Anmerkungen eines Architekten Städtebau — eine politische Aufgabe
Josef^Lehmbrock
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Zusammenfassung
„Die Bürger, die sich diese Städte gefallen lassen, verdienen keine besseren." Dieser Satz von Wend Fischer und Josef Lehmbrock aus der Ausstellung „Profitopolis“ hat Ärgernis erregt. Trotzdem steht der Autor zu ihm, denn er erwartet die Antwort auf die Frage nach der künftigen Gestaltung unserer Städte letztlich nicht von den Experten, sondern von den eigentlich Betroffenen. Wenn die Autorität der Wähler heute nicht mehr angefochten wird, wenn so viele Anstrengungen unternommen werden, um auch nur Bruchteile von Wählerstimmen zu gewinnen, und wenn damit auch um die legitimierende Autorität der Bürger geworben wird, dann darf es doch eigentlich keinen Zweifel daran geben, daß der Bürger auch entscheidend sein soll für das, was geschieht. Die „Besserwissenden", so meint der Autor, haben es bisher jedenfalls schlechter gemacht, als die Bürger es gemacht hätten. Beweis sind u. a. die Bürgerinitiativen, die zeigen, daß die Unzufriedenheiten und damit auch die Impulse zur Veränderung aus der breiten Schicht der Betroffenen kommen und nicht von denen, die immer noch glauben, daß sie „unter den gegebenen Verhältnissen das Bestmögliche gemacht hätten". Aber aus dem Allgemeinplatz vom Menschen als Mittelpunkt jeglicher Planung kann erst Realität werden, wenn sich in dieser heute so abstrakten Mitte die Mehrheit der Bürger auch wirklich repräsentiert und ihr Recht darauf auch einfordert. Der Autor möchte jedoch nicht nur Kritik an bestehenden Mängeln üben, sondern er gibt aus seiner umfassenden Erfahrung als Architekt zahlreiche Informationen über geglückte Projekte sowie Anregungen für eine positive Veränderung des Gesichts und der Struktur unserer Städte.
Wenn die These stimmt, daß der Städtebau Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, dann lassen unsere nach der Zerstörung wieder aufgebauten Städte nur böse Schlüsse auf die derzeitigen gesellschaftlichen Zustände zu. Die Mißachtung der menschlichen Bedürfnisse und Wünsche hat dazu geführt, daß unsere Städte so mißraten sind, überall werden die Mißstände beim Namen genannt, aus allen Lagern und von den prominentesten Persönlichkeiten, in der Praxis aber geschieht so gut wie nichts. Wirtschaftlich vorteilhafte Objekte werden privat realisiert, die wirtschaftlich unvorteilhaften Objekte der Offentlichkeit überlassen. Nicht die Bedürfnisse der Bürger, sondern das Geld entscheidet darüber, was wo gebaut wird. Konzerngebäude stehen an den besten Stellen der City und Kultur-bauten oft in Randzonen. Der isolierte Universitätscampus, aber auch die riesigen Rummel-plätze für Freizeit sind so trostlos, weil sie nicht im Zusammenhang mit dem Gesamt des Daseins stehen. Die Entmischung unserer Gesellschaft hat zur Verödung des städtischen Lebens geführt. Man flieht aus den Städten, weil es zu Hause zu langweilig ist. Durch die Isolierung der Lebensfunktionen wird die Ganzheit des Daseins zerstört.
Wer eine andere, bessere Stadt will, muß die grundsätzliche Frage nach der Form des Zusammenlebens stellen. Eine humane Stadt ist nur zu verwirklichen, wenn wir die gesellschaftlichen Zustände im Sinne des in unserer Verfassung gesetzten Sozialstaatsprinzips verändern. Es besteht jedoch eine allgemeine Unsicherheit darüber, wie wir weiter leben wollen.
Die Gefahren für alle sichtbar zu machen, ist zunächst die wichtigste Aufgabe: so die Inanspruchnahme der natürlichen Lebensvoraussetzungen ohne Rücksicht auf das überleben, so die bewußte und unbewußte Auflösung der zwischenmenschlichen Beziehungen, so der Fetischismus gegenüber dem Technischen, so die Vorherrschaft des Konsums und vieles andere mehr.
Die Forderung, die Gefahren sichtbar zu machen, schließt die Frage ein, aus welcher Sicht, mit welchen Prämissen und Tendenzen diese Aufdeckung geschehen soll. Es heißt, daß es in erster Linie auf den Menschen ankommt; aber das bringt uns noch nicht weiter. Mißtrauen kennzeichnet die Situation. Der Mensch traut nicht einmal mehr sich selbst, denn auch zu sich selbst kommt es nur „via der Vorstellungen und Vorurteile der Gesellschaft, das Bewußtsein wird von den Bedingungen, unter denen er sozial zu leben gezwungen ist, geformt“ (Mitscherlich).
Man kann aus diesem Teufelskreis ausbrechen und es gibt eine Hoffnung auf eine Verbesserung der Verhältnisse, wenn der Einfluß jedes einzelnen gegenüber dem der Mächtigen zunimmt. Man darf sich nicht mehr darauf einlassen, daß die angeblichen (und zumeist sehr interessengebundenen) besseren Einsichten gegen die Unmündigkeit der Massen ausgespielt werden. Die heutige Bereitschaft zu Änderungen ist allein auf das Ansteigen der allgemeinen Unzufriedenheit zurückzuführen und nicht etwa auf einen besseren Stand der Kenntnisse; sie gibt es in Teilgebieten bereits seit Jahrzehnten. Auch die besten Streiter in der Sache haben an dem heutigen Druck auf Veränderung hin nur in dem Maße Anteil, wie sie es verstanden haben, die Bereitschaft zur Mitverantwortung in breiten Schichten zu wecken.
Die ersten Ansätze einer Besserung zeigen sich in der Schulpolitik der Elternbeiräte, zwar noch sehr schüchtern, aber doch mit einem Druck zur Mitbestimmung hin. Die dadurch zustande gekommene Öffentlichkeit im Schulwesen hat schon zum Abbau vieler Mißstände beigetragen. Um alle anderen öffentlichen Einrichtungen aber kümmern sich die Bürger noch wenig. Die Lösung aller drängenden Fragen der Stadtgestaltung scheitert nur insofern am Volk, als es sich der Macht, diese Frage lösen zu können, nicht bewußt ist. Nicht aus den Einsichten einzelner Menschen, sondern erst dann, wenn die Einsichten von breiten Kreisen der Bevölkerung gebilligt werden, geht es weiter. Es kommt also darauf an, ihr bewußt zu machen, daß sie die Macht hat, die Verhältnisse zu ändern. Solche Aktivierung kann aber nur dann wirksam sein, wenn sie sich beschränkt auf das, was die breiten Schichten assimilieren können. Von ihren Vorstellungen und Wünschen muß ausgegangen wePden.
Das gesellschaftliche Vakuum, das durch die nicht formulierten Ansprüche der Bürgerschaft entsteht, bewirkt Mißbrauch und Apathie. Alexander Mitscherlich weist auf Sperren im Bewußtsein der Bevölkerung und ihre Folgen hin: „Am Zustandekommen der Stadt von morgen sind sehr schwer bewegliche, aber sehr hartnäckig auf traditioneller Befriedigungsweise beharrende Einstellungen beteiligt. Die Unmöglichkeit, in christlich traditionsgebunden wie sozialdemokratischen Parteigremien, im Golfklub wie am Stammtisch der Gärtner oder Hausbesitzer die Bodenfrage auch nur zur Diskussion zu bringen, zeigt, welche Tabus ihre Stabilität behalten haben" (in: Thesen zur Stadt der Zukunft).
An anderer Stelle sagt Mitscherlich: „Die Tatsache, daß der Grund und Boden nicht vermehrbar ist, bedeutet, daß er monopolistisch mißbraucht werden kann von denjenigen, die ihn haben. Die Gruppen derer, die das tun, sind Menschen, die für ihren privaten Charakterstil ein großes Maß von primärer archaischer Aggressivität an sich haben und in ihrem Charakter verwirklichen. Brutale Härte und Angst treffen sich in solchen Leuten. Die Erlebnisebene sozialer Verantwortung, des Teilnehmens am anderen Menschen, des Einfühlens in seine Bedürfnisse, ist ihnen unbekannt geblieben. Sie machen eben ihre Geschäfte so, wie sie zu Zeiten des Sklavenhandels Sklaven gehandelt hätten" (in: Der Spiegel vom 7. 9. 1970). Ulrich von Altenstadt stellt fest: „Die wahren Nutznießer unserer heutigen Bodenpolitik sind die Grundstücks-spekulanten, die ihre Herkunft aus dem agrarwirtschaftlichen Denken nur zu gut begriffen haben: Boden als Produktionsmittel (für Bankguthaben)" (in: Merkur, 18/64). Doch diese Einsicht teilen nur 13 °/o der Bevölkerung, 87 °/o wollen von einer Änderung der Bodenordnung nichts wissen, obwohl sie sich damit selbst der Basis berauben, die sie für die Bebauung und mehr noch für eine Erneuerung der Städte unerläßlich brauchen.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß hier darauf hingewiesen werden, daß der in der Regel durchaus bescheidene Besitz der kleinen Hausbesitzer ursächlich mit der Städtebaumisere nichts zu tun hat. Ebensowenig wird einer radikalen Enteignung das Wort geredet. Hier geht es darum, daß mehr und mehr besonders dort, wo mit öffentlichen Mit-« teln gebaut wird, Besitzformen angestrebt werden müssen, die es allen beteiligten Bürgern möglich machen, a 1 s oder wenigstens wie Eigentümer zu leben. Wer das anstrebt, fördert eine Entwicklung, die künftig in den Ballungsgebieten Eigentum am Boden nur dem zuerkennt, der es auch selber nutzt. „Mit Grund und Boden — diesem nicht vermehrbaren Gut, das nur zum Nutzen der Allgemeinheit verwendet werden sollte — kann nicht mehr gehandelt werden, ohne die Grundlagen menschenwürdiger Existenz zu gefährden. Hier beginnt tatsächlich Eigentum zum Verbrechen zu werden, wenn die sinnvolle Nutzung des Bodens nicht mehr gesichert werden kann“ (G. B. von Hartmann in: Werk und Zeit, 4/71).
Wir leben in einem Prozeß fortlaufender Stadtzerstörung, einer Verödung der Innenstädte und einer Verdrängung der Bürger In die Randzonen. Banken und Parkhäuser verdrängen eine Vielfalt von Läden, Restaurants und Cafes. Wohnungen werden gewerblich genutzt oder sogar abgerissen und durch Bürohäuser ersetzt. Shoppingcenter entstehen vor den Städten und reduzieren das Erlebnis des Einkaufens auf wenige Stunden monatlich. An die Stelle der Vielfalt alter Stadt-quartiere, die noch ein Miteinander aller Schichten kannte, ist die isolierte Unterbringung nach Einkommensklassen, Familiengrößen, nach Kinderreichen, Junggesellen, Alten, nach Flüchtlingen, Firmenzugehörigkeit und sogar nach Asozialen getreten.
Die optisch so stark fühlbare Verödung der Städte ist der sichtbare Ausdruck für eine Verödung des Lebens; in der Auflösung der Städte, in ihrer nahezu uneingeschränkten Ausuferung ins Land zeigt sich der Verlust des notwendigen Lebenszusammenhanges. Das komplexe Problem Stadt wird praktisch nicht mehr behandelt. Durch die Isolierung der Lebensfunktionen wird die Ganzheit des Daseins zerstört.
Es geht um mehr als um Bodenfrage und Arbeitswelt, es geht um den Sinn unserer Existenz.
Es gibt zwar viel Unzufriedenheit, aber der volle Umfang des menschlichen Elends, das als unmittelbare Folge dieser Entwicklung entsteht und sich täglich vergrößert, wird in den breiten Schichten nicht erkannt. Es gibt: 5 397 300 Rentenabhängige mit einer monatlichen Rente unter 350 Mark; 10 Millionen in unserem Lande Menschen sind also in äußerster Bedrängnis. Horst W. Opaschowski hat im Heft 5/72 der Frankfurter Hefte den unmittelbaren Bezug zum Städte-bau hergestellt. Er schreibt: »Die Zahl der sogenannten . Planungsverdrängten'in den Obdachlosensiedlungen steigt rapide an. Die Bewohner von Abbruchvierteln werden einfach , umgesetzt‘ (Behördensprache), . abgeschoben'und . herumgeschubst'. Die sanierten Wohnviertel, ehemals Wohnungen für sozial Schwache, entwickeln sich zu rentablen Geschäftsgebieten für Finanzstarke. Die Stadtsanierungen machen die Armen noch ärmer und die unsozial Behandelten zu asozial Handelnden."
Im Gutachten des deutschen Ausschusses für Erziehungs-und Bildungswesen heißt es: „Es ist eine Probe auf die Menschlichkeit einer Gesellschaftsordnung, ob in ihr diejenigen zu ihrem Recht kommen, die es selber nicht fordern können."
Das gleiche könnte auch ein Ausschuß für Städtebau geschrieben haben.
Die Unmenschlichkeit gegenüber den sozial Schwachen hat sich inzwischen längst auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Wir alle sind betroffen. Aber immer noch ist man stolz auf materielle Güter, auf Einkommen, Auto, den jährlichen Urlaub. Alle, die diesen Stolz nicht haben, werden als untüchtig abqualifiziert. Nach der Notdurft der Nachkriegszeit hat das „Wirtschaftswunder" es möglich gemacht, den Bewohnern der Bundesrepublik zu suggerieren, daß Wirtschaftswachstum und Verbesserung der Lebensqualität identisch sind. Die breiten Schichten glauben daran, daß sie im Grunde in einer heilen Welt leben. An die Stelle der Unzufriedenheit über einzelne Mißstände muß eine generellere Unzufriedenheit treten: die Bürger müssen lernen, sich selbst als die eigentlichen Auftraggeber unserer Zeit zu verstehen.
Was fehlt, das sind formulierte Ansprüche an die Stadt. Erst auf der Basis von Forderungen, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden, lassen sich Änderungen erzwingen. Viele Aktivitäten verlaufen heute deshalb im Sande, weil es keine zwar Unzufriedenheit, aber konkreten Forderungen gibt.
Wir ersticken am Überfluß und stellen durch eine völlig unnötige Überproduktion unsere natürlichen Lebensvoraussetzungen in Frage. Zunächst muß daraum gefragt werden: Was brauchen wir nicht? Die materiellen Lebens-voraussetzungen stehen heute aber nicht im Vordergrund, sondern eine Lebensform, die dem Dasein der Menschen einen Sinn gibt, und das setzt eine generell neue Konzeption gesellschaftlichen Zusammenlebens voraus. Aus der Optik des einzelnen Bürgers muß darüber nachgedacht werden, wie das Zusammenleben unter den heutigen Möglichkeiten stattfinden kann, wie die Ansprüche in der Welt der Arbeitsteilung so erfüllt werden können, daß auch die Arbeit so weit wie nur möglich die Lebensqualität steigert.
Die politische Auigabe heißt: Die derzeit Herrschenden zu Dienern der Bürger und den Bürger zum Herrn der Stadt machen.
Die jetzige Situation kann so charakterisiert werden: Die gewählten Kommunalpolitiker müssen wohl oder übel jeder Vorlage zustimmen, weil sie den Experten in der Verwaltung der Sache nach nicht gewachsen sind. Etwas vereinfacht läßt sich sagen, daß die Experten der Verwaltung nach Gutdünken verfahren können, solange sie das Geflecht der Interessen des Establishments nicht verletzen. Die große Menge der Stadtbürger hat praktisch keine Einfluß auf die Stadtgestaltung. Die Kräfte, die die Entwicklung der Stadt betreiben, sind für sie unsichtbar. Das Gefühl vieler Menschen, in ihrem Leben unkontrollierbaren Kräften ausgeliefert zu sein, ist nicht zuletzt hierauf zurückzuführen.
Sich auf den kleinen Mann einlassen und in seinem Sinne handeln, diese Prämisse muß jeder Planung zugrunde liegen. Das bedeutet nicht ein kurzschlüssiges Eingehen auf die Wünsche der Bürger, sondern die Miterfassung all der Ansprüche, die nach dem Stande des Wissens aller Disziplinen die Bevölkerung haben könnte, wenn sie richtig informiert wäre. Eine Politisierung der breiten Schichten bedeutet also nicht, daß jeder Bürger — er maßt es sich auch nicht an — in allen Fragen mitbestimmen soll. Der Bürger ist, ebenso wie der Politiker, den Experten nicht gewachsen. Es ist hier die Aufgabe der sachkundigen Bürger, stellvertretend für alle die Rolle des Partners zu übernehmen. Als Bürger ist der Sachkundige, was die öffentlichen Belange angeht, Bauherr wie jeder. Auf Grund seiner Sachkunde ist er nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, seiner Stimme im Sinne der Interessen aller Gewicht zu geben. Hochmut ist dabei nicht am Platze, denn es ist zu bedenken, ob überhaupt jemand noch in der Lage ist, sich aus der Masse der Unwissenden auszuschließen, jedermann hat doch, und sei sein spezielles Wissen noch so groß, viele Wissenslücken. Dazu können wir für unsere besseren Einsichten von heute, das zeigt die Erfahrung, mit Sicherheit nicht garantieren; jeder denkende Mensch muß sich täglich korrigieren. Sollten also überall, wo das Wissen fehlt, die „Gewalttaten“ der Besserwissenden regieren? Wie sieht es aus in all den Fällen, wo wir uns alle zur Masse zählen müssen? Haben wir einfach stillzuhalten und ja zu sagen, nur weil wir den Gesamtkomplex nicht übersehen können? Die vergangenen Ereignisse, alle die Katastrophen, die durch die „besseren Einsichten'über uns sprechen sind, gekommen nicht dafür; wir geben unsere Stimme zu vielen Dingen, die wir nicht übersehen können; wir verlassen uns dabei auf unser Gefühl oder das Vertrauen in eine Persönlichkeit; wir sehen unsere momentanen Interessen, eine politische Richtung, oder auch nur Konventionen. Auf dieses Recht der Mitentscheidung können wir trotz aller offensichtlichen Mängel nicht verzichten, weil die Gutmeinenden und die Verführer einer Disziplin, von der wir nichts verstehen, von uns nicht zu unterscheiden sind. Wir haben nur eine Mög-L lichkeit, die Entwicklung positiv zu beeinflussen, nämlich durch eine konstruktive Mitarbeit überall dort, wo wir glauben, die besseren Einsichten anbieten zu können, und wir sind verpflichtet, sie in die Waagschale zu werfen, wenn wir als Bürger nicht versagen wollen. Nur das ist Demokratie. „Die Demokratie (eine freie Gesellschaftsordnung) bedarf der freien und bewußten Mitwirkung jedes einzelnen Bürgers", sagt Adolf Arndt.
