„Falken" und „Tauben" im amerikanischen Senat. Konfliktideologien und ökonomische Interessen als Bedingungsfaktoren der amerikanischen Rüstungspolitik | APuZ 44/1975 | bpb.de
„Falken" und „Tauben" im amerikanischen Senat. Konfliktideologien und ökonomische Interessen als Bedingungsfaktoren der amerikanischen Rüstungspolitik
Gert Krell
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Zusammenfassung
Innerhalb der Entscheidungseliten im Ost-West-Konflikt gibt es bekanntlich erhebliche Differenzen über die Entspannungs-und Rüstungskontrollpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland ist zwar die „Ostpolitik" bis heute umstritten, die Rüstungspolitik wird dagegen nach wie vor von einem ungebrochenen Konsens getragen: Rüstungspolitik ist immer noch ein Tabu. Dieser Zustand ist angesichts der Situation in den Vereinigten Staaten, der Führungsmacht des westlichen Bündnisses, verwunderlich. In den USA findet seit einigen Jahren im Kongreß und in einer Reihe von interessierten Organisationen der Öffentlichkeit eine intensive Auseinandersetzung über die Rüstungspolitik und die sozialen Kosten des Wettrüstens statt. Die Debatten und Abstimmungen im Senat über Waffenbeschaffungen, den Rüstungshaushalt und die SALT-Verträge von 1972 sind ein anschauliches Beispiel für den institutionalisierten Konflikt zwischen den „Falken“ und den „Tauben". Die größte Gruppe (die „Aufrüstungs-Fraktion") folgt in der Regel den Vorlagen des Pentagon und fordert eine Politik der nuklearen Stärke gegenüber der Sowjetunion. Sie interpretiert den Ost-West-Konflikt nach wie vor in den Schwarz-Weiß-Kategorien des Kalten Krieges. Sie deutet das strategische Gleichgewicht einseitig zuungunsten des Westens und steht Rüstungsbegrenzungs-Abkommen sehr skeptisch gegenüber oder lehnt zumindest jede einseitige Selbstbeschränkung ab. Die „Rüstungsbegrenzungs-Fraktion" (etwa 30 Senatoren) hat dagegen ein sehr viel differenzierteres Verständnis vom Ost-West-Konflikt. Sie sieht den Rüstungswettlauf als einen wechselseitigen Eskalationsprozeß, der sich von der Konfliktbeziehung schon weitgehend losgelöst und verselbständigt hat. Die „Rüstungsbegrenzungs-Fraktion" fordert eine Neu-Orientierung der Haushalts-Prioritäten und will deshalb die Aufwendungen für die Rüstung einschränken. Sie ist zu gewissen Maßnahmen der Selbstbeschränkung bereit, um so die Aussichten für wirksamere internationale Begrenzungs-Abkommen zu verbessern. Zwischen diesen beiden Gruppen steht eine sehr heterogene Fraktion der Mitte, die politisch flexibler ist als die Aufrüstungs-Fraktion, sich aber in ihrem Abstimmungs-Verhalten eher konservativ gibt. Verschiedene statistische Tests zeigen, daß wirtschaftliche Interessen an Rüstungsaufträgen — die in den Diskussionen immer wieder angesprochen werden und auch in einzelnen Abstimmungen deutlich hervortreten — einen erkennbaren, insgesamt aber doch begrenzten Einfluß auf die Rüstungspolitik im amerikanischen Senat ausüben. Politische Faktoren wie Parteizugehörigkeit, der Gegensatz zwischen den Nord-und Südstaaten und die allgemeine liberale oder konservative Einstellung der Senatoren sind weitaus wichtigere Faktoren zur Erklärung der Zugehörigkeit zur Gruppe der „Falken" oder der „Tauben“ als die unterschiedliche Rüstungsabhängigkeit der Einzelstaaten, die sie vertreten.
Diese Studie ist im Rahmen des Forschungsprojekts der USA/NATO-Gruppe in der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktiorschung (HSFK) über . Bedingungsiaktoren der amerikanischen Rüstung und Außenpolitik" entstanden. Dieses Projekt wurde von der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung unterstützt.
I. Die rüstungspolitische Diskussion in den USA
In den letzten Jahren hat sich eine große Anzahl von Belegen für ernsthafte Differenzen innerhalb der außen-und rüstungspolitischen Eliten in den USA und der Sowjetunion über die Entspannungs-und Rüstungskontrollpolitik ergeben In der Bundesrepublik Deutschland markierten die dramatischen Auseinandersetzungen über die Verträge mit der Sowjetunion und Polen und den Grund-vertrag mit der DDR einen Höhepunkt der außenpolitischen Kontroverse. Die „Ostpolitik" ist bis heute umstritten. Die Rüstungspolitik dagegen wird nach wie vor von einem ungebrochenen Konsens getragen. Die sozialliberale Koalition läßt gar nicht erst den Verdacht aufkommen, sie sei weniger „wehrwillig" als die Regierungen der fünfziger und sechziger Jahre
Erst in jüngster Zeit hat es zwei — sicher in mancher Hinsicht unzulängliche — Versuche gegeben, die rüstungspolitische Diskussion in der Bundesrepublik anzuregen oder überhaupt wiederzubeleben: das „Anti-Weißbuch" einer Gruppe junger Sozialwissenschaftler (erschienen im Mai 1974) und die „Siegener Grundsätze der Jungsozialisten zur Sicherheits-und Militärpolitik" vom Juni 1975 Auf beide Versuche haben die Bundestagsparteien, das Verteidigungsministerium und der größte Teil der Presse mit zum Teil heftiger Ablehnung reagiert. Die Thesen der Jungsozialisten und die Detailkritik der Studiengruppe wurden nicht als Anregungen für eine größere Offenheit und mehr Flexibilität bei der Diskussion rüstungspolitischer Fragen aufgefaßt; der häufig geäußerte Verdacht, diese Gruppen betrieben die Sache des außenpolitischen Gegners, ersparte weitgehend die Auseinandersetzung. Rüstungspolitik ist offenbar immer noch ein Tabu in der Bundesrepublik
Dieser Zustand ist verwunderlich, wenn man die politische Szene in anderen NATO-Ländern — etwa in den Niederlanden oder in Skandinavien — berücksichtigt. Vor allem aber in den USA — der Führungsmacht des westlichen Bündnisses — findet seit einigen Jahren eine breite öffentliche Diskussion der Rüstungspolitik statt Dort haben die Auseinandersetzungen um die Kriegführung in Indochina zu einer Differenzierung des Feindbildes und der Bedrohtheitsvorstellungen geführt und einige Maximen des Selbstverständnisses der amerikanischen Außenpolitik der letzten 25 Jahre in Frage gestellt. Die Debatten über die technischen und politischen Probleme von Raketen-Abwehrsystemen (Anti Ballistic Missiles ABM), an der sich auch zahlreiche Natur-und Sozialwissenschaftler beteiligten, setzten vor allem im amerikanischen Senat einen Lernprozeß über die Gefah-ren der strategischen Rüstung in Gang. Die wachsenden Widersprüche der ökonomisch-technologischen Entwicklung (Inflation, Energie-Probleme, Umweltverschmutzung, Infrastruktur) und die hartnäckigen sozialen Probleme (Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, die Mängel im Wohnungssektor, der Rassen-konflikt), die sich im Laufe der sechziger Jahre teilweise zu akuten Krisen verdichtet hatten, schließlich die vielen Skandale im Beschaffungswesen (Überprofite, Korruption, Verschwendung, Ineffektivität) weckten in zunehmendem Maße das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die sozialen Kosten der herkömmlichen Rüstungspolitik.
