevölkerung außerhalb der von ihrer Obrigkeit militärisch abgesicherten Enklaven, im unmittelbaren Kontakt mit den Griechen, was die Propagandathese von der unversöhnlichen „Ei feindschaft" und der griechischen Unterdrü kung zumindest relativiert.
Wie nun sah es in dem gemischten Gemei den aus? Was von ihnen galt, traf auch dc zu, wo die Volksgruppen voneinander abg sondert lebten: Der Fremde vermochte de Türken kaum vom Griechen zu unterscheide Im Laufe der vier Jahrhunderte hatten s einander die Kanten abgeschliffen. Der ein so tödliche Glaubenshaß war längst ein« Duldsamkeit gewichen, die am dörflichen G« genüber von Minarett und Glockenturm ke nen Anstoß mehr nahm. Man teilte die Sorge und Nöte, unterschied sich kaum in der Le bens-und Arbeitsweise und nicht zuletzt vei stand jeder des anderen Sprache. Selbst di Separierung von Haus und Glauben vor aller in den Städten, konnte dem persönlichen Ein vernehmen nichts anhaben. Es schlug nu in Spannung und Konflikt um, wenn sich poli tische Kollektivprobleme, von außen ode: von oben gesteuert, in den Vordergrund schoben. Auch das Gegenteil geschah: ging die Eintracht der türkischen und der griechischen Oberschicht in der Ausbeutung des Landvolkes gar zu weit, so fanden sich die griechischen und türkischen Bauern zu solidarischer Abwehr, ungeachtet ihrer Volks-und Religionszugehörigkeit. Nicht zu übersehen war hingegen das Wohlstandsgefälle, wechselte man vom griechischen zum türkischen Stadtviertel hinüber: hier quirlendes Leben, dort schläfrige Apathie, und das nicht erst seit den Zusammenstößen von 1964, als sich die Türken zunächst gezwungen, dann freiwillig ghettohaft einigelten und damit von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Insel abschnitten. Auf der griechischen Seite Laden an Laden mit überquellendem Warenangebot, Autos ohne Zahl und vom neuesten Modell, Luxushotels mit allem Komfort, weiträumige Grünanlagen umsäumt von breiten gepflegten Straßen, fröhliche Leute mit letztem Chic gekleidet — drüben aber: Löchriger Asphalt, erblindete Schaufenster mit verrotteter Tändlerware, klapprige Busse aus der Steinzeit des Motors, Vegetieren in Grau; kauernde Gestalten in steinerner Gelassenheit — Antipoden zum Griechen, der ständig vibriert und immer auf dem Sprung ist, an den Rockschößen der eiligen Zeit hängend, indessen jener in unbeirrbarer Reglosigkeit verharrt. Hinter diesem Gegensatz stand die Tatsache: mit über 1 000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen im Jahr brachte der Grieche mehr als das Doppelte heim wie der Türke.
Auch diese Differenz will Ankara auf die Ausbeutung der Inseltürken durch die Griechen zurückgeführt wissen. Doch wann bot sich diesen dazu Zeit und Gelgenheit? Drei Jahrhunderte waren die Türken die Herren der Insel und in den folgenden neun Jahrzehnten erfreuten sie sich der systematischen Bevorzugung durch die britische Kolonialmacht — erst seit 1960, seit der Proklamierung der Unabhängigkeit, sahen sie sich dem vierfachen Übergewicht der Griechen konfrontiert. Wenn sich seither der Entwicklungsabstand zwischen ihnen weitete, so weniger durch Unterdrückung, sondern weil die Griechen weitergingen, indessen die Türken stehen blieben; immerhin sind diese noch doppelt so gut wie ihre Landsleute auf dem klein-asiatischen Festland gestellt. Daher begegnen sie auch diesen mit Vorbehalt. Die Soldaten ihrerseits kamen in dem Wahn auf die Insel, verelendete Brüder von Not und Ausbeutung befreien zu sollen. Statt dessen stellten sie fest, daß sie hie und da schon über Autos, Kühlschränke, Fernseher verfügten, über Reichtümer, von denen sie in ihren anatolisehen Dörfern nur zu träumen wagten. Auch wissen sich die Inseltürken dank eines höher entwickelten Schulsystems den Kontinen-taltürken kulturell und zivilisatorisch überlegen, und nicht zuletzt hat das Zusammenleben mit den Griechen ihre Lebens-und Denkweise liberaler gestimmt. Selbst sie fühlen sich vom gewalttätigen Verhalten der Festlandstruppe abgestoßen, das auch vor ihnen nicht halt macht. Sie selber nennen sich „Europäer", indessen sie die Anatolier als „Asiaten“ ansehen. Schließlich ist auch ihr Vertrauen in das militärisch erzwungene Provisorium begrenzt. Kein Wunder, wenn sich aus all diesen Gründen der griechische Haß nur gegen die Festlandtürken richtet, nicht gegen „ihre" Moslems.