Wer meint, daß nur mit gelinder Gewalt die gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe und Pläne durchzusetzen sind, der befindet sich zwar in der Gesellschaft der meisten theoretisierenden und praktizierenden Planer, aber er befindet sich mit ihnen auf dem falschen Pferd: der Bürger wird diese Planungen nicht aktzeptieren. Die Unkenntnis in den Fachfragen führt zwar immer dazu, daß der Bürger allen möglichen Planungen zustimmt; das lebendige Leben aber steht der perfekten Durchführung stets im Wege. Alle die verzweifelten Versuche, unserer Gesellschaft eine „Ordnung" überzustülpen, die „Masse'zu gliedern und überschaubar zu machen, sie in die Kontrolle zu bekommen, mußten scheitern, weil mit einer unaufhaltsamen Macht an die Stelle der sozialen Kontrolle in den geschlossenen Gesellschaften früherer Zeiten unsere heutige offene Gesellschaft tritt: die bewußt unvollständige Integration, die Austausch und Kontakte in das Belieben jedes einzelnen Bürgers stellt, in der das Recht zu einer eigenen, von allen Konventionen freien Lebensführung selbstverständlich ist. Inzwischen hat es sich erwiesen, daß diese offene Gesellschaft bei aller Gefährdung des einzelnen einige besonders häßliche Formen des Zusammenlebens absorbiert. Intoleranz, religiöse und rassische Vorurteile, Diffamierungen und hexenprozeßähnliche Vorgänge werden mehr und mehr verdrängt. Sicher ist es daß Befreiung auch richtig, die der „Masse“ von jeder Bevormundung zunächst einmal zu Formlosigkeit einer erschreckenden geführt hat.
Das Recht zu einer eigenen Lebensgestaltung ist nicht ein Garantieschein für gute Form. Andererseits aber können wir auch nicht dieser Befreiung von jeder Bevormundung alle Übel unserer Zeit zur Last legen. Die „Unformen" des Kleinen Mannes haben Gartenzwergdimensionen. Der Verstand weiß und sagt zwar längst, daß das Bodenrecht, die Steuerverteilung und die recht zufälligen Gemeingrenzen der Entwicklung entgegenste-hen, ändern aber werden sich die Dinge erst, wenn die breiten Schichten die Bereinigung kraft der Gewalt der Bürger erzwingen.
Eine erste Voraussetzung dazu ist das akzeptable Angebot der Fachleute, keine Hirnge-spinste, sondern echte Möglichkeiten. Angebote, die aus der Summe der Bedürfnisse ermittelt werden. Der Bürger aber ist Auftraggeber — und wir sollten wissen, daß es nur über die Freiheit seiner Wahl weitergeht.
Die besten Experten sind stets die von der Planung Betroffenen
Es ist einfach nicht wahr, daß der Kleine Mann zur Sache nichts sagen kann. Als unmittelbarer Betroffener weiß er in der Regel besser als die Fachleute, worauf es ankommt. In der Süddeutschen Zeitung vom 22. 10. 1971 heißt es: „Einzige Lösung bleibt — und das wußte der einfache Lehel-oder Maxvorstadtbewohner von Anfang an, man hat ihn nur nicht oder zumindest zu spät gefragt — die Aufhebung der Kerngebietsausweisung in den Innenstadt-Randgebieten und die Rückführung sämtlicher dieser Viertel zur Wohnfunktion“. „Verödungsgefahr jetzt amtlich bestätigt“ lautet die Überschrift, und das weist aus, daß die Planer erst jetzt einen Mißstand erkennen, der den Betroffenen von Anfang an klar war.
Die Fachleute dienen unter dem Zwang der Verhältnisse zumeist nicht der Sache, sondern sachfremden Interessen. Sie sind so verquickt ins System heutiger Praktiken, daß vielen von ihnen der Sinn für das gesellschaftlich Notwendige längst abhanden gekommen ist. Der Weg des geringsten Widerstandes wird mit dem Hinweis verschleiert, daß man nur das im Moment gesellschaftlich Mögliche realisieren könne. Elementare Lebensgrundlagen werden (vermeintlichen) Sachzwängen geopfert. Viele Fachleute betreiben isolierte Lösungen von Einzelaspekten, ohne Rücksicht auf den Gesamtzusammenhang. Zu einem solchen Fehlverhalten ist kein Betroffener fähig, denn er hat die Folgen davon schließlich auszubaden. Der Betroffene kämpft um seine Wohnung in der Stadt, so unrealistisch dies angesichts der Bodenpreis-entwicklung auch sein mag. Er kämpft um jeden Baum, obwohl die Natur als eine Grundvoraussetzung in der Stadt heute kaum berücksichtigt wird. Er fordert sichere Schulwege, obwohl dies bei der immer noch zunehmenden Auswucherung von Verkehrsflächen nicht zu verwirklichen ist. Der Betroffene würde noch viel mehr fordern, wenn er mit dem Fachwissen ausgestattet wäre, das die Fachleute zwar besitzen, aber nicht nutzen. Der Betroffene ist der bessere Experte, weil er von der Sache her urteilt und nicht nach den sachfremden Zwängen, die heute vorherrschen.
Die sachkundigen Bürger haben eine Hebammenfunktion Ohne Zweifel gibt es in großen Teilen der Bevölkerung erhebliche Fehlurteile, so in der Bodenfrage. Die Schuld daran muß man den sachkundigen Bürgern geben, die es bisher nicht verstanden haben, durch Analyse und Darlegung der Probleme die Bürgerschaft in die Lage zu setzen, bessere Entscheidungen zu treffen. Die Sachkundigen haben, wenn sie ihre Aufgabe richtig erfüllen wollen, gewissermaßen eine Hebammenfunktion. Ihre Methode ist die des Sokrates, der seine Mitmenschen durch Fragen zum Selbstfinden der Erkenntnis führte.
Von diesem Rollenverständnis sind die sachkundigen Bürger noch weit entfernt. Der überwiegende Teil der Fachwelt handelt nicht aus der Optik der Bürger. Man kann nicht sagen, daß die Fachleute die Städtebaumisere verschuldeten; ohne Zweifel aber ist das Establishment des Standes mit dem Establishment der Gesellschaft so verbunden gewesen, daß eine Mitbeteiligung, ein Mitverschulden an den Zuständen nicht geleugnet werden kann. Von der Sache her protestiert haben nur Außenseiter, die sich nicht durchsetzen konnten. Die Fachleute, die noch immer „groß“ im Geschäft sind, werden gesellschaftliche Konflikte kaum bemerken bzw. nicht bemerken wollen.
Neben den Erfüllungsgehilfen aber haben wir es in der Fachwelt mit Formalisten, „Utopisten", Zivilisationsoptimisten, Kulturpessimisten zu tun, und alle, darüber muß man sich klar sein, beeinflussen die Realität, und sei es auch nur dadurch, daß sie die jeweils entgegengesetzte Gruppe durch ihre Aktivität in der Wirkung beeinträchtigen oder aufheben. Die Nutznießer sind die berufsmäßigen Profi-teure, die aus der allgemeinen Verwirrung ihr Kapital schlagen. Hans Paul Bahrdt be7 schreibt es an einem Beispiel treffend: „Der Begriff . Verdichtung'ist zum Schlagwort vieler Avantgardisten geworden, und es ist zu befürchten, daß manche von ihnen, die meinen, Verdichtung führe automatisch Urbanität herbei, ohne es zu merken, zu ideologischen Handlangern von Geschäftemachern werden, die sich wie die Spekulanten der Gründerzeit von möglichst hoher Bebauungs-und Besiedlungsdichte eine größtmögliche Rendite erhoffen" (in: Humaner Städtebau).
In einer Mischung von messianischem Anspruch und Opportunismus geht die Fachwelt davon aus, daß die Menschen den Idealen der Entwerfer folgen, und betätigt sich gleichzeitig als Erfüllungsgehilfe von offensichtlich falschen Aufgaben. Die Architekten bauen fünfgeschossig, weil bis dahin kein Aufzug verlangt wird, achtgeschossig, weil es bis dahin keine Hochhausvorschriften gibt, sie bauen so dicht, wie es die Abstandsvorschriften und Ausnutzungsziffern erlauben und errichten jeweils das, was auf Grund finanzieller, administrativer und politischer Voraussetzungen sich am leichtesten realisieren läßt. Diese Realität hält viele Planer nicht von dem Glauben ab, mit Zeichnungen die Welt retten zu können. In Selbstüberschätzung und Mißdeutung der Freiheit setzen sie ihre individuellen Vorstellungen mit den Bedürfnissen der Gesellschaft gleich.
Wer über die Freiheit der Lebensführung für jedermann die Kunstform stellt, der hat weder unsere Zeit begriffen, noch hat er eine Vorstellung von der Funktion der Baumeister in alten wie in heutigen Zeiten. Es ging und geht niemals um Formvorstellungen, sondern um die Realisation sehr konkreter Aufträge. In der Form muß sich getreu das Wesen der Zeit spiegeln. An dieser gemeinsamen Aufgabe kann jeder nur zu einem bescheidenen Teil mitwirken. Vielfalt entsteht nicht aus einer Anhäufung individueller Vorstellungen von der Gesellschaft, sondern sie entsteht aus der Vielfalt der immer wieder anderen Voraussetzungen und dem Wandel der Zeit. Die Aufgabe der Baumeister liegt allein darin, sich diesen immer wieder neuen Voraussetzungen zu unterwerfen.
Der Funktionalismus ist nicht überholt Es war das geistige Prinzip des Funktionalismus, die Dinge in der formalen Erscheinung zu reduzieren, um sie den Menschen um so besser dienstbar zu machen. In der Unfähigkeit, dieses geistige Prinzip auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu übertragen, liegt der Kem der Krise von Architektur und Städtebau. Ratio und Emotion werden am jeweils falschen Platz über-oder unterbewertet; in dem Nebeneinander verschiedener „Formvorlieben" steckt mehr Unsicherheit als die Weiterführung der verschiedenen Ausprägungen der Moderne, die, ob sie nun von Frank Lloyd Wright, Mies van der Rohe oder Le Corbusier stammen, ebenso tief in die Tradition reichen wie sie weit in die Zukunft weisen. Nicht in der Individualität, die in der Baukunst durch die Bezogenheit auf alle immer nur eine sekundäre Rolle gespielt hat, sondern in dem hohen Grad an Allgemeingültigkeit liegt die Kraft der Ausstrahlung.
In unserer Gesellschaft sind viele Lebensauffassungen nebeneinander möglich. Es ist weder notwendig noch wünschenswert, diese Vielfalt einzuschränken. Selbstverständlich muß sich die Vielfalt auch in der Bebauung ausdrücken können. Die Freiheit der Lebensäußerungen kann durch die Regelung der gemeinsamen Belange nur wachsen. Wir sollten der Ratio nicht im Wege stehen, die Formeln für das Zusammenleben herauszufinden. (Dabei ist anzumerken, daß es zunächst mehr darum geht, überflüssige Formeln abzuschalfen als neue zu erfinden.) Eine solche Formel steckt zum Beispiel in Bakemas und van den Broecks Lijnbaan in Rotterdam. Sie haben den Basar für unsere Gesellschaft wiederentdeckt und auf heutige Bedürfnisse übertragen. Viel später entstand das Gegenbeispiel der Berliner Allee, die mitten durch das Kerngebiet Düsseldorfs neu angelegt wurde. Die grandiose Umlegungsleistung — die Besitzstände wurden aufgehoben und neu verteilt — hat man durch das überholte Miteinander von Läden, Straßen und Schienenbahnen vertan; eine bereits allgemeingültige Formel wurde verfehlt; darum ist an dieser Straße keine Aussage zur zeitgenössischen Architektur mehr möglich. Wenn man dort den Konzern-und Geschäftsgebäuden statt der gläsernen Fassaden wieder Werksteine vorpappen würde, die ja noch bis zehn Jahre nach dem letzten Krieg bevorzugt wurden, dann wäre die Prachtstraße aus großdeutschen Zeiten wiederhergestellt. Das ist der Aufbau als „Zerstörung mit anderen Mitteln", er ist von faulen Kompromissen geprägt.
Die Lijnbaan und die Berliner Allee sind nicht zwei Möglichkeiten einer freien Gesellschaft. Sicherlich gibt es in unserer Demokratie sehr verschiedene Auffassungen über die Freiheit. Aber es kristallisiert sich doch mehr und mehr heraus, was Unfreiheit ist und wie die Umwelt in keinem Falle aussehen darf. In diesem Zusammenhang ist die Auffassung, daß man jede Aufgabe verschieden lösen kann, einzuschränken. So groß die individuelle Freiheit beim Bau des Hauses ist, oder wenigstens sein sollte, beim Bau der gemeinsamen Gartenmauer muß man sich mit dem Nachbar einigen. In der Ausstellung „Heimat, Deine Häuser" gab es den Slogan: „Getrennt planen, gemeinsam wohnen; gemeinsam planen, getrennt wohnen". Ein geregeltes Nebeneinanderwohnen ist nur bei gemeinsamer Planung möglich. Es sind also sehr bestimmte gegenseitige Rücksichten zu beachten, die zu sehr bestimmten Grundformen führen, an denen kein Planer vorbei kommt, der diese Ansprüche erfüllen will. Mit der Zahl der Partner wird die Schwierigkeit der Übereinkunft größer und verringert sich die Zahl der Möglichkeiten.
„Utopisten" und Zivilisations-Optimisten — Die Überschätzung von Technik und Variabilität
Sowohl der Technik wie auch der Variabilität wird ein Wert beigemessen, den sie im Zusammenhang mit der Humanisierung der Umwelt von morgen nicht haben. Sie stehen in der Prioritätenliste für Architektur und Städtebau heute eher am Ende als am Anfang.
Oti Aicher schreibt dazu: „Die Avantgarde der modernen Architekten wendet sich wieder der Utopie zu. Es werden Raumstädte entworfen. Mitten auf dem Meer, zwischen Bergen, mehr in der Luft als auf der Erde. Weit über dem Boden verbinden Brückensysteme die Turmgerüste des Wohnens, der Verwaltung, das Shopping. Das Auto kann auf kreuzungsfreien Galeriesystemen wieder seine volle Geschwindigkeit ausfahren. Die Spannweiten orientieren sich an der Golden-Gate-Brücke. Nur, daß es deren Hunderte sind. Dabei erleben wir das deutliche Fiasko der Utopie ... Kenzo Tange überbaut die Bucht von Tokio, Yona Friedmann legt ein bewohnbares Raumgerüst über Paris, zusammen mit Schulze-Fielitz überbaut er den Ärmelkanal. Science-fiction der Ohnmacht."
Die Trostlosigkeit der neuen Quartiere im Verhältnis zu dem Humanum der alten Städte zeigt, daß es wesenhaft nicht um das Technische und um Variabilität gehen kann. Weder der einzelne für sich noch die Gesellschaft im ganzen können auf die Summe der Erfahrungen mit der Gestalt der Umwelt einer langen Menschheitsgeschichte verzichten. Die Bewohnbarkeit, das vertraute Gelände eines Hauses, eines Viertels, einer Stadt ist nicht von bestimmten Menschen abhängig. Je mehr der mobile Mensch von heute, ein moderner Nomade, sich mit vielen Orten dieser Art identifiziert, um so stärker wird die Verbindlichkeit des Humanen in der Welt. Es geht also um die Erschaffung von solchen Situationen und nicht um einen uneingeschränkten Freiheitsraum der „persönlichen Gestaltung", der sich bei näherem Zusehen dann doch auf Neckermann-Katalog, Schöner wohnen oder Werkbundlinie zurückführen läßt. Die Künstler haben den Wert, sich in ein „Nest" zu setzen, schon immer erkannt, sie bevorzugen das alte Großbürgerhaus.
Wenn Veränderung die einzige Konstante der Zukunft ist, dann bricht ein unmenschliches Zeitalter an. In der Vorstellung einer sich in allen Teilen ständig wandelnden Umwelt liegt nicht nur eine psychische Überforderung der menschlichen Natur, sondern auch die Zumutung eines Verzichts auf die Formen des Zusammenlebens, die sich in der langen Geschichte der Menschheit entwickelt haben.
Nach wie vor bleibt die technische und künstlerische Dauerhaftigkeit auch für den Wohnungsbau das wesentliche Merkmal der Qualität. Alles, was sich schnell überlebt, ist schlecht. Die eingeplante Veralterung ist schon bei den Gebrauchsgütern fragwürdig, der Architektur aber steht sie im Prinzip entgegen. Auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen haben sich nicht so verändert, daß wir die alten Städte aufgeben müßten, wir müssen sie lediglich nach unseren Bedürfnissen einrichten, das heißt um-und ausbauen, so wie es zu allen Zeiten geschehen ist. Daß die Intensität des Lebens in der alten Stadt nur äußerst selten in neuen Stadtgebilden erreicht wird, zeigt an, wie wenig wir auf die Substanzen verzichten können. Es geht heute weniger um neue Städte, sondern vielmehr darum, die alten vor weiterer Zerstörung zu bewahren. Erst heute beginnt sich ein Bewußtsein dafür herauszubilden, daß man ein Stadt-9 gefüge den vielfältigen Interessen und oft nur vermeintlichen Notwendigkeiten unserer Zeit nicht einfach preisgeben darf. Dabei geht es nicht um Denkmalschutz, sondern um den Schutz menschlicher Gesellschaftsformen.
