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Die „Mongolische Volksrepublik". Sibirisches Vorfeld der UdSSR | APuZ 40/1975 | bpb.de

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APuZ 40/1975 Die Vereinten Nationen und die Dekolonisation der portugiesischen Überseegebiete Den Anstoß zu diesem Beitrag gab eine Studien-gruppe der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen in Hamburg, die sich mit Guinea-Bissau beschäftigte. Das im Rahmen dieser Arbeit ermittelte Ergebnis von Reiner Radermacher über die Behandlung der portugiesischen Kolonialpolitik in der Generalversammlung der Vereinten Nationen liegt dem entsprechenden Kapitel dieses Aufsatzes zugrunde. Die „Mongolische Volksrepublik". Sibirisches Vorfeld der UdSSR

Die „Mongolische Volksrepublik". Sibirisches Vorfeld der UdSSR

Martin Sailer

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die aktuelle Studie will einen fernöstlichen Spannungsraum ins Blickfeld rücken, dem westeuropäische Beobachter der weltpolitischen Großwetterlage kaum Beachtung schenken, während sich die Sowjetunion und die Ostblock-Länder mit Milliarden-Investitionen engagieren. Dem Hinterhof Asiens, im 13. Jahrhundert Zentrum des mongolischen Weltreichs und dann Jahrhunderte lang vergessen, wächst im Zuge der nachkolonialen Neuordnung der asiatischen Machtverhältnisse neue Bedeutung zu. Machtpolitische Entwicklungen vollziehen sich nicht nur auf vordergründiger Bühne oder im Gefolge spektakulärer kriegerischer Dramatik, wie etwa in Vietnam. Die 1924 unter dem Patronat der sowjetischen Roten Armee proklamierte Mongolische Volksrepublik, die ehemalige chinesische Grenzprovinz „Äußere Mongolei“, hat gewiß nur minimales Eigengewicht, aber das 1, 5 Millionen qkm umfassende Steppenland im Herzen Asiens ist ein strategisch-politischer Schlüsselraum von Rang. Elementare Sicherheits-Interessen der kommunistischen Supermächte Sowjetunion und China überschneiden sich in den menschenleeren Weiten, die der verletzlichen transsibirischen Verkehrsachse vorgelagert sind und die weit hineinbuchten in Chinas Landmasse. Die Sowjets beherrschen souverän die mongolische Drehscheibe. China hat eine Runde verloren, aber keineswegs den Kampf gegen die drohende militärische Präsenz und den exklusiven Einfluß der Sowjetunion aufgegeben. Die Spannung knistert nicht nur am Ussuri und in Sinkiang. Auch an der chinesisch-mongolischen Grenze zeigt sich der Macht-konflikt immer wieder durch das Aufflackern bewaffneter Scharmützel. Chinas , mongolische Wunde'blutet. Zwischen den Mühlsteinen der beiden Mächte, deren feindselige Rivalität enorme sowjetische Kraft bindet, beginnt sich mit der schnellen Modernisierung des Landes aber auch mongolisches Nationalinteresse zu artikulieren. Die Entwicklung, die unter gesamtasiatischem Aspekt zu werten ist, verdient auch aufmerksame Beobachtung in Europa. '

Ostasien nach Vietnam

Abbildung 1

Der Vietnamesische Erdrutsch, der eine Kettenreaktion auf der Indochinesischen Halbinsel auslöste, hat die politische Landschaft Ostasiens gründlich verändert. Eine Reorganisation der Bündnisse ist im Gang; außenpolitische Orientierungen sind auf dem Prüfstand; die Domino-Steine werden neu gesetzt.

Die Indochinesische Halbinsel ist fortan nicht mehr als machtleerer Raum offen für direkte Intervention. Die hochgerüstete Militärmacht Vietnam, der die konkurrierenden Interessen Chinas und der Sowjetunion die Chance einer relativen Eigenständigkeit bieten, ist als neue Größe in Rechnung zu setzen.

Nach dem Fiasko des ruinösen Fehl-Engagements in Vietnam haben die USA, die weiterhin mit ungeschmälerter Macht (und eher entlastet) präsent bleiben, ihre Verteidigungslinie auf die dem Kontinent vorgelagerten Inselbastionen zurückgenommen. Die Bündnisse mit Japan und Australien gewinnen zusätzliches Gewicht; und zwischen diesen Eckpfeilern zeichnet sich amerikanisches Engagement in Indonesien ab, wo vor zehn Jahren in einer wilden Eruption nationaler und religiös-islamischer Leidenschaften die schon mächtig entfaltete kommunistische Partei in einem Meer von Blüt liquidiert wurde.

Das freilich auch labile Inselreich, in dem ein sich verhärtender puritanisch-militanter Islam zwar antikommunistische Rückversicherung ist, aber auch eine unberechenbare Größe bildet, bietet sich als neue Abwehrfront gegen den wuchernden nationalistisch-sozialrevolutionären Agrar-Kommunismus an. Es schiebt sich ferner als Sperriegel zwischen Pazifischen und Indischen Ozean, wo sich die Herausforderung der globalen sowjetischen See-Strategie bedrohlich verschärft. Im Nordosten wächst dem Industrie-Riesen Japan, das die eigene nationale Rolle zwischen den drei Atommächten am . pazifischen Meer der Zukunft'noch nicht definiert hat, breitere asiatische Verantwortung zu.

Auf dem Kontinent schließlich, wo das explosive Problem Korea von den Supermächten unter Kontrolle gehalten wird, rückt die Hauptfront der permanenten sowjetisch-chinesischen Konfrontation wieder stärker ins Blickfeld: die 7 000 km lange unstabile Land-grenze, die Rußland zwischen 1860 und 1945 mit den heute von Peking reklamierten „ungleichen Verträgen” oktroyierte. Strategisch-politischer Schlüsselraum der transkontinentalen heißen Grenze ist die im Westen ziem-lieh vergessene „Mongolische Volksrepublik" im Hinterhof Asiens, die ehemalige chinesische Grenzprovinz „Äußere Mongolei".

Eine Verschärfung der zentralasiatischen Konfrontation ist in Rechnung zu stellen, wenngleich die offenen Grenzfragen und das Ringen um Einflußsphären nur einen Aspekt des elementaren Machtkonflikts der beiden kommunistischen Atommächte ausmachen, die auf jedem Gebiet und in allen Erdteilen feindselig konkurrieren. Ein Ausufern in einen großen Krieg, wie er von Zeit zu Zeit von Propheten der Apokalypse als geopolitisch deter29 miniert und unvermeidlich vorausgesagt wird, ist dabei unwahrscheinlich.

Chinas Militärpolitik ist ganz auf den defensiven „Volkskrieg" eingestellt-den Feind kommen lassen und ihn im Meer des eigenen Volkes ertränken. Aber auch ein Angriff der rüstungstechnisch weit überlegenen Sowjetunion ist kaum vorstellbar. Die weltpolitischen Rückwirkungen wären unabsehbar, überdies ist Chinas atomares Abschreckungspotential schon zu weit gewachsen, ganz abgesehen vom mörderischen Risiko eines Offensiv-Stoßes in die zahllosen autonomen Verteidigungsbastionen der ungeheuren Landmasse und dem Problem der Nachschubwege.

Vor allem aber wird die delikate Machtbalance auf dem Kontinent von den USA mitgesichert. Würden die USA eine ausgreifende Machtverschiebung hinnehmen, so wäre das ohnehin labile globale Gleichgewicht, das den Frieden sichert, nicht mehr gegeben. Das am 27. Februar 1972 in Schanghai formulierte Nixon-Tschu-En-lai-Kommunique spricht dies klar aus. Einvernehmlich wird darin erklärt, „daß keine von beiden Seiten eine Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum anstreben soll und daß jede Seite Bemühungen irgend eines anderen Landes oder einer Gruppe von Ländern um Errichtung einer Hegemonie ablehnt". Das kommunistische China Maos, das der EWG und Japan Avancen macht, um die Sowjetunion maximal zu isolieren, und dessen Werbung um einen asiatischen Weg zum Sozialismus durchaus asiatische Tiefenwirkung zeitigt, disponiert in anderen zeitlichen Dimensionen. Es kann auf die Schwerkraft und die rasch sich entfaltende Potenz des eigenen 800-Millionen-Volkes setzen. Gemäß dem bipolaren Denken der Chinesen, die bis in den Alltag hinein jeden Lebensaspekt aus zwei konträren Blickwinkeln sehen, entspricht im übrigen der rein defensiven Volkskriegs Strategie die parallel dazu höchst offensiv entfaltete subversive Aktion.

Spannung von Dauer unter der Schwelle der großen Herausforderung dürfte somit eine Konstante der Entwicklung auf dem asiatischen Kontinent bleiben, die enorme sowjetische Kraft bindet.

I. Die mongolische Pufferzone

Die „Mongolische Volksrepublik" der älteste Gefolgsstaat der Sowjetunion, wurde am 26. November 1924 unter der Patenschaft der Roten Armee proklamiert. Im Sog der bolschewistischen Revolution entglitt die einstige chinesische Grenzprovinz „Äußere Mongolei" der lockeren Kontrolle Pekings, das aber noch zwei Jahrzehnte lang am Anspruch anf chinesische Oberhoheit festhielt. Erst im Januar 1946 rang sich das dem Untergang zusteuernde Tschiang-Kai-schek-Regime zum formalen Verzicht durch — nach einer mongolischen Volksabstimmung, die im Oktober 1945 das einmütige volksdemokratische Votum für die Unabhängigkeit gebracht hatte.

Das kommunistische China Maos sanktionierte dann 1950 den bitteren Verzicht im Rahmen des Freundschafts-und Kooperationsvertrags mit der Sowjetunion, der u. a. festlegte, „daß der unabhängige Staat der Mongolischen Volksrepublik infolge der Volksabstimmung von 1945 und der von der Volksrepublik China inzwischen angeknüpften diplomatischen Beziehungen völlig gewährleistet ist". Die sehr abgewogene Klausel schloß aber nicht die Hinnahme oder gar die offizielle Sanktionierung einer exklusiven Vormachtstellung der Sowjetunion in der Steppenrepublik ein.

Die Grenzen des staatlichen Restgebildes der Erben Dschingis Khans, der im 13. Jahrhundert mit seinen Reiterheeren das gewaltigste und auch kurzlebigste Weltreich der Geschichte schuf, umschließen nur eine Minderheit der mongolischen Völkerschaften. Knapp 1, 3 Millionen Menschen leben auf dem 1, 56 Millionen qkm umfassenden Riesenterritorium, in dem ganz Westeuropa Platz fände. Die Mehrheit der Mongolen, rund zwei Millionen, siedelt in der China fest einverleibten und längst von chinesischen Einwanderern überfluteten „Inneren Mongolei". Die in den Gebieten am Baikal-See beheimateten mongolischen Burjaten, heute noch etwa 300 000, brachte das zaristische Rußland schon 1689 durch den Grenzvertrag von Nertschinsk unter seine Herrschaft.

Das menschenleere Steppenland ist ein ökonomischer und politischer Zwerg im Hinterhof Asiens. Von den bewaldeten, zerklüfteten Gebirgsriegeln im Norden über ein unendliches Meer baumloser Grashügel bis zu den Kamel-und Ziegenweiden der Steinwüste Gobi und des total verkarsteten Gobi-Altai ist die Viehzucht die Existenzgrundlage des kleinen Volkes.