1972 versprach der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, George McGovern, — er ist Vorsitzender des Senatsausschusses für Ernährung und wird damit ständig mit der sozialen Misere von Millionen amerikanischer Bürger konfrontiert — den Ausbau des Sozialstaats und drastische Kürzungen bei den Rüstungsausgaben Eine Gallup-Umfrage von 1971 ergab einen Anteil von 50 % der Bevölkerung, der die Militärausgaben für zu hoch hält. (Im Vergleich dazu waren 1960 nur 18°/o für eine Kürzung des Rüstungshaushalts Im Repräsentantenhaus wurde noch 1967 das Rüstungsbudget mit nur einer Gegenstimme verabschiedet, der Abgeordnete, der eine Reduzierung von 5 °/o gefordert hatte, niedergeschrien 1973 dagegen kürzte eine Koalition von liberalen Pentagon-Kritikern und Fiskalkonservativen mit einer Mehrheit von 242 zu 163 Stimmen die Gelder für Waffenbeschaffung und Rüstungsforschung gegen die Empfehlung des Verteidigungsausschusses um fast 5 °/0; erst im Vermittlungsausschuß wurde diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht
Als Koordinationshilfe für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rüstungspolitik der Regierung dient die Gruppe Members of Congress for Peace Through Law (MCPL), eine überparteiliche Vereinigung überwiegend linksliberaler bis gemäßigt liberaler Abgeordneter und Senatoren, die sich für internationale Zusammenarbeit in einer Welt ohne Krieg und für größere soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab engagieren. MCPL setzt sich für Rüstungskontroll-Initiativen im Kongreß ein und für eine Stärkung der Position der Abrüstungsbehörde im politischen Entscheidungsprozeß. Die Gruppe verfügt seit 1969 über ein „Military Spending, Arms Control and Disarmament Committee", das jedes Jahr eine Reihe Gutachten zu verschiedenen Waffenprogrammen und zu Fragen der Rüstungskontrolle veröffentlicht
Verschiedene gesellschaftliche Organisationen, die Zugang zur liberalen Presse und zum liberalen Flügel im Kongreß haben und häufig von ehemaligen Entscheidungsträgern aus den Regierungen Kennedy und Johnson unterstützt werden, leisten informierte und kompetente Kritik an der Politik und den Planungen der Rüstungsbürokratie. Wichtige Informations-und Argumentationshilfen liefern zwei sogenannte Non-Profit-Organisationen:
Die Brookings-Institution — bereits 1927 gegründet und wohl erst von Nixon radikaler Ambitionen verdächtigt — hat sich seit 1968 mit wissenschaftlichen Analysen in der Prioritäten-Frage engagiert Seit 1970 erscheint jedes Jahr eine Analyse des Budget-vorschlags des Präsidenten, in der Alternativen im Bereich der Rüstung diskutiert werden Eine wesentlich kleinere Organisation ist das Center for Defense Information, ein Projekt des Fund for Peace. Es besteht erst seit 1972 und wird von Konteradmiral a. D. Gene R. La Roque geleitet. Das CDI gibt einen „Defense Monitor" heraus, eine kleine Zeitschrift, die ein wichtiges Korrektiv zur offiziellen Rüstungspolitik und -Propaganda darstellt.
Im Zusammenhang mit der ABM-Debatte hat sich die Coalition on National Priorities and Military Policy gebildet, ein lockerer Zusammenschluß von über dreißig nationalen Organisationen — vor allem kirchlichen Gruppen —, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Verschwendung im Militärbudget abzubauen, das militärische Engagement der USA im Ausland zu reduzieren, militärische Ressourcen für zivile Zwecke umzuleiten und internationale Abkommen zur Begrenzung der Rüstung zu erwirken. Geschäftsführender Direktor dieser Vereinigung ist Lt. Col. Edward King, der 1969 nach 23 Jahren Dienstzeit mit Stabserfahrung bei der NATO und den Joint Chiefs of Staff aus Protest gegen den Vietnam-Krieg und die Militärpolitik seine militärische Laufbahn beendete.
Zu den traditionsreichsten rüstungskritischen Gruppen zählt SANE, eine Bürgerorganisation für eine vernünftige Welt. SANE will durch öffentliche Aufklärungsarbeit und direkte Einflußnahme auf den Gesetzgebungsprozeß Kürzungen im Rüstungsbudget, Übertragung von Ressourcen in zivile Programme und verstärkte Rüstungskontrollmaßnahmen erreichen. SANE gibt einen monatlichen Rundbrief heraus „Sane World: A Newsletter of Action on Disarmament and the Peace Race". Eines der prominentesten Mitglieder von SANE ist Seymour Melman, Autor mehrerer Bücher über Probleme der Umstellung von Rüstungsauf Zivilproduktion und die sozialen Kosten der Rüstung
Die Federation of American Scientists (FAS) — 1946 als Federation of Atomic Scientists gegründet — ist eine Vereinigung von Natur-und Sozialwissenschaftlern, die sich u. a. für Begrenzungen im Bereich der strategischen Rüstung engagieren. Die Mitgliederliste dieser Vereinigung ist eine Art „Who Is Who" der ABM-Debatte, FAS-Vertreter geben häufig Stellungnahmen bei Hearings ab und veröffentlichen Diskussionsbeiträge zu Fragen der atomaren Rüstung in Zeitschriften wie „Bulletin of the Atomic Scientists" und „Scientific American". Unter den rüstungspolitischen Beratern der demokratischen Präsidentschaftskandidaten Muskie und McGovern im Wahlkampf 1972 waren Mitglieder der FAS.
1971 gründeten Wissenschaftler und Politiker mit zum Teil langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der Rüstungspolitik — einige von ihnen hatten führende Positionen in der Abrüstungsbehörde inne — die Arms Control Association, eine überparteiliche Mitglieder-organisation, die sich um ein breites Verständnis in der Öffentlichkeit für die Notwendigkeit von Rüstungsbegrenzungen bemüht. Die Arms Control Association veröffentlicht jeden Monat „Arms Control Today: Current Events in Arms Control and Disarmament“, einen Rundbrief, der wichtige Entwicklungen (wie SALT, Weiterverbreitung der Nuklearwaffen, Möglichkeiten für einen umfassenden Teststopvertrag, taktische Atomwaffen in Europa) kommentiert und eine ausgezeichnete fortlaufende Bibliographie enthält.
Im Project on Budget Priorities haben sich liberale Gewerkschaften (die Gewerkschaften, die 1972 McGovern unterstützten) wie die National Farmers Union, die United Auto Wor-kers, die American Federation of Teachers, die United Mine Workers mit kirchlichen Gruppen und der U. S. Conference of Mayors zusammengeschlossen, um den Kongreß zu einer Reorientierung der Haushaltsprioritäten zu veranlassen. Das Projekt bemüht sich auch darum, Wirtschaftsgruppen zu mobilisieren, die stärker an zivilen Programmen interessiert sind. Bis jetzt hat sich jedoch lediglich ein Teil der Wohnungsbauwirtschaft engagiert. Das Project on Budget Priorities legte dem Kongreß für das Rechnungsjahr 1975 einen Bericht vor, in dem es eine Kürzung des Militärbudgets um 14 Milliarden Dollar ausarbeitete. Der Bericht wurde hauptsächlich von ehemaligen liberalen Vertretern des Pentagon und der Abrüstungsbehörde unter Leitung von Paul C. Warnke — Warnke war McNamaras Abteilungsleiter für internationale Sicherheitsfragen — verfaßt
II. Rüstungspolitik und Abstimmungsverhalten im amerikanischen Senat
Abbildung 2
b) Parteizugehörigkeit, regionale Herkunit und Abstimmungsverhalten im Bereich Rüstungspolitik
b) Parteizugehörigkeit, regionale Herkunit und Abstimmungsverhalten im Bereich Rüstungspolitik
Um die Bedeutung und den Inhalt der rüstungspolitischen Kontroverse in den USA genauer bestimmen zu können, haben wir die Parlamentsdebatten über Waffenbeschaffung, Rüstungsausgaben und die SALT-Abkommen (Strategie Arms Limitation Talks) und die rüstungspolitischen Abstimmungen im amerikanischen Senat 1971 und 1972 untersucht. Wir haben uns dabei folgende Fragen gestellt: 1. Wie viele Fraktionen im Bereich Rüstungspolitik und SALT gibt es und wie groß sind sie jeweils?
2. Welches sind die wichtigsten politisch-ideologischen Differenzen zwischen diesen Fraktionen?
3. Welche Rolle spielen binnenökonomische Interessen an Rüstungsausgaben und Waffen-Programmen? (Ist der Kongreß ein Teil des militärisch-industriellen Komplexes?)