Das Märchen, daß jeder für sich ein völlig neues Dasein erfinden könne, ist eine Zweck-lüge der Konsumgüterindustrie, die auch die elementarsten Lebensvorgänge in die Mühle von Produktion und Verbrauch einzwängen möchte. Die Kulturlosigkeit der immer wieder neuen Tapete und die Kultivierung des Umgangs mit den Dingen über Generationen hinweg sind Gegensätze, die sich nur mit unmenschlich und menschlich kennzeichnen lassen. Bauen hat im Vordergrund etwas zu tun mit den Lebensvorgängen, mit dem Wohl und Wehe der Menschen, mit einer Humanisierung der Umwelt. Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe hat die Technik nur einen Dienst zu leisten, der um so besser ist, je weniger man davon spürt.
Es geht um ein neues Berufsverständnis des Architekten Ein neues Berufsverständnis muß von der Aufgabe her entwickelt werden.
Alexander Mitscherlich sagt dazu: „Was ich in Frage stelle, ist die herrische Attitüde mancher Architekten, sie wüßten, was der Bauherr brauche, besser als dieser selbst. Der Architekt ist heute zuallererst ein Fachmann, der mit anderen Fachleuten zusammen praktisch die gesamte Lebensumwelt eines wachsenden Anteils der Weltbevölkerung bestimmt. Das hat zunächst wenig mit genialischer Aufgipfelung des Lebensgefühls, etwa im Sinne der großen Prachtbauten der Vergangenheit, zu tun. Vielmehr muß er in diesem Urbanisierungsprozeß, in diesem Vorgang der Technifizierung unserer Umwelt, die langsam zur einzigen Lebensumwelt so vieler Menschen wird, ganz neue Aufgaben bewältigen. Das fordert zu einer recht eingreifenden Änderung des Selbstverständnisses heraus, zu einer Änderung der beruflichen Identität“ (in: Thesen zur Stadt der Zukunft). Es stellt sich die Frage, was ein Architekt ist. Der Architekt ist ein Mensch, der einen Dienst zu leisten und zugleich die Freiheit hat, sich diesen Dienst auszuwählen. Der Dienst schließt die Verselbständigung architektonischer Arbeit aus. Die freie Wahl des Dienstes macht die Unbequemlichkeit des Architekten aus, weil er nur das ausführt, was er nach seiner Über-zeugung vertreten kann. Diese Freiheit ist entscheidend für die geistige Erfüllung der Aufgabe — nur so kann der Architekt Beispiele setzen. Die Forderung, daß die Beispiele die Freiheit der Lebensentfaltung der Menschen vergrößern müssen, schränkt die Möglichkeiten des Architekten außerordentlich ein.
Die Unauswechselbarkeit jedes Bauwerkes durch Aufgabe, Zeit, Mittel und Ort ist nur durch eine personale und niemals durch eine anonyme Leistung zu realisieren. Dieser Anspruch bleibt bestehen, und er wird durch die Serien der gleichen gesellschaftlichen Voraussetzungen und der Notwendigkeit der Vorfertigung zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Nicht an der Größe der Aufgabe, sondern an der Haltung zur Arbeit erkennt man den Architekten. Nicht die Quantität, sondern die Beeinflussung der Quantität durch das Beispiel ist entscheidend, sie läßt sich nur in einer realistischen Einschätzung der Zeit leisten. Der Architekt weiß, daß die Verhältnisse sich nur langsam ändern lassen, daß sich die Bindungen mit der Zahl der Partner verfestigen und so die individuelle Freiheit einschränken. Vor allem aber weiß er, daß die Gesellschaftsform, aus der letztlich auch Architektur und Städtebau entstehen, nicht diktiert werden darf.
Eine neue, durch die Vorfertigung bedingte Technologie einerseits und die Berücksichtigung vieler Nachbardisziplinen, vor allem der Soziologie, der Psychologie und der Medizin, andererseits, um zwei große, in sich sehr verschiedene Problemkreise zu erwähnen, erfordern eine grundsätzlich andere Arbeitsweise als die bisher übliche. Die komplexe Aufgabe der Umweltgestaltung kann in Zukunft nur durch Arbeitsteilung, durch Ausnutzung der verschiedenen Begabungen des sehr heterogenen Berufsstandes gemeistert werden. Die Formgebung liegt nicht bei dem einzelnen Gestalter, sondern in der Zeit. Mies van der Rohe hat hierzu schon 1924 in der Zeitschrift „Der Querschnitt“ gesagt: „Baukunst ist immer raumgefaßter Zeitwille, nichts anderes. Ehe diese einfache Wahrheit nicht klar erkannt wird, kann der Kampf um die Grundlagen einer neuen Baukunst nicht zielsicher und mit wirksamer Stoßkraft geführt werden: bis dahin muß er ein Chaos durcheinander wirkender Kräfte bleiben. Deshalb ist die Frage nach dem Wesen der Baukunst von entscheidender Bedeutung. Man wird begreifen müssen, daß jede Baukunst an ihre Zeit gebunden ist und sich nur an lebendigen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit manifestieren läßt, in keiner Zeit ist es anders gewesen.“ Orientierung an der Aufgabe Bisher befassen sich die Architekten mit Einzelaufgaben, die nicht in die Gesamtaufgabe integriert sind, und das bedeutet letztlich, daß die ganze Tätigkeit des Berufsstandes sich oft destruktiv auswirkt. Einzelleistungen hoher Qualität können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Berufsstand in den Prozeß einer immer stärkeren Stadt-und Landzerstörung verstrickt ist.
Der Berufsstand kann sich aus dieser Verstrickung nur dadurch lösen, daß er in Gemeinschaft mit Vertretern anderer für die Planung relevanter Disziplinen die Gesamtaufgabe Umweltgestaltung als eine den sachkundigen Bürgern gestellte Aufgabe auffaßt. Die sachkundige Bürgerschaft muß von sich aus Lösungsvorschläge einbringen und der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Orientierung an der Aufgabe ist unverfälscht nur ohne Bindung an einen bestimmten Auftrag möglich. Jeder wird in einem konkreten Auftrag automatisch zu einem Interessenvertreter, weil er dann selbstverständlich für seinen Auftraggeber eintreten muß und dessen Interessen nicht zugunsten allgemeiner schmälern kann. Die Unabhängigkeit von konkreten Aufträgen ist eine Voraussetzung dafür, daß Maßstäbe aufgestellt werden können, die nicht mit einseitigen Interessen belastet sind. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß Unerreichbares vorgeschlagen werden soll. Die realen Möglichkeiten der Gesellschaft sind zu berücksichtigen, vor allem im Hinblick auf die Bewußtseinslage der Masse der Bevölkerung. Es kann keinesfalls Aufgabe der sachkundigen Bürger sein, einen neuen „Bürger“ zu entwerfen; die sachkundigen Bürger haben von dem Menschen auszugehen, wie er jetzt ist.
Möglichkeiten und Grenzen von Leitbildern So sehr die unmittelbare Verknüpfung der Aufgabe Städtebau mit den vielfältigsten Interessen den Fortschritt hemmt, noch hemmender ist es, daß eine allgemeine Unsicherheit darüber besteht, wie die bauliche Umwelt von heute und morgen aussehen soll.
Nach Hans Paul Bahrdt fehlt die „Utopie mittlerer Reichweite" — auf die sich möglichst alle Planer von Einfluß einigen müßten —, also eine Utopie, in der der gesellschaftliche Prozeß des gegenseitigen Aushandelns phasenweise im Fachkreis vorweggenommen wird. Eine Utopie, zu der alle Sparten in den Grundzügen Ja sagen können. Diese Utopie ist imaginativ und nicht imaginär, also in größtmöglicher Bildhaftigkeit bei nüchterner Einschätzung der Möglichkeiten und nicht nur in der Einbildung vorhanden. Diese Utopie wird sich vielleicht auf Organisatorisches beschränken müssen, weil eine weitergehende Übereinkunft nicht zu erwarten ist. Aber sie wird vielleicht die Kraft haben, der ständigen Zerstörung an Stadtsubstanz Einhalt zu gebieten und bessere Vorbilder zu fundieren.
Der Berufsstand des Architekten hat es noch nicht geschafft, das, was er von der Gesellschaft verlangt, selbst zu vollziehen. Eine so einfache Vorstellung, daß man das, was im einzelnen schon erreicht wurde, auf der gesellschaftlichen Ebene zu einem Bild der Welt von morgen zusammenfügen kann, findet nicht allgemeine Zustimmung. Der Schutz der Privatsphäre, eine Mannigfaltigkeit der Wohnformen, die Berücksichtigung des öffentlichen Bedarfs, die Zuordnung der Arbeitsplätze nach der Präferenz der allgemeinen Erreichbarkeit im Stadtgefüge, der Bewegungsraum für die heranwachsende Jugend, die periphere Führung der Durchgangsstraßen, die städtischen Erholungsräume und vieles andere mehr sind allgemeingültige Forderungen, die sich durchaus zu praktikablen Modellen ausbilden lassen.
Mißverständnisse mit Alternativen Für den Bürger ist es eine Alternative, ob er auf dem Land oder in der Stadt leben will. Für den Planer handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Umweltwünsche, die er beide zu berücksichtigen hat.
Dort ein dichtbesiedeltes und hier ein halb so dicht besiedeltes Quartier würden, wenn man von der Vielfalt der Bedürfnisse und Wünsche der Bürger ausgeht, generell besser ersetzt durch zwei Quartiere, die jeweils in Teilen dicht und in anderen Teilen halb so dicht besiedelt wären. Die unterschiedlichen Dichten würden unterschiedlichen Ansprüchen gerecht, die Vielfalt steigern bei gleichzeitig noch guter Attraktivität der gemeinschaftlichen Einrichtungen. Selbstverständlich muß es im Belieben der Bürger liegen, ob sie im Flachbau, im Terrassenhausbau oder im Hochbau leben wollen, ob sie viel oder wenig Wohnflächen, kleine oder große Terrassen oder Gärten belegen wollen. Alle diese alternativen Möglichkeiten für den Bürger aber bedeuten für den Planer, daß er immer von der Vielfalt unterschiedlicher Bedürfnisse ausgell hen muß. Die pluralistische Vielfalt der Bedürfnisse mit ihren mannigfaltigen Facetten ist, was die gegenseitige Auspendelung der Interessen angeht, ganz besonders gut geeignet für eine Harmonisierung des Zusammenlebens. Der, der die Wohnung nur zum Schlafen gebraucht, finanziert die gemeinsame Anlage eines Hauses schließlich auch für den mit, der für seine Wohnung eine hervorragende Wohnsituation fordert.
Die Ökonomie einer Anlage läßt sich dann nochmals steigern durch den Einbezug gewerblicher Flächen, die nun wiederum zum Nutzen aller dazu beitragen, daß die gemeinschaftlichen Anlagen billiger werden.
Die Erfüllung der Vielfalt der Bedürfnisse und Wünsche der Bürger zwingt in der Summe zu der bestimmten einen Umwelt, die ähnlich wie die Bindung durch ein Gesetz das Zusammenleben erst erträglich macht.
Die Umwelt muß potentiell für Alte und Kinder, für Gesunde und Gebrechliche, für Wohnen wie Arbeiten, für Privatleben wie Öffentlichkeit — um einiges zu nennen — geeignet sein. Aus der Vielfalt dieser Facetten zeichnet sich schließlich die „Umwelt“ für jeden Platz ab, für die es dann m. E. keine Alternativen mehr gibt.
Es gibt natürlich unterschiedliche Auffassungen über das, was der Vielfalt der Bedürfnisse am nächsten kommt. Aber auch hier handelt es sich nicht um mögliche Alternativen, sondern um Versuche im Herantasten an die „Wahrheit der Werte" nach Georg Picht.
Zur gebauten Umwelt ist ganz allgemein festzustellen, daß sie nicht einfach eine Addition von Behausungen sein kann. Das absolut gleichwertige und gleichartige Nebeneinander von Häusern als der perfekteste Ausdruck der gleichen Rechte für alle in der Demokratie — diese Idee hört sich zunächst einmal gut an, nur mit den tatsächlichen Bedürfnissen hat diese Vorstellung, die auch ihre Ideologen gefunden hat, nichts zu tun.
Die Tatsache, daß an die Stelle der Könige und Kaiser der Bürger getreten ist als der Souverän unserer Zeit, bedeutet keineswegs eine Gleichheit aller, sondern eine Vielfalt sehr unterschiedlicher Bürger mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen.
Dafür die Form zu finden, darin liegt die Aufgabe, denn sowohl in den positiven wie in den negativen Erscheinungen hatte und hat die Stadt eine bestimmte Form.
Das Wohnen Der elementare Anspruch auf Behausung steht schon deshalb im Mittelpunkt, weil damit die Basis der menschlichen Lebens-entfaltung geschaffen wird. Zustand, Ort und Bezüge der Behausung zu den Mitmenschen sind wesentlich mehr als die Notdurft des Schutzes vor den Unbilden der Witterung, sie sind ein Grundmuster menschlicher Existenz. Die allermeisten Mißstände der heutigen Zeit lassen sich darauf zurückführen, daß dieses Grundmuster nicht mehr stimmt. Es geht nicht nur um den Schutz der Privatsphäre, ebenso wichtig ist das sorgsam abgestimmte bauliche Verhältnis zu den Mitmenschen, eine klare Abgrenzung der verschiedenen Stufen der Gemeinsamkeit. Sie beginnt innerhalb der Wohngemeinschaft und führt über Nachbarschaftsverhältnisse zu den unterschiedlichen Stufen der Öffentlichkeit in der Wohngegend, dem Quartier, dem Stadtteil bis hin zur Öffentlichkeit der großen Stadt. Sicherlich ist zu bedenken, daß gerade in unserer Zeit die zwischenmenschlichen Beziehungen einen in der Geschichte der Menschheit bisher nicht bekannten Tiefstand erreicht haben. Die Menschen leben in den ohnehin nach Schichten isolierten Wohngebieten noch einmal völlig isoliert für sich. Die außerordentliche Verbreitung psychischer Erkrankungen ist die unmittelbare Folge der Vereinsamung des einzelnen, auch oft innerhalb der Familie. Fast jeder ist auf sich gestellt; die „Kommunikation“ wird von außen geliefert, vor allem durch Presse, Funk und Fernsehen. Es gibt aber nicht nur Vereinsamung, sondern auch die unechte, gespielte gegenseitige Teilnahme. Die Würdelosigkeit des Daseins im Ghetto eines Altenheimes z. B. kann sich darin ausdrücken, daß man im Interesse des Heimklimas munter und umgänglich zu sein hat. Das Private tritt völlig in den Hintergrund, jede Behausung wird mehr oder weniger zur „offenen Tür" für alle.
Ein bauliches System muß, um ein Beispiel zu nennen, viele Möglichkeiten gegenseitiger Kontakte anbieten, es darf solche Kontakte aber nicht erzwingen. Es muß Begegnungen ermöglichen, aber auch „Fluchtwege" für die, die (gegebenenfalls bestimmte) Begegnungen nicht wollen. Ein System, das für den Außenseiter, den Alleingänger keinen Platz hat, ist von Grund auf falsch.
Viele neuere Entwürfe, die betont die gemeinsamen Belange in den Vordergrund stellen, haben diesen Mangel und stiften darum auf die Dauer nicht Gemeinschaft, sondern Feind-schaft — das genaue Gegenteil von dem, was man im Sinne hatte.
Beim Wohnungsbau steht der überregionale Charakter der Aufgabe im Vordergrund. Es geht um Modelle, die überall anwendbar sind. Wer in der Herausbildung solcher Modelle eine unzumutbare Schematisierung sieht, der vergißt, daß sich von der Antike bis zur Neuzeit in der Architektur bestimmte Modelle, unabhängig vom Ort, ausgeprägt und über Land und Länder verbreitet haben. Wenn hier die Herausbildung von Modellen gefordert wird, dann sind damit nicht Korsette für das Wohlverhalten der Menschen gemeint, sondern Vorbilder, die der Gesellschaft angeboten werden. Ansprüche aus solchen Vorbildern können in einer Demokratie erst dann überall realisiert werden, wenn sie allgemein vertreten werden.
Es gibt heute eine Vielfalt von Angeboten, aber nur sehr wenig — nur das Prototypische — überdauert die Zeit. Zurückblickend zeigt sich eine Fülle von Formalismen, die wie Modeartikel abgelegt werden. In diesem Zusammenhang sprach Adorno auf der Werkbundtagung 1965 in Berlin von der Vergeblichkeit, einer Sache durch etwas aufzuhelfen, was nicht aus ihr stammt, und er sagte dazu, wer nicht lerne, was verfügbar sei und es weiter-treibe, fördere aus dem vermeintlichen Abgrund seiner Innerlichkeit bloß den Rückstand überholter Formen zutage.
Wer im Sinne Adornos Bestandsaufnahme betreiben will, muß feststellen, daß dem heutigen Schematismus im Wohnungsbau eine außerordentliche Vielfalt des Bedarfs gegenübersteht. Der heutige Schematismus ist also als offensichtlicher Mißstand typisch nur für unsere Zeit. Die möglichen Modelle, die sich aus der Summe der wissenschaftlichen Beiträge zum Wohnungs-und Städtebau abzeichnen, sind zwar auch Schemata, aber sie . sind ungleich vielgestaltiger als das, was allerorts realisiert wird. In der Sache steckt also, um Adorno zu folgen, noch viel Verfügbares, was noch nicht gestaltet ist.