Audi die erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Industrie basiert im wesentlichen auf der Verarbeitung tierischer Produkte. Die in größerem Rahmen erst anlaufende Prospektion nach Bodenschätzen, an denen es nicht fehlt, kann nur auf weitere Sicht ökonomischen Strukturwandel bringen, zumal das Reservoir verfügbarer Arbeitskräfte minimal ist.

So gering das Eigengewicht des menschenleeren Landes aber auch sein mag: die unendlichen Steppenweiten sind ein strategischer Schlüsselraum von Rang, umkämpft und umworben, seit die Mongolen Ende des 14. Jahrhunderts aufhörten, selbst Geschichte zu machen.

Für die Sowjetunion ist die Mongolei eine ideale Pufferzone. Sie sichert den anfälligen Flaschenhals der lebenswichtigen transsibirischen Verkehrsachse zwischen Baikal-See und den unwirtlichen südlichen Gebirgsketten. Der nach dem Krieg begonnene Bau einer nördlichen Parallel-Strecke, die der strategisehen Absicherung und der Erschließung jungfräulicher Gebiete dienen soll, kommt in den unwirtlichen Dauerfrost-Gebieten nur schrittweise voran. Die Fertigstellung ist noch nicht abzusehen.

Die Mongolei schirmt das menschenleere Sibirien ab gegen den Sog der Volksmasse Chinas, das im großen Stil Nord-Kolonisation betreibt. Das Steppenland, das tief hineinbuchtet in den chinesischen Lebensraum, bietet sich überdies geradezu an für absichernde strategische Dispositionen: im Osten flankiert es die reiche Mandschurei mit ihren Industriezentren und neu erschlossenen Olfeidern und im Westen das von unruhigen moslemischen Völkerschaften türkischen Ursprungs bewohnte Sinkiang, das atomare Versuchsfeld der Chinesen.

Bei solchen geopolitischen Gegebenheiten müssen sich die Interessen Chinas und der Sowjetunion hart im mongolischen Raum schneiden. Nicht nur am Amur und an Sinkiangs Grenzen, wo Peking die „ungleichen Verträge", die gewaltigen Gebietsannexionen der Zaren reklamiert, flackert der elementare Machtkonflikt immer wieder in bewaffneten Scharmützeln auf — was jeweils Schlagzeilen macht und überzogene Spekulationen um drohende Kriegsgefahr auslöst —, auch an der mongolisch-chinesischen Grenze gibt es laufend heiße Zwischenfälle, von denen die Weltöffentlichkeit aber nur gelegentlich durch wechselseitige summarische Aufrechnung erfährt.

Die Sowjets, die mit etwa fünf vollmotorisierten Divisionen und Raketen-Waffen die strategischen Schlüsselräume der Mongolei kontrollieren, halten sich dabei im Hintergrund. Die Beschwerde über „kriegerische Operationen" Chinas, das seinerseits propagandistisches Dauerfeuer gegen den „neokolonialen Sozial-Imperalismus" der Sowjets schießt, führt jeweils mit verbalen Kraftakten der kleine Verbündete.

Der Machtkonflikt der beiden kommunistischen Rivalen knistert schon vor der Haustüre des mongolischen Puffer-Staats. Der Reisende, der von der ostsibirischen Zentrale Irkutsk aus die mongolische Hauptstadt Ulan Bator über die eingleisige, nach Peking wei terführende transmongolische Eisenbahnlinie ansteuert, sieht sich an der Grenze vor einer martialischen Szene. Auf sowjetischer Seite, in Nauschki, wimmelt es von Soldaten. Während des vielstündigen Aufenthalts ist das Verlassen des Bahngeländes streng untersagt.

Aus der Talsenke des ärmlichen Örtchens ziehen Stacheldrahtverhaue die Steppenhügel hoch, mit gepflügtem Sicherungsstreifen und Fahrweg für Kontrollfahrzeuge davor.

An der Grenze des mongolischen Verbündeten die gleiche Szene wie an den Eisernen Vorhängen Europas oder an dem Korea durchschneidenden Sperriegel bei Panmunjon.

Das ewige, schon in Zarenzeiten waltende russische Mißtrauen, von den Sowjets perfekt bürokratisiert, ist besonders virulent im mittelasiatischen Spannungsraum.

In beflissener Kopie der sowjetischen Grenzpraktiken schirmen in der mongolischen Grenzstation Suche Bator Soldaten mit geschulterten Maschinen-Pistolen sogar den harmlosen, abermals zwei Stunden stillstehenden regionalen Verbindungszug Irkutsk-Ulan Bator ab, der für die rund 650 km lange, mit Ausweichanlagen durchsetzte Strecke über 26 Stunden braucht. Die Kontrolle der Reisenden und des Gepäcks ist ebenso penibel-irritierend wie ineffektiv. Selbstbestätigung durch naive Machtentfaltung — verzeihlich bei noch unerfahrenen Funktionärskadern eines jahrhundertelang gedemütigten und herumgestoßenen Volkes, das eben erst anfängt, sich in ein modernes Staatswesen hineinzutasten.

II. Das asiatische Paradestück der COMECON-Hilfe

Mit Milliarden-Aufwand bemüht sich die Sowjetunion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den strategisch so wichtigen Puffer-staat zu stabilisieren, zu modernisieren und ideologisch zu immunisieren — zunächst im entwicklungspolitischen Wettlauf mit Maos China und seit dem Bruch mit Peking im machtpolitischen Alleingang. Die Sowjets sind dabei sorglich bemüht, die Umarmung diskret zu vollziehen. Plakatiert wird vor allem die kollektive Hilfe aller COMECON-Staaten, die auch einen guten Teil der finanziellen und technischen Entwicklungslast mittragen. Die mongolische Hauptstadt, die erst 1924 nach der Ausrufung der Volksrepublik ihren alten Namen „Urga“ (Palast) in Ulan Bator (Roter Held) änderte, zählte zu Beginn der zwanziger Jahre nur an die 30 000 Einwohner. Es war ein armseliger Umschlagplatz am Schnittpunkt der'alten Karawanenwege nach China und der mongolischen Ost-West-Verbindungen. Um das 1639 gegründete Lama-Kloster, das Sitz des religiösen Oberhaupts der Mongolen war, gruppierten sich nur schmutzige Karawansereien, Holzhaus-Niederlassungen der russischen und Lehm-Quartiere der chinesischen Händler. Der Rest bestand aus Nomaden-Jurten. Heute zählt Ulan Bator schon rund 300 000 Einwohner, und bis 1980 rechnen die Planer mit 500 000.

Ulan Bator, das sich zwischen grünbraunen Steppenhügeln einschmiegt in den Talgrund des Tuul-Flusses, präsentiert sich überraschend modern. Breite Alleen und Plätze mit repräsentativen öffentlichen Bauten; neo-klassizistische Säulenfronten und in Pastellfarben freundlich getönte Fassaden; rasch weiterwachsende moderne Wohnviertel mit ferngeheizten sechsstöckigen Blocks und zwischen-gestreuten Hochhäusern. Es fehlen weder das Sportstadion noch eine moderne Ausstellungshalle in Glas und Beton, weder die Oper im klassizistischen Gewand noch der Staats-zirkus russischen Musters.

Man glaubt sich eher in einer russischen, denn in einer asiatischen Stadt. Zu ausgreifend scheint der Grundriß der neuen Steppen-Metropole auf den Reißbrettern der Ostblock-Planer ausgefallen zu sein. Die City wirkt menschenleer — öde geradezu der riesige zentrale, von Regierungsbauten gerahmte Aufmarschplatz mit dem pathetischen Reiter-standbild des roten Revolutionshelden Suche Bator, der 1923 von einer lamaistischen Mönchsfronde vergiftet worden sein soll. Er ist mit dem zweiten Revolutions-Idol, dem militärischen Führer und späteren Staatschef Tschoibalsan in einem Tribünen-Mausoleum beigesetzt, das ganz dem Lenin-Mausoleum auf Moskaus Rotem Platz nachempfunden ist. Und über der Stadt, weithin sichtbar auf einem Steppenhügel hochgetürmt, feiert eine kolossale Siegessäule mit krönendem Sowjetstern die brüderliche sowjetische Waffenhilfe — Symbol der augenblicklichen Machtverhältnisse in Innerasien.

Das Leben ballt sich an der Peripherie der neuen Stadt, wo sich neben den in den letzten Jahrzehnten errichteten Industrie-Kombinaten weite Slum-Viertel ausbreiten, diskret abgeschirmt von hohen Bretterzäunen. Die mongolischen Arbeiter, die noch in Pferdesätteln heranwuchsen, haben ihre seit Dschingis Khan unveränderten Nomaden-Heime mit in die Großstadt gebracht: Jurten, wind-und kältefeste Rundzelte mit Filzabdichtung, die sich um ausziehbare Scherengitter und Dach-streben in wenigen Stunden aufbauen oder abbrechen und auf Kamelrücken transportieren lassen.

Wie Mammutpilze in kleinen Gruppen in das unendliche Hügelmeer der Steppe getupft, sind die Jurten heimelige Behausungen, ideal den extremen Klima-Verhältnissen und Arbeitsbedingungen angepaßt. Aber vor rauchenden Fabrikkaminen zu vielen Hunderten zusammengepfercht und mit Lehm-und Bretter-baracken durchsetzt, werden sie zum . sozialen Morast'. Das jähe Uberwechseln aus dem selbstgenügsamen, freizügigen Nomaden-Dasein in vorstädtische Arbeiterseßhaftigkeit schlägt Wunden und schafft Probleme. Immerhin: es leben schon rund 60 v. H.der Einwohner Ulan Bators in Wohnblocks und festen Steinhäusern.

Das mongolische Nomadenvolk, das bis in die jüngste Zeit ausschließlich vom Verkauf von Tieren, Fellen und Häuten lebte, verarbeitet heute seine viehwirtschaftlichen Produkte schon weitgehend selbst. Die DDR lieferte Anlagen und Fachleute für ein großes Fleischverarbeitungs-Kombinat in Ulan Bator, das über 5 000 Arbeiter beschäftigt. Die stark engagierte DDR stellt ferner Bergbautechniker und Geologen. Daneben arbeiten in der Hauptstadt Filz-, Schuh-, Textil-und Lederbekleidungs-Fabriken, eine Großmolkerei, GeB treidemühlen, eine Brauerei, Glas-und Baustoffbetriebe sowie Eisenbahn-und Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten. Ein zweites Industriezentrum wurde nördlich von Ulan Bator, in Darchan, aus dem Boden gestampft — die erste „sozialistische Gründung" der Mongolei. 1960 wurde mit dem Bau der ersten Wohnblocks und Industrieanlagen begonnen. Heute leben und arbeiten unter Anleitung von Ostblock-Experten über 20 000 Menschen in der Stadt, in der auch schon ein erstes Stahlwerk errichtet wurde. Bis 1980 soll die Einwohnerzahl auf 60 000 anwachsen.

Die Gewöhnung der noch in ganz anderen Zeitvorstellungen und Lebensgewohnheiten befangenen Nomaden an den geregelten industriellen Arbeitsrhythmus ist freilich ein langwieriger Prozeß. Das Management der Ostblockhelfer, das ein gerüttelt Maß an Schwierigkeiten zu bewältigen hat, bleibt noch lange Zeit unentbehrlich. Den durchschlagenden Mentalitätswandel kann erst die schulische Prägung der nachrückenden Jugend bringen.