4. Wie lassen sich die Unterschiede im Abstimmungsverhalten im Bereich Rüstung (für Kürzungen, gegen Kürzungen usw.) am besten erklären?
Die Fragen eins und zwei sind von der bisherigen Forschung noch gar nicht, die Fragen drei und vier ganz unterschiedlich beantwortet worden. Studien zum militärisch-industriellen Komplex in den USA, einzelne Aussagen von Mitgliedern des Kongresses und auch der Rüstungslobby betonen die Bedeutung wirtschaftlicher Erwägungen für die Erklärung rüstungsfördernder Stimmabgaben verschiedene Sozialwissenschaftler, die den Einfluß der Rüstungsabhängigkeit von Wahlbezirken und Einzelstaaten auf das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten und Senatoren systematisch getestet haben, kommen dagegen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß Faktoren wie Parteizugehörigkeit, regionale Herkunft (Nord-/Südstaaten) und allgemeine politisch-ideologische Orientierung viel wichtiger seien
Etwa zwanzig Senatoren gaben Erklärungen ab, die auf ausgeprägte Positionen in Fragen der Rüstungspolitik schließen lassen. Wir haben diese Senatoren als die Wortführer ihrer Fraktionen betrachtet und die volle Stärke dieser Fraktionen dann mit Hilfe einer Rüstungsskala ermittelt. Diese Skala haben wir aus 23 Abstimmungen . aller Senatoren über rüstungspolitische Entscheidungen gebildet (vgl. Anmerkung 70). Die Abstimmungen wurden , verkodet'als „konservativ" (z. B. gegen Kurzungen bei den Rustungsausgaben oder bei bestimmten Waffenprogrammen, für Erhöhungen des Rüstungshaushalts) bzw. als „liberal" (für Kürzungen bei den Rüstungsausgaben usw.). Wir haben dann versucht herauszufinden, welche Faktoren am schlüssigsten die Zugehörigkeit der Senatoren zu den verschiedenen Fraktionen erklären. 1. Politisch-ideologische Argumentation a) Die Aufrüstungs-Fraktion Eine große Gruppe von mehr als vierzig (im Verhältnis von etwa 2 : 1 Republikaner und Demokraten) der insgesamt 100 Senatoren unterstützt fast automatisch die Position des Pentagon. Keiner von ihnen stimmte mehr als viermal „liberal" (das heißt für eine Kürzung des Rüstungshaushalts oder eines Waffenprogramms oder gegen eine über die Vorlage der Regierung hinausgehende Erhöhung) bei den 23 rüstungspolitischen Entscheidungen. Berücksichtigt man die Äußerungen der Wortführer dieser Fraktion, dann ergeben sich Differenzierungen zwischen einer ultrakonservativen und einer konservativen Gruppierung. Eine genaue zahlenmäßige Abgrenzung ist nicht möglich, aber die Ultrakonservativen bilden offensichtlich eine deutliche Mehrheit. Politische Grundeinstellung Das Schicksal Karthagos, der Engländer unter Neville Chamberlain und das Pearl-Harbor-Erlebnis der USA sind für diese Senatoren der Bezugsrahmen für eine Politik der Stärke auch im nuklearstrategischen Zeitalter. Sie begreifen Schwäche als Herausforderung für einen äußeren Aggressor und als eine zentrale Kriegsursache. Gelegentlich fordern sie die nukleare Überlegenheit der USA — denn an der Spitze sei nur Platz für einen — oder betonen die Gefahren einer sowjetischen Gleichberechtigung. Die USA müßten deutlich machen, daß ihr Überlebenswille stärker sei als die Träume der Abrüstungsplaner So beispielsweise Senator Cannon: „... die Geschichte hat wiederholt gezeigt, daß die stärksten Nationen am sichersten sind und sich am besten schützen können. Es sind die schwachen Nationen ebenso wie die schwachen Individuen, die durch die ganze Ge-schichte die Untaten von Aggressoren herausfordern und unter ihnen leiden."
Selbst-Einschätzung und Feindbild Wenn diese Senatoren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion vergleichen, dann beschreiben sie die Tugend und den Teufel. Für sie ist unverständlich, wie jemand die USA nicht als eine friedliebende Nation begreifen könne. Senator Gurney: „In der Tat, wir bewahren den Frieden in der ganzen Welt auf eine bewunderns-und bemerkenswerte Art und Weise." Die USA hätten nicht ein Waffensystem für den Zweck der Aggression gegen irgendein anderes Land dieser Erde hergestellt; die ganze Geschichte der USA zeige, daß sie niemals den ersten Schlag führen würden. Die USA hätten sich im Gegenteil immer außerordentlicher Zurückhaltung befleißigt, es habe nie eine Macht gegeben, die so wohlwollend und gutgläubig sei und so wenig Neigung zur Herrschaft über andere habe
Die Außen-und Rüstungspolitik der Sowjetunion erscheint in einem ganz anderen Licht. Verschiedene Senatoren bezweifeln die Zuverlässigkeit der Sowjetunion als Vertragspartner. Die Sowjetunion wolle im Grunde Überlegenheit, damit sie der übrigen Welt ihren Willen aufzwingen könne, Machtgier sei der Hauptgrund für die Rüstungen der Sowjetunion. Wie die Geschichte zeige, sei die sowjetische Politik so gefährlich, unberechenbar und expansionistisch wie eh und je. Die Sowjetunion sei wie ein Einbrecher in einem Hotel, der alle Türen probiere und durch die unverschlossenen eintrete Senator Buckley: „Viele Dinge haben sich verändert, aber nicht die menschliche Natur, und ... es gibt immer einige Nationen, die die Aggressoren sind ... Die historischen Ziele der Sowjetunion waren immer aggressiv."
Ebenso einseitig verfährt die Aufrüstungs-Fraktion bei der Beurteilung der Ursachen für die Rüstungsdynamik im Ost-West-Konflikt. Wenn es nach den USA gegangen wäre, so hätte es gar keinen Rüstungswettlauf gegeben, meint Senator Jackson, einer der Wortführer der Ultrakonservativen. Die USA hätten nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Acheson-Baruch-Plan 23a) ihren guten Willen zur Abrüstung bewiesen, und die Sowjetunion hätte sich lediglich an die UN-Charta zu halten brauchen. Überhaupt hätten die USA jedes nur denkbare Angebot zur Versöhnung gemacht, um eine Stabilisierung der Kräfte in der Welt und den Frieden zu erreichen, aber bei jedem dieser Versuche hätten sie sich der fortgesetzten Opposition der Sowjetunion gegenübergesehen. Trotz der 7 : 1-Überlegenheit der USA hätte es die Sowjetunion 1962 riskiert, Raketen auf Kuba zu installieren; man könne sich ausmalen, was geschähe, wenn die Sowjetunion einmal überlegen sei. Außerdem sei die Sowjetunion bei Verhandlungen immer im Vorteil, da sie durch die Ideologie zur Unnachgiebigkeit getrieben werde, während die USA aufgrund ihrer kommerziellen Tradition immer in gutem Glauben verhandelten
Es entspricht dem allgemeinen SchwarzWeiß-Denken der Aufrüstungs-Fraktion daß sie die gleichen Waffensysteme ganz unterschiedlich bewertet, je nachdem, ob sie sich im Arsenal der USA oder der Sowjetunion befinden. So fordert der Senator Thurmond eine Verbesserung der amerikanischen Raketenstreitmacht, damit sie zielgenau sowjetische Raketen in ihren Silos zerstören kann. Diese Maßnahmen seien keineswegs provokativ, da die USA ja niemals zuerst schlagen würden. Die Entwicklung der sowjetischen Intercontinental Ballistic Missiles (ICBM), die ebenfalls die amerikanischen Minuteman-Raketen bedrohen können, interpretiert er als Beweis für sowjetische Erstschlagsbestrebungen. mehr nukleare die Sowjetunion über Offensivwaffen verfügt als für eine reine Abschreckungsstrategie notwendig wären, Senator für aggressive Buckley als Beweis Absichten. Daß die Sowjetunion die amerikanischen Überkapazitäten ähnlich deuten könnte, ist für die Aufrüstungs-Fraktion unvorstellbar