Die Privatsphäre Das ungestörte Privatleben, auch des einzelnen innerhalb der Familie, ist die unmittelbare Voraussetzung für das Entstehen einer demokratischen Öffentlichkeit. Sie lebt davon, daß sie von Einzelpersonen getragen wird. Vielleicht waren die Manipulationen mit der Masse in früheren Zeiten nur deshalb möglich, weil es die Einzelperson mit diesen Voraussetzungen zu selten gab. Wenn in dieser Vermutung nur ein wenig Wahrscheinlichkeit steckt, dann läßt sich die Bedeutung der Privatsphäre für die Gesellschaft nicht hoch genug einschätzen. Das Vorurteil, dem einzelnen Menschen die Grundstruktur seines Lebens vorschreiben zu müssen, wenn es nicht zum Chaos kommen soll, wird mehr und mehr durch die Einsicht ersetzt, daß in der Freiheit des einzelnen Menschen die eigentliche Chance für die Entwicklung einer neuen Gesellschaft steckt. So ist das soziale Absinken ganzer Siedlungen zumeist darauf zurückzuführen, daß das Verhalten des einzelnen und der Familie unter sozialer Kontrolle stand und so die freie Entfaltung hemmte. Gemeinsamkeit läßt sich auf die Dauer niemals erzwingen. Echte Gemeinsamkeit ist immer auf Freiwilligkeit angewiesen. Erzwungene Kontakte führen mit Sicherheit auf die Dauer zu gegenseitiger Ablehnung. Sicher gibt es in der Versorgung Gemeinsamkeiten, die wegen ihrer notwendigen Vorteile für alle Beteiligten allgemein akzeptiert werden. Diese Gemeinsamkeiten sind auch sicherlich nicht alle, wie etwa die Kanäle, versteckt und ohne jeden Einfluß auf das Zusammenleben. Das Miteinander im Haus, auf dem Flur oder dem Laubengang, im Ladenzentrum und in den öffentlichen Einrichtungen wird ohne Einsprüche hingenommen. Schwierig wird es aber sofort, wenn das Nebeneinander zu der in jeder Hinsicht überholten sozialen Kontrolle führt, die nicht nur ein Vortäuschen von Wohlverhalten, sondern zugleich auch Vorurteile, Diffamierungen und Intoleranz zur Folge haben.
Bei der Schaffung der Privatsphäre geht es mehr um eine Situation, die Privates verbürgt, als um individuelle Gestaltung des privaten Bereiches. Die Mansarde der Gründerzeithäuser mag in vielerlei Hinsicht unzulänglich gewesen sein, sie hat aber den generellen Anspruch auf ein Eigendasein erfüllt. Darum geht es zuerst. Das Eigendasein gründet sich auf sichere Grenzen, die von anderen nicht verletzt werden dürfen. So ist die Abgrenzung gegenüber dem nächsten Individualbereich das Elementare, die bestimmte un-verletzbare Situation. Erst in zweiter Linie folgen Ansprüche an die Lage und an Größe und Ausstattung.
Alle diese Ansprüche sind insgesamt nur durch eindeutige Situationen sicherzustellen; sie müssen von der Planung her garantiert werden. Abgeschlossenheit, eine ungestörte Wohnsituation auch im Hinblick auf Besonnung und Ausblick, die angemessene Größe, alles dies entzieht sich im Nebeneinander der gleichen Ansprüche der Nachbarn weitgehend der Beliebigkeit. Sichere Grenzen im Nebeneinander sind eine entscheidende Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Der Unfrieden ist eingebaut, wenn die Grenzen ins Belieben der Nachbarn gestellt sind. Dabei geht es nicht nur um Wohnungstrennwände, sondern um Wohnsituationen, die alle unerwünschten Kontakte ausschließen.
Die Ansprüche an die Privatsphäre, die die Begüterten schon immer erreicht haben, sind heute allgemein zu stellen. Sie sind das sichtbare Zeichen für ein Mündigwerden der breiten Bevölkerungsschichten. Diese Ansprüche verändern die Wohnungsstruktur. Auf Personen bezogen, entstehen kleinere Einheiten, unmittelbar ausgerichtet auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen. Es geht so primär um die Erschaffung von privaten Wohnsituationen, um den in der notwendigen Dichte des Zusammenlebens geschützten Raum, in dem jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt.
Die „Wohnungen-Wohnung"
Nach der Sicherstellung der privaten Sphäre entsteht eine erhöhte Bereitschaft zur Kommunikation. Viele wollen nicht zusammen, aber beieinander wohnen. Die Lösung dafür ist die Wohnungen-Wohnung, eine Kombination mehrerer Wohnungen, die das Zusammenwohnen der Kleinfamilie und gleichzeitig das nahe Beieinanderwohnen mit nahestehenden Erwachsenen erlaubt. Dabei ist es gleichgültig, ob damit eine Großfamilie, eine Kommune oder eine sonstige Art von Wohngemeinschaft zustande kommt. Die Wohnungen-Wohnung wird die Spannungen zwischen junger und alter Familie, zwischen Eltern und Heranwachsenden auflösen, weil das oft unerträgliche Zusammenwohnen in das erträglichere Nebeneinanderwohnen umgewandelt wird. Man denke dabei auch an die jungen Menschen, die endlich einmal ein selbständiges Dasein benötigen.
Die Spannungen eines zu nahen Miteinanders entfallen bei einem von Zwängen freien Nebeneinanderleben. Die Schwiegermutter, in der unmittelbaren Nähe schon durch den Generationsunterschied unerträglich, wird in der separaten selbständigen Nachbarwohnung zum Partner gegenseitiger Hilfen. Sie verwahrt das Kleinkind in Gegenleistung zu der Versorgung, die sie im Krankheitsfall benötigt. Dem Emanzipationsbedürfnis der jungen Menschen wird, sobald sie eine eigene, von der Familie nicht kontrollierte Behausung haben, Rechnung getragen. Es bleiben Kontakt und Miteinander und es entfällt der Druck der zu großen Nähe.
Gerade der Respekt vor der Privatsphäre — auch der Heranwachsenden — schafft die Voraussetzung für ein stärkeres Miteinander, für zusätzliche Räume, die von der Gemeinschaft einer Wohnungen-Wohnung benutzt werden. Ein gemeinsames Foyer, ein Fernsehoder Hobbyraum für alle, eine gemeinsame Loggia, Terrasse oder ein gemeinsamer Garten (um einige Beispiele zu nennen), sind, gleichgültig ob sie wechselseitig oder gemeinsam genutzt werden, Anlässe zum Miteinanderleben, ohne je zum Zwang zu werden.
Die Wohnungen-Wohnung ist attraktiv für alle diejenigen, die nicht völlig isoliert wohnen wollen. Sie fördert Gemeinsamkeit, ohne sie zu erzwingen. Gerade durch die Voraussetzung der Sicherstellung der Privatsphäre jedes einzelnen erhält die Wohnungen-Wohnung eine erhöhte Bedeutung. Sie ist die Lösung für das in unserer Zeit erst entstandene Problem der drei gleichzeitig lebenden Erwachsenen-Generationen.
Die vollständige Population — eine erste Programmforderung an den Massenwohnungsbau
Inzwischen wird allgemein erkannt, daß viele Mißstände auf ein falsches Wohnungsangebot zurückzuführen sind. Durch die zumeist sehr begrenzte Anzahl verschiedener Wohnformen werden nur bestimmte Bevölkerungsgruppen (etwa vornehmlich Familien mit zwei Kindem) bestimmter Einkommensklassen (Arbeiter und Angestellte) in den neuen Quartieren angesiedelt. Die Bevorzugung von Familien mit Kindern läßt sich zwar in Festreden sehr gut verwerten, in der Praxis aber führt sie zu erheblichen Schwierigkeiten. Gegenüber einer normalen Population kann sich eine Quartier-gemeinschaft mit extrem vielen Kindern selbstverständlich viel weniger leisten, weil das Durchschnittseinkommen und damit auch das Angebot am Ort, auf die Personenzahl bezogen, erheblich eingeschränkt ist. Durch die extreme Verschiebung entsteht dazu für eine begrenzte Zeit auch ein erheblicher Mehrbedarf an Kinderspielplätzen, Kindergärten und Schulen.
Der Soziologe Hans Paul Bahrdt hat sich schon früh eingehend mit dem Problem der vollständigen Population beschäftigt.
In welchen Arten und Mengen die Wohnungen einmal im Geschoßbau und einmal im Flachbau untergebracht werden sollen, darüber macht Bahrdt präzise Angaben. Er geht davon aus, daß Familien oder Wohngemeinschaften mit Kindern unter 14 Jahren Flachbauwohnungen benötigen. Ein bedeutender Teil der größeren Wohnungen ist so dem Flachbau zuzuordnen mit der Folge, daß im Geschoßbau sich mehr die Kleinwohnungen konzentrieren. (In beiden Fällen aber mit den an beiden Plätzen notwendigen Möglichkeiten zu Wohnungskombinationen.)
Als dritte Wohnform wurde vom Verfasser das Terrassenhaus eingeführt, das z. Z.der Prognose von Hans Paul Bahrdt noch nicht aktuell war. Die Wohnung mit Garten in der Etage wurde als eine Zwischenform zwischen Flachbau und Geschoßwohnung nach Art und Mengen aus Teilen des Flachbaus und des Geschoßbaus zusammengesetzt. (Der Anteil der Terrassenhauswohnungen, die z. Z.der Prognose von Bahrt noch nicht aktuell waren, wurde vom Verfasser geschätzt.)
Auch in dieser Wohnform sind möglichst viele Wohnungskombinationen anzubieten. Im Verhältnis zu den Zuständen drückt sich in der Tabelle bei aller Unzulänglichkeit ein Anspruch aus, der auch schon dann nützlich ist, wenn er sich nur zu einem kleinen Teil durchsetzen läßt. Schließlich wird viel zu wenig bedacht, daß durch die Wohnungsarten bestimmt wird, wer mit wem zusammenlebt. Durch die Wohnungsarten wird Gesellschaft provoziert, und in der Regel nur ein isolierter Teil der Gesellschaft. Wer ganze Quartiere mit Wohnungen für junge Familien mit ein bis zwei Kindern errichtet, der muß sich nicht wundern, daß er ein Ghetto schafft. Die Langweiligkeit der Trabantenstädte ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß dort hauptsächlich nur Familien mit Kindern angesiedelt worden sind, oft überdurchschnittlich belastet dazu mit sozial schwachen und sozial gefährdeten Familien. Es versteht sich von selbst, daß schon nach einer Generation alle anderen Bedürfnisse aus dem nachwachsenden Bedarf auch in diesen Wohngebieten auftreten. Die Wohnungen passen dann nicht mehr, sie sind über-, unterbelegt oder, was am schlimmsten ist, der Bedarf wird in anderen Gebieten gesucht. Die falsche Wohnstruktur läßt es einfach nicht zu, daß sich jemals ein Querschnitt der ganzen Gesellschaft ansiedelt, so wie es in jedem Dorf möglich ist. Neben dem Mangel an einem vielfältigen Wohnungsangebot entsprechend den vielfältigen Bedürfnissen der Gesellschaft entsteht eine weitere Isolierung dadurch, daß in der Regel in den Neubaugebieten auch nur Wohnungen für eine Einkommensklasse angeboten werden, oft dann zusätzlich beschränkt auf die Angehörigen einer Großfirma, auf Flüchtlinge, auf eine bestimmte Konfession und in den übelsten Fällen auf sogenannte Asoziale, die man aufgrund von Sanierungsaufgaben an anderer Stelle aussiedelte. Die Forderung nach einer Vielfalt der Wohnformen nach der Vielfalt der vorliegenden Bedürfnisse schon im ersten Angebot ist unerläßlich.
Wesentlichste für dieser Das die Bewältigung Vielfalt in der Architektur, die ihrer Natur nach auf Dauer gerichtet ist, liegt in der Herauskristallisation prototypischen Programms, das noch wachsenden Bedarf dem gerecht wird. Diese zunächst unlösbar erscheinende Aufgabe ist durchaus zu meistern, weil auch die Vielfalt bei entsprechend großen Gruppen erfaßbar wird. Die alten Städte sind ein lebendiges Zeugnis dafür.
In der Programmstruktur für den Massenwohnungsbau — er nur hat in der Sache Wohnen Gewicht und macht knapp 50 °/o des gesamten Bauvolumens der Bundesrepublik aus — gibt es, wenn man von bestimmten Mengen ausgeht, in allen Teilen des Landes keine wesentlichen Unterschiede. Mit Mengen sind hier Hunderte von Wohnungen, nicht etwa Tausende, gemeint. Am Beispiel des Altenproblemes läßt sich leicht nachweisen, daß die wesentlichen Mißstände auf einen Mangel in der Programmstruktur zurückzuführen sind. In gleicher Weise ist das für die Kinderwelt, die Arbeitswelt, die Versorgungsstrukturen und für die Bildungs-und Kultureinrichtungen nachweisbar. Eine Programmstruktur, die alle diese Notwendigkeiten einbezieht, zugleich aber auch den Aspekt der finanziellen Möglichkeiten des einzelnen und des Gesamthaushalts einer solchen Gruppe berücksichtigt, gibt es bis heute noch nicht.
Eine Untersuchung aller dieser Aspekte mit ihren gegenseitigen Verflechtungen — aber vorerst ohne jede Festlegung architektonischer Art — ist als Arbeits-und Angebotsunterlage für jeden Planer und für jede Planer-gruppe von großer Bedeutung, ganz gleich an welcher Stelle und in welcher Menge sie in unserem Lande Wohnungsbau betreiben.
Der Flachbau Hans Paul Bahrdt schreibt dazu: „Familien mit mehreren noch nicht erwachsenen Kindern sollten in großem Umfang Gelegenheit erhalten, in Flachbauten zu wohnen. Das bedeutet aber, daß die im Massenwohnungsbau vorgesehenen Flachbauten für solche Familien auch geeignet sein müssen. Diese Familien befinden sich sehr oft in einem doppelten Engpaß: Einerseits ist das Einkommen pro Kopf meist sehr gering. Da die Hausfrau nicht mehr erwerbstätig ist, gibt es oft nur einen Einkommensbezieher. Zweitens aber ist dennoch die Arbeitslast für die Hausfrau und Mutter in dieser Lebensphase sehr groß, auch wenn sie jetzt ganz für die Hausarbeit zur Verfügung steht. Ein Einfamilienhaus nützt einer solchen Familie nur wenn es dann, nicht wesentlich teurer als eine vergleichbare Mietwohnung ” ist.
Gerade bei Familien (oder einzelnen) mit Kindern (oder Kind) ist das Bedürfnis nach Zusammenleben in einer „Großfamilie" besonders ausgeprägt. Primär geht es um die Nähe von Anverwandten, in der Regel der Großmutter oder eines Großelternpaars. Es mehren sich aber auch hier die Fälle von Wohngemeinschaften von nichtverwandten Personen. Der Vorteil eines solchen Zusammenlebens liegt vor allem in einer Gegenseitigkeitshilfe, in der Betreuung. Bei der Doppelbelastung der Frauen durch Haushalt und Berufstätigkeit gewinnt die Gegenseitigkeitshilfe an Bedeutung. Die „Großfamilie“ bringt aber auch durch die größere Zahl der Bezugspersonen eine Bereicherung der Kinderwelt. (Es gibt keine „Schlüsselkinder" mehr!) Erheblich sind auch die ökonomischen Vorteile. Schon wegen der Kinder bietet auch hier ein Wohnen in unmittelbarer Verbindung zum Garten und der Umwelt die ideale Voraussetzung. Das Zusammenleben mit anderen vollerwachsenen Personen erfordert Kombinationen von in sich selbständigen Wohnungen. Erst durch die Sicherung einer eigenen Umwelt, in der man sich zurückziehen kann, wird ein harmonisches Zusammenleben möglich. Ein gemeinsam benutzter Garten und eine gemeinsame Eingangszone setzen schon sowieso ein hohes Maß an Übereinstimmung voraus. (Nahe beieinanderliegende Wohnungen, etwa eine Altenwohnung im benachbarten Geschoßbau, sind der Kompromiß, wenn eine allzu große Nähe nicht gewünscht wird.) Es geht um eine Wohnform für breite Bevölkerungsschichten, die sowohl nach den Kosten wie auch nach dem Arbeitsaufwand in der Benutzung allgemein angenommen werden kann. Die Häuser sollten so einander zugeordnet sein, daß zwischen ihnen ein System von Wohnwegen und -plätzen entsteht; sie werden so zu einem Gesamtbauwerk mit einer nur dem Fußgänger-verkehr vorbehaltenen Erschließung zusammengezogen. Die Gärten müssen eine gegen Einblicke von Nachbarhäusern geschützte Anordnung haben. Eine ruhige Wohnlage setzt die Unterbringung der Autos in Tiefgaragen voraus, unter einem Teil der Gartenhofhäuser sollten sich deshalb Sammelgaragen befinden. Optische und akustische Störungen werden so vermieden.
Der Flachbau der Zukunft kann große Ähnlichkeit mit der anheimelnden Enge unserer Altstädte haben. Die vielen verschiedenen Bedürfnisse erzwingen eine große Zahl von Wohnformen, so daß sich eine Lebendigkeit von selbst einstellt.
Integration der Alten Vorab ist festzustellen, daß der größere Teil der jetzt notwendigen Altenwohnungen und Altenheime überhaupt nicht gebraucht würde, wenn die Tatsache, daß. nahezu ein Drittel aller Haushaltungen keine „klassischen Familien” mit Eltern und Kindern, sondern solche mit zusätzlich einer bzw. zwei erwachsenen Personen sind, in den Grundrissen der vielen Neubauten der Nachkriegszeit berücksichtigt worden wäre. Wir haben so gebaut, als ob es die alten Leute nicht gäbe! Die Alten sitzen in den Kinderzimmern, die zwar den Normen für Kinder entsprechen, die aber den primitivsten Ansprüchen nach Abgeschlossenheit und eigener Behausung nicht gerecht werden. Auf die allein richtige Lösung, die Wohnungen-Wohnung, wurde bereits hingewiesen.