Der besondere Stolz der mongolischen Funktionäre ist denn auch die schon weitgehend erreichte Ausrottung des Analphabetismus. Noch 1937 konnten nur etwa sieben Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Eine beachtliche’Bildungsarbeit wird geleistet, die ganz allmählich die freundlichen, stolzen, aber recht unbeweglichen Bewohner der Steppe integrieren wird in das Gefüge einer modernen Gesellschaft.

1945 haben die Mongolen von ihrer Ende des 12. Jahrhunderts von den mittelasiatischen Uiguren übernommenen, etwas unpräzisen Schrift auf das einfachere kyrillische Alphabet umgeschaltet. Russisch ist auch die gängigste Fremdsprache im Lande, zumal der Großteil der neuen Führungsschicht auf sowjetischen Hoch-und Fachschulen ausgebildet wurde. Erst seit Anfang der sechziger Jahre lernen mongolische Studenten in größrer Zahl auch in den Ostblock-Ländern, Wobei wiederum die DDR besondere Aktivität entfaltet. Der Großteil des Kader-Nachwuchses kommt aber bereits aus der mongolischen Staats-Universität in Ulan Bator, die 1942 unter Sowjetregie eröffnet wurde und die heute nmd 2 500 Studenten zählt, sowie aus einer Reihe von Fachschulen noch bescheidenen Niveaus.

Den Ausbau eines elementaren Grundschulwesens, dem schon zahlreiche weiterführende

Unterrichtsstätten übergeordnet sind, erleichtert die schnell fortschreitende Seßhaftmachung und Verstädterung des seit Jahrtausenden nomadisierenden Steppenvolkes. Rund ein Viertel der Bevölkerung der Mongolei lebt bereits in Ulan Bator und in Darchan. Weitere 18 Prozent bewohnen schon 25 große, teilweise noch halbstädtische Dauersiedlungen, deren Ausbau im Zuge zentralistischer Strukturierung der Gesamtwirtschaft vorangetrieben wird.

Die totale, 1960 abgeschlossene Kollektivierung der Viehwirtschaft rundet den Bogen der umwälzenden ökonomischen Strukturveränderungen. An die 23 Millionen Tiere: 2, 3 Millionen kleine, zähe Pferde, zwei Millionen Yaks, Rinder und „Heinaks" (Rind-Yak-Kreuzungen), 640 000 Kamele und Millionen von Schafen und Ziegen, sind das Kapital der ungeheueren Steppenweiten, in denen nur Pisten die Streusiedlungen verbinden. Abgesehen von der asphaltierten Verbindungsstraße von der sowjetischen Grenze nach Ulan Bator, von einigen Stichstraßen zu Kohle-und Erzbergwerken sowie vom äußersten Osten, wo sowjetische strategische Interessen walten, gibt es in der Mongolei keine festen Straßen. Der Asphalt endet schon bald vor den Toren der Hauptstadt.

Das in 18 Provinzen (Aimaks) mit größeren Dauersiedlungen als Verwaltungszentren eingeteilte Land ist in Kreise (Somons) untergegliedert, die großen genossenschaftlichen Viehzuchtverbänden mit 25 000 bis 50 000 Tieren entsprechen. In der Regie der Somons betreiben weit verstreut in der Steppe „Brigaden“ die Viehwirtschaft: Gruppen von fünf bis acht Familien, denen Weidegebiete von fünf bis 20 qkm, je nach Ergiebigkeit, zugewiesen sind (in der Gobi bis 70 qkm). Jede Züchterfamilie darf neben der zu betreuenden Herde des Kollektivs eine kleine, variierende Anzahl von Tieren privat halten und verkaufen. Im übrigen bekommt der Hirte festen Lohn.

In den Somon-Zentralen befinden sich die Erfassungsstellen für die tierischen Produktei Versorgungseinrichtungen, Sanitäts-und Veterinärstationen. Den Transport zu den Somon-Zentren besorgen Kamele und Yaks; von dort wird meist schon mit Gelände-Lastern über ausgefahrene Pisten weiterverflachtet. Auch vier-bis siebenklassige Schulen mit einfacher Intematsunterbringung sind in den Somon-Zentren eingerichtet worden. Die Kinder der Hirten bleiben nur während der drei-33 monatigen Sommerferien bei den Eltern in der Steppe.

Die Kollektivierung hat die Lebensweise der Hirten in der Steppe nicht sehr geändert. Das Pferd ist unentbehrlicher Helfer, der „Volkswagen der Steppe" gewissermaßen — wenn auch schon Motorräder und Gelände-Jeeps vor Jurten parken. Die traditionellen Spiele: Pferderennen, Ringkämpfe und Bogenschießen, haben nichts an Beliebtheit eingebüßt. Nahrhaftes, leicht alkoholisiertes Nationalgetränk ist wie zu Dschingis Khans Zeiten vergorene Stutenmilch: „Airag“ oder Kumyss, wie Tartaren und Russen sagen. Die Hirten tragen allenthalben noch die alte Nationaltracht: ein für beide Geschlechter gleiches, knöchellanges Überkleid mit einer Hose darunter (es fehlt übrigens, in kostbarer Seiden-oder Brokatausführung für festliche Anlässe, auch in keinem Kleiderschrank der arrivierten Städter). Die Frau hat, wie schon immer, eine gehobene, respektierte Stellung.

Im Winter, wenn die Temperaturen auf minus 30 bis 40 Grad sinken, treiben die Viehzüchter ihre Herden in möglichst geschützte Niederungen; im Frühjahr ziehen sie den Schnee-wassern nach. In der kurzen sommerlichen Regenzeit (von Juni bis Anfang September) gehen sie dann bei Temperaturen von 30 bis 35 Grad — in der Gobi bis 45 Grad — auf die fetten Bergweiden, um die Tiere für die Winterstrapaze zu kräftigen, während der z. B. Schafe bis zu einem Drittel des Körpergewichts verlieren. Die Tiere bleiben auch im Winter, der nur dünne Schnee-Decken zu bringen pflegt, auf den Weiden und scharren nach Heu auf dem Halm. Schutzunterstände und Ställe werden neuerdings zwar errichtet, aber nur für Milchvieh.

Die Winter-und Dürreausfälle an Tieren sowie die Verluste durch die Wolfsplage sind immer noch groß. Vor allem die Gobi ist übersät mit Tierskeletten. Aber Katastrophen wie im Schnee-Winter 1944/45, als rund drei Millionen Tiere verendeten, ist nun vprgebeugt durch regionale Nachbarschaftshilfe und etwas Heugewinnung für Notlagen, früher den Mongolen unbekannt. Einige Tausend Tiefbrunnen, bei deren Anlage vor allem ungarische Spezialisten halfen, nehmen sommerlichen Dürreperioden etwas von ihrem Schrecken. Ein Teil der Brunnen soll freilich schon wieder verkommen sein.

Die Kollektivierung der Steppe hat den Tier-züchtern zwar die Freizügigkeit genommen, aber auch eine wesentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse und der Erträge gebracht. Besondere Erfolge verzeichnete dabei das neue Gesundheitswesen. Die früher weitverbreiteten Geschlechtskrankeiten (nach Sowjet-angaben soll noch 1928 ein Drittel der Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren steril gewesen sein) sind praktisch ausgerottet und die früher außerordentlich hohe Kindersterblichkeit — fast die Hälfte starb vor dem dritten Geburtstag — wurde drastisch herabgedrückt. Die Bevölkerung, die zwischen 1918 und 1952 jährlich nur um 0, 58 Prozent zunahm (um insgesamt 140 000), wächst nun pro Jahr um gut drei Prozent. Östliche — in den fünfziger Jahren auch chinesische — Agrarfachleute entwickelten auch die Feldwirtschaft in einzelnen nördlichen Landesteilen mit gerade noch ausreichender Regenfeuchtigkeit bzw. in Flußtälern, wo Bewässerungsmöglichkeit gegeben ist. Den mongolischen Nomaden war der Ackerbau, dem die geringe Niederschlagsmenge und extreme klimatische Verhältnisse auch enge Grenzen setzen, stets fremd. Bis Anfang der zwanziger Jahre betrieben nur die Chinesen im Lande etwas Ackerbau. 1918 lebten an die 100 000 in der Mongolei — Händler zumeist. Verhaßt wegen ihrer Wucher-Praktiken wurden sie in den Jahren des mongolischen Unabhängigheitskampfes vertrieben — bis auf kleine Gruppen, die sich teils mit Mongolen vermischten und heute als Mongolen gelten, teils in Ulan Bator in elenden Slums als Parias vegetieren.

Noch 1941 hatten die ersten Staatsgüter knapp 25 000 ha Land unter dem Pflug. Heute sind es schon an die 550 000 ha. Insgesamt sollen rund 3, 5 Millionen ha für den Ackerbau erschließbar sein.

Das Beispiel Mongolei zeige allen Entwicklungsländern, erklären die östlichen Propagandisten, daß der Übergang eines rückständigen Landes feudaler Gesellschaftsordnung zum Sozialismus auch ohne kapitalistische Zwischenstufe möglich ist.

Das Paradestück aktiver sowjetischer und COMECON-Entwicklungspolitik nach Moskauer Richtsätzen soll vor allem in Asien überzeugen und gegen maoistische Versuchung immunisieren. Es scheint freilich, daß Chinas dezentralisierter Agrar-Kommunismus mongolischer Mentalität angemessener wäre als die zentralistische Funktionärshierarchie sowjetischen Musters.

III. Das chinesische Zwischenspiel

Nichts erinnert in Ulan Bator mehr daran, daß es in den fünfziger Jahren, in der Phase des leidlichen sowjetisch-chinesischen Einvernehmens, chinesische Bautrupps waren, die einen guten Teil der neuen Wohnblocks und Repräsentativbauten hochzogen — darunter auch das einzige moderne Großhotel, das Tschechen konzipierten, ausstatteten und während einer Ubergangsphase auch bewirtschafteten. 1960/61 arbeiteten an die 20 000 Helfer Maos in der Mongolei: Bauhandwerker und Techniker, Bewässerungs-Spezialisten und Agronomen. Mit Ausrüstungen und technischer Hilfe im Wert von (nicht zurückzuzahlenden) 160 Mill. Rubel beteiligte sich das kriegszerrüttete und selbst dringend entwicklungsbedürftige China allein zwischen 1956 und 1959 auch am Aufbau von Industrieanlagen. Der Gesamtumfang der Pekinger Hilfe ist nicht bekannt. Nach dem Bruch zwischen Peking und Moskau mußten die Chinesen das Feld räumen. Die Sowjetunion hatte die bei weitem stärkeren Muskeln. Moskau überbot auch schon in der Phase des Wettbewerbs mit kostenloser Hilfe und billigen Krediten Chinas lockende Gaben um das Mehrfache. Investitionen für Verkehrsanlagen, Maschinenausstattungen, Tausende von Lastkraftwagen, Traktoren usw. wurden geschenkt. Hinzu kam nach dem COMECON-Beitritt der Mongolei im Jahre 1962 die Hilfe der anderen Ostblock-Länder.