Beurteilung des strategischen Gleichgewichts und der SALT-Verträge und -Verhandlungen Charakteristisch für die Position der Ultrakonservativen ist die völlig einseitige Auswahl der Indikatoren des strategischen Gleichgewichts. Amerikanische militärische Entwicklungen werden selten erwähnt oder heruntergespielt, während die Rüstung der Gegenseite in einem möglichst bedrohlichen Licht erscheint. Die Relation der strategischen Nuklearwaffen habe sich von der ursprünglichen Überlegenheit zur Unterlegenheit der USA entwickelt. Im Grunde könne kaum noch von einem Rüstungswettlauf die Rede sein, da die Rüstung der USA praktisch seit einigen Jahren stillstehe, während die Sowjetunion massiv aufrüste. Für diese Entwicklung sei die „Anti-Defense Clique“ in den USA, vor allem die Gruppe um Verteidigungsminister McNamara verantwortlich Die Ultrakonservativen fordern höhere Ausgaben für die Rüstung, denn sie glauben, daß die laufenden Etats die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten nicht fest garantieren könnten, sie seien allenfalls das gerade noch vertretbare Minimum
Die SALT-Verträge nach Auffassung haben dieser Senatoren die USA entschieden benachteiligt. Das Interim-Abkommen über eine Begrenzung der Offensiv-Waffen erlaube der Sowjetunion, eine strategische Streitmacht aufzubauen, die viermal größer sei als die der USA, versetze die Vereinigten Staaten für es die Zukunft in eine Position der klaren Unterlegenheit. Präsident Nixon habe noch 1968 die amerikanische Überlegenheit versprochen, jetzt bei SALT hätten die USA nicht einmal mehr Gleichheit erlangt Senator Jackson (zu Senator Percy): „Sie können reden, bis Sie blau im Gesicht sind, aber wir haben nicht einmal Gleichheit unter diesem Abkommen.“ Die (gemäßigten und für die USA relativ günstigen) Prognosen des State Department können die Ultrakonservativen nicht überzeugen, sie gehen von der schlimmsten denkbaren Entwicklung aus. Senator Ervin betont ausdrücklich, daß er seine Informationen von den Militärs hole, auf das State Department sei überhaupt kein Verlaß Wie die Aufrüstungs-Fraktion Rüstungsdaten für politische Zwecke manipuliert, zeigt Jack-sons Kritik an einem Antrag von Senator Humphrey. Jackson will beim Vergleich der strategischen Rüstung Indikatoren wie MIRV (die Mehrfachsprengköpfe) und Zielgenauigkeit nicht gelten lassen, da sie nicht verifiziert, das heißt durch Satelliten-Beobachtung kontrolliert werden könnten. (Bei beiden Indikatoren haben die USA klare Vorteile.) Jackson hält die Zahl der taktischen Atomwaffen, die auf die Sowjetunion geschossen werden könnten, für trivial und sieht hinter dem sowjetischen Interesse an einer Einbeziehung dieser „Forward Based Systems" nur den Teil einer 20jährigen Strategie zur Zerstörung der NATO. Die FBS könnten schon deshalb nicht einbezogen werden, weil es sich bei SALT um bilaterale Gespräche handle. Als aber Humphrey den amerikanischen MIRV-Vorsprung gegenüber der Sowjetunion hervorhob und eine risikofreie Beschränkung dieser Waffen vorschlug, um die SALT-Verhandlungen zu erleichtern, konterte Jackson mit dem Argument, das Bemühen um ernsthafte Begrenzungen der strategischen Rüstung müsse umfassend sein, das heißt, die Wechselbeziehung zwischen allen strategischen Systemen (also vor allem die zahlenmäßige Überlegenheit der sowjetischen ICBM-und SLBM-Trägersysteme, G. K.) müßte voll berücksichtigt werden
Als Reaktion auf die SALT-Verträge fordert die Aufrüstungs-Fraktion im Einklang mit dem Pentagon neue „bargaining chips“ 33a), also Waffensysteme, die es ermöglichen sollen, aus einer Position der Stärke heraus verhandeln zu können. Eine Zustimmung zum Interims-Abkommen über eine Begrenzung der Offensiv-Waffen hält zum Beispiel Senator Buckley nur dann für sinnvoll, wenn die USA unverzüglich ihre Investitionen in Forschung, Entwicklung und Beschaffung verstärkten, um einmal die Gebiete zu sichern, in denen die USA sich einer strategischen Überlegenheit erfreuen, und zum zweiten die bestmöglichen qualitativen Verbesserungen in den Bereichen zu erzielen, in denen sie quantitativ unterlegen seien: „Die (Rüstungs-) Forschung muß noch viel stärker als in der Vergangenheit vorangetrieben werden wegen der Risiken, die mit jedem Rüstungsbegrenzungs-Abkommen verbunden sind."
In einem Brief an ihre Kollegen bezeichnen die Senatoren Ervin, Buckley, Thurmond, Tower und Fannin die Beschleunigung des Trident U-Boot Programms als ein wichtiges psychologisches Signal, das ankündigen solle, die USA ließen nicht in ihren Rüstungs-Anstrengungen nach
Nach Auffassung der Ultrakonservativen liegt die Beweislast für guten Willen zur Rüstungsbegrenzung bei der Sowjetunion. Jackson führt aus, sein Zusatzantrag zum SALT-Interimsabkommen sei eine Aufforderung an die Sowjetunion, ihre ICBMs auf 1 000 zu reduzieren, hier eröffne sich der Sowjetunion eine große Gelegenheit, ihre strategische Streitmacht zu verkleinern. Senator Goldwater äußerte ein Jahr vor Abschluß der Verhandlungen, wenn es die Sowjetunion mit einer Begrenzung der Raketenrüstung ernst meine, dann solle sie den ersten Schritt tun und dann zu den USA kommen, ihnen erzählen, was sie getan hätten, und dann sehen, ob es verdiene, von den USA in Betracht gezogen zu werden
Die gemäßigtere Position in der Aufrüstungs-Fraktion 4
Eine gemäßigtere Position wird vor allem von dem konservativen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Senator John Stennis, vertreten. Sie zeichnet sich durch eine sachlichere Argumentation und eine weit weniger alarmistische Einschätzung des Kräfteverhältnisses aus.
Auch Stennis vertritt die Interessen und verteidigt die Maßnahmen der Pentagon-Spitze. So rechtfertigt er zum Beispiel (ähnlich wie der damalige Verteidigungsminister Laird) die Entscheidung, das neue U-Boot-System Trident zu beschleunigen, mit dem Hinweis, nach den SALT-Verträgen sei die Notwendigkeit dieser Beschleunigung noch deutlicher als vorher. Stennis betont, man befinde sich nicht auf dem rosigen Pfad der Abrüstung, und er warnt vor jeder einseitigen Vorleistung. Aber er ist bereit, SALT als einen wichtigen und nützlichen Schritt der Entspannungspolitik zu werten. Es sei höchste Zeit gewesen, sagt Stennis, daß die Supermächte diese Schritte zur Begrenzung ihrer Nuklearwaffen getan hätten, denn es sei notwendig, auch andere Nationen mit einem bedrohlichen Potential in ein Rüstungskontroll-Netzwerk einzubeziehen.
Stennis zeigt sich von den Rüstungsvergleichen der Ultrakonservativen nicht sonderlich beeindruckt, und er ist zuversichtlich, daß die Vereinigten Staaten für die Laufzeit des Interims-Abkommens und auch darüber hinaus eine sichere Abschreckung garantieren können. Da es heutzutage möglich sei, die Maßnahmen der Gegenseite auf einer wöchentlichen Basis zu verfolgen, sei man vor technologischen Überraschungen so gut wie sicher: „Wir gehen kein unvernünftiges Risiko ein, wenn wir diesen bescheidenen Anfang machen, denn mir ist klar, daß endlich irgend etwas geschehen muß. Ich denke, das wird sich als Keimzelle, als Beginn einer Entwicklung erweisen, die hoffentlich in einer weltweiten Begrenzung irgendeiner Art endet." b) Die Fraktion der fditte Die Mittelgruppe ist sehr ungleichartig zusammengesetzt. Sie besteht aus etwa 30 Senatoren, die eine Hälfte Republikaner von der Mitte und dem kleinen linken Flügel der Partei, die andere Hälfte gemäßigt-konservative Südstaaten-Demokraten und gemäßigt-liberale Demokraten. Am einen Ende des Spektrums befinden sich die Fiskal-Konservativen, deren politische Einschätzung sich nicht von der Aufrüstungs-Fraktion unterscheidet, die aber für einige Kürzungen im Rüstungsetat und bei Waffenprogrammen eintreten, um den Staatshaushalt zu entlasten. Am anderen Ende stehen Senatoren, deren Argumentation sich stark an die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion annähert.