Weil der Massen-Wohnungsbau an diesem Bedarf vorbeiging, darum werden jetzt Jahr für Jahr viele Tausende von Plätzen in Alten-und Pflegeheimen benötigt. Es ist ein Bedarf, der in aller Regel am falschen Platz erfüllt wird. Diese Häuser gehen auch bei bester technischer und architektonischer Qualität an der Aufgabe vorbei, weil dort das Alten-Pro-blem isoliert behandelt wird.
Allein richtig ist die Berücksichtigung der Alten beim normalen Wohnungsbau. Wenn die räumlichen Voraussetzungen nicht stimmen, dann entstehen unausbleiblich Spannungen. Durch die Wohnungsart kann das Zusammenleben von jung und alt zur Qual, aber auch reicher und schöner werden.
Bewegungsraum für Kinder und Jugendliche In gleicher Weise, wie man die Alten beim Bau von Wohnungen außer Betracht läßt, werden auch die Kinder vernachlässigt. Die ausgezirkelten Kinderzimmer mit 6— 9 m 2 Größe sind nicht eine Ausgeburt der Architektenphantasie, sondern lediglich ein Symptom dafür, was für einen Platz wir als Gesellschaft den Kindern einräumen. Mehr noch als in der Wohnung aber wird der Bewegungsraum der Kinder im Außenraum vergessen. Alexander Mitscherlich hat hachgewiesen, daß ein Kind, daß das lebensnotwendige Abrücken von der Mutterschürze, die sukzessive Eroberung einer immer weiteren Umwelt nicht vollziehen kann, Schäden erleidet, die es zu einer Bewältigung des Erwachsenendaseins unfähig machen. Ein Kind, das aus dem Haus nicht darf, weil die Mutter — zu Recht — befürchtet, daß es draußen überfahren wird, ist für ein Leben lang krank. Ähnlich wirkt sich der Mangel an Plätzen für das Austoben der Heranwachsenden aus. Der Aufstand der Jugendlichen bis hin zur Jugendkriminalität in Rockerbanden ist mit darauf zurückzuführen, daß der lebensnotwendige Entfaltungsraum für Kinder und Heranwachsende fehlt.
Wenn hier dafür plädiert wird, daß die Wohnumwelt zugleich eine Kinder-und auch eine Altenwelt sein muß, dann bedeutet das nicht, daß die Alten etwa jeden Kinderlärm einfach akzeptieren müssen. Es ist im Gegenteil so, daß durch eine Nähe von „wildnishafter Natur" (so Hermann Birkigt) Räume geschaffen werden müssen, die dem Entfaltungsbedürfnis der Kinder mit jedem nur denkbaren Lärm wie Indianergeheul usw. usw. Raum geben, ohne daß dadurch andere gestört werden. Ähnliche Möglichkeiten der Harmonisierung sind auch bei außerordentlich starken Lärm-quellen möglich, so z. B. bei der von Eltern durchweg als unerträglich empfundenen Lautstärke bei Musikveranstaltungen der Jugend, die in Untergeschossen oder im Innern der Wohnanlagen durchaus so durchgeführt werden können, daß keine Störung mehr entsteht.
Das Terrassenhaus Als eine Bauform zwischen Flachbau und Geschoßwohnung setzt sich das Terrassenhaus mehr und mehr durch, auch auf ebenem Gelände. Der Gartenhof als große Dachterrasse ist auch bei großer Verdichtung realisierbar. Der durch die Terrassierung entstehende Hohlraum läßt sich für die Versorgung (Garagen), für gemeinsame Gesellschaftsräume und als überdachte Freifläche (z. B. als Arkaden) verwenden. Das Terrassenhaus bietet für viele den zusätzlichen Freiraum, der eine Erholung zu Hause erst erlaubt. Das Wohnen mit großer Dachterrasse ist nicht nur für solche, die sich etwa als Einzelpersonen oder Paare das Einfamilienhaus mit Garten nicht leisten können, attraktiv, sondern auch für solche, die den größeren Aufwand an Mitteln (auch an Zeit für die Instandhaltung) scheuen. Das Terrassenhaus erhält so, obwohl es bisher nur wenige gibt, eine entscheidende Bedeutung für die künftige Bauentwicklung.
Das multifunktionale Hochhaus Es wird viel gegen das Hochhaus geredet. Die Meinungsforscher aber haben festgestellt, daß die Hochhausbewohner, die wir haben, besonders die jüngeren, das Wohnen im Hochhaus bejahen. Sie beklagen sich zwar mit Recht noch über technische Mängel, aber allmählich wird hier bereits Abhilfe geschaffen. Die allgemeine Abneigung gegen das Hochhaus in unserem Lande ist indessen immer noch weit verbreitet. Das ist primär darauf zurückzuführen, daß in den Betongebirgen verschiedener Trabantenstädte vorwiegend Familien mit Kindern untergebracht worden sind, während es den Kundigen, schon bevor es überhaupt Hochhäuser in nennenswertem Umfang bei uns gab, klar war, daß diese Bauform sich für Familien mit Kindern nicht eignet. Man prangert also etwas an, was mit der Bauform Hochhaus an sich nichts zu tun hat, sondern lediglich mit ihrer funktionsfremden Nutzung.
Wieviel Luft und wieviel Grün, wieviel Landschaft und wieviel Klima, wieviel Gesundheit und wieviel Befreiung aus der Enge könnte man gewinnen, wenn die Hochhäuser in einem öffentlichen, allen zugänglichen Park stehen würden. Ohne jeden Zweifel bietet das konzentrierte Wohnhochhaus die beste Möglichkeit, unsere Quartiere zu verdichten und trotzdem zu durchgrünen. Städtisches Leben, Natur und Wirtschaftlichkeit lassen sich mit Hochhäusern auf einen Nenner bringen.
Es geht hier um das generelle Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten, das dann potentiell auch viele Arbeitsplätze ermöglicht, die sich zu Fuß erreichen lassen. Ganze Universitäten zum Beispiel müssen nicht als Campus isoliert gebaut werden; sie könnten in Verbindung mit Wohnhochhäusern und mit dem bedeutenden ökonomischen Vorteil gemeinsamer Verkehrsflächen bis zu den Aufzügen hin untergebracht werden.
Ein Hochhaus darf allerdings niemals allein errichtet werden; es muß immer unmittelbar mit anderen Wohnformen entstehen. Es geht immer um eine Umwelt, die aus der Summe der Bedürfnisse und Wünsche der Bürger entwickelt wird und so schon von der Konzeption her pluralistisch ist. Insofern ist die heute übliche Monostrüktur von Ansammlungen nur einer Hausform grundsätzlich abzulehnen.
Ansätze zu prototypischen Wohnformen unserer Zeit Dem aufmerksamen Beobachter fällt auf, daß im Wohnungsbau immer mehr vertikale und horizontale Staffelungen in den Vordergrund treten. Die Absicht, die Wohnungen in der Dichte des Zusammenlebens so voneinander zu trennen, daß für jeden eine Privatsphäre entsteht, ist dafür maßgebend und nicht etwa eine formale Erwägung. Es ergibt sich eine außerordentlich einprägsame Form, die zugleich aber auch die Bedürfnisse nach Abgeschlossenheit, geschütztem Freiplatz und einer guten Sonnenlage erfüllt. Staffel-und Terrassenbauten zeigen schon eine innere Überein-stimmung mit der gesellschaftlichen Struktur klar abgegrenzter Verhältnisse zwischen Privatem und Gemeinschaftlichem. Auch die Annäherung an die ganze Palette der Wohnbedürfnisse führt bei aller Differenzierung überall zu Annäherungen in der äußeren Erscheinung vorbildlicher Wohnanlagen. Im Massen-wohnungsbau wird das allerdings noch nicht praktiziert, weil der Verlust des wirtschaftlichen Nutzens der Serie als Entschuldigung dafür angegeben wird, daß sich die Ansprüche der Soziologen nicht voll erfüllen lassen. Bei genauer Untersuchung aber hält dieser Einwand nicht stand. Das Einzelhaus mit großem Garten am Ende einer Gruppenbebauung mit kleinen Gärten benötigt ebensowenig einen zusätzlichen Erschließungsaufwand wie die große Wohnung am Ende des Flures in einem Geschoßbau. Durch die Konzentration von Geschoßwohnungen in Hochhäusern entsteht Platz für Grün und den soziologisch notwendigen Anteil an Flachbauten. Es ließen sich noch viele wirtschaftliche Vorteile aufführen, die durch die Koordinierung der verschiedenen Bedürfnisse zu erreichen sind.
Die Wohngegend Walter Gropius hat geschrieben: „Flachbau und Hochbau sind entsprechend dem wirklichen Nutzbedarf nebeneinander zu entwikkeln." Für den Verfasser gibt es keinen Zweifel daran, daß — ausgenommen vielleicht in der City — nur dann eine Wohngegend heutigen Ansprüchen gerecht wird, wenn dort alle Wohnformen in den den Bedürfnissen entsprechenden Mengen Vorkommen. Dieser Anspruch sollte auch bei jeder Sanierungsmaßnahme gestellt werden. Nur so kann die Sterilität überwunden werden. Es geht nicht nur um Verdichtung, sondern ebenso häufig um eine Herabsetzung der Dichte zugunsten der erforderlichen Mnnigfaltigkeit der Wohnformen.
Kurt Tucholsky hat in den zwanziger Jahren mit dem Anspruch: „Nach vorne den Ku-Damm und nach hinten die Ostsee" sicherlich ein weitgehend allgemeines Wunschbild gefunden, das zwar in sich auf die Grenzen der Möglichkeiten hinweist, aber zugleich programmatische Bedeutung hat. Das denkbar schönste Zuhause mit Kontakt zur Natur, ausreichender Größe und Ruhe, gepaart mit einer lebendigen Umwelt, die alle erforderlichen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Einrichtungen enthält, ist ein Ziel, das mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wünschen der meisten Menschen entspricht. Im Gegenüber der Bürger, im Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft liegt die Antwort auf die Frage, wie wir zusammen leben wollen. In einer Verlängerung der jetzigen Entwicklung ist es vorstellbar, daß über die Erdkugel verteilt alle isoliert hausen und den Kontakt zur Gesellschaft nur noch via Fernsehen herstellen. Sicherlich ließen sich die meisten Arbeitsvorgänge so erledigen, man kann Firmenverbände über Fernsehketten herstellen, man kann Ärzte konsultieren, Schulen besuchen und so weiter und so weiter. (Hier soll das Fernsehen keineswegs verteufelt werden, ohne jeden Zweifel liegen hier konstruktive Möglichkeiten der Kommunikation.)
So rückständig es vielen erscheinen mag, bei der Beantwortung der Frage nach dem Gegenüber der Menschen in unserer Gesellschaft geht es um eine Rückbesinnung auf Formen des Zusammenlebens, wie sie sich in der langen Geschichte der Menschheit entwickelt hat. Die Besinnung auf das Maß des Menschen, auch durchaus konkret als körperliche Größe, die Besinnung auf die Ganzheitlichkeit seiner Existenz, führt notwendig zu baulichen Strukturen, die sich eher an alten Häusern und Städten orientieren müssen als an völlig neuen Formen. Das Grundmuster muß nicht gänzlich neu erfunden werden.
Dabei wird nicht zuerst an die bauliche Form, sondern mehr an die Komplexität des Lebens in den alten Häusern und Städten gedacht. (Eine Struktur wie z. B. das spanische Cadaqus wird inzwischen nicht mehr von Fischern, sondern von Intellektuellen aus ganz Europa bewohnt. Die Baustruktur erfüllt die Bedürfnisse bei höchsten Ansprüchen. Die Anpassung an die heutigen Notwendigkeiten war ohne eine wesentliche Veränderung der alten Struktur möglich.) Es geht um ein Grundmuster, das der Fülle des Daseins an einem Platz Raum gibt im Gegensatz zu der Isolierung der Lebensvorgänge auf viele für den einzelnen Menschen nicht mehr überschaubare Plätze. Die Selbstbestimmung der Menschen erfordert eine Stadtstruktur, in der die Rolle des einzelnen Priorität hat.
Primär geht es hier um die gesellschaftliche Frage, wie die von unten auf organisierte Demokratie, die nur das an die jeweils höhere Stufe abgeben sollte, was auf der jeweils unteren Stufe nicht zu leisten ist, konkret aussieht. Es muß hier abgeklärt werden, wie groß die kleinste Gemeinschaft ist, die schon gemeinsame Aufgaben hat und diese auch gemeinsam erfüllen kann. Vor allem wird hier ein psychologisches Problem angesprochen: die weitmöglichste Überwindung der natur-bedingten Konflikte zwischen Individuum und Gemeinschaft, die ja auch mit der Bauform sehr viel zu tun hat.
Zur Zeit ist es ganz sicherlich so, daß es schon außerordentlich schwer ist, in einem Quartier auch nur das Zentrum zu beleben. Von daher kann man sich gar nicht vorstellen, daß innerhalb eines Quartiers nochmals eine ganze Serie von Nebenzentren mit städtischem Leben entsteht und schon gar nicht eine nochmalige Untergliederung in noch kleinere Gruppen. Es stellt sich hier die Frage, ob wir das Rad so zurückdrehen können und nach dem Prozeß der Entmischung der Städte einen Prozeß der Mischung der städtischen Funktionen politisch durchsetzen können und so die Voraussetzungen schaffen für ein vielfältig untergliedertes intensives Stadtleben.
Architektur und Städtebau sind auf Dauer gerichtet
Nach wie vor bleibt die technische und künstlerische Dauerhaftigkeit auch für den Wohnungsbau das wesentliche Merkmal der Qualität. Alles, was sich schnell überlebt, ist schlecht. Die eingeplante Veralterung ist schon bei den Gebrauchsgütem fragwürdig, der Architektur aber steht sie im Prinzip entgegen. Auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen haben sich nicht so verändert, daß wir die alten Städte aufgeben müßten, wir müssen sie lediglich nach unseren Bedürfnissen einrichten, d. h. um-und ausbauen, so wie es zu allen Zeiten geschehen ist. Daß die Intensität des Lebens in der alten Stadt nur äußerst selten in neuen Stadtgebilden erreicht wird, zeigt an, wie wenig wir auf die Substanzen verzichten können. Es geht heute weniger um neue Städte, sondern mehr darum, die alten vor weiterer Zerstörung zu bewahren, und erst heute beginnt sich ein Bewußtsein dafür herauszubilden, daß man ein Stadt-gefüge den vielfältigen Interessen und oft nur vermeintlichen Notwendigkeiten unserer Zeit nicht einfach preisgeben darf. Dabei geht es nicht um Denkmalschutz, sondern um den Schutz menschlicher Gesellschaftsformen. Die Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch eine immer größere Inanspruchnahme von Stadtraum für Straßen und Autoabstellflächen und die Verdrängung des Fußgängers auf immer schmalere Zonen ist das erschreckendste Merkmal einer -unheil Entwicklung. vollen
Der Prozeß der notwendigen Wandlung der Städte steht nicht im Widerspruch zu der Feststellung, daß Architektur und Städtebau auf Dauer gerichtet sind. Die sich wandelnden Bedürfnisse führen zu einer stetigen Wandlung. Die guten Beispiele aus allen Zeiten aber, so auch die des neuen Bauens, erweisen sich in aller Regel als voll integrationsfähig, gleich welche neuen Gesichtspunkte bei weitergehenden Planungen auch aufkommen. Wir lernen immer mehr, daß es in der unmittelbaren Umwelt mehr um Rückbesinnung auf das in früheren Zeiten bereits erreichte Humanum geht als um Neuerung. Die immer besseren technischen Dienste haben diesen Anspruch grundsätzlich nicht verändert. Lediglich das Unvermögen, die technischen Notwendigkeiten diesem Anspruch unterzuordnen, hat zu den chaotischen Verhältnissen geführt.
Das Unmenschliche zu verdrängen und das Menschliche zu bewahren, darin sollten sich primär Wandel und Dauer ausdrücken.
Das Quartier Jeder in der Großstadt Aufgewachsene weiß, daß er in einem „Revier“ mit sehr bestimmten Grenzen groß geworden ist. Man ist nicht nur Berliner, man ist zugleich Reinickendorfer, nicht nur Düsseldorfer, sondern zugleich auch Oberbilker. Auch der Erwachsene kennt neben seinem Stadtteil noch die City und das Gebiet um den Arbeitsplatz. Die anderen Stadtteile, selbst benachbarte, kennt er oft nicht. Oft wird ein Revier durch eine natürliche oder künstliche Grenze wie Fluß oder Bahndamm beschnitten. Aber ohne solche Barrieren werden, etwa durch den Einzugsbereich einer Schule, einer Kirche, der Station und anderes mehr, Grenzen spürbar. Auch der in der Randzone eines „Reviers" Wohnende fühlt sich seinem Stadtteil zugehörig.
Es gehört zu den vordringlichsten Aufgaben unserer Zeit, Fragen von Organisation die und Dichte des Zusammenlebens in einem großstädtischen Wohnquartier komplex zu beantworten. Bei der Größenbestimmung eines Quartiers gibt es erhebliche Schwierigkeiten. Früher übliche Bezüge, etwa zur Kirche oder zur Schule, sind heute nicht mehr als absolute Maßstäbe zu werten. Kirchgänger sind in der Minderheit, und das Schulsystem ist derart offen, daß sich zur Zeit noch gar nicht absehen läßt, welche Systeme sich durchsetzen werden. Wie groß z. B. die Gesamtschule sein wird, auf welcher Bevölkerungsgröße sie basiert, ist z. Z. nicht so eindeutig klar, daß sich darauf eine Quartiers-planung aufbauen ließe. Wie lange dazu die Gesamtschule Bestand hat gegenüber neuen Entwicklungen (zum Beispiel Schulbetrieb über Fernsehen), das vermag niemand sicher zu beurteilen.