Von 1962 an schrumpfte der lebhaft angelaufene Warenverkehr mit China auf Minimum-sätze. Rund 95 Prozent des Außenhandels wickelt die Mongolei heute mit der UdSSR und den Ostblock-Ländern ab. Auf der bei Ulan Ude von der transsibirischen Linie abzweigenden, eingleisigen Eisenbahn-Kurzverbindung über Ulan Bator nach Peking, deren chinesisches Anschlußstück erst 1959 fertig-gestellt wurde, tröpfelt heute der Transitverkehr nur noch: ein durchgehender Fernzug pro Woche. Die diplomatischen Vertreter Pekings in Ulan Bator haben sich in ihrer mauerumfriedeten Botschaft eingeigelt.

Seit der Ausweisung der Entwicklungshelfer Maos blutet Chinas . mongolische Wunde'

wieder. Zwar wurde noch im chinesisch-mongolischen Vertrag vom 20. Juni 1964 die rund 3 000 km lange gemeinsame Grenze bestätigt, die 1963/64 grob vermessen worden war. Aber noch im gleichen Jahr begann die offene Konfrontation, als Mao vor einer japanischen So-zialisten-Delegation die explosive Frage der „ungleichen Verträge" des 19. Jahrhunderts und der sowjetischen Gebiets-Annexionen nach dem Zweiten Weltkrieg aufwarf und dabei auch die Mongolische Volksrepublik ins Visier nahm.

Die Gebiete, die die Sowjetunion an sich geI rissen habe, sagte er u. a., seien allzu zahlreich. „Auf Grund des Jalta-Abkommens hat sie sich unter dem Vorwand einer Unabhängigkeits-Garantie auch in der Mongolei etabliert ... Als Chruschtschow und Bulganin 1954 nach China kamen, haben wir die Frage aufgeworfen, aber sie lehnten jede Diskussion darüber ab. Sie haben sich auch Stücke Rumäniens angeeignet. Nachdem sie aus Ostdeutschland einen Teil herausgerissen hatten, vertrieben sie die dortigen Einwohner in die westlichen Gebiete. Auch von Polen schluckten sie einen Teil und veranlaßten die dortigen Bewohner, sich dafür an Ostdeutschland schadlos zu halten. Dasselbe ereignete sich in Finnland.,.

Wo sie etwas wegnehmen konnten, griffen sie zu. Nicht wenige Leute meinen, daß auch die Provinz Sinkiang und die Territorien am Ussuri in Gefahr seien, von der Sowjetunion einverleibt zu werden. Immerhin hat sie an den dortigen Grenzen massive Truppen-Konzentrationen vorgenommen ... Die Gebiete am Amur wurden vor etwa 100 Jahren russisches Territorium und seit dieser Zeit gehören Wladiwostok und Chabarowsk zum Territorium Rußlands. Wir haben unsere Rechnung für diese Gebiete noch nicht präsentiert. Was die Frage der Kurilen anbelangt, so gibt es für uns keinen Zweifel: Sie müssen an Japan zurückgegeben werden."

Die sensationelle, seither tausendfach wiederholte Anklage des sowjetischen „Sozialimperialismus" aus kommunistischem Mund trifft Moskaus moralischen Anspruch auf die ideologische Führungsrolle an der empfindlichsten Stelle. Kommunistische Doktrin schließt gewaltsame Eroberungen aus. Schon Lenins „Manifest an den Osten" von 1920 verkündete, daß den Völkern des Ostens die vom Zaren geraubten Gebiete und insbesondere die China entrissenen Gebiete zurückzugeben seien.

Chinas Politik zielt keineswegs darauf, das Rad der Geschichte auf der ganzen Linie zurückzudrehen. Die demütigenden „ungleichen Verträge“ sollen nur nach Vollzg kleinerer symbolischer Korrekturen durch gleiche Verträge ersetzt werden. Was die Mongolei betrifft, so erhebt Peking Einspruch gegen den mit wirklicher Unabhängigkeit nicht zu vereinbarenden exklusiven Sowjeteinfluß und die Benützung des Landes als strategische Basis gegen China.

Die Sowjetunion, die als einzige Siegermacht des Zweiten Weltkriegs gewaltige territoriale Beute machte, verweigert aus Sorge vor Folgewirkungen jedes Grundsatzgespräch darüber und auch jedes indirekte Eingeständnis unrechtmäßigen Landbesitzes oder einer Machtausübung auf mongolischem Territorium. So werden die Mongolische Volksrepublik und die Grenzfrage zentrale Themen der weltweiten chinesisch-sowjetischen Konfrontation bleiben.

IV. Die russische Expansion

Schon in der Frühphase der sibirischen Expansion, die 1647 das Ochotskische Meer erreichte, kam auch die Mongolei ins russische Blickfeld. 1675 passierte der Gesandte Nikolai Spafarij auf dem Weg nach Peking das Steppenland, auf dessen Bedeutung er nachdrücklich hinwies. 1689 durchschnitt dann die erste russisch-chinesische Interessen-Abgrenzung mongolische Siedlungsgebiete: Der Vertrag von Nertschinsk, der den russischen Griff zum Amur zunächst blockierte, bestätigte den für die weitere sibirische Kolonisation unentbehrlichen Verkehrsengpaß südlich des Baikal-Sees mitsamt den dort siedelnden mongolischen Burjaten als russisches Territorium.

Es war übrigens der erste der „ungleichen Verträge" — ungleich freilich für die Russen. Mit einer überlegenen Streitmacht von 15 000 Mann, die den Verhandlungsort während der kritischen Gesprächsphase umzingelten, bewog der chinesische Unterhändler den russischen Abgesandten Golowin zum Verzicht auf die jungfräulichen Amur-Gebiete, von denen weder Russen nach Chinesen Genaueres wußten. 1728 bestätigte allerdings der Zar ohne Zwang den Vertrag, um trotz der strengen Absperrung des Reiches der Mitte den interessanten China-Handel in Gang zu bringen, der in der Folge zwischen Kjachta und Peking über die transmongolischen Karawanen-wege abzuwickeln war.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich aus den handelspolitischen Interessen an der von den Mandschu-Kaisern nur locker kontrollierten und als Halbkolonie verwalteten „Äußeren Mongolei" auch politisches Engagement. 1901 hatte Rußland unter Ausnützung des chinesischen Machtverfalls die Mandschurei besetzt und schon 1905 durch die verheerende Niederlage im Krieg mit Japan wieder verloren, samt den Pachtrechten auf der Halbinsel Liao-tung, die an den Sieger abzutreten war. Mit der beginnenden japanischen Expansion auf dem Kontinent wuchs für Rußland die Bedeutung der mongolischen Pufferzone, die Sibiriens verletzliche Südflanke abzuschirmen hatte.

Ein geheimes Zusatzprotokoll des japanisch-russischen Vertrags von 1907 fixierte die Interessen-Abgrenzung zu Lasten des ohnmächtigen China: „Rußland anerkennt die japanischen Rechte und Interessen in der südlichen Mandschurei; die kaiserlich-japanische Regierung anerkennt ihrerseits, daß Rußland ein besonderes Interesse an der Mongolei und der nördlichen Mandschurei hat und sagt zu, daß sie sich jeder Einmischung in diesem Gebiet enthalten wird."

Die chinesische Revolution von 1911, die die korrumpierte Mandschu-Dynastie wegfegte, veränderte abermals grundlegend die ostasiatische Szene. Mit der Ausrufung der chinesischen Republik betrachteten die Stammesfürsten und geistlichen Führer der „Äußeren Mongolei" das lästige Abhängigkeits-Verhältnis als erloschen, da sie sich . nur der Person des Kaisers verpflichtet sahen. In Urga wurde die Unabhängigkeit proklamiert und eine Regierung der feudalen Kräfte gebildet. Staatschef wurde das geistliche Oberhaupt aller Mongolen, der in Urga residierende Groß-Lama, Bogdo-gegen.

Schon vor Ausbruch der chinesischen Revolution hatte eine mongolische Delegation russische Unterstützung erbeten, die nur zögernd und sehr bedingt zugesagt wurde. Zwar vertrieb eine aus Sibirien kommende, 1 000 Mann starke burjatische Reitertruppe die chinesische Garnison aus Urga. Aber russisches Interesse an der Entstehung eines souveränen mongolischen Staates bestand nicht. So bestätigte im Oktober 1911 ein russisch-chinesisch-mongolisches Dreiecksabkommen nur die Autonomie der „Äußeren Mongolei" bei formell fortbestehender chinesischer Oberhoheit. An den imperialen Interessen Rußlands und Japans scheiterten damals auch Ansätze einer panmongolischen Unabhängigkeits-Bewegung, die auch wegen der Rivalität zwischen den in der „Äußeren Mongolei" dominierenden Khalkhas und den Ost-Mongolen keinen Schwung bekam. 1913 wurde durch ein erweitertes russisch-japanisches Abkommen, das die Abgrenzung der Interessen-Sphären mit dem Längengrad von Peking (116° 27'östlicher Länge) auch die Mongolei Innere geteilt. Der östliche Teil wurde Einflußzone der Japaner, die in der Folge gewisse pan-mongolische Bestrebungen dem Blick auf mit weitergreifenden zentralasiatischen Einfluß förderten.

Im November 1914 verweigerte Tokio jedoch mit Rücksicht auf die Abmachungen mit Ruß-land die Annahme eines an den Tenno gerichteten Schreibens des Groß-Lama von Urga, der um Hilfe im Kampf um die Unabhängigkeit und Einigung der Mongolen sowie um Entsendung eines japanischen Vertreters bat. Während des Ersten Weltkriegs gewann Ruß-land bestimmenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß in der äußeren Mongolei. 1914/15 wurde eine Reihe von Verträgen abgeschlossen. Eine 3-Mill. -Rubel-Anleihe wurde gewährt und der Regierung in Urga ein russischer Finanzberater beigeordnet. Mit Waffenlieferungen kam eine russische Militär-Mission; Rußland sicherte sich ein Eisenbahnbau-Monopol; eine mit der Sibirischen Nationalbank vereinigte Mongolische Nationalbank wurde gegründet und eine BergbauGesellschaft . Mongolor'aus der Taufe gehoben. Praktischen Nutzen brachten dem bedrängten, kriegführenden Rußland zunächst umfangreiche Lieferungen von Pferden, Schlachtvieh und tierischen Produkten.

V. Vom Mönchsstaat zur Volksdemokratie

Unbeschadet ihres bestimmenden Einflusses unterließen die Russen eine vordergründige Einmischung in innere Angelegenheiten. So konnte sich in der Hauptstadt Urga ein gewisses Staatsbewußtsein entwickeln; es entstanden rudimentäre Verwaltungsstrukturen. Die Nomaden in der Steppe lebten weiterhin welt-fern mit ihren Herden, in mittelalterliche Stammes-Hierarchien eingebunden und der Kirchenmacht der Lamas ergeben.

Zutiefst ist die jüngere Geschichte der Mongolen geprägt vom Lamaismus, der sich im 16. Jahrhundert von Tibet aus wie ein Steppenbrand über Innerasien ausbreitete. Von chinesischen Heeren bedroht, in Bruderkämpfen zerstritten und verelendet griffen die Mongolen begierig nach der neuen Heilslehre. Die buddhistische Mönchs-Religion predigte fortan den am Idealbild des Kriegers orientierten und im ausweglosen schamanistischen Dämonen-Glauben befangenen Steppenvölkern Kontemplation und Erlösung durch schicksalergebenen Verzicht.