Die Wurzeln des Konflikts Die Türken sowohl des Festlands wie der Insel hatten sich schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts damit abgefunden, daß Zypern aus dem osmanischen Staatsverband ausgeschert war. 1878 hatte es der „kranke Mann am Bosporus" in Pacht an England abgetreten, um dessen politische Bündnishilfe gegen einen erneuten Vorstoß der Russen auf die Meerengen zu gewinnen. Im Ersten Weltkrieg nahm dann London die türkische Gegnerschaft zum Vorwand für die volle Annexion Zyperns. Ihr gab Kemal Atatürk 1923 im Vertrag von Lausanne den völkerrechtlichen Segen, der den türkischen Verzicht auf die Insel für alle Zukunft besiegelte. Dabei wäre es wohl geblieben, hätten die Briten nicht den alten Gegensatz wieder zu neuer Glut angefacht: Nach dem Zweiten Weltkrieg schwappte die globale Welle der Selbstbestimmung auch auf Zypern über. Die Griechen dort, 80 Prozent der Bevölkerung, glaubten sich berechtigt, über das Schicksal der Insel selber zu befinden, und ihr Wunsch hieß Enosis, Anschluß an das Mutterland. Ihr immer wieder abgewiesenes Verlangen kulminierte schließlich ab 1955 im vierjährigen Partisanenkampf von General Grivas, politisch flankiert von Erzbischof Makarios. Unfähig, den Aufstand niederzuwerfen, griffen die Engländer zur alt-imperialistischen Maxime des „Teile und Herrsche", indem sie das bis dahin passive türkische Element künstlich gegen den griechischen Anspruch mobilisierten. Damals befand sich in Ankara die Regierung Menderes am Rand des wirtschaftlichen und politischen Bankrotts. Vor ihm — so meinte Menderes nach alter Rezeptur — könne ihn nur ein außenpolitischer Erfolg retten, und so ergriff er dankbar den von den Briten offerierten zyprischen Strohhalm. Ein antigriechischer Pogrom in Istanbul sorgte für die gewünschte Stimmung in den Massen; seine Parole „Taxim" — Teilung Zyperns — sprang alsbald auf die Inseltürken über, die zudem noch von den Briten zu Polizeidiensten gegen die aufsässigen Griechen eingesetzt wurden, was die atmosphärische Spannung abermals verschärfte. Dieses Verhalten der Engländer gab den ersten Anstoß zum Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen.
Der Londoner Vertrag von 1959 häufte dann noch neuen Zündstoff. Zwar verzichteten in ihm die Türkei auf Taxim, Griechenland auf Enosis, die Briten auf den Besitz der Insel, doch behielten sich diese sogenannten Garantiemächte das willkürlich auslegbare Recht auf militärische Intervention im Konfliktsfall und auf die ständige Stationierung von begrenzten Truppenkontingenten vor, die Briten außerdem die Souveränität über zwei Militär-basen von zusammen 250 qkm. Innerhalb dieses engen Rahmens bekam Zypern eine höchst fragmentarische Unabhängigkeit zugestanden. Wie sich jetzt zeigte, verhalf ihm auch die Mitgliedschaft im britischen Commonwealth, in den Vereinten Nationen und der EG weder zu mehr Bewegungsfreiheit noch zu mehr Sicherheit.
Noch brisanter war die den Zypern oktroierte Verfassung zum Schutz der türkischen Minderheit. Die Vollmachten des Präsidenten, stets eine Grieche, wurden durch das absolute Vetorecht seines Stellvertreters, stets ein Türke, blockiert. Die türkische Minderheit von 18 Prozent erhielt 30 Prozent aller Sitze in Regierung, Parlament und Verwaltung, 40 Prozent sogar in Heer und Polizei. Wie vorauszusehen war, hemmte die türkische Angst vor der griechischen Enosis kraft des exzessi eingelegten Vetos die gesamte Staatsmaschi nerie; daher bestand Makarios auf einer Ver fassungsrevision. Als die Türken sie ablehn ten, suchten die Inselgriechen Ende 1963 ein« militärische Lösung. Sie scheiterte an der In tervention der USA, der NATO und an de Invasionsdrohung der Türkei. Obwohl dam die UNO eine Puffer-und Pazifizierungstrup pe entsandte, versuchten es die Griechen 1961 nochmals mit Gewalt — wiederum vergeblich. Handelten sie in beiden Fällen auch gegen das Gesetz — welch anderes Volk hätte sich in vergleichbarer Konstellation als Vierfünftelmehrheit der Nötigung durch die Minderheit wehrlos unterworfen?