Allgemein gibt es dann ein durchaus berechtigtes Unbehagen gegenüber der Einteilung der Bevölkerung in Gruppen, in bestimmte Zugehörigkeiten. Mit Recht will man sich so nicht festlegen lassen. Das Reglement über Blockwart und Obmann sitzt den Bürgern noch zu tief in den Knochen, als daß sie bereit wären, sich in Päckchen sortieren zu lassen, für die sie selbst keine Notwendigkeit erkennen können. Es ist zunächst nicht über-B trieben festzustellen, daß es, von der Gesellschaft her gesehen, keine erkennbare Notwendigkeit gibt, eine Großstadt überhaupt zu unterteilen. In einer offenen Gesellschaft sind Bezüge nach allen Seiten hin möglich, der freien Wahl der einzelnen Bürger anheimgestellt. Die Anklammerung an den einen Ort, falsch verstandenes Bodenbewußtsein, alles das bedeutet im Grunde Rückschritt gegenüber der Notwendigkeit einer weiträumigen Kommunikation. Grenzen sollte es im gesellschaftlichen Sinne nicht mehr geben, insofern ist ein Quartier, also ein abgezirkelter Bereich, gesellschaftlich gesehen eine zunächst sehr fragwürdige Sache. Quartier ist hier primär nicht als eine gesellschaftliche Größe gemeint, obwohl — wie später noch zu begründen ist — zu guter Letzt auch gesellschaftliche Probleme geregelt werden müssen. Quartier entsteht primär aus Gründen der Organisation. Eine Großstadt läßt sich einfach nicht als eine ungeteilte Größe organisieren. Im Gegenteil läßt sich heute erkennen, daß gerade durch die Notwendigkeit von sehr umfangreichen Versorgungsstrukturen (z. B. Stadtautobahnen) die Sorge im Vordergrund steht, daß innerhalb dieser mächtigen Stränge überhaupt Bereiche übrig bleiben, die sich zum Zusammenleben im Sinne städtischer Gemeinschaft eignen. Wir leben in einer Entwicklung, die theoretisch für eine weltweite Gemeinschaft offen ist, in der Praxis aber durch technische Zwänge aller Art in Gruppen zerhackt wird, die oft kleiner sind als kleinste Dorfgemeinschaften. Man denke nur an einen Baublock innerhalb der Großstadt, allseits vom Verkehr umflutet, der von Kindern praktisch nicht mehr verlassen werden kann, ebensowenig von alten Leuten.
Die Frage nach dem Quartier ist also primär die Frage nach dem Kompromiß zwischen der unerläßlichen Versorgungsstruktur, die notwendigerweise die Lebensbereiche voneinander trennt, und der theoretisch möglichen Kommunikation aller Menschen.
Beim Quartier stehen also zwei Probleme im Vordergrund, einmal die Notwendigkeit, bei der Unterteilung der Ballungsgebiete durch Versorgungsstrukturen überhaupt lebensfähige Bezirke übrig zu behalten, und dann die Berücksichtigung unserer biologischen Natur, dabei zunächst des Reviers der Spezies Mensch, die durchaus dem Revier der Tiere vergleichbar ist.
Environment und Automobile (nach Gerhard Scholz)
Das Kraftfahrzeug soll die Bereiche des Menschen bedienen, aber mit allen Einschränkungen, die aus der ‘ Priorität des menschlichen Bewegungsraumes notwendig sind. Das Problem der Harmonisierung von Stadt und Verkehr liegt in dem Konflikt zwischen Mensch und Maschine, der bis jetzt erst bei überörtlichen Systemen — Eisenbahn und Autobahn — gelöst ist. Ein wesentlicher Vorteil des Automobils ist die Haus-zu-Haus-Zugänglichkeit. Gerade dadurch aber wird das „Environment" beeinträchtigt. Beide Aspekte wirken einander entgegen. Wird die Zugänglichkeit verbessert, so verschlechtert sich das „Environment" und umgekehrt. Eine Lösung des Konflikts zwischen „Zugänglichkeit“ und „Environment" bietet sich in der Trennung von Environmentzonen und Verkehrszonen an. Mit diesem Prinzip ist es möglich, die unterschiedlichen Maßstäbe von Mensch und Maschine zu berücksichtigen. Das bedeutet nicht, daß die Environmentzonen völlig verkehrsfrei sein sollen. Sie sollen jedoch nur denjenigen individuellen Verkehr aufnehmen, der in ihnen Quelle und Ziel hat. Aus der Anwendung dieses Grundgedankens ergibt sich zwangsläufig, daß die Großstadt eine Zellen-struktur aus Environmentzonen erhält.
Jane Jacobs hat schon darauf hingewiesen, daß der Teil eines Quartiers verödet, der durch eine Autostraße abgeschnitten ist. Durch die so notwendig periphere Führung zu den Environmentzonen ergibt sich das Primär-netz der Stadtautobahnen für die Fahrten, die über das Environment hinausgehen. In diesen ausschließlich dem Verkehr vorbehaltenen Trassen sind Fahrdynamik, Sicherheit, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit -maß gebend.
Großstadtstruktur Mehr und mehr wächst die Erkenntnis, daß der Mensch auch die Großstadt nach seinen Bedürfnissen einrichten kann. Die neuen Reservate für Fußgänger sind ein Beispiel dafür, daß man inzwischen begriffen hat, daß die Stadt dem Menschen zu dienen hat und nicht umgekehrt.
Neben der Garden-City (nicht Gartenstadt) von Ebenezer Howard, mit der die damals wie heute überaus aktuelle Verzahnung von Stadt und Natur hergestellt wurde und der allgemein gehaltenen, heute viel gelästerten «Charta von Athen", der man zu Unrecht die Funktionsentmischung der heutigen Städte zur Last legt und die auch heute noch durchaus respektable Grundsätze, z. B. mit der Priorität des Wohnens, herausstellte, gibt es in der modernen Städtebaugeschichte nur zwei bedeutende Entwürfe neuer Stadtformen. Das ist einmal die Bandstadt, am konsequentesten von Miljutin für Stalingrad (1930) geplant und dann der Marsplan für London (1938) von Arthur Korn, Maxwell Fry und anderen (eine Verzahnung von Bandstädten). Die Bandstädte lassen sich als eine große Stadtmaschine erklären, in der die Transportwege, hier vor allem im Hin und Her zu den Arbeitsstätten, absolute Priorität haben. Die beiden Bandstadtprojekte sind gescheitert. Die zunächst faszinierende Organisationsform von Korn setzt voraus, daß sich die Intensität einer Millionenstadt zu einer Linie verdichtet und nicht, wie bisher, zu einem Punkt bzw. zu einem stumpfen Kegel. Daß die Projekte sich nicht durchsetzen konnten, liegt nach Auffassung des Verfassers in einer Fehleinschätzung des gesellschaftlichen Verhaltens. Versuche, die Stadtzentren zu entlasten, können nur insofern gelingen, als man versucht, Funktionen aus dem Kern der Stadt auszusiedeln. Man wird für die künftige City-Organisation eine Präferenzskala entwickeln müssen. Als Beispiel sei genannt, daß die Schalterhalle für den Publikumsverkehr eines Postscheckamtes unmittelbar in die City-Mitte gehört, nicht aber das riesengroße und zugleich personalarme Gebäude für den unbaren Postscheckverkehr. Ebenso sollte man der Repräsentationssucht der Konzerne nicht die bevorzugtesten City-Plätze einräumen, sondern den öffentlichen Einrichtungen, die von der Publikumsfrequenz her oder ihrer allgemeinen Bedeutung nach der zentralen Lage bedürfen. Im Prinzip hat sich eine Bedeutungsstaffel von der City-Mitte zum Stadtrand hin schon ausgebildet. Sehr große Warenhäuser oder das exklusive Juwelier-Geschäft liegen auch heute zentral. Der Durchschnittsladen dagegen ist um so mehr in der Stadtrandzone möglich, je weniger speziell sein Angebot ist. Besonders gravierend, platzraubend und störend wirkt sich die Stadtautobahn aus mit 60 bis 70 DIN-PHON Dauerlärm. Sie gehört notwendig an die Peripherie bewohnter Zonen und dazu noch in einem gebührenden Abstand. Die Flächen zwischen den gravierenden Einschnitten der Stadtautobahnen müssen so groß sein, daß lebensfähige Quartiere unterzubringen. sind.
Bei der Standortbestimmung der öffentlichen Einrichtungen sind die Erreichbarkeit (vom Milchladen bis zum City-Geschäft) und störende Faktoren (öde Zonen durch Flächen-intensität, z. B. bei Schulzentren und Fabriken, auch Lärm und Gestank), die Frequenz der Benutzung (nur tags, nur abends, saisonbedingt usw.) und vieles andere zu bewerten.
City
Die konzentrische Form der City ist funktionsbedingt. Die konzentrische Form ist vom Gesichtspunkt der allseitigen Erreichbarkeit die ökonomischste. Die hochwertigen Einrichtungen, die nach der Qualität der Mitarbeiter und der Abnehmer auf die Bevölkerung der Gesamtstadt angewiesen sind, erzeugen durch ihre Lage in der Mitte die denkbar kleinste Größe in der Summe aller Wege. Es gibt Einrichtungen erster, zweiter und dritter Ordnung; mit der zunehmenden Größe einer Stadt drängen die jeweils potenteren (leider nicht immer die wichtigeren) Einrichtungen die weniger potenten in eine periphere Lage ab. Auch wenn man sich die Einrichtungen weg-denkt, die nicht der zentralen Lage in einer City bedürfen, auch dann stellt sich die Stadt den Aktivitäten nach als eine Struktur dar, dessen höchste Verdichtung in der City liegt.
Schon aus organisatorischen Gründen ist eine absolute Mitte der City nicht darzustellen. Zum Beispiel lassen sich die Citybeschäftigten einer Millionen-Stadt nicht von einem Punkt aus abtransportieren. Die Erkenntnisse über den Zusammenhang von Verkehrsquellen und Verkehrsfluß legen eine weitgehende Dezentralisierung nahe. Stadtgartenflächen sind naturgemäß geringe Verkehrserzeuger, sie hätten innerhalb eines Cityringes nicht nur den rechten Platz, sondern sie Würden auch das notwendige Vakuum in der absoluten Mitte ausfüllen, das erst eine Verteilung der Spitzenbelastungen erlaubt. Am Parkrand könnten dann die Kulturbauten den angemessenen Platz, einmal durch die Verbindung zum City-Grün und zum anderen durch den Kontakt zu den Stationen, erhalten. Die Lage erlaubt aber auch die Ausnutzung der öffentlichen Einrich-B tungen am Abend, so zum Beispiel die Nutzung der Parkierungsflächen — die über Tag dem Arbeitsbetrieb dienen.
Die Frage nach der Regeneration der City ist primär eine Frage nach der Entlastung von Funktionen, die genausogut an anderer Stelle erfüllt werden können. In zweiter Linie ist die völlige Neuorganisation unerläßlich. Die Entlastung der City erfordert eine sehr sorgfältige Untersuchung aller vorhandenen Einrichtungen nach dem Grad ihrer zentralen Bedeutung. Der gesamte Berufsfahrverkehr kann erheblich reduziert werden, wenn Betriebe, die der Erreichbarkeit und dem Kräftebedarf nach der zentralen Lage der City nicht bedürfen, in Nebenzentren oder Wohngebieten untergebracht werden.
Erst durch die einheitliche Organisation von 2 bis 3 Quadratkilometer Cityfläche unter besonderer Berücksichtigung der Spitzenstunden läßt sich die wirkliche Leistungsfähigkeit ermitteln. Die absolute Desorganisation verhindert eine Intensivierung des Citylebens, sie führt im Gegenteil durch eine immer größere Ausweitung der Verkehrsflächen zu einer immer weiteren Verödung.
Die Gegenüberstellung von nur 12 km Schienenspuren zu 140 km Straßenspuren für den gleichen Leistungsumfang sollte eigentlich eine außerordentliche Förderung der Schienenbahn nach Umfang und Komfort rechtfertigen. Die Bewältigung des Berufsfahrverkehrs ist mit der Schienenbahn unterirdisch, also ohne jede Störung für das Stadtleben, in beinahe jeder beliebigen Quantität zu leisten.
Die flächenintensive Stadtautobahn darf die City im Netz von 1, 5 bis 2 km Durchmesser nur peripher berühren, also mit einem Abstand von 750 bis 1 000 Meter von der absoluten Citynähe entfernt. Sie läßt sich dazu als Hochstraße über vorhandenen Straßenraum oder über Bahnanlagen führen. Die leistungsfähigen Tangenten haben keine andere Aufgabe, als innerstädtischem Verkehr nach allen Seiten Abfluß zu bieten.
Eine periphere Stadtautobahn und die konzentrisch geführte, unterirdische Schienenbahn ins Herz der City macht einen sukzessiven Um-und weiteren Aufbau möglich. Alle Baumaßnahmen bekommen durch die damit bekannte Gesamtform eine Zielrichtung, die der Optimierung des Zusammenspiels aller Kräfte dient.
Eine völlig neue Verkehrsstruktur ist unerläßlich (nach Gerhard Scholz).
Die vorhandenen städtischen Verkehrssysteme sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt; eine Erweiterung ist in der überkommenen Art nicht mehr ohne eine Zerstörung des Stadtgefüges möglich. Es ist eine technologische Schwelle erreicht, die es erforderlich macht, völlig neue Systeme einzuführen. Der Personenverkehr in Ballungsgebieten kann im wesentlichen in drei Grundsysteme unterteilt werden:
1. Fußgängerverkehr (freizügig, nur kurze Entfernungen)
2. Individueller fließender Verkehr (freizügig von Haus zu Haus)
Alle drei Gruppen bilden zusammen ein bedingt integriertes System. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht von Haus zu Haus, und sie verkehren nicht zu jeder Zeit, sie können so nur bedingt mit dem individuellen Verkehr konkurrieren. Der öffentliche Verkehr ist in Ballungsgebieten unersetzlich; aber ebenso unzweifelhaft ist, daß mit dem öffentlichen Verkehr nicht die Probleme des Kfz-Verkehrs in den Städten zu lösen sind.
In absehbarer Zukunft wird das • Auto durch kein anderes Verkehrsmittel zu ersetzen sein. Die Neuordnung muß alle Verkehrsarten innerhalb eines integrierten Verkehrssystems berücksichtigen. Sie soll nicht dem Verkehr noch mehr Fläche zur Verfügung stellen, sondern durch eine sinnvolle Ordnung und Funktionstrennung die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung des menschlichen Lebensraumes in der Stadt erreichen. Aus einer strukturellen Gliederung des Stadtgebietes ergibt sich zwingend, daß ein Hauptverkehrsnetz nur als Einheit und Ganzes geplant werden kann. Es muß so gestaltet werden, daß es als Netz begreifbar und überschaubar ist. Die Verteilung des Verkehrs in der Fläche und eine weitgehende Austauschbarkeit der Belastungen innerhalb des Systems ist ein weiteres Ziel.
Die immer wieder angeführten Beispiele von dem exklusiven Juwelierladen, der auch in einer Großstadt nur einmal vorkommt, und dem Milchladen, der bereits von zwei-bis dreitausend Einwohnern getragen werden kann, weisen — wenn man sich die vielen weiteren Zwischenstufen wie Ladenzantrum, Oberschulzentrum, City, um nur die wichtig-23 sten zu nennen, vorstellt — auf die Großstadt als ein System sehr unterschiedlicher Konzentrationen hin. Um es bildlich auszudrücken, riesige Menschenmengen mit einem riesigen Wohnflächenbedarf sind erforderlich, um kontinuierlich die Zahl an Nachtbummlern sicherzustellen, die es sinnvoll macht, einige Stellen in der innersten City auch nachts tag-hell zu erleuchten. Die fließende Stadt mit überall gleicher Innenstadt ist aus Mangel an Masse an öffentlichen Einrichtungen weder in Bandform und noch viel weniger in Flächen-form zu realisieren. Wenn hier das zunächst befremdliche Wort „Rasternetzstruktur" eingeführt wird, dann nicht in dem Sinne, daß die gewachsenen Städte nun ohne Rücksicht auf die bauliche Substanz am Lineal mit einem Quadratnetz von Stadtautobahnen überzogen werden soll. Es geht hier um ein den topographischen und baulichen Gegebenheiten angepaßtes System von Umgehungsstraßen zur Beseitigung der Verkehrsüberflutung aller Stadtgebiete. Es geht also um organisierten und darum um weniger und nicht um mehr Verkehr. In diesem Sinne spricht folgendes für die Rasternetzstruktur: 1. Vom System her ist das Rasternetz die konsequente Weiterentwicklung der Umgehungsstraße, die bewußt um die primär dem Menschen vorbehaltenen Zonen herumgeführt wird. 2. Gegenüber den vielfältigen Fixierungen durch jede Durchgangsstraße, gleich ob geplant oder bereits durchgeführt, wird mit den Stadtautobahn-Trassen für den zu den Stadtteilen peripher geführtem Durchgangsverkehr eine Verkehrsentlastung aller Stadtteile sichergestellt. Der Durchgangsverkehr durchschneidet die Stadtteile nicht mehr, sondern begrenzt sie. Der Fußgänger-und Aufschließungsverkehr innerhalb eines Stadtteils wird so konsequent von allen Verkehrsbelastungen befreit, die ursächlich mit dem Stadtteil nichts zu tun haben. 3. Gerade die Separierung von Trassen für den Primärverkehr in eigene Kanäle erlaubt eine Anpassung an sich ändernde Frequenzen. Die Trennung des Primärverkehrs vom eigentlichen Stadtleben und von der Bebauung vermeidet erhebliche Mehrkosten für Überbauungen. (Eine möglichst große Maschenweite vermindert dazu erheblich die Anzahl der Kreuzungsbauwerke.) Buchanan hat in einer gesamtwirtschaftlichen Stadtrechnung bewiesen, daß der technische Aufwand auch zukünftig nur zu Lasten des sozialen Standards gehen kann. 4. Durch die im Prinzip gleichen Maschengrößen sind alle Felder der Stadt potentiell in gleicher Weise für die Entwicklung offen. Die Schwerpunkte der Stadt können sich beliebig verlagern, wie z. B.früher vom Markt der Altstadt zum Brennpunkt der heutigen City. 5. Die Trassierung des Netzes legt zunächst weder Dichte noch Art der Nutzung fest. Sie lassen sich später in den Querschnitten regeln (Fahrspuren ggf. mehretagig bzw. Zug-folge der Schienenbahn). 6. Der vielleicht wichtigste Effekt der Trassierung einer Rasterstruktur liegt darin, daß die Städte in Bereiche eigener Planungsproblematik unterteilt werden (Theorie von Prof. Boesler). Die Stadt wird, sobald eine Überein-stimmung der Struktur mit den statistischen Bezirken hergestellt ist, zählbar. Es lassen sich die Grade der Unter-und auch der Über-entwicklung feststellen und miteinander vergleichen, eine unerläßliche Voraussetzung für eine sinnvolle Planungsarbeit.