Im ganzen Land entstanden Klöster — über 700 waren es Anfang des20. Jahrhunderts. Sie leisteten als Pflegestätten handwerklichen Geschicks, der Künste und literarischer Gelehrsamkeit sowie als Bildungszentren große zivilisatorische Arbeit, die freilich nur in die feudale Oberschicht ausstrahlte. Aber ihre Unterhaltung überforderte die Kraft des Landes, das um die Jahrhundertwende nur an die 650 000 Einwohner zählte.

Zu einem Krebsübel wurde vor allem die lawinenhafte Zunahme der mit Amuletten und Zauberkünsten hausierenden, korrumpierten Wandermönche, die sich wie Heilige verehren ließen, Geschlechtskrankheiten verbreiteten und von den Nomaden-Familien unterhalten wurden. Fast 100 000 waren es schließlich. Ein rundes Drittel der Knaben und Männer des Landes huldigte einer Pseudo-Beschaulichkeit und parasitärem Nichtstun, als die bolschewistische Revolution auch das Steppenland erfaßte.

Oberhaupt der Mönchs-Kirche war der Groß-Lama von Urga, der als lebender Buddha'verehrt wurde: nach der geltenden Wiedergeburtslehre tibetanischen Musters die Reinkarnation des heiligen tibetanischen Mönchs Tharanatha, dessen Wiedergeburt sich in jedem Nachfolger wiederholte. Im 18. Jahrhundert war die Reinkarnationslehre bereits so entartet (jedes Kloster wollte schließlich seinen eigenen Jebenden Buddha'haben), daß der große Mandschu-Kaiser Kien-lung Regeln für das Erkennen und die Anerkennung von Wiedergeburten erlassen mußte: mit der Todesstunde des Vorgängers übereinstimmende Geburt, gewisse Muttermale usw.

Bogdo-gegen, der seit 1911 als achte und letzte Wiedergeburt des . lebenden Buddha'(Jebt37 sundamba Khutukhtu) in Urga an der Spitze der konstitutionellen Monarchie stand, war von Geburt Tibeter, der Sohn eines Beamten des Dalai Lama in Lhasa. Mit drei Jahren als Wiedergeburt des siebten Khutukhtu anerkannt, wurde er 1873 nach Urga gebracht, wo er klösterliche Schulung erhielt und bald wie ein mongolischer Stammesfürst denken lernte. Der russische Mongolist Pozdnejew schildert ihn als launenhaften, dem Wohlleben und der Liebe fröhnenden Mann, der aber mit zielstrebiger Schläue die politischen Gegensätze und die antichinesischen Strömungen im Land wohl zu nutzen wußte. Er starb 1924 als geschlechtskranker, verkommener Säufer.

So groß waren Macht und Einfluß der Lama-Klöster, daß sie noch fast ein Jahrzehnt nach dem Sieg der Revolution und der Ausrufung der Volksrepublik weiterbestanden. Erst als 1928, phasengleich mit den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion, die für einen mongolischen Weg zum Sozialismus und für Verständigung mit China eintretenden „Rechten" der Revolutionären Volkspartei samt der alten Intelligenzschicht ausgeschaltet wurden, begann auch die Unterdrückung des religiösen Lebens (die parasitären Wandermönche waren schon vorher zu normaler Arbeit zurückgeführt worden). Den großen Klostersturm, der erst Ende der dreißiger Jahre ausklang, überlebten nur zwölf der über 700 Tempelanlagen.

Elf der geretteten Klöster sind heute Museen, eines „arbeitet" noch, wie die Russen sagen: das 1639 gegründete Gandan-Kloster in Ulan Bator, einst Sitz des Groß-Lamas. Einige greise Mönche absolvieren dort noch ihre Gebetsübungen und Kulthandlungen — nützlicher Beleg für die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Religionsausübung.

Nach Ausbruch der russischen Oktober-Revolution geriet auch die Mongolei in den Strudel der Kämpfe zwischen Weiß und Rot. Auch Peking nutzte Rußlands Schwäche, um im Sommer 1919 Urga wieder zu besetzen und den Widerruf des Autonomie-Statuts durch mongolische Regierungsmitglieder zu erzwingen. Aber schon im Februar 1921 beendete eine 10 000 Mann starke, aus Weißgardisten und Burjaten bestehende Truppe des Generals von Ungern-Sternberg das chinesische Zwischenspiel. Der mit einer Mandschu-Prinzessin verheiratete baltische Abenteurer, der ein skurriles pseudo-theokratisdies Regime errichtete und sich selbst zum Groß-Lama ernannte, wurde jedoch schon im Juli des gleichen Jahres von der in Sibirien vorrückenden Roten Armee überrollt und später in Nowosibirsk erschossen. Die Weichen für die Errichtung einer „Volksrepublik“ sowjetischen Musters waren gestellt. In Urga hatten sich bereits unter dem alten Adelsregime von Sibirien her beeinflußte revolutionäre Zirkel gebildet, die nun zur Gründung einer „Revolutionären Volkspartei“ schritten. Die heute als Nationalhelden gefeierten Anführer waren der 1893 geborene Suche Bator, ein ehemaliger Relais-Reiter der mongolischen Pferdepost, Soldat und Schriftsetzer, sowie der 1895 geborene, in einem Lama-Kloster erzogene Tschoibalsan, der zeitweise als Hilfsarbeiter sein Brot verdiente, als Autodidakt Russisch lernte und später zum militärischen Führer und starken Mann der Republik aufstieg.

Mit Sowjethilfe wurde 1921 eine liberale Übergangsregierung unter dem Vertrauensmann des Groß-Lamas und des Stammesadels, Bodo-Khan, eingesetzt, der 1919 während des chinesischen Zwischenspiels an der Spitze einer mongolischen Delegation in Moskau Lenins Hilfe erbeten hatte. Aber schon ein Jahr später wurde er als Konterrevolutionär mit 15 Gesinnungsfreunden der Feudal-schicht hingerichtet. Als schließlich der noch geduldete Groß-Lama Bogdo-gegen im Mai 1924 starb, wurde die Suche nach einer neuen Inkarnation untersagt und am 26. November 1924 die „Volksrepublik" ausgerufen.

Die Sowjettruppen verließen 1925 die Mongolei wieder, der Moskau in der Folge nur geringfügige Hilfe gewährte und gewähren konnte. Die innenpolitische Entwicklung der zwanziger Jahre stand im Zeichen von Richtungskämpfen, die es den traditionellen Kräften ermöglichten, vorübergehend ihren wirtschaftlichen Einfluß wieder auszubauen. Dann rollten, wie in der Sowjetunion, die großen „Säuberungswellen" über das Land: 1928 die schon erwähnte Vernichtung der „Rechts-Abweichler", der chinafreundlichen Kräfte, der alten Intelligenz-Schicht sowie Beginn der religiösen Unterdrückung und des Klostersturms, der erst 1938 ausklang. 1929 bis 1935 Kampf gegen die „abenteuerlichen Links-Abweichler", die durch die überstürzte Zwangs-Kollektivierung der Viehwirtschaft ein ökonomisches Chaos heraufbeschworen hatten. Die Verstaatlichungs-Aktion wurde eingestellt und erst 1958 wieder aufgenommen und zu Ende geführt. Wirtschaftlich kam die Mongolei zwischen den Kriegen kaum voran.

VI. Der Nomonhan-,, Zwischenfall"

Von vitaler strategischer Bedeutung für Moskau wurde die Mongolei, als in den dreißiger Jahren Japans expansive Politik auf dem Festland über die russische Toleranzgrenze hinauszugreifen drohte. In nadirevolutionärer Schwäche hatte der Kreml nach dem Ersten Weltkrieg die Ausdehnung des japanischen Einflusses auf Korea und die ganze Mandschurei ohne Einspruch hingenommen. Um Rückenfreiheit in Fernost bemüht, protestierten die Sowjets auch nicht gegen die Errichtung des japanischen Satelliten-Staates Mandschukuo im Jahre 1932. Die Wendung zur Konfrontation kam erst, als Japan 1935 ein Sowjetangebot auf Abschluß eines Nichtangriffspaktes ablehnte und ein Jahr später den Antikomintern-Pakt mit Hitler-Deutschland und Italien schloß. Neue, nach Zentralasien greifende Expansionsabsichten der Japaner wurden deutlich.

Die Generalität der auf dem Festland stationierten Kuantung-Armee, deren autonomer Status die Möglichkeit zu eigenmächtigen Initiativen auch wider die Tokioter Regierungspolitik bot, bezog auch die Mongolische Volksrepublik in ihre großasiatischen Pläne ein. Im japanisch kontrollierten Teil der Inneren Mongolei wurden panmongolische Bewegungen unterstützt. An die tausend mongolische Schulen wurden eingerichtet, gönnerhaft die nationale Literatur gefördert und junge Mongolen in Japan geschult. Ende 1937 kam es sogar zur Einsetzung einer projapanischen „Autonomen Regierung der Inneren Mongolei" unter dem Fürsten Te Wang, von der sich die Generalität der Kuantung-Armee Einwirkung auf die noch unter chinesischer Herrschaft lebenden Stämme des Westteils der Inneren Mongolei versprach.

Nicht ohne propagandistischen Erfolg präsentierte die Regie der Kuantung-Armee Japan als Treuhänder allmongolischer Interessen und Promotor mongolischer Erneuerung und technischen Fortschritts — wenn auch bald Japanisierungs-Tendenzen durchschlugen. Auch untergründige Verbindungen mit oppositionellen Gruppen der Mongolischen Volksrepublik wurden geknüpft.

In Ulan Bator wurden schon 1936 der ehemalige Ministerpräsident Gendun und sein Verteidigungsminister Demid als „japanische Agenten" hingerichtet. Eine Säuberungswelle folgte, der viele prominente Mongolen-Führer zum Opfer fielen. Die Verschwörergruppe soll in der Hoffnung auf japanische Hilfe Unabhängigkeit von Moskau angestrebt haben. Tschoibalsan, seit 1936 Ministerpräsident und Marschall der Armee, nützte die Gelegenheit zu Pauschal-Beschuldigungen, um sich den Weg zur Alleinherrschaft ä la Stalin freizuboxen.

Was von Offiziersgruppen der Kuantung-Armee in maßloser Überschätzung der Stärke Japans angestrebt wurde, erhellt ein Geheimbericht, den der japanische Botschafter in China, Arita, 1936 nach einer Unterredung mit dem Stabschef der Festlandsarmee, Generalmajor Itagaki, nach Tokio schickte. Würde die Äußere Mongolei mit der Mandschurei verbunden, argumentierte danach der General, so gebe es für Sibirien keine Sicherheit mehr und es sei möglich, daß sich die Sowjetunion daraus zurückziehe. Die Verbindung zwischen Rußland und China müsse durch Zurückdrängung des russischen Einflusses in der Mongolei unterbunden werden.

Moskau konterte 1936 mit dem Abschluß eines Beistandspaktes mit der Mongolischen Volksrepublik und 1937 rückten auch wieder sowjetische Truppen in die strategischen Schlüsselstellungen der Ost-Mongolei ein. Nach dem offenen Ausbruch des japanisch-chinesischen Krieges folgte der Abschluß eines sowjetischen Nichtangriffspakts mit Tschiang-Kai-schek, der mit Waffenlieferungen unterstützt wurde.