Ein Teil der Fraktion der Mitte setzt sich in der Beurteilung des militärischen Kräfteverhältnisses deutlich von den Ultrakonservativen und in seinem Engagement gegen eine unnötige Expansion der amerikanischen Rüstung nach den SALT-Verträgen auch von den Konservativen ab. Bei den Demokraten sind der gemäßigt-konservative Senator Bentsen und der gemäßigt-liberale Senator McIntyre typisch für die mittlere Position. Beide haben sich z. B. gegen die beschleunigte Produktion des Trident U-Boot-Systems eingesetzt (Bentsen 1972, McIntyre 1973). Bentsen kritisierte dabei das Konzept der „bargaining chips“, das vom Verteidigungsministerium zur Begründung angeführt wurde. McIntyre, Vorsitzender des Senatsunterausschusses für Rüstungsforschung und -entwicklung, ein entschiedener Gegner der jüngsten Counterforce-Strategie der USA hat sich verschiedentlich kritisch zu den Klagen der Ultrakonservativen über die vermeintliche Unterlegenheit der USA geäußert: „Ich bin dieser unkritischen Litanei überdrüssig, die unsere Technologie unterbewertet und die der Sowjetunion überbewertet. ... Die sowjetischen U-Boote sind nicht so leise wie die amerikanischen, ihre Raketen nicht so zielgenau, ihre Sprengköpfe nicht so effizient, ihre Computer nicht so weit fortgeschritten. Ihre U-Boot-Bekämpfung ist nicht so wirksam, ihre U-Boot gestützten Raketen sind nicht mit Mehrfachsprengköpfen ausgestattet, ihre Bomber sind keine wirklich interkontinentalen Systeme."
Für die republikanische (linke) Mitte sind Pearson, Percy und Saxbe charakteristisch. Percy und Saxbe gaben zu Protokoll, daß sie nur mit Bedenken für den Zusatzantrag von Senator Jackson stimmen könnten, sie lehnten die Interpretationen der Jackson-Gruppe ausdrücklich ab. Behauptungen von einer Unterlegenheit der USA entbehrten jeder Grundlage; man dürfe Gleichheit nicht so definieren, daß letzten Endes immer eine amerikanische Überlegenheit dabei herauskomme
Zumindest beim linken Flügel der Fraktion der Mitte findet sich ein differenzierteres Verständnis vom Ost-West Konflikt. Für das Wettrüsten macht diese Gruppe nicht die Sowjetunion allein, sondern die Konkurrenzverhältnisse und das Sicherheitsdilemma im internationalen System verantwortlich. Gelegentlich zeigen diese Senatoren, daß sie sich auch in die Situation des Gegners hineinversetzen können. So führt z. B. Pearson das Scheitern des Baruch-Plans nicht auf kommunistische Machtgelüste, sondern auf das damals enorme Ungleichgewicht zugunsten der USA zurück. Senator Percy gesteht zu, daß aus sowjetischer Sicht etwa die amerikanische MIRV-Entwicklung sehr wohl als eine Bedrohnung empfunden werden kann. Percy hatte noch im März 1971 einen Stopp des MIRV-Programms gefordert, um für den bevorstehenden Parteikongreß der KPdSU ein Signal zu setzen Diese Gruppe will durch eine zurückhaltendere Rüstungspolitik nach SALT erst einmal die sowjetischen Absichten testen und ist sicher, daß die vielen Vorteile, über die auch die USA verfügten, eine solche Politik rechtfertigten. Aber diese Senatoren möchten, daß die ersten und notwendigen Schritte zur Entspannung im Rüstungsbereich aus einer insgesamt starken Verteidigungsstellung erfolgen, und sie sind weniger bereit, den Rüstungshaushalt oder Waffenprogramme zu kürzen als die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion. c) Die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion Diese Gruppe von etwa 30 Senatoren zeigt in jeder Hinsicht das genaue Gegenbild zur Aufrüstungs-Fraktion. Ihr Verhältnis zum Pentagon ist distanziert bis äußerst kritisch, sie beruft sich bei ihren Informationen eher auf das State Department oder liberale Naturwissenschaftler der Federation of American Scien-tists, auf Gutachten der Members of Congress for Peace Through Law (fast alle Senatoren dieser Gruppe sind Mitglieder) oder auf das Center für Defense Information. Senator Church: „Das Center for Defense Information ist genau die Art von Institut, das wir seit Jahren brauchen und das uns seit Jahren fehlt. Ohne solche Organisationen haben wir zu oft ohne kritische Analyse akzeptiert, was uns das Pentagon oder die Administration jeweils vorsetzte.“
Die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion ist nahezu identisch mit den Senatoren, die 1973 eine Resolution von Senator Kennedy für einen umfassenden Test-Stopp-Vertrag ohne Inspektionsmaßnahmen unterstützten Zur Rüstungsbegrenzungs-Fraktion zählen drei wichtige demokratische Präsidentschaftskandidaten aus dem Wahlkampf von 1972. Muskie, Humphrey und McGovern hatten die Rüstungspolitik der Nixon-Regierung mehrfach kritisiert und unter Mitarbeit liberaler Rüstungs-Berater Alternativ-Programme entwikkelt. Aber auch in dieser Gruppe gibt es Differenzen— sie traten am deutlichsten im Wahlkampf für die Vorwahlen in Kalifornien zutage, in dem McGoverns Rüstungskürzungs-Programm von Humphrey als zu weitgehend kritisiert wurde —, doch werden folgende Auffassungen von den Mitgliedern der Rüstungsbegrenzungs-Fraktion geteilt:
Politische Grundauffassung An die Stelle der sozialdarwinistischen Attitüde tritt bei diesen Senatoren die Sorge um die nationalen und internationalen sozialen Defizite und die Gefahren und Kosten des Wettrüstens. Senator Tunney: „Unser großer gemeinsamer Feind ist der Rüstungswettlauf, und unser oberstes Interesse muß es sein, diesen Wettlauf zu besiegen." Charakteristisch für die Liberalen ist ihr differenziertes Verständnis von Sicherheit. Für sie besteht Sicherheit nicht in einem bloßen Anhäufen von Waffensystemen sondern vor allem in sozialer Sicherheit, die die allgemeine Wohlfahrt der Gesellschaft umfaßt. Immer wieder wird die verfehlte Prioritäten-Setzung bei den Staatsausgaben angesprochen. So wird die Nixon-Administration kritisiert, weil sie 12 Mrd. Dollar für Ernährungsprogramme, Krankenhäuser und Kanalisation auf Eis gelegt, den Rüstungsetat jedoch nicht angetastet habe. Nixon lehne eine Erhöhung der Sozialleistungen für Bergarbeiter mit „schwarzer Lunge" als inflationistisch ab, vergebe aber am gleichen Tag einen Auftrag über 2, 6 Mrd. Dollar für ein Raumschiff. Die USA würden Milliarden für militärische Trainingslager ausgeben, in denen das Töten gelehrt werde, jedoch nur eine Million für Ausbildungsprogramme zum Schutz der Umwelt. Bei einer Kürzung des Rüstungshaushaltes um 8 Mrd.
Dollar könne man 2 600 Krankenhäuser mit je 125 Betten, 500 000 billige Einfamilienhäuser, 120 000 Klassenräume oder ausreichende Maßnahmen zur Lösung des Hungerproblems in den USA finanzieren Senator Hart: „In der Tat, unsere nationale Sicherheit könnte sogar gestärkt werden, wenn wir die 3, 7 Milliarden Dollar, die wir durch diesen Änderungsantrag (eine Kürzung des Rüstungsbudgets um 5 °/o, G. K.) sparen, ausgeben, um einigen internen Bedrohungen zu begegnen — und ich spreche hier nicht von kommunistischen Zellen, ich spreche von verfallenden Städten ... oder Gesundheitsfürsorge, oder Nahrung für hungrige Kinder."