Präsident Makarios zog in Übereinstimmung mit der griechischen Mehrheit aus diesen Erfahrungen spätestens 1968 die Einsicht, daß Enosis gegen die Türken nicht möglich sei und vollzog einen Kurswechsel in Richtung auf die volle Unabhängigkeit. Unter Berufung auf die Kleinheit der Insel (9 251 gkm) strebte er in sechsjährigen Verhandlungen mit den Inseltürken eine zentralistische Lösung an, die übrigens auch alle neutralen Experten und die UNO für sachlich geboten hielten. Doch die Türken wichen keinen Fußbreit von ihrem Föderationskonzept ab — im Grunde verfochten sie seit 1956 dasselbe Autonomie-Prinzip, das ihr Mutterland jetzt mit militärischem Diktat erzwingen will. Ihre Starrheit erwuchs aus dem Mißtrauen gegen Makarios, aus der fortdauernden Furcht vor der Enosis. Zu Recht? Sie hätten den griechischen Versicherungen spätestens seit 1972 vertrauen können, als die kleine Schar der radikalen Grivas-Nationalisten abermals in den Untergrund ging — diesmal um den vermeintlichen „Verräter“ Makarios zu stürzen, eben weil er der Enosis abgesagt hatte und die volle zyprische Unabhängigkeit ansteuerte.
Putsch, Invasion, Teilung Auf diesem Hintergrund erwuchs dann die Katastrophe vom 15. Juli 1974: der Putsch der Nationalgarde unter ihren griechischen Ju a-Offizieren. Da hinter diesem Staatsstreich lie Enosis-Ideologie stand, war das Eingreifen ler Türkei am 20. Juli 1974 zum Schutz ihrer inderheit von den Verträgen her legitimiert. Allein zur Verteidigung dieser Verträge, ächt aber, um sie kraft militärischer Gewalt u zerreißen, nicht zu einem Angriffs-und Erberungskrieg zum Gewinn von Land und trategischer Machtstellung; gegen ihn hätte iie britische Garantiemacht von ihren Stützbunkten her vertragsgemäß vorgehen müssen -sie rührte sich nicht.
Die Türken, die mit 6 000 Mann gelandet waren, stockten ihre Truppen schnell auf 40 000 Mann auf. Unter Bruch zweier Waffenstillstände und nach dem Abbruch der Genfer Vermittlungskonferenz stieß die türkische Invasionsmacht, der nur 12 000 griechische Soldaten gegenüberstanden, auf breiter Front nach Süden vor. Sie hält nun rund vierzig Prozent des Inselterritoriums besetzt, entlang der sog. Attila-Linie, die quer durch die zentrale Mesaoria-Ebene auf 105 km Länge von West nach Ost reicht und inzwischen teils verbunkert, teils durch Erdwälle befestigt ist. Rund 250 000 Griechen sind geflohen: 26 000 Türken, in ihren Südenklaven eingeschlossen, unterstehen der griechischen Kontrolle. Damit ist Ankara seinem erklärten Ziel, seine Volksgruppe — ca. 126 000 Köpfe bzw. 18 Prozent der Gesamtbevölkerung — in seiner Nordhälfte auf etwa einem Drittel der Insel-fläche zu konzentrieren, entscheidend nähergekommen, zumal es seinem besetzten Territorium am 13. Februar 1975 den Status eines autonomen Teilstaates verlieh. Wenngleich es diesen in einen souveränen und neutralen Staatenbund — nicht Bundesstaat — einzu-
bringen vorgibt (schon um die Sowjets nicht vor den Kopf zu stoßen), so ist doch ersicht•ich, daß es über ihn die Kontrolle über das gesamte Zypern erreichte.