An der mongolisch-mandschurischen Grenze nahm die Spannung zu. Bereits 1936 war es zweimal zu blutigen Zusammenstößen gekommen, wobei auch Panzer und Flugzeuge eingesetzt wurden. Im Mai 1939 entwickelte sich dann aus einem neuen kleinen Scharmützel von Grenzpatrouillen am Fluß Khalkh-gol, westlich einer von den Japanern . Nomonhan'genannten Steppensiedlung, eine Machtprobe, die eine entscheidende Wende in Japans Kriegs-und Bündnispolitik bringen sollte.

In der Nacht vom 10. /11. Mai überschritt eine etwa 20 Mann starke mongolische Patrouille den Khalkh-gol, der nach japanischer Ansicht die Grenze zur Mongolei bildete, während die Mongolen auch einen Landstreifen auf dem östlichen Ufer beanspruchten. Eine klare Grenzvermessung und Markierung gab es in der öden Steppenregion nicht. Ein Gegenstoß warf das Kommando über den Fluß zurück, woraufhin auf beiden Seiten die Kampfhandlungen eskalierten.

Generalstab hatte Der der Kuantung-Armee schon am 25. April eine kalkuliert-provozierende Order für den Fall Grenzzwischenfällen herausgegeben, in der es — auch örtliche Übergriffe abdeckend — hieß: „Wenn sich Zusammenstöße ereignen, so ist gemäß den Befehlen aktiv, entschieden und kraftvoll der von zu reagieren. Bei Ausführung Aktionen ist dem Oberkommando ohne Sorge um spätere Konsequenzen voll zu vertrauen. Alle Kräfte sind auf den Sieg zu konzentrieren!"

Bis Juni hatten beide Seiten bei verlustreichen, hin-und herwogenden Kämpfen ihre Streitmächte bereits auf je 10 000 Mann verstärkt. Den der Verbände Aufmarsch der fernöstlichen Sowjetarmee, die in den Jahren davor beschleunigt verstärkt und mit großem Aufwand modernisiert worden war, sowie der von Tschoibalsan geführten mongolischen Hilfstruppen leitete der spätere Sieger von Berlin, Schukow. Die Sowjetunion konnte unbesorgt um die kritische Entwicklung in Europa in eine fernöstliche Machtprobe gehen, da bereits das Arrangement mit Hitler im Werden war: der am 23. August 1939 als Weltsensation verkündete Freundschaftspakt — ein Schock für Tokio, das nicht informiert worden war.

Im Juli schob die Kuantung-Armee dringende Tokioter Richtlinien für eine schnelle, friedliche Beilegung des Konflikts beiseite. Als am 20. August 1939 die Entscheidungsschlacht mit einem überraschenden russisch-mongolischen Generalangriff begann, standen sich auf 60 km Frontbreite bereits zwei Armeen gegenüber. Die Sowjets, die mit 2 500 Lastwagen Verstärkungen und schweres Material herangeschafft hatten, erdrückten die Japaner, deren magere Materialausstattung erstmals deutlich wurde, mit waffentechnischer Überlegenheit, mit Hunderten von Flugzeugen, Panzern und geballter Artillerie. Am 31. August waren die japanischen Verbände vernichtend geschlagen, grausam dezimiert und teilweise eingekesselt. Sowjetische Quellen beziffern die japanisch-mandschurischen Verluste auf 52 000 Mann, davon 25 000 Tote. Die Japaner geben ihre Verluste heute mit 8 400 Gefallenen und rund 9 000 Verwundeten an. Die 6. Japanische Armee mußte neu aufgebaut werden.

Am 3. September befahl der Tokioter Generalstab die sofortige Einstellung der Operationen. Die verantwortlichen Generale der Kuantung-Armee wurden abberufen. Am 15. September wurde Waffenstillstand vereinbart. Der umstrittene Grenzstreifen blieb in mongolischer Hand. Auch die Sowjets waren an einer Beilegung des Konflikts interessiert. Der Zweck des Großaufmarschs in der Streppe war erfüllt: die Kuantung-Armee war gestoppt, fernöstliche Rückenfreiheit ertrotzt. Am 1. September hatte in Europa der große Krieg begonnen.

Der „Nomonhan-Zwischenfall", in kriegsgeschichtlichen Studien meist nur beiläufig erwähnt, war ein Wendepunkt in der japanischen Kriegspolitik. Die brutale Lektion am Khalkh-gol zerstörte die zentralasiatischen Expansionsträume. Die Süd-Orientierung der Kriegführung war diktiert. Die weitere logische Folge von Nomonhan war der japanisch-sowjetische Nichtangriffspakt vom Frühjahr 1941, der Hitlers Hoffnungen auf eine zweite sibirische Front schon begrub, bevor er in neuer Kehrtwendung am 22. Juni 1941 die Ost-Offensive startete.

Auch die Stämme der Inneren Mongolei, die eine Weile auf Japan gesetzt hatten, zogen ihre Folgerungen. Sie suchten fortan ihr Heil bei Maos Armeen und machten den Japanern durch einen sich immer mehr ausweitenden Partisanen-Kampf hart zu schaffen.

VII. Die chinesische Nord-Kolonisation

Der russische Expansionsdruck aus dem hohen Norden hat erst in jüngerer Zeit die Gegenbewegung chinesischer Nord-Kolonisation ausgelöst, die aber dann schnell zu wuchtigen Bevölkerungsbewegungen führte. Vor allem die reiche mandschurische Großlandschaft, die heute in die drei Provinzen Liaoning, Kirin und Heilungkiang aufgegliedert ist, Wurde bevölkerungspolitisch gegen die russische Umfassung am Amur und Ussuri abgesichert. Die Nord-Wanderung der Han-Chinesen erfaßte dabei auch die alten, der Äußeren Mongolei vorgelagerten mongolischen Siedlungsgebiete: die Innere Mongolei.

Unter Mißachtung der Verträge von 1689 und 1728 begannen die Russen 1856, den Amur mit ihren Schiffen regelmäßig zu befahren, um Gewohnheitsrecht und vollendete Tatsachen zu schaffen. 1860 erzwangen sie dann auch mit dem „ungleichen" Vertrag von Peking die Abtretung der weiten Gebiete am Amur und der ganzen Küstenzone östlich des Ussuri, wo heute die fremdem Einblick entzogene sowjetische Großbasis Wladiwostok an der östlichen Flanke der Mandschurei dräut.

Die seit 1644 in China herrschende Mandschu-Dynastie (Ch ing) hatte bis dahin ihre nördlichen, militärisch verwalteten Stammlande der chinesischen Einwanderung verschlossen — abgesehen von Angehörigen chinesischer Truppen-Einheiten, denen Ansiedlung erlaubt war. Nach 1860 wurde nun das Ansiedlungsverbot gelockert, zunächst für das Gebiet von Harbin. 1878 wurde die Genehmigung dann auf das Gebiet aller östlichen mongolischen Stammesfürsten ausgedehnt und 1880 sogar ein „Kolonisationsbüro für die mongolischen Gebiete" geschaffen, die in der Folge von Einwanderungswellen chinesischer Bauern überschwemmt wurden.

Hauptziel der Nordwanderung blieb jedoch die fruchtbare, an Bodenschätzen reiche Mandschurei, die nach der Jahrhundertwende in den Interessenbereich der rivalisierenden Großmächte Rußland und Japan geriet. Unter russischer Regie wurde mit amerikanischem und europäischem Kapital die berühmte , Ostchinesische Eisenbahn'gebaut, deren Kontrolle jahrzehntelang internationaler, vor allem russisch-japanischer Konfliktstoff war. Heute ist die mandschurische Großlandschaft die verkehrstechnisch entwickeltste Region Chinas. Auf sie entfällt fast die Hälfte der Schienenstränge des Reiches. Während noch in der Kaiserzeit überwiegend nichtchinesische Völkerschaften in der Mandschurei lebten, zählen heute die drei mandschurischen Provinzen schon an die 45 Millionen Chinesen, neben nur noch etwa sieben Millionen stark sinisierten Mandschus und einigen zahlenmäßig nicht auszuweisenden mongolischen Minderheiten. Die bevölkerungspolitische Durchdringung der strategisch so wichtigen Schlüssel-Region wird weiter systematisch gefördert. In jüngster Zeit zieht auch die Erschließung der riesigen Ol-Felder neue Einwandererwellen an.

Die Demontage der . Inneren Mongolei'

Die Teilung der mongolischen Völkerschaften der Äußeren und der Inneren Mongolei besiegelten die territorialen Abgrenzungen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, dessen Schlußphase auch die Innere Mongolei in den Strudel des fernöstlichen Sowjetsieges riß.

Dem sowjetischen Blitzfeldzug gegen die Japaner in der Mandschurei und Nordchina, der mit der späten Kriegserklärung an Japan, am 8. August 1945 begann, schloß sich auch die Mongolische Volksrepublik an, die 80 000 Mann in Marsch setzte. In den schnell überrollten Gebieten der Inneren Mongolei begann nun auch die Liquidierung der alten Stammes-und Feudalstrukturen. Die großen Herdenbesitzer und Lama-Würdenträger wurden enteignet und vor Volksgerichtshöfe gestellt. Aber schon bald nach Abschluß; des Feldzugs wurden die sowjetisch-mongolischen Truppen wieder aus der Inneren Mongolei abgezogen. Sie nahmen große Teile des Viehbestandes und der greifbaren beweglichen Habe mit. Auch Geiseln wurden zur „Umerziehung" in die Volksrepublik verschleppt. Kommunistische Truppenverbände Maos rückten nach. In der Mandschurei demontierten die Sowjets den Großteil der von den Japanern errichteten Industrie-Anlagen.

Die keimenden Hoffnungen auf einen allmongolischen Zusammenschluß in Anlehnung an den sowjetischen Sieger hatte Stalin, der weiterhin auf Tschiang-Kai-schek setzte, bereits am 14. August 1945 mit dem Abschluß eines Feundschafts-und Bündnisvertrags mit dem China der Kuomintang begraben. Die Teilung der mongolischen Völker war damit festgeschrieben. Moskau wollte weder den Konflikt mit China, noch war es an einer Kräftigung und Abrundung mongolischer Staatlichkeit interessiert. Der Pufferstaat Mongolische Volksrepublik war in der gegebenen nationalen Begrenzung handlicher für die Politik der Vorfeld-Sicherung Sibiriens.

In der Inneren Mongolei waren freilich die mongolischen Viehzüchter längst zu einer Minderheit geworden. Nach Maos Sieg rollten dann weitere Einwandererwellen ins Grenzland. Chinesische Bauern nahmen die für Ackerbau geeigneten Weideflächen unter den Pflug, wo immer es die klimatischen Gegebenheiten und Bewässerungsmöglichkeiten erlaubten. Die mongolische Viehwirtschaft, die kollektiviert wurde wie in der Volksrepublik, wurde in die mageren Steppengebiete und Steinwüsten der chinesischen Gobi zurückgedrängt, wo vielfach nur Schaf-und Ziegenhaltung möglich ist. 1968 wurde die Bevölkerung der Inneren Mongolei mit rund 13 Millionen beziffert, davon nur eineinhalb bis zwei Millionen Mongolen.