Selbsteinschätzung und Feindbild Die Einschätzung der amerikanischen Politik ist weit entfernt von der Selbstgerechtigkeit der Aufrüstungs-Fraktion. Desillusioniert von der Politik der Interventionen weisen diese Senatoren die Glaubenssätze des Kalten Krieges zurück. Die umfassendste Selbstkritik der amerikanischen Außenpolitik hat Senator J. William Fulbright geliefert: „Das Verderbliche der antikommunistischen Ideologie der Truman-Doktrin besteht nicht in ihrer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit, sondern in ihrer Verzerrung und Vereinfachung der Wirklichkeit, in ihrer Verallgemeinerung und in ihrem allgemeinen Gültigkeitsanspruch ... Jedesmal wenn die Fakten verschieden interpretiert werden konnten, entschieden wir uns dafür, die Interpretation zu wählen, die uns am vertrautesten war: der kommunistische Drang nach Weltbeherrschung ... Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Psychologie des Kalten Krieges ist die völlig unlogische Art, mit der die Beweislast nicht denen zukommt, die die Anklage erheben, sondern denen, die diese Verdächtigungen in Frage stellen. In diesem Bezugssystem sind die Kommunisten schuldig, bis sie das Gegenteil bewiesen haben — oder einfach per definitionem."
Ein Teil dieser Kritik des Antikommunismus der Truman-Doktrin taucht in den Senatsdebatten wieder auf. So spricht Senator Hartke von einem selbstgewählten „Tigerkäfig des militanten, imperialen Antikommunismus", der die amerikanische Außenpolitik jahrelang bestimmt habe. Dabei sei die Militanz der Sowjets und der Chinesen vielfach eine Reaktion gewesen, erwachsen aus ihrem Sicherheitsbedürfnis gegenüber Maßnahmen der USA, die sie als amerikanischen Drang zur Weltherrschaft interpretierten
Statt der Fixierung auf den Gegner als Feind zeigt die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion Empathie, d. h. Einfühlungsvermögen in die Bedrohtheitsvorstellungen der anderen Seite. Als z; B. Senator Jackson eine mögliche sowjetische Kapazität zur zielgenauen Zerstörung amerikanischer Raketensilos als Verletzung der SALT-Vereinbarungen charakterisierte, fragte ihn Senator Cranston, ob er denn bereit wäre, denselben Maßstab an vergleichbare laufende amerikanische Programme anzulegen. Senator Humphrey gestand zu, daß ja auch die amerikanischen ICBMs und SLBMs potentielle Offensiv-Systeme seien; es falle ihm zwar nicht ganz leicht, das zuzugeben, aber aus sowjetischer Sicht müßten sie wohl so aussehen
Die Liberalen zeigen auch Verständnis für die sowjetischen Bedenken gegenüber den amerikanischen Forward-Based-Systems in Europa.
So macht Senator Symington der Aufrüstungs-Fraktion den Vorwurf, daß sie selbstverständlich darauf bestehen würde, sowjetische Flugzeugträger, die amerikanische Städte zerstören könnten, mit in das strategische Gleichgewicht und in Rüstungsbegrenzungs-Verhandlungen einzubeziehen. Vergeblich fordert er die Vertreter der Aufrüstungs-Fraktion auf, sich doch einmal zu überlegen, wie sie reagieren würden, wenn die Sowjetunion ähnliche militärische Positionen in Ländern an oder nahe der amerikanischen Grenzen unterhielte wie die USA gegenüber der Sowjetunion. Als Beleg für die Selbstgerechtigkeit der Ultrakonservativen führte er die KubaKrise an, die der Rüstungspartei ja als Beweis für die Perfidie der Sowjetunion gilt: „Wir haben in der Tat sehr schnell reagiert, als sie versuchten, Nuklearraketen 90 Meilen von diesem Land entfernt zu installieren, aber sie wissen, daß wir Nuklearwaffen in Ländern haben, die nicht einen Zentimeter weit von ihren Grenzen entfernt sind." Ursachen des Rüstungswettlauis Die Liberalen sehen den Rüstungswettlauf als einen Aktions-Reaktions-Prozeß der wechselseitigen Eskalation, der sich von der Konflikt-beziehung losgelöst und sich verselbständigt hat. Auf beiden Seiten hätten sich Interessen mit diesem Rüstungswettlauf verknüpft, die Aufrüstungs-Fraktionen der USA und der Sowjetunion arbeiteten sich wechselseitig in die Hände. Auch die sowjetische Führung sei gespalten in Aufrüstungs-und Rüstungsbegrenzungs-Fraktionen. Es komme darauf an, die amerikanische Politik so einzustellen, daß die Position der Rüstungsbegrenzungsgruppen in der Sowjetunion gestärkt würde
Die Rüstungsbegrenzungs-Gruppe kritisiert ferner die undifferenzierte Art der Rüstungs- vergleiche. Sie betont generell die Overkill-Kapazitäten, die die Supermächte angehäuft haben. Die Aufrechnung etwa von 120 gegenüber 100 Millionen Toten als Kriterium für Ungleichgewicht gilt ihr als unsinnig. Wenn sich zwei Personen gegenseitig die Pistole an die Schläfe hielten, sei es völlig irrelevant, wenn die eine Pistole ein Kaliber von 0, 45, die andere von 0, 38 habe Die Liberalen betonen darüber hinaus die qualitativen Aspekte des strategischen Gleichgewichts und stellen immer wieder heraus, daß ein Bestehen auf numerischer Gleichheit — wie sie z. B. von Senator Jackson für die Zahl der Trägersysteme, jedoch nicht der Sprengköpfe gefordert wurde — jede Art von Rüstungskontrolle zum Scheitern verurteilt. Senator Mansfield: „Gleichheit, so merkwürdig das klingen mag, läßt sich auf unterschiedliche Art und Weise definieren." Oder Senator Muskie: „Wie Senator Jackson erklärt hat, bezieht sich . Umfang der interkontinentalen Streitkräfte (ein Absatz aus Jacksons Zusatz-Antrag zum SALT-Interims-Abkommen, G. K.) auf die Zahl der ICBMs, SLBMs und interkontinentalen Bomber, unter Berücksichtigung der gesamten Trag-und Abwurf-Kapazität der Raketen ... Aber es gibt eine Vielzahl anderer sehr wichtiger Faktoren, die man bei der Berechnung des strategischen Gleichgewichts berücksichtigen muß, wie Anzahl der Sprengköpfe, Zielgenauigkeit, Überlebensfähigkeit gegenüber einem Angriff; Fähigkeit, die Verteidigung von Zielen zu überwinden; technische Zuverlässigkeit, ... geographische Faktoren und die Qualität von Waffensystemen insgesamt."
Die Liberalen nennen auch die Bereiche, in denen die USA klare Vorteile haben — vor allem die MIRV-Entwicklung — und berufen sich dabei auf Angaben Kissingers und des State Department. Sie rechnen damit, daß sich der Vorsprung der USA bei der Anzahl der unabhängig voneinander steuerbaren Sprengköpfe innerhalb der Laufzeit des Interims-Abkommens noch vergrößern wird — eine Einschätzung, die von der tatsächlichen Entwicklung bestätigt wird
SALT-Aufrüstung durch Rüstungskontrolle?
Die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion kritisiert die SALT-Abkommen, nicht weil sie angeblich die USA in eine Position der Unterlegenheit versetzt hätten, sondern weil die Verträge den Rüstungswettlauf nicht ausreichend einschränken, ja im Gegenteil die Entwicklung der Waffen in denjenigen Bereichen beschleunigen, die nicht von den Verträgen abgedeckt werden. Senator Muskie: „Es ist Ironie und bitter enttäuschend, daß der Senat sich jetzt mit den SALT-Übereinkommen beschäftigen soll, unmittelbar nach einem Gesetz zur militärischen Beschaffung, das die dynamische Entwicklung des Aufbaus unserer strategischen Offensiv-Waffen fortsetzt. Zu oft haben Rüstungskontrollabkommen in der Vergangenheit lediglich den Rüstungswettlauf in den Gebieten beschleunigt, die nicht ausdrücklich in diese Abkommen einbezogen waren. Es sieht so aus, als ob wir heute demselben Prozeßmuster folgten."