Selbst wenn die Griechen, sich der Gewalt beugend, die Teilung akzeptierten, müßte sie Wenigstens rechnerisch stimmen. Uber ein Drittel des Territoriums für das knappe Fünftel der Bevölkerung, das aber geht für die verbleibenden Vierfünftel nicht auf. Noch weniger, bezieht man das qualitative Kriterium in die Kalkulation ein, und das muß man, da ja Fläche nicht gleich Fläche ist. Bisher waren 18 Prozent der Nutzfläche in türkischer Hand — 41, 7 Prozent wären es nach der Teilung. Sie machen sogar über 60 Prozent der bewässerten Böden aus, da sich der Raubzug auf die produktivsten und exportintensivsten Gebiete erstreckte. Daraus ergäbe sich: 18 Prozent der Bevölkerung geböten künftig über 80 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Erzeugung, über je 80 Prozent der Zitrus-und Olivenernten, über 60 Prozent des Getreides. Nur beim Weinbau kämen die Türken schlechter weg, was sie als Moslems nicht sonderlich schmerzen dürfte. Ein geringer Trost auch für die Griechen, daß ihnen weitgehend der Wald verbliebe — ein Fünftel davon machten die Kämpfe zur Asche. Noch katastrophaler die Einbußen der Griechen auf den Sektoren Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen: sie verlören je 60 Prozent der industriellen Produktion, der Bergwerke und Steinbrüche, je 80 Prozent der Hafenkapazität und der touristischen Anlagen, die alle ausschließlich von den Griechen aufgebaut worden sind. Insgesamt war die von den Türken beanspruchte Nordregion bisher zu 70 Prozent am zyprischen Bruttosozialprodukt beteiligt. Daß ihr Ausfall den über 500 000 Griechen — 80 Prozent der Bevölkerung — keine Uberlebenschance mehr beließe, ist von geradezu tödlicher Gewißheit; sofern sie sich ihr nicht durch Massenemigration entziehen (was für Griechenland unübersehbare Folgen hätte). Daß diese die Türken indirekt erzwingen wollen, läßt sich wohl kaum als böswillige Unterstellung abtun. Auf keinen Fall werden die Griechen Zyperns (und des Mutterlandes) bereit sein, ihr Todesurteil auch noch zu unterzeichnen — es sei denn, Ankara nimmt noch erhebliche Abstriche an seinen Maximalforderungen vor.
Die heutige Katastrophe Zyperns ist weder einmalig in seiner Geschichte noch ein isolierter Lokalfall. Sie geht auch nicht allein Athen, Ankara und das mitbetroffene London an — dieser Streit hat internationale Dimension. Das Unglück dieser Insel ist die Jahrtausende hindurch seine Drehscheibenlage zwischen Asien, Afrika und Europa, zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd, die Zypern zum permanenten Spielball aller Bewegungen, aller Konflikte zwischen Okzident und Orient macht. Welche Macht immer auf diesem Entscheidungsfeld mitmischte, sie hielt es für geboten, den strategischen Schlüssel Zyperns in ihre Hand zu bekommen — gestern wie heute, da die nahöstlichen Erdöllager zum unersetzlichen Energiequell der Weltwirtschaft geworden sind und die zentrale Verkehrsader des Suezkanals zum 5. Juni 1975 ihre Wiedereröffnung erwartet.
Eine Quadratur des Kreises Der Name von Makarios steht — oder stand — für den Versuch, die traditionelle Rolle der Insel als Objekt und Opfer der mächtigeren Umwelt abzustreifen und ihre explosive Knoten-und Schnittpunktfunktion durch eine Neutralisierung in der Autonomie zu entschärfen. Die USA und die NATO fuhren gar nicht so schlecht dabei, denn so neutral war die zyprische Neutralität auch wieder nicht; nicht allein, weil in den englischen Stützpunkten das Westbündnis militärisch präsent war. Nicosia hatte zudem den Amerikanern ein gigantisches Funk-und Radarsystem eingeräumt, das sie befähigte, alle militärischen Bewegungen im Umkreis von 1000 Kilometern zu orten, vom Persischen Golf bis zum Kaukasus und nach Bulgarien hinein. Schließlich diente Zypern als Mittelglied der Nachrichtenkette zwischen der NATO und dem wiederbelebten Cento-Pakt. Um dennoch das neutrale Gesicht zu wahren, pflegte Makarios gute Beziehungen nicht allein zur Dritten Welt, sondern gleichfalls zu Moskau — zu letzterem auch, um seine fragile Unabhängigkeit gegen die Türkei abzudecken. Alle Interessenten ringsum hätten also mit Makarios'hohem Drahtseilakt ohne Netz zufrieden sein können. Doch den Amerikanern war die diplomatische Artistik des Erzbischofs verdächB tigt: befremdet von seinem byzantinische Habitus und seinen levantinischen Methodei verrannten sie sich in den törichten Verdach Makarios werde sich als „Castro des östli chen Mittelmeeres* entpuppen. Beunruhig waren sie auch durch die starke Stellung de KP auf der Insel: mit 40 Prozent der Wähle und der dominierenden Position im Gewerk schaftswesen ist sie die relativ stärkste unte den „Bruderparteien“ in der freien Welt. Wa shington übersah dabei, daß der Präsident sie die stärkste Landespartei, nicht gerade demo kratisch aus Regierung und Verwaltung aus schloß und ihren Einfluß durch seine wirt schaftliche und soziale Entwicklungsoffensive wirkungsvoll eindämmte. So zeigten sich denn die Amerikaner keineswegs unglücklich über den Ausbruch der zyprischen Krise, die sie nicht nur nicht einzudämmen versuchten, sondern durch ihre grundsätzliche Zustimmung zur türkischen Teilungspolitik (wenngleich nicht zu ihren Ausmaßen) auch noch ermunterten.