Inzwischen wurde das ursprünglich 1 177 Millionen qkm umfassende „Autonome Gebiet Innere Mongolei" durch Abtrennung der nördlichen und östlichen sowie der westlichen Bezirke praktisch halbiert. Die abgetrennten Teile wurden den chinesischen Nachbar-Provinzen zugeschlagen; die westlichen Bezirke kamen zu Kansu und Ningshia, die nordöstlichen zu Heilungkiang, Kirin und Liaoning. Nach der Neugliederung, die 1971 von der Pekinger Zeitschrift . China Reconstructs’ gemeldet wurde, ist das . Autonome Gebiet Innere Mongolei'heute nur noch ein Rumpfgebilde mit knapp 500 000 qkm Fläche und einer Bevölkerung von etwa sieben Millionen. Die Mongolen sind nur noch eine Minderheit; in der Hauptstadt Huhehot machen sie allenfalls noch fünf Prozent der Einwohner aus.

Während der fünfziger Jahre, der Phase des friedlichen sowjetisch-chinesischen Entwicklungswettbewerbs in der Mongolischen Volksrepublik, förderte Peking großzügig die Entwicklung in der territorial noch nicht entblätterten Inneren Mongolei. Zwischen 1947 und 1959 wurden 10 000 neue Elementarschulen gegründet. Es entstanden ein Forschungsinstitut für mongolische Sprache, ein Institut für Sprache und Literatur und eine Reihe fachspezialisierter Hochschulen in Huhehot. Daneben wurden mit großem Aufwand neue Industrieanlagen aufgebaut und die verkehrstechnische Infrastruktur verbessert.

Einen schweren Rückschlag für das mongolische Selbstverständnis brachte aber dann die chinesische Kulturrevolution. Ihr fiel auch der starke Mann der Inneren Mongolei, Ulanfu, zum Opfer, der schon zwischen den Kriegen im kommunistischen Untergrund gewirkt hatte und der als Mitglied des Pekinger ZK, als Vorsitzender der innermongolischen Abteilung der chinesischen KP sowie der Innermongolischen Revolutionären Volkspartei, als Regierungschef und Kommandeur der innermongolischen Kavallerie alle Macht in Händen hielt. Ulanfu wurde vorgeworfen, ein mongolisches Großreich und die Rückkehr von der Agrar-zur Weidewirtschaft angestrebt zu haben. Mongolische nationalistische Abweichung wurde angeprangert, die mongolische Sektion der Partei gründlich gesäubert.

Während vorher dreiviertel der Mitglieder des Partei-Komitees Mongolen waren, sank ihr Anteil im neuen Revolutions-Komitee auf ein Verhältnis von 1 : 15. Die brutalen Eingriffe der revolutionären Garden führten zu einem mongolischen Aufbegehren. Noch 1969 sprachen offizielle Stellen von . anarchistischen Zuständen'in der Inneren Mongolei, in die zwischen 1969 und 1970 abermals eine runde Million Chinesen flutete.

Die folgenden Gebietsabtrennungen waren ein weiterer Rückschlag für die mongolische Minderheit, die nun auch verwaltungstechnisch aufgesplittert ist. Nur in der Steppe trotzt mongolisches Volkstum noch der zivilisatorischen Umarmung der Chinesen. Die Innere Mongolei verlor auch ihren Status als Militär-Region; sie wurde in die Militärregion Peking eingegliedert, während die abgetrennten westlichen Gebietsteile dem Wehrbereich von Lanchou und die östlichen dem von Shenyang zugeschlagen wurden.

Die Verwaltungs-und militärpolitische Neu-gliederung der nördlichen Grenzgebiete entsprach auch strategischen Erfordernissen, die nach dem Sowjeteinmarsch in die Tschechoslowakei und Chinas Wende zur totalen ideologisch-machtpolitischen Konfrontation Vorrang bekamen. Nach westlichen Schätzungen dürften die Chinesen in den beiden, für die Sicherung Nordost-Chinas und der Mandschurei wichtigsten Wehrbereichen Peking und Shenyang 45 bis 50 Infanterie-Divisionen sowie fünf bis sechs Panzer-, zwei Artillerie-, zwei Luftlande-und etwa sieben Kavallerie-Divisionen stationiert haben. Eine wesentliche Größe der chinesischen Verteidigungs-Dispositionen sind ferner die Volks-Milizen, die nach der Doktrin des Volkskriegs die Operationen der regulären Einheiten ortskundig zu ergänzen und für regionale Abwehrstellungen zu sorgen haben. Die mongolischen Kavallerie-Einheiten dienen vor allem der permanenten Überwachung der sich über tausende von Kilometern hinziehenden Steppen-Grenzen.

Die Rückversicherung der konventionellen Verteidigungsvorkehrungen bildet schließlich das schon beachtliche, dezentralisierte und daher auch kaum noch durch einen Präventiv-Schlag auszuschaltende atomare Abschrekkungs-Potential.

VIII. Die sibirische „Garnisons-Macht"

Nach der Niederlage Japans blieben die Sowjettruppen noch elf Jahre in der Mongolischen Volksrepublik. Erst 1956 wurden sie abgezogen. Sie hinterließen in der Ost-Mongolei, dem fremden Einblick verschlossenen strategischen Schlüsselraum in der Flanke der Mandschurei, eine verkehrstechnische Infrastruktur, die keine Parallele in anderen Teilen der weglosen Steppen-Republik hat.

Bereits 1939, im Jahr des Nomonhan-Zwischenfalls, bauten sie eine in Chita von der transsibirischen Eisenbahn abzweigende Stichbahn zur ostmongolischen Verwaltungszentrale Tschoibalsan. Von dort führen Schmalspur-Strecken zu den Steppensiedlungen Jargalant, Tamsagbulag und Onon. Insgesamt haben die Sowjets in der Ost-Mongolei Stichbahnen von rund 800 km Länge gebaut, die in der besonders trockenen Region nur beiläufige wirtschaftliche Bedeutung haben. Auch eine moderne Asphaltstraße führt von Chita in die Ost-Mongolei, mit abzweigenden befestigten Fahrwegen vorwiegend militärischer Bedeutung.

Als 1966 wieder Sowjetttruppen in die Mongolei einrückten, fanden sie schon einen für zentralasiatische Verhältnisse gut erschlossenen, mit Feldflugplätzen bestückten Aufmarsch-raum vor, der weiter ausgebaut wird. Die Sicherungs-Streitmacht wurde inzwischen von zunächst drei auf etwa fünf vollmotorisierte mit Raketen-Waffen ausgerüstete Divisionen verstärkt. Es sind Einheiten des sibirischen Wehrbereichs Irkutsk, der schon stark industrialisierten Baikal-Region.

Seit Beginn der Konfrontation mit China hat Moskau die Fernost-Streitkräfte von ursprünglich 27 auf etwa 50 Divisionen aufgestockt, ohne das Potential im europäischen Teil der Sowjetunion und in Osteuropa zu schwächen, wo weiterhin rund zwei Drittel der Streitkräfte und ein noch höherer Prozentsatz der Offensiv-Waffen konzentriert sind.

Die vollmotorisierten und waffentechnisch der chinesischen Volksarmee weit überlegenen sibirischen Armeen, die überdies im Besitz eines technisch hochstandardisierten atomaren Rückhaltes sind, könnten zwar als Offensiv-Streitmacht bei der Eindämmung regionaler Bedrohung wirksam werden — nach dem Muster der Lektion, die 1939 Schukow der japanischen Kuantung-Armee erteilte. Ein größer Krieg gegen China aber würde selbst eine ums Mehrfache verstärkte Sowjetstreitmacht in die Ausweglosigkeit führen.

So meint auch das Londoner „Institut of Strategie Studies", daß es sich bei den sowjetischen Fernost-Verbänden nur um eine „Garnisons-Macht“ handelt. Sie hat den Status quo in einer Phase akuter Machtrivalität vorbeugend abzusichern. Aber auch die Bindung so starker Kräfte, der Zwang zu so großem materiellem Aufwand in Zentralasien schlägt weltpolitisch zu Buche.

IX. Die nationalen Unterströmungen

Die Mongolische Volksrepublik verdankt es dem nördlichen Nachbarn, daß sie nicht ebenso in den Sog Chinas geriet (und gerät) wie die Innere Mongolei, wo die nationale Substanz wegzuschmelzen beginnt. Unbeschadet gewisser asiatischer Affinitäten ist dies den Mongolen wohl bewußt.

Der amtierende Ministerpräsident Jumschagin Zedenbal ist ein verläßlicher Parteigänger Moskaus. Der 59 Jahre alte, in der Sowjetunion geschulte Volkswirtschaftler hält sich schon seit zwei Jahrzehnten mit großem taktischen Geschick im Sattel. 1952 trat er die Nachfolge des im gleichen Jahr verstorbenen Nationalhelden Tschoibalsan an, des „kleinen Stalin“ der Mongolei. Er war schon Premier, als China und die Sowjetunion noch um vorrangigen Einfluß konkurrierten. Zedenbal nahm damals mit beiden Händen, und er formulierte selbst seine praktische Philosophie: „Wenn einer nur die Kraft hat, 70 kg zu tragen, aber 120 kg transportieren möchte, so bittet er andere, die restlichen 50 kg zu schultern. So spart man Zeit..

Aber mit feinem Gespür für die machtpolitische Entwicklung und in nüchterner Einschätzung der Hilfskassen der Rivalen machte er öfter in Moskau seine Aufwartung als in Peking. In jenen Jahren, als noch sowjetisch-chinesische Freundschaft waltete, mußte er freilich auch kritische interne Orientierungs-Konflikte durchstehen. 1954 mußte er das Generalsekretariat der Partei, das er schon seit 1940 verwaltet hatte, an den pro-43 chinesischen Funktionär Damba abtreten, den er erst 1958 im Zeichen der beginnenden Abkühlung zwischen Peking und Moskau wieder aus dem Sattel heben konnte. Seither ist Zedenbal wieder unbestrittener Chef der Regierung und der Partei.

Zwischen den Mühlsteinen der Supergroßen marschieren die Mongolen mit den stärkeren Bataillonen — und sie profitieren nicht schlecht. Aber mit dem wirtschaftlichen Fortschritt, mit dem Heranwachsen einer akademisch gebildeten Führungsschicht und der Konsolidierung der staatlichen Existenz wächst auch das Nationalbewußtsein des kleinen stolzen Volkes, verbunden mit einer Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit in asiatischer Verflechtung und zunehmender Eigenwilligkeit.

Mitt der fünfziger Jahre haben die Mongolen durch posthumen Abbau des Personenkults um den verstorbenen Nationalhelden Tschoibalsan zwar auch ihren Beitrag zur Entstalinisierung geleistet. Aber ein mächtiges Standbild des Sowjet-Diktators, dem auch Peking weiter huldigt, steht noch heute in der City von Ulan Bator. 1962 sah sich Moskau zu direkter Intervention veranlaßt, um einer Ausbreitung des den eigenen Interessen wenig bekömmlichen nationalen Bazillus zu steuern.

Die Sowjets hatten es noch hingenommen, als am 31. Mai 1962 im Steppenörtchen Deliün-boldog, dem angeblichen Geburtsort Dschingis Khans, ein 10 Meter hoher Gedenk; stein aus Anlaß des 800. Geburtstags des gewaltigen Eroberers enthüllt wurde. Als aber in der Hauptstadt umfangreiche Vorbereitungen für nationale Dschingis-Khan-Gedenkfeiern anliefen, kam das Veto des Kreml. Dschingis Khan, der zur Legende gewordene Held einstiger mongolischer Weltmacht, war als blutrünstiger Reaktionär, als der große Zerstörer, als Negativ-Figur der Geschichte zu verdammen.