Schon hinter dem Wort Rasterstruktur wird häufig eine Vergewaltigung des Menschen vermutet. In Wirklichkeit ist die Rasterstruktur der Ausdruck der technischen Entwicklung. Mies van der Rohe, Le Corbusier, Buchanan, Doxiades und viele andere haben die Rasterstruktur in Theorie und Praxis durchgesetzt. Bedingungen aus der Natur des Menschen In welchem Umfang die natürlichen Lebens-voraussetzungen durch den Mißbrauch heutiger Möglichkeiten bereits eingeschränkt werden, kann niemand mehr übersehen. Nicht nur physische, sondern in noch erschrecken-derer Weise auch psychische Grundbedingungen des Daseins werden zerstört. über die ökologischen Zusammenhänge schreibt (im Heft 8/74 des Merkur) Georg Picht:
„Die fortschreitende Destruktion der Natur hat rückgekoppelt eine fortschreitende Zerstörung der Humanität des Menschen zur Folge. Die überentwickelten Industriegesellschaften haben sich in den letzten fünfzehn Jahren über diesen Sachverhalt hinweggetäuscht. Vom Konsumrausch benebelt, haben sie die Welthungersnot, die Vergiftung der Ozeane und der Atmosphäre, die Zerstörung der naB türlichen Lebensräume, die gewissenlose Ausbeutung der Rohstoff-und Energiereserven, die Welterziehungskrise und den Zerfall der Bildung, die wachsende Mißachtung der Menschenrechte, die Gewalttaten, Folterungen und Völkermorde — mit anderen Worten: alle bestimmenden Realitäten der gegenwärtigen Geschichtsepoche nicht wahrnehmen wollen. Sie haben insbesondere nicht begriffen, daß alle diese Phänomene Symptome eines einzigen negativen Zyklus sind, der durch die Gewissenlosigkeit unserer Eingriffe in die Natur Tag für Tag neu angetrieben und beschleunigt wird. Weil unser Verhältnis zur Natur aus den Fugen geraten ist, gibt es auch keinen humanen Wert, den diese Gesellschaften nicht verraten hätten. Es gibt keine Ordnung, auf die wir noch bauen könnten, denn der Prozeß der technischen Zivilisation zermalmt die Elemente aller Ordnung. Die Umwelt, in der wir leben, ist ein Feld der Verwüstung; sie ist ein Abbild unserer Mentalität. Proportional zum Steigen des äußeren Lebensstandards ist der geistige und moralische Lebensstandard gesunken. Wenn man den Mut nicht hat, dies auszusprechen, ist man zu einer Analyse der Wertordnung einer humanen Umwelt nicht legitimiert...“
Politische Voraussetzungen
In der Bauwelt Nr. 33/74 wird über Stadtpolitik in Bologna berichtet (Zitate von den Autoren Peter Debold und Astrid Debold-Kritter).
Als sozialpolitische Zielsetzung war dieser Regions-und Stadtentwicklungsprozeß eng mit der Diskussion über das Verhältnis von Stadt und Wirtschaft, über die Aufgabe der öffentlichen Hand, die ökonomische Entwicklung zu programmieren und zu leiten, verbunden. Auch für die urbanistische Gesetzgebung, in der sich ein Teilbereich dieser Lenkungsaufgaben manifestiert, war eine umfassende Reform in Aussicht genommen, um die Einflußmöglichkeiten der Gemeinde auf die Stadtentwicklung zu stärken und die Spekulation einzudämmen. Insbesondere standen Modelle des Bodenrechts zur Diskussion, nach denen die Gemeinden generell den Grundbesitz in Stadterweiterungsgebieten übernehmen und nur noch Nutzungsrechte vergeben.“ Zwar blieben die „. . . tatsächlichen Reformen, die schließlich 1967 und 1971 erreicht wurden, weit hinter diesen Zielen zurück. Zunächst aber schien es so, als könnten die Kommunen bald über effizientere Planungsinstrumente verfügen, und Bologna versuchte in dieser Situation, gegenüber dem privaten Grundbesitz und der Spekulation an Boden zu gewinnen. Man war bestrebt, die Baurechtsausweisungen auf ein Minimum zu begrenzen und verlangte von den Bauwilligen, daß sie bis zu 50 0/0 ihrer Bauflächen an die öffentliche Hand abtreten oder ihrem Wert entsprechende Zahlungen leisten, um der Kommune zu ermöglichen, die notwendigen Folgeeinrichtungen zu schaffen. Dieses Verfahren, vergleichbar mit den Folgelasten-
Verträgen unserer Gemeinden mit größeren Bauträgern, war durch das Gesetz nicht abgedeckt. Die volle Unterstützung dieser Politik durch die Bevölkerung und die Aussicht auf eine noch weitergehende Bodenrechtsreform brachten jedoch die Bauträger vielfach dazu, die Bedingungen zu akzeptieren. Zweifellos haben diese Maßnahmen die Gewinnspannen der Spekulation eingeschränkt, die bauliche Entwicklung gebremst und zu einer besseren Ausstattung der Wohngebiete beigetragen. Die wichtigste Wirkung, die man ihnen ursprünglich zuschrieb, nämlich die, daß sie den Immobiliensektor strukturell schwächen würden, hatten sie jedoch nicht — das wird inzwischen auch von ihren Protagonisten durchaus gesehen."
Selbst wenn die Reform also zunächst in falsche Richtungen zu „verbessern" schien, blieb das erklärte Ziel, gegen Spekulationen für verbesserten Stadtstandard zu kämpfen und daher ... „müssen die Kräfte und der Handlungsspielraum ermittelt werden, die in der gegenwärtigen politischen und sozialen Situation näher an ein solches Ziel heranführen. Dabei darf die Aktivität nicht aufgespalten werden, etwa dadurch, daß man den technischen Bereich der Planung von dem politischen (der Auseinandersetzung über die Ziele — der Übersetzer) trennt."
Daß damit aktive Planungspolitik gemeint war und nicht nur Diskussionen, beweist die Aufstellung eines neuen Stadtentwicklungsplanes (plano regolatore generale). Ihm ist z. B. die rigorose Reduzierung der zulässigen Bebauungsdichte zu verdanken, was sich für die Altstadt Bolognas als wirksamste Maßnahme gegen die Spekulation erwies. Die FAZ schreibt dazu im Feuilleton ihrer Ausgabe vom 30. 10. 1974: „Auch die kommunistisch verwaltete Stadt Bologna hatte nicht die Gelder, die baufälligen Häuser sämtlich zu enteignen. Aber sie hat die Hausbesitzer durch ausreichende Subventionen zur Sanierung angespornt, und sie hat den Bewohnern durch Mietbeihilfen ermöglicht, in ihren angestammten Vierteln zu bleiben. Bürgerkomitees und öffentliche Diskussion der Planung hatten den Boden für die Aktion bereitet. Gleichzeitig schoben die Stadtväter einem übermäßigen Wuchern über die Peripherie hinaus einen Riegel vor. Der Verbleib eines Bewohners in einem Sanierungsviertel des Zentrums kostet den Stadtsäckel zwanzig-bis dreißig Prozent weniger als seine Etablierung am Stadtrand. Zahlen und Fakten von Bologna beeindruckten die Teilnehmer der Europarats-Konferenz so, daß sie einstimmig dieses Modell zur Nachahmung empfahlen."
Städtebauliche Erfolge sind keine Selbstverständlichkeit, und besonders dann nicht, wenn unter „Erfolgen" eben Verbesserung und Qualitätsgewinn für die gesamte städtische Lebensgemeinschaft gemeint ist. Am beschriebenen Beispiel Bologna wird klar, daß hier eine energische politische Moral den Erfolg mit herbeigeführt hat.
Der Plan ist also ein politisches Dokument. Er ist aber nicht allein das. Er ist auch Handlungsinstrument. Öffentlichkeit der Planung Der angebliche Vorteil, der in der Nichtöffentlichkeit von Planungsvorgängen gesehen wird, z. B. um dem Spekulantentum vorzubeugen, ist in Wirklichkeit die eigentliche Ursache für den Mißbrauch, weil die immer tüchtigen Spekulanten selbstverständlich schon dann, wenn nur zwei über eine Sache Bescheid wissen, bereits einen Zugang zu dem „Geheimnis“ finden. Gerhard Rettenmaier schreibt in der „Süddeutschen Zeitung" vom 21. 8. 1971: „Die Abhängigkeit der Kommunen von großen Firmen ist skandalös. Natürlich sind die allesamt verschuldeten Städte scharf auf jeden potenten Gewerbeertragssteuerzahler. Diese Situation wird von manchen niederlassungswilligen Großfirmen mit einer Verhandlungstaktik ausgenutzt, die an Nötigung grenzt. Anscheinend machen manche Stadtverwaltungen unter solchen Umständen Zugeständnisse, mit denen kleine Firmen oder Private niemals rechnen könnten.
Das gängige Argument, daß hier Gemeinnutz („Verbesserung der Infrastruktur" etc.) vorge. he, verdeckt in erster Linie die Tatsache, daß anscheinend zweierlei Recht gilt und daß nichts anderes als eine besondere Spielart der Korruption vorliegt. Die Städte können sich aus dieser Situation nur helfen, wenn sie sich zu einem Kartell zusammenschließen, das den Zweck hat, jedem kommerziellen Nötiger durch geschlossenen Widerstand die Suppe zu versalzen. Statt dessen dulden es die Städte, daß man sie gegeneinander ausspielt (wenn wir dieses Gelände nicht zu diesen oder jenen Bedingungen erhalten, gehen wir nach X)."
Nur durch eine umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit an allen Planungsvorgängen läßt sich der offenkundige Mißbrauch einschränken. Revision der Kommunalgrenzen Hans Paul Bahrdt hat schon darauf hingewiesen, daß die derzeitigen Kommunalgrenzen mit dem tatsächlichen Geschehen schon lange nicht mehr übereinstimmen. Auch weiter oben wurde auf den Mißstand zu kleiner und zu großer Gemeinden hingewiesen. Mitscherlich schreibt zum zweiten Fall folgendes: „Die Größenordnung moderner Städte hat eine Bürokratisierung der Herrschaft hervorgebracht, die die Züge des Individuums auslöscht — des Verwalters bürokratischer Macht ebenso wie des Verwalteten. Damit sind neue Möglichkeiten unkontrollierter Machtausübung eröffnet. Die Abhängigkeit des einzelnen in einer extrem arbeitsteiligen Kultur ist ein neuer Faktor, der ihn Zugriffen machthungriger Gruppen nahezu wehrlos ausliefert 11 (in: Thesen zur Zukunft der Stadt). Wer es noch nicht weiß, der sollte es bei seinen Spaziergängen beachten: Das Interesse einer Gemeinde oder einer Stadt nimmt zu den Grenzen hin ab. Entlang den zufälligen Linien gibt es überall unterentwickelte Gebiete schon deshalb, weil eine grenzüberschreitende Planung schon durch die Zuständigkeit zweier Räte wesentlich schwieriger ist. Wie sehr das öffentliche Interesse hier verletzt wird und wie sehr der Klüngel von Kommunalpolitikern und Verwaltungsbeamten vorherrscht, das ist daran zu erkennen, daß man bis zum heutigen Tage es noch nicht fertiggebracht hat, die beiderseits der doch sicherlich sehr trennenden Bundesautobahnen liegenden Gemeindezipfel endlich einmal gegenseitig auszutauschen. Es geht bei der Neuordnung um eine Unterteilung in für den Bürger noch überschaubare Bereiche, die wirklich Mitbestimmung möglich machen. In allen Stadtteilen der Großstädte sollten sich Bürgergemeinschaften bilden mit dem Ziel, später Gemeinderäte zu wählen, so wie sie jedes Dorf hat. Nur so können die Bürger ihre Interessen gegenüber der für sie unkontrollierbaren Großstadtverwaltung wirksam vertreten. Eine soweit wie mögliche Selbständigkeit der einzelnen Stadtteile der Großstadt (mit Gemeinderat im Quartier, Stadtrat im Stadtteil) bringt aber nicht nur für den einzelnen Bürger eine größere Überschaubarkeit und Möglichkeit zur aktiven Mitwirkung, nicht zuletzt würde durch eine solche Entwicklung den noch nicht eingemeindeten Dörfern und Städten die heute durchaus berechtigte Sorge genommen, mit der Eingemeindung Selbständigkeit zu verlieren.
Ein Beispiel:
Das Dorf Hubbelrath bei Düsseldorf mit wenigen tausend Einwohnern hat die gleiche Selbständigkeit wie ihre große benachbarte Schwester und kann jede übergreifende Planung, die ihr Gebiet berührt, blockieren. Andererseits kann und geht die Stadt Düsseldorf über durchaus berechtigte Interessen der Randgemeinden, die nur sie als Mitte der Region berücksichtigen kann, hinweg, weil „die Hubbelrather ja nicht dazugehören". '
Es wird kaum ein Planer zu finden sein, der hier nicht für die Verbandsstadt eintritt mit in sich soweit wie möglich selbständigen Gemeinden und Städten, also für eine sowohl politisch wie in der Verwaltung polyzentrische Stadt, die im kleinen ähnlich wie unsere Bundesrepublik organisiert sein müßte. Neben den Gemeinde-und Stadträten würde das Großstadtparlament für die übergreifenden Belange erforderlich.
Der Verwirklichung dieser von nahezu allen Planern anerkannten Organisationsform stehen Kräfte die entgegen, deren Macht in den derzeitigen Grenzen begründet Es sind liegen.
vor allem die Spitzen der Verwaltung und die Kommunalpolitiker. Sie stimmen Veränderungen nur dann zu, wenn sich ihre Position dabei verbessert und das bedeutet einmal Machtzuwachs der Verwaltung durch Vergrößerung oder die Chance auf Stimmenzuwachs für die Politiker.
In Nordrhein-Westfalen ist im Frühjahr des vergangenen Jahres durch die geradezu unheimliche Allianz einmal der Vertreter der großen Städte und dann der Randgemeinden und -Städte die bisher in der Bundesrepublik gröbste Vortäuschung einer Bürgerinitiative organisiert worden.
Mit großen öffentlichen Mitteln wurden die Bürger der Randgemeinden zu einem Volksentscheid gegen die inzwischen durchgeführte Kommunalreform aufgerufen und alle dafür notwendigen Voraussetzungen aufs beste organisiert; parallel dazu hat die große Stadt Düsseldorf alles dafür getan, daß von diesem Bürgerentscheid so wenig wie nur möglich bekannt wurde. Wie sehr nicht die Interessen der Bürger, sondern die Interessen der Verwaltung und der Politiker bei der kommunalen Neuordnung in Nordrhein-Westfalen im Vordergrund standen, das läßt sich an den neuen Grenzen leicht ablesen. Die Einbeziehung des von der City Düsseldorf nur 6 km entfernten Ratingen, politisch sehr selbstbewußt, wurde erst gar nicht in Erwägung gezogen, das 20 km entfernte Monheim aber gehört nun zum Stadtgebiet. Düsseldorf hat nun einen „italienischen Stiefel" nach Süden dazubekommen, ebenso wie der Landkreis Mettmann mit der Eingemeindung des der Ortschäft Monheim benachbarten Langenberg. Wesentlich sinnvoller wäre z. B. ein Zusammenschluß der Orte Monheim und Langenberg zu einem Gemeindeverband gewesen als Teil einer Verbandsstadt der Region Düsseldorf. Spätestens nach dem gescheiterten Bürgerentscheid (kaum jemand hat sich daran beteiligt) war zu erkennen, daß es um die Interessen der Bürger gar nicht ging. Man hat sie (vergeblich) ein-bzw. ausspannen sollen für bzw. gegen eine Kommunalreform, die sie in der Tragweite bei der bewußten Vernebelung der wirklichen Probleme durch die Verwaltung und Stimmbezirksinhaber gar nicht übersehen konnten.
Revision des Bodenrechts Schon weiter oben wurde darauf hingewiesen, daß der Boden der Stadt den Bürgern gehören muß. Nach dem neuen Städtebauförderungsgesetz wird es immer noch zwei Sorten Bürger geben, Eigentümer und Mieter. Nur die Eigentümer lassen sich als vollwertige Bürger ansehen, denn die Mieter können verdrängt werden, ihr Bürgerrecht ist vom Wohlwollen der Hausbesitzer abhängig — alle Schutzrechte räumen diesen Mißstand nicht aus. Den Wert der Unabhängigkeit in den eigenen Wänden kann nur der ermessen, der sie gegen die Abhängigkeit eines Mietverhältnisses tauschen muß. Hausbesitzer, die bereit sind, Mieter zu werden, wird man schwerlich finden.