Die Liberalen befürchten, die neuen Rüstungsprogramme der Regierung und das Jackson-Amendment signalisierten der So-* wjetunion, daß es die USA im Grunde nicht ernst meinten mit einer Begrenzung der strategischen Rüstung; die Konzessionen, die die Regierung an die Militärs und die Aufrüstungsfraktion mache, unterlaufe die Verträge. Kennedy wirft der Administration vor, sie betrachte die Abkommen wie ein Geschäftsmann die Steuergesetzgebung, nämlich als ein Kompendium von Schlupflöchern
Risikofreie Selbstbeschränkung als ein Schritt zur Deeskalation statt neuer . bargaining Chips“
Die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion kritisiert ferner die Auffassung, daß mit neuen Waffensystemen oder durch die Beschleunigung laufender Programme nach den SALT-Verträgen (also durch . bargaining Chips') die andere Seite zu Konzessionen veranlaßt werden könne. Rüstungsbegrenzungsabkommen erziele man eher durch Selbstbeschränkung als durch eine expansive Rüstungspolitik. Anstatt der anderen Seite zu signalisieren, daß man den Rüstungswettlauf nach Kräften fortzusetzen gedenke, sollte man durch eine zurückhaltendere Rüstungspolitik glaubhaft machen, daß man den Rüstungswettlauf beenden wolle. Senator Humphrey berief sich bei der Begründung seines Antrags, die Ausstattung der Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen zumindest vorübergehend auszusetzen, ausdrücklich auf Maßnahmen Eisenhowers und Kennedys, mit denen sie versuchten, die Spannungen allmählich abzubauen („gradual tension reduction"). Senator Kennedy forderte die Regierung auf, unmittelbar im Anschluß an SALT ein Moratorium für Nuklear-Tests anzukündigen 2. Wirtschaftliche Interessen an Rüstungsausgaben und Waifenprogrammen Obwohl die politische und technische (Effizienz von Waffensystemen) Diskussion den größten Teil der Debatten über die Rüstung ausmachen, findet sich auch eine Reihe von Hinweisen auf die regionale und gesamtwirtschaftliche Bedeutung einiger Beschaffungsprogramme und der Rüstungsausgaben für die Industrieproduktion und die Beschäftigtenlage. Die innenpolitisch-wirtschaftliche Bedeutung der Rüstung wird reflektiert und relativ offen diskutiert. Die Nixon-Administration betonte im Wahlkampf bei ihrer Kritik an McGoverns Kürzungs-Programm auch die wirtschaftlichen Folgen. Sie gab eine Wahlkampf-Broschüre heraus, in der sie die Beschäftigungsverluste für jeden Einzelstaat aufführte. (Die Auswirkungen kompensatorischer Maßnahmen, die McGovern natürlich vorgesehen hatte, ließ sie dabei freilich unberücksichtigt.) Dieses Dokument tauchte gelegentlich in den Kongreßdebatten des Jahres 1972 auf. Am eindringlichsten malte Senator Fannin aus, mit welchen Problemen er rechne McGoverns Rüstungsbudget habe nicht nur katastrophale Folgen für die freie Welt, sondern werde die USA auch in Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftschaos stürzen. McGoverns Kürzungen würden beispielsweise in seinem Heimatstaat Arizona 5 % der Beschäftigten arbeitslos machen, wenn man den Multiplikator-Effekt berücksichtige sogar etwa 10 °/o. Noch härter würden sich diese Kürzungen jedoch in seinem Nachbarstaat Kalifornien auswirken, und zwar bei den einzelnen Waffensystemen um die Zahl folgender Arbeitsplätze: F-14 und Phoenix Rakete: 11 200, B-l Bomber: 19 200, Minuteman III (MIRV): 9 200, Poseidon/Trident: 8 400.
Senator McIntyre wies bei seiner Kritik eines Kürzungsantrages von Proxmire und Mathias unter anderem darauf hin, eine Kürzung in diesem Umfang werde zu einer Kettenreaktion in der Wirtschaft führen und die USA befänden sich ohnehin in einer kritischen wirtschaftlichen Lage. Auch im Bericht des Haushaltsausschusses des Repräsentantenhauses wurde 1971 als Grund für das gestiegene Rüstungsbudget unter anderem der Wunsch genannt, größere Arbeitslosigkeit zu vermeiden
Militärisch-industrieller Komplex Der Bau eines weiteren nukleargetriebenen Flugzeugträgers war auch in der Exekutive, ja sogar innerhalb des Verteidigungsministeriums und der Marine umstritten, vor allem* wegen der enorm hohen Kosten und der fragwürdigen militärischen Konzeption Grundsätzliche Kritik an den politischen Implikationen (Interventionismus, „Gunboat" -Diplomatie) übten im Senat Fulbright und Stevenson In der Diskussion bestimmend war aber mehr der militärische Aspekt.
Senator Saxbe begründete seinen Antrag gegen den Flugzeugträger vor allem mit dem Kosten-Argument. Durch den Träger würden Gelder gebunden, die man dringend für andere militärische Programme benötige: „Es geht hier um Kosten-Effektivität ... Wir bringen uns offensichtlich durch diesen hohen Preis um den Markt; 10 Milliarden Dollar gehen den Bach hinunter mit einem Träger, den man mit einem Motorboot versenken kann." Saxbe führte die Entscheidung für den Träger auf die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes zurück. Es gehe im Grunde nicht um die Frage, welchen Beitrag dieses Projekt für die militärische Stärke der USA leiste, sondern um Arbeitsplätze, um die Interessen von Wirtschaftsgruppen und der Marine-Bürokratie. Es sei bezeichnend, daß die einzigen, die ihn baten, davon Abstand zu nehmen, gleich nachdem er zum ersten Mal erklärt hatte, daß er einen solchen Änderungsantrag im Senat vorbringen wolle, Wirtschaftsgruppen — einige davon in Ohio —-gewesen seien, die ihm erklärt hatten, sie seien auf das Projekt angewiesen und ihre ganze Planung für die nächsten Jahre hinge von diesem Flugzeugträger ab.
Er sei sicher, fuhr Saxbe fort, daß sich bei allen Rüstungsausgaben die kommerziellen Interessen bemerkbar machten, und es gäbe viele, die die Gelder, die in die Flugzeugfabriken, in die Raumfahrtprogramme und in andere militärische Projekte fließen, als die beste Lösung zur Ankurbelung der Wirtschaft betrachteten, da so Arbeitsplätze geschaffen würden. Er wolle diesen Beitrag zur amerikanischen Wirtschaft nicht leugnen, aber es gebe doch sinnvollere Wege, die Wirtschaft zu fördern. Jedenfalls könnten sich die USA in der augenblicklichen Situation nicht ein Schiff leisten, daß mit allen Nebenkosten für eine Laufzeit von 10 Jahren 10 Milliarden Dollar binden werde
Für den neuen Flugzeugträger ergriffen neben den Vertretern der Ausschüsse diesmal auch die Senatoren aus Virginia (Newport News, Va. baut die Flugzeugträger für die US-Navy) das Wort. Senator Spong, der bei den Debatten sonst nicht in Erscheinung trat, versicherte den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses seiner Unterstützung bei dem Bemühen, die Überlegenheit der USA auf den See-wegen zu erhalten. Nur so seien die ökonomischen (Lebens-) Interessen der USA (Import von Rohstoffen, Export von AgrarÜberschüssen und industriellen Fertigprodukten) langfristig abzusichern. Flugzeugträger seien für diesen Zweck besonders gut geeignet
Bei den Vertretern der Aufrüstungs-Fraktion und der Mitte ist also das binnenökonomische Interesse an Waffenprogrammen und Rüstungsausgaben unter Umständen ein zusätzlicher Faktor für rüstungsfördernde Stimmabgaben oder Zurückhaltung gegenüber Kürzungsvorschlägen. Aber auch bei den Liberalen findet das Bemühen um eine Begrenzung der Rüstungen häufig dort eine Grenze, wo Waffenprogramme betroffen sind, die für die Industrieproduktion und die Beschäftigungslage in den Einzelstaaten, die sie vertreten, wichtig sind. Die Senatoren Symington und Eagleton aus Missouri beispielsweise stimmen gegen Kürzungen, wenn es sich um Programme der Firma McDonnell-Douglas in St. Louis handelt. Cranston aus Kalifornien engagierte sich im Kampf um die staatliche Garantie einer Bankenanleihe an die Firma Lockheed, die durch Mißwirtschaft bei einer Reihe großer Waffenprojekte in eine schwere Finanzkrise geraten war. Cranston und sein Kollege Tunney unterstützen im Gegensatz zu ihren Kollegen in der Rüstungsbegrenzungs-Fraktion auch den B-l-Bomber, der im wesentlichen in Kalifornien gebaut wird 3. Die Gewichtung der Erklärungsversuche für das Abstimmungsverhalten im Rüstungsbereich Die eine oder andere Stimmabgabe eines Senators aus offensichtlichen binnenökonomischen Gründen erlaubt freilich noch keine angemessene Einschätzung dieses Faktors insgesamt. Erst mit Hilfe statistischer Tests wird es möglich, die Bedeutung unterschiedlicher Erklärungsversuche zu gewichten.