Der Organisator der geplanten Feiern, Temürotschir, Präsident der mongolisch-sowjetischen Gesellschaft, verschwand in der Versenkung. Bereits gedruckte Festschriften und Gedenkbriefmarken mußten eingestampft werden. In einer offiziellen Stellungnahme hatte die Volksrepublik zu bekennen: „Die räuberischen Kriege Dschingis Khans führten zu einer Verminderung der produktiven Kräfte der Mongolei und brachten dem mongolischen Volk unendliches Leid. Eine Verherrlichung Dschingis Khans bedeutet ein Abweichen von der ursprünglichen Stellung der Partei und einen Ansporn für Nationalismus ..."

Die Mongolen beließen es bei dem unvermeidlichen Lippenbekenntnis. Die historischen Erinnerungsstücke an den großen Eroberer und seine Zeit sind im Nationalmuseum von Ulan Bator weiterhin der ehrerbietigen Bewunderung seiner Nachfahren zugänglich. Und draußen in den Steppenweiten lebt Dschingis Khan in der Legende weiter.

Peking, das damals noch in der Inneren Mongolei werbend mongolisches Volkstum pflegte, nützte das schockierende Veto Moskaus und feierte demonstrativ den großen Dschingis Khan. In Edschen-horo, der uralten Kult-stätte der mongolischen Dschingis-Khan-Verehrung im Huangho-Knie, war schon in den Jahren vor dem Gedenktag ein „Dschingis-Khan-Palast" errichtet worden, der (1956) in Anwesenheit zahlreicher chinesischer Würdenträger unter Abhaltung eines großen Weiheopfers nach altem Ritus eröffnet wurde. Feldzeichen und andere Erinnerungsstücke an Dschingis Khan werden darin aufbewahrt. Der Kultbau, heute offiziell als Museum deklariert, wurde übrigens in Anlehnung an einen architektonischen Entwurf der Japaner errichtet, die in der Phase ihrer zentralasiatischen Träume an das mongolische Gemüt zu rühren gedachten.

In Edschen-horo wurde also 1962 mit großem Pomp der Groß-Khan gefeiert, den die Mongolische Volksrepublik zu verdammen hatte. Des Widerhalls in den Hirten-Jurten, wo längst auch der Transistor Einzug gehalten hat, konnte Peking sicher sein. Die „Prawda“ rechnete damals den Chinesen auf, die blutigen Kriegszüge Dschingis Khans nach dem Westen als Handlungen hinzustellen, „die zum wechselseitigen Nutzen und kulturellen Austausch zwischen Ost und West beigetragen haben". Der Vorwurf zielte freilich etwas am historischen Sachverhalt vorbei.

Die nach den gewiß zerstörerischen Eroberungszügen am Hofe der Groß-Khane waltende Toleranz (die in Europa nicht ihresgleichen hatte), die über riesige Entfernungen funktionierende Pferdepost und die mongolische Sicherung der Karawanenwege förderten mit dem Handel durchaus den kulturellen Austausch und ermöglichten erste europäische Kontakte mit dem Reich der Mitte. Es war das China der Mongolenzeit, der Yüan-Dynastie (1279— 1368), das dem Westen durch kühB ne Reisende wie Marco Polo und Missionare zuerst bekannt wurde. Wie Latein in Europa so war Mongolisch über die Zeit der Pekinger Mongolen-Kaiser hinaus, die auch mit Papst Innozenz IV. und dem französischen König Botschaften tauschten, Asiens diplomatische Verbindungssprache.

Seit der Kulturrevolution hat sich Pekings Haltung gegenüber den innerhalb der Reichs-grenzen lebenden, nunmehr auch verwaltungstechnisch aufgesplitterten mongolischen Minderheiten gründlich gewandelt. Auch im Rumpfgebilde Innere Mongolei vollzieht sich die Sinisierung so rapide, daß die offiziell weitergehende Pflege mongolischer Überlieferung und Literatur immer mehr zur bloßen wissenschaftlichen Reminiszenz wird.

In der Mongolischen Volksrepublik, dem Konkursrest des gewaltigsten Weltreichs der Geschichte, vermögen es weder Marx und Lenin, noch Moskaus imperiale Direktiven, die wuchtige Symbolfigur Dschingis Khan zu verdrängen, an der sich der Nationalstolz des kleinen, jahrhundertelang gedemütigten Volkes aufrichtet. Es war ein unmögliches Weltreich, das der legendenumwobene Gross-Khan (1162 bis 1227) nach der Einigung der Nomadenstämme mit seinen unbesiegbaren Reiterheeren errichtete und das unter weiter erobernden den Nachfolgern schließlich vom Pazifik bis zur Donau-Mündung reichte; es war zu gigantisch angesichts der damaligen technischen Möglichkeiten und der schmalen Volkskraft der Mongolen. Es überlebte auch nur ein Jahrhundert. Die glanzvolle Mongolen-Metropole Karakorum, deren Bau noch Dschingis Khan befahl, diente sogar nur ein paar Jahrzehnte als Residenz, vor allem dem Sohn und ersten Nachfolger des Gross-Khans, Ogetei. Der Italiener Plano Carpini, den Papst Innozenz IV. 1245 nach Zentralasien entsandte und Wilhelm von Rubruk, der 1253 als Abgesandter des französischen Königs Ludwig des Heiligen aus Europa aufbrach, haben die kosmopolitische Steppenresidenz bewundernd beschrieben, in der sich außer Orientalen verschiedenster Herkunft auch Russen, Georgier, Franzosen und Deutsche aufhielten.

Nur der Tod Ogeteis rettete 1241 das Abendland, das nach der totalen Niederlage eines deutsch-polnischen Ritterheeres bei Liegnitz schon wehrlos lag. Die mongolischen Heerführer mußten zur Wahl des neuen Groß-Khans zurück nach Karakorum. Schon 1264 erlag dann der Größte der Dschingiskhaniden, Kublai Khan, der zivilisatorischen Umarmung Chinas: er verlegte seine Residenz von Karakorum nach Peking.

Im weiten Flußtal des Orchon, rund 380 km südwestlich von Ulan Bator, zeugen nur noch dürftige Spuren von der einstigen Weltzentrale der Mongolen, die Mitte des 17. Jahrhunderts von einem Mandschu-Heer dem Erdboden gleichgemacht wurde: ein von Steppen-gras überwachsener Schutthügel, in dem flüchtige Schürfungen russischer Archäologen ein paar granitene Säulen-Fundamente des Ogetei-Palastes und eine stilisierte, steinerne Riesen-schildkröte (magische Schutzfigur gegen Hoch-Wasserfluten des heute ziemlich fernen Orchon) freilegten. Das ist alles. Im Hintergrund die weiße, mit kleinen Stupas bestückte Umfassungsmauer des 1586 auf den zwei Quadratkilometer bedeckenden Trümmern von Karakorum erbauten ersten Lama-Klosters der Mongolei, des auch nur noch teilweise erhaltenen Erdeni-Dsu.

Der Blick nach dem Westen In der Mongolischen Volksrepublik beherrschen die Sowjets souverän die Szene — wenn in der Hauptstadt und in den Fremden offenen Landesteilen auch nichts an ihre militärische Präsenz erinnert, von einigen Militär-beratern abgesehen. Die Mongolen bleiben auf Linie; sie profitieren und schweigen. Aber sie tragen auch die Maske Asiens. Im Rahmen der errungenen Eigenstaatlichkeit wächst unübersehbar auch das Nationalbewußtsein, beginnt sich das nationale Interesse zu artikulieren. So zeigen sich die Mongolen zunehmend interessiert am Ausbau der noch schmalen Beziehungen mit dem Westen, mit den USA vor allem und mit Asiens Industrieriesen Japan. Als erste westeuropäische Länder haben schon 1963 England und Österreich diplomatische Beziehungen mit der Mongolischen Volksrepublik aufgenommen. Die Schweiz und Schweden folgten 1964, Frankreich 1965 und die Bundesrepublik am 31. Januar 1974. Die westdeutschen Interessen in der Mongolei werden allerdings vorerst von der Botschaft der Bundesrepublik in Tokio wahrgenommen, während der mongolische Botschafter in Warschau auch Bonn mitbetreut.

Seit 1966 sollen auch schon erhebliche amerikanische Gelder in die Volksrepublik geflossen sein. Vom Pazifik her dringt die „Stimme Amerikas" gut hörbar in die Steppenweiten. Aus den Lautsprechern rieselt vor allem die Pekinger Porpaganda, die täglich Moskaus „Sozial-Imperialismus" anprangert, der aus der Mongolei eine Kolonie mache.

China, dessen Botschafter in Ulan Bator eine Igelstellung hält, hat eine Runde verloren. Aber es hat keineswegs das Ringen um Einfluß aufgegeben, den Kampf gegen die drohende militärische Präsenz der Sowjets in einem Raum, der auch für China sicherheitspolitisches Vorfeld ist. Peking rechnet in langen Zeitläufen.

Mögen auch Moskaus imperiale Interessen die Mongolische Volksrepublik gegen den Sog Chinas absichern: mit China verbindet die Mongolen doch auch eine jahrhundertelange politische und kulturelle Verflechtung, asiatische Mentalität und eine gewisse Sympathie für manche Organisationsformen des Mao-Kommunismus. Vor allem wirkt die zivilisatorische Strahlungskraft des 800-Millionen-Volkes, der sich selbst Japan nie ganz entziehen konnte. Andererseits erkennt man in Ulan Bator auch sehr wohl die Gefährlichkeit des chinesischen Sogs.

China sei wie ein Kamel, das seine Nase in ein Zelt stecke, meinte der amerikanische

Mongolist Dr. Lattimore. „Findet man sich mit der Nase ab, so ist bald das ganze Kamel im Zelt."

Literatur:

W. Heissig, Ein Volk sucht seine Geschichte, Düsseldorf, Wien 1964.

W. Heissig, Geschichte der mongolischen Literatur, Wiesbaden 1972.

C. R. Bawden, The modern History of Mongolia, London 1968.

A. Rupen, The Mongols of the 20 th Century, Bloomington-The Haag 1964.

B. Schirendyb, Die Mongolische Volksrepublik, DDR-Staatsdruckerei 1971.

F. C. Jones, Manchuria since 1931, London 1949.

O. Weggel, Die chinesische Volksbefreiungsarmee, Institut für Asienkunde, Hamburg 1974.

O. Weggel, Moskau und Peking — Die ersten Jahre der zweiten Eiszeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/73.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Martin Sailer, geb. 1916, Studium der Geschichte und Politologie; 1956— 1964 Presse-Korrespondent in Paris, Reisen in den USA, Asien und Afrika; 1965— 1969 Chefredakteur des „Hamburger Abendblatt“, dann — bis 1972 — Ostasien-Korrespondent in Tokio; Studienreise nach Sibirien und in die Mongolei, Korrespondent für Südosteuropa in Wien; seit 1975 wieder in Paris. Veröffentlichungen über west-und osteuropäische sowie fernöstliche Entwicklungen in deutschen Zeitungen und Zeitschriften.