Eine dauerhafte, alle Seiten befriedigende Lösung des Zypern-Konflikts ist nicht in Sicht. Ankaras Konzept der Zweiteilung, sei es auch unter einem bundesstaatlichen Dach, würde jede der beiden Hälften zur Lebensunfähigkeit verurteilen (dessen sind sich selbst die Insel-türken bewußt). Jede von ihnen könnte sich fortan nur noch durch die massive Wirtschaftshilfe ihres Mutterlandes — weder Griechenland noch die Türkei kann sie sich leisten — über Wasser halten, geriete über solche Abhängigkeit in den Status einer Kolonialprovinz und würde schließlich von ihm einverleibt. Das Ergebnis wäre also die „diplo enosis", der doppelte Anschluß, der durch die Aufhebung der Autonomie und der Neutralität Zyperns eine empfindliche Störung des internationalen Gleichgewichts in der krisengeschüttelten Nahostzone zur Folge hätte und daher auf den heftigsten Protest Moskaus stieße. Bliebe es aber bei einem autonomen Bundesstaat, so müßte mit der verstärkten Zu Wendung der griechischen Südregion mir AKEL (= KP), und das hieße zur Anlehnung an die Sowjetunion gerechnet werden — unter Liquidierung des westlichen Stützpunktsystems; schon jetzt richten sich die Hoffnungsblicke der griechischen Flüchtlinge auf Moskau. Nicht auszuschließen, daß die Türkei einer derartigen Entwicklung durch die militärische Besitznahme der ganzen Insel vorzubeugen suchte; dafür müßte sie freilich eine neue und heftige Gegnerschaft der Warschauer Paktmächte in Kauf nehmen.
Was allein mit einiger Gewißheit vorauszusehen ist: Da die Inseltürken numerisch nicht imstande sind, „ihren“ Teilstaat ausreichend zu füllen, wird Ankara seinen Überfluß an Arbeitslosen (die nicht mehr in die Bundesrepublik abwandem können) in ihn lenken auf der anderen Seite wird es die Nivellierung des derzeitigen Bevölkerungsgefälles auf der Insel durch die Fortsetzung seiner Verelendungspolitik zu fördern suchen, um einen Massenexodus der Griechen unvermeidlich zu machen. Ihr verbleibender Rest wird dafür sorgen, daß an dieser explosiven Berührungszone von West und Ost ein neues „Palästinenser" -Problem erwächst. Und dabei dürfte es kaum bleiben, da sich Griechenland mit dem Schicksal Zyperns identifiziert. So steht mit dieser kleinen Insel nicht weniger auf dem Spiel als der Fortbestand der NATO-Südostflanke, der wiederum über die Zukunft der Entspannung zwischen den beiden Weltmächten entscheidet. Eine fatale Kettenreaktion steht da dem Westen ins Haus, an deren Auslösung er sich, zumindest durch vermeidbare Unterlassungssünden, nicht wenig mitschuldig gemacht hat.
Johannes Gait anides, Dr. phil., geb. 10. Juli 1909 in Dresden. Studium der Germanistik, Geschichte und Geographie in München (1930— 1936). Freier Publizist, seit 1949 Kommentator am Bayerischen Rundfunk. Veröffentlichungen: Griechenland ohne Säulen, München 1955; Passion Europa, Stuttgart 1956; Westliche Ärgernisse, München 1958; Inseln der Ägäis — Schwestern der Aphrodite, München 1962; (als Herausgeber) Die Zukunft des Kommunismus, München 1963; (mit F. Funk) Grieben-Reiseführer Griechenland-Festland (erstmals 1965) und Griechenland-Inseln (erstmals 1966); (mit D. Christidis) Das griechische Gastmahl, München 1965 (unter dem Titel: „Aus griechischen Küchen" 2. Aufl., 1973); (mit S. J. Worm) Ägäisches Trio — Kreta, Rhodos, Zypern, München 1974. — Ferner zahlreiche Beiträge für Anthologien, Bildbände, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen.
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