Wer also davon spricht, daß die Stadt den Bürgern gehören muß, der muß auch fordern, daß jeder Bürger ein Wohnrecht erhält, das dem Recht der Eigentümer in nichts nachsteht. Da ein Eigentum über die eigene Nutzung hinaus das elementare Grundrecht jedes einzelnen Menschen auf Bebauung eines Grundstücks erheblich einschränkt, darf also das Eigentum nur denen gehören, die es auch selber nutzen. Der Grund und Boden ist eine unerläßliche Daseinsvoraussetzung für alle. Darum hat der Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz festgestellt, daß der Boden nicht wie andere Vermögenswerte gehandelt werden kann. Die von allen Parteien anerkannte „Sozialpflichtigkeit des Eigentums am Boden" bleibt ein Lippenbekenntnis, solange Grundrecht am Boden für alle nur über einen freiwilligen Profitverzicht zu erreichen ist. Damit werden die Bodenbesitzer überfordert. An die Stelle Von Appellen muß eine Regelung treten, die das Grundrecht auf eine Wohnung, die wie eine eigene benutzt werden kann, sicherstellt. Die Form des Eigentums ist dabei zunächst sekundär, sie muß durchaus nicht Kommunalisierung bedeuten.
Beispiel Zürich Neubühl Schon seit nahezu dreißig Jahren gibt es in Zürich „Neubühl", eine Siedlung, die ausschließlich den jeweiligen Bewohnern gehört. Alle Bewohner haben einen grundsätzlichen Anspruch darauf, innerhalb der Siedlung bei veränderten Bedürfnissen eine entsprechend andere Wohnung zu erhalten, ein Anspruch, der für alle, die in der Siedlung bleiben wollten, bisher erfüllt werden konnte.
Das Problem liegt darin, daß durch die natürliche Abwanderung, die in den Ballungsgebieten bis zu 16 °/o jährlich beträgt, an allen Orten immer genügend Wohnungen für den nachwachsenden Bedarf der Ansässigen frei werden. Diese Wohnungen sind aber durch die in der Regel anders gelagerten Interessen der Be. sitzer praktisch nicht verfügbar. Niemand muß eine ihm vertraute Wohngegend gegen seinen Willen verlassen, wenn eine entsprechende Regelung von Anfang an getroffen wird. Auch in „Zürich Neubühl" werden die kurzfristigen Bewohner nicht viel anders als Mieter leben. Aber durch den Umstand, daß jeder, der fortzieht, sein Eigentum an der Wohnung an den Nachfolger übergeben muß, ist diese Wohnstruktur uneingeschränkt offen für alle notwendigen Veränderungen. Besonders im öffentlich geförderten Wohnungsbau, der ja das Dach über dem Kopf für sozial schwache Bürger und nicht Mehrung des Besitzes der Vermieter anstrebt, sollte sich dieses Verfahren generell durchsetzen und auch durchsetzen lassen, weil ja auch bisher alle entstehenden Kosten über die Miete, heute mit erheblichen Zuschüssen, weil die Mieter aus ihrem Einkommen den „Marktwert" gar nicht aufbringen können, abgedeckt werden.
Die konkrete Verwirklichung des Anspruchs, daß die Stadt den Bürgern gehört, allen Bürgern und nicht nur den Hausbesitzern, ist in einer Demokratie durchaus möglich, wie es das Beispiel Zürich Neubühl zeigt. Nur so wird die „Sozialpflichtigkeit des Eigentums am Boden" nicht dem guten Willen einiger Besitzer überlassen, nur so wird die oft bemühte breiteste Streuung des Eigentums tatsächlich verwirklicht. An keiner Stelle dürfen Außenstehende in die Interessensphäre der Bürger eingreifen, weder in die Wohnung, noch in die Wohngruppe, weder ins Quartiersleben, noch in die Großstadt und den gesamten Raum. Immer sollten die jeweils Ansässigen alleine darüber bestimmen können, wie sie sich ihre Stadt wünschen. Erst dann läßt sich davon sprechen, daß die Stadt den Bürgern gehört. Der Mißbrauch mit dem Boden wird geradezu herausgefordert, solange die Interessen der Benutzer und die Interessen der Besitzer nicht identisch sind. Der bestehende Interessenkonflikt ist eine der wesentlichen Ursachen für die Mißstände.
Bürgerinitiativen
Die öffentliche Kritik an den Zuständen gründet sich auf Bürgerinitiativen. Sie sind nicht von selten der Fachwelt, der Verwaltung, der gewählten Volksvertreter oder der großen Baugesellschaften ins Leben gerufen worden. Auch die geistige Repräsentanz unseres Landes hat daran keinen unmittelbaren Anteil.
Die Bürgerinitiativen kommen aus dem Volke selbst. Das ist ebenso beschämend für die Fachwelt wie hoffnungsvoll für die Sadie Kaplan Rolf Dantscher hat auf der bisher eindrucksvollsten Demonstration in Müncher in einer programmatischen Rede die Notwen digkeit von Bürgerinitiativen begründet. Er sagte:
„Die Art, in der in unserer Stadt Menschen vertrieben werden, bedroht nicht nur das Leben einzelner Menschen. Die Kräfte, die für diese Entwicklung verantwortlich sind, verwandeln unsere Stadt immer mehr in eine tote Steinwüste, in der der Mensch noch einsamer, noch anonymer ist. Wir sind nur mehr Nummern, gerade noch gut genug, um von der Wirtschaft ausgebeutet zu werden, die sich in unserer Stadt mit unserem Geld in ihren Verwaltungs-und Bürobauten ein Denkmal ihrer unmenschlichen Macht setzt.
Wir sind hier, weil wir diese Entwicklung nicht für ein notwendiges Naturgesetz des Wachstums einer Stadt halten, sondern für die Folge bewußter politischer Entscheidungen und wirtschaftlichen Profitdenkens, die sich an ganz bestimmten Zielvorstellungen und Werten orientieren. Theodor Henzler hat diese Entwicklung im Münchner Stadtanzeiger als neue Form sublimen Imperialismus bezeichnet: Er schreibt dort wörtlich: . Hinter der Abrißwut steht Arroganz, nicht selten gepaart mit brutaler Macht und Gewinnstreben. ’ Wir sind hier, weil wir gegen dieses unmenschliche Vorgehen bestimmter Wirtschaftskonzerne und politischer Gruppen protestieren. Wir halten eine Gesellschaft, in der es möglich ist, Menschen systematisch aus ihren Wohnungen zu vertreiben und gewachsene, von Leben erfüllte Viertel in Behörden-, Banken-und Hochschulgettos umzufunktionieren, weder für liberal noch für demokratisch, weder für sozial noch für christlich ...
Wir sind nicht hier, um Gewalt und Meinungsterror zu üben, sondern wir fordern gegen die Gewalt einer ungerechten Lebensordnung Gerechtigkeit. Wir wollen nicht Zerstörung, sondern sind gegen die Zerstörung Münchens ...
Statt Bürgerinitiativen zu überwachen und ihnen mit Repressalien zu drohen, empfehlen wir die Überwachung der Art. 158 oder 161 der Bayerischen Verfassung, die das Eigentum begrenzen und vom möglichen Mißbrauch sprechen und die nirgends befolgt werden.
Solange Profit der wesentliche Antrieb des Fortschritts, der Wettbewerb das höchste Gesetz der Wirtschaft und das absolute Recht auf Privateigentum auch auf Kosten der Gemeinschaft als Grundanschauung unser Leben bestimmt, solange Reichtum mehr gilt als ein Menschenleben, solange wird es zu absurden Ungerechtigkeiten kommen. Diese Prinzipien richten sich im Grunde gegen den ganzen Menschen und gegen alle Menschen.
Die am Stadtrand entstehenden Schlafstädte haben zwar vielleicht genügend Krankenhäuser und Arbeitsplätze. Die Wohnhäuser gleichen oft eher bewohnbaren Grabsteinen, in denen der einzelne eine Nummer und vollkommen isoliert ist. Dabei kosten diese Wohnungen Mieten, die noch vor wenigen Jahren als Wucher gerichtlich verfolgt worden wären. Der evang. Pfarrer Rauh von Haidhausen hat mit Recht gesagt, daß eine Umsiedlung der meist alten Bürger aus den innerstädtischen Vierteln in diese Trabantenstädte als langfristiger Mordplan'zu bezeichnen sei ... Seit Inkrafttreten der Bayerischen Verfassung 1946 betrug der Wertzuwachs für etwa 12 000 ha privateigenen Landes in den Grenzen von München 15 Mrd. Mark. Und auch heute noch bekommt eine kleine Gruppe von Grundstücksbesitzern ohne einen Finger zu rühren jeden Tag durch Entwicklungsleistungen aus unseren Steuergeldern etwa 4 Mill. Mark geschenkt. Das ist mehr als der tägliche Haushalt Münchens. Würde gemäß der zwingenden Vorschrift der Bayerischen Verfassung dieser Wertzuwachs für die Allgemeinheit genutzt, könnten alle Bewohner Münchens mietfrei wohnen.
Darum halten wir es für krasse Auswüchse des Wirtschaftssystems, wenn Großkonzerne um des Profits und der Machtentfaltung willen Menschen vertreiben, die sich offensichtlich durch 30 oder 50 Jahre Mietzahlung kein Recht auf einen Lebensraum erworben haben ...
Zu den Geistern, die an der Realität scheitern, gehört unserer Ansicht nach auch eine Stadtverwaltung, wenn sie bei der Stadtplanung im Interessenkonflikt zwischen Konzernen und Mietern überall zugunsten der Kapitalinteressen entscheidet gegen die sozial Schwächeren.
Zu den Geistern, die an der Realität scheitern und Zerstörung wollen, gehören nach unserer Meinung jene Interessengruppen — die bei den konservativen Parteien immer wieder Gehör finden...
Wenn die Opposition als Alternative für die Städte die Privatisierung von Grund und Boden anstrebt und damit offensichtlich die Pri29 vilegierung einer kleinen Schicht reicher Leute betreibt, dann scheint uns angesichts des Mißbrauchs, der in unserer Stadt mit Grund und Bodeneigentum betrieben wird, die Verwirrung der Geister vollkommen zu sein.
Das Schlimme an all diesen Phänomenen ist, daß die . große Stadtverwüstung’ (Mitscherlich) fast unmerklich und ohne großes Aufsehen geschieht, daß die zuständigen Organe die Entwicklung, die in wenigen Jahren ins Chaos führt, bisher kaum gesehen haben und ihnen weitgehend machtlos gegenüberstehen. Wir werden diese Entwicklung zwar überleben, aber , man sollte sich dann nicht wundem, wenn der Mensch später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt'(Mitscherlich). Wir hoffen, daß die Anliegen unserer Stadt aufgegriffen werden. Wir fordern alle Bürger auf: Arbeiten Sie in den Bürgerinitiativen mitl Schreiben Sie Briefe und protestieren Sie überall, wo Profit und Machtdenken mehr gelten als der Mensch. Werden wir interessierte und verantwortungsbewußte Stadt-und Staatsbürger! Denken Sie daran: Eine menschenwürdige Stadt wird uns nicht geschenkt, wir müssen sie erkämpfen!" (Aus: „Münchner Kirchenanzeiger")
Wer kann angesichts dieser Rede daran zweifeln, daß Bürgerinitiativen notwendig sind?
Gerhard Rettenmaier schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 21. 8. 1971: ..... Freilich haben die Planungsbehörden stets einen großen Wissensvorsprung im Vergleich mit den jeweils Betroffenen. Die Bürgerinitiative wird zu Anfang nur wissen: dies wollen wir nicht. Aber wie man die Sache formal korrekt und zweckmäßig durchpaukt, das wird sie sich gemeinhin von Null an erarbeiten müssen. Manche Initiative dürfte auf dem Weg durch den formalistischen Wust geschrumpft oder eingegangen sein. Holtmanns Bericht von dem Schwund der anfangs engagierten Bürgerversammlung in Stuttgart, die durch anhaltende Palaver schlaff wurde, gibt ein Beispiel. Die positiven Erfahrungen der Bürgerinitiativen werden andernorts nicht oder nicht genügend nutzbar. So sind die Planer immer die Insider, die Bürger immer die Outsider, die im günstigsten Fall gerade noch bremsen können. Gibt es keinen Weg, den Willen der Bürger in Planungsangelegenheiten früher, also konstruktiv zur Geltung zu bringen? Den strategischen Vorteil der Behörden könnte man wenigstens teilweise abbauen, wenn die vielerorts gesammelten Erfahrungen der Bürgerinitiativen in einer Arbeitsgemeinschaft zusammengetragen werden. Dieses Potential, vermehrt um alle jene Leute, die die anstehenden Planungsprobleme nicht einigen Planungsämtern überlassen wollen, weil zu viel von unrevidierbaren Entscheidungen einiger praktisch anonym auftretender Personen abhängt, müßte durch einen Modus in die Lage versetzt werden, als Arbeitsgemeinschaft bei Bedarf Rat zu geben. Die Aufgabe ist groß, denn es stehen juristische, architektonische, soziologische, ästhetische, wirtschaftliche, verkehrspolitische Fragen an. Die Arbeitsgemeinschaft müßte nötigenfalls auch Widerstand mit allen legalen Mitteln zu organisieren wissen und sie müßte sich auf der ganzen Klaviatur der Öffentlichkeitsarbeit auskennen. Die Zeit für so etwas ist reif."
Bürgerinitiativen sind inzwischen an vielen Orten in Gang gekommen. Man sollte ein Zusammenwirken dieser verschiedenen Bürgerinitiativen organisieren, man sollte sie mit besserem Grundlagenmaterial ausstatten, um so zunächst einmal in größerer Breite das Bewußtsein dafür zu wecken, daß die Stadt dem Bürger gehören muß, wenn es zu einer wesentlichen Verbesserung kommen soll. Es kommt darauf an, durch Modelle zu belegen, daß die verlorene Lebensqualität in den Städten nur durch eine andere Grundeinstellung wiedergewonnen werden kann.
Die Bürgerinitiativen sind auf Schützenhilfe angewiesen Ohne die Mitwirkung der geistigen Repräsentanz und ohne Basismaterial von seifen der Fachwelt werden die Bürgerinitiativen scheitern. Unzufriedenheit mit den Zuständen reicht allein nicht aus; die Forderungen der Bürgerschaft müssen so konkretisiert werden, daß sie sich in Realität umsetzen lassen. Durch die Zerrissenheit und Resignation der Intelligenz fehlt aber die Basis für eindeutige Ziele und Forderungen, und darum entsteht in der Öffentlichkeit kein Gewicht für konstruktive Änderungen, soviel Unzufriedenheit es auch gibt. Entscheidend für eine konstruktive Richtung ist die Sammlung der geistigen Kräfte, die den Grad der Gemeinsamkeit vergrößern können. Dazu reichen Tagungen und Veröffentlichungen nicht mehr aus. Die allgemeinen Grundlagen in der Verbindlichkeit des Humanen, die hier angedeutet wurden, müssen sich zu einem Kodex verdichten, den ein Planer nur mit Schaden für seinen Ruf verletzen kann. Unsicherheit ist die Ursache für die Scheu gegenüber solchen Festlegungen, denn Verbindlichheiten — darunter viele üble — gibt es zuhauf auch heute. Es wird darauf ankommen, sie zu überprüfen, überholte abzuschaffen und notwendige hinzuzufügen. Die Verhältnisse — und damit unsere Quartiere und Städte — lassen sich nur dann zum Guten ändern, wenn die besten Kräfte sich in den Grundfragen einigen und radikal — also von der Wurzel her — gegen die offensichtlichen Mißstände angehen. In den schon vorhandenen Bürgerinitiativen bietet sich das Forum an, das Grundfragen unserer Existenz auch politisch durchsetzen kann.
Die hier veröffentlichten Texte aus Bürgerinitiativen erlauben den Einwand nicht, daß dieses Forum von der Sache her der Aufgabe nicht gewachsen ist. Was fehlt, ist einzig und allein die Schützenhilfe der Persönlichkeiten, die es nach ihrem Bildungsstand und nach der Sachkunde zwar besser wissen, aber dieses bessere Wissen bisher nicht zur Geltung gebracht haben.
Die Bürgerinitiativen warten auf diese Schützenhilfe, sie wissen, daß sie ohne ein besseres Wissen nicht auskommen. Darin liegt eine Herausforderung an die Intelligenz unseres Landes. Die Intelligenz muß diese Herausforderung annehmen, wenn sie sich nicht disqualifizieren will.
Josef Lehmbrock, geb. 1918, gelernter Schreiner, als Architekt Autodidakt; selbständig seit 1945; Aufträge hauptsächlich über Wettbewerbserfolge (Wohnhäuser, Schulen, Sparkassen, Verwaltungsbauten, Großhandlungen, ein Dutzend Kirchen, etliche Kirchenumbauten, ein Kloster und eine Reihe zumeist kleinerer Wohnsiedlungen, einige davon in Arbeitsgemeinschaften mit anderen Kollegen). Auszeichnungen durch die Architektenkammer bzw.den Bund Deutscher Architekten: Wohnsiedlung in Unterbach bei Düsseldorf; Kirche Maria Himmelfahrt in Unterbach bei Düsseldorf; Pius-Kirche in Krefeld-Gartenstadt; Kirche Heilig Kreuz in Düsseldorf-Rath; Wohnsiedlung Edigheim bei Ludwigshafen (erbaut in Gemeinschaft mit Prof. W. Tiedje); Wohnhochhaus Fasan in Stuttgart (erbaut in Gemeinschaft mit Prof. W. Tiedje). 1948 ausgewählt für die WERKBUND-Ausstellung in Köln; 1956 ausgewählt für die INTERBAU in Berlin; 1967 Weltausstellung Montreal (beteiligt als einer der vier Berater für den Inhalt des deutschen Pavillons); 1970 Mitherausgeber und in Gemeinschaft mit Wend Fischer Redakteur der Zeitschrift „bauen konkret"; 1971 Ausstellung „PROFITOPOLIS“, in Gemeinschaft mit Wend Fischer. Diese Ausstellung wurde inzwischen nahezu einhundertmal in aller Welt gezeigt (sie existiert in fünf deutschen und zwei englischen Fassungen). Mit Wend Fischer gemeinsam will der Autor eine zweite Ausstellung über Möglichkeiten einer besseren Stadt herausbringen, wiederum zuerst im Münchener Museum „Die Neue Sammlung“, das von Wend Fischer geleitet wird.