Wenn die hohe oder niedrige wirtschaftliche Abhängigkeit eines Einzelstaates von Rüstungsaufträgen die entscheidende Variable für das Abstimmungsverhalten seiner Vertreter im Senat wäre, dann dürften sich nach Senatswahlen keine großen Verschiebungen ergeben. Tatsächlich ändert sich jedoch häufig das Abstimmungsverhalten im Rüstungsbereich bei einem Wechsel des Senators — wie die folgende Übersicht verdeutlicht —, obwohl die Rüstungsabhängigkeit der Einzelstaaten auch über einen längeren Zeitraum relativ konstant bleibt.
Veränderungen vom 91sten zum 92sten Kongreß
Kalifornien Murphy (Aufrüstung) abgelöst durch Tunney (Rüstungsbegrenzung) Maryland Tydings (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Beall (Aufrüstung)
New York Goodell (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Buckley (Aufrüstung)
Ohio Young (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Taft (Aufrüstung)
Tennessee Gore (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Brock (Aufrüstung) Texas Yarborough (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Bentsen (Mitte)
Veränderungen vom 92sten zum 93sten Kongreß
Colorado Allott (Aufrüstung) abgelöst durch Haskell (Rüstungsbegrenzung) Iowa Miller (Aufrüstung) abgelöst durch Clark (Rüstungsbegrenzung) Maine Smith (Aufrüstung) abgelöst durch Hatahway (Rüstungsbegrenzung! Süddakota Mundt (Aufrüstung) abgelöst durch Abourezk (Rüstungsbegrenzung; Oklahoma Harris (Rüstungsbegrenzung) abgelöst durch Bartlett (Aufrüstung)
Diese Übersicht deutet schon an, daß die unterschiedliche Rüstungsabhängigkeit der Einzelstaaten offensichtlich nicht der ausschlaggebende Faktor für die Mitgliedschaft der Senatoren in der Aufrüstungs-bzw.der Rüstungsbegrenzungs-Fraktion ist.
Untersucht man den Einfluß verschiedener Variablen (Rüstungsabhängigkeit der Einzelstaaten, regionale Herkunft, Parteizugehörigkeit, allgemeine ideologisch-politische Einstellung) auf die Mitgliedschaft in den drei rüstungspolitischen Fraktionen im 92sten Senat (1971— 72), dann ergeben sich folgende Verteilungen: )Die nahezu symmetrische Verteilung der Vertreter von Einzelstaaten mit überdurchschnittlicher bzw. unterdurchschnittlicher Rüstungsabhängigkeit auf die Aufrüstungs-und die Rüstungsbegrenzungsfraktion zeigt, daß der ökonomische Faktor insgesamt kaum ins Gewicht fällt Allenfalls bei der Fraktion der Mitte, die sich bei Rüstungskürzungen zurückhält, aber politisch flexibler ist als die Aufrüstungs-Fraktion, läßt sich ein gewisser Einfluß des ökonomischen Faktors vermuten. Die Zahlen zeigen deutlich, daß die Merkmale „regionale Herkunft" (der Nord-Süd Gegensatz in den USA) und „Parteizugehörigkeit" einen großen Teil der Unterschiede in der Rüstungspolitik erklären. Die Nordstaaten-Demokraten konzentrieren sich in der Rüstungsbegrenzungs-Fraktion, die Republikaner rechnen zum überwiegenden Teil zur Aufrüstungs-Fraktion. c) Allgemeine politisch-ideologische Einstellung und Abstimmungsverhalten im Bereich Rüstungspolitik
Um den allgemeinen politisch-ideologischen Hintergrund der Senatoren herauszufinden, haben wir mit Hilfe von Abstimmungsdaten aus den Bereichen Außenpolitik, innenpolitische Reformen und Bürgerrechtsgesetzgebung einfache Rangskalen gebildet. Ein Vergleich dieser Rangskalen mit der Rangskala im Rüstungsbereich zeigt, daß die allgemeine politische Orientierung eines Senators in außen-und gesellschaftspolitischen Fragen in aller Regel ein zuverlässiger Indikator für seine rüstungspolitischen Entscheidungen ist 4. Die Zusammensetzung wichtiger Ausschüsse Eine wichtige Rolle für die rüstungspolitischen Entscheidungen des Senats spielen der Verteidigungsausschuß, der Haushaltsausschuß und in Teilbereichen (z. B. Verträge über Rüstungskontrolle) auch der außenpolitische Ausschuß. In diesen Ausschüssen werden die Informationen aus der Bürokratie und von gesellschaftlichen Organisationen verarbeitet und die Entscheidungen des Plenums vorbereitet, zum Teil auch vorweggenommen. Für eine Reihe von Senatoren, vor allem aus der Fraktion der Mitte, sind die Empfehlungen und Vorlagen der Ausschüsse eine wichtige Entscheidungshilfe.
Es zeigt sich, daß in den für die Rüstungspolitik entscheidenden Ausschüssen konservative Senatoren und Senatoren aus überdurchschnittlich rüstungsabhängigen Einzelstaaten überrepräsentiert, liberale Mitglieder der Rüstungsbegrenzungs-Fraktion deutlich jedoch unterrepräsentiert sind. Im außenpolitischen Ausschuß dagegen sind die Liberalen und Senatoren aus unterdurchschnittlich rüstungsabhängigen Einzelstaaten stärker vertreten als ihrem Anteil am Senat insgesamt entspricht. Die Polarisierung zwischen dem konservativ-rüstungsorientierten und dem liberal-diplomatieorientierten Flügel ist also im Entscheidungsprozeß des Senats institutionalisiert.
III. Die Bedeutung der Ergebnisse für eine Sicherheitspolitik, die auf ernst zu nehmende Rüstungsbegrenzungen abzielt
Abbildung 3
Haushaltsausschuß, Unterausschuß für Verteidigung Verteidigungsausschuß Außenpolitischer Ausschuß
Haushaltsausschuß, Unterausschuß für Verteidigung Verteidigungsausschuß Außenpolitischer Ausschuß
Obwohl die Abstimmungsdaten unter Umständen den Einfluß binnenökonomischer Interessen an Rüstungsausgaben und Waffen-programmen etwas unterbewerten — für eine vollkommene Übersicht müßte man Abstimmungen über alle Waffensysteme haben —, so lagen doch für den untersuchten Zeitraum genügend Abstimmungen über wichtige, rüstungspolitische Entscheidungen und Waffen-beschaffungen vor, die zeigen, daß liberale Senatoren auch aus stark rüstungsabhängigen Gebieten im allgemeinen energische Befürworter von unilateralen wie multilateralen Begrenzungen der Rüstung sein können. Die Ergebnisse legen nahe, daß man die wirtschaftliche Bedeutung der Rüstungsproduktion in den USA nicht überschätzen sollte. Die Abhängigkeit einzelner Wirtschaftszweige und Regionen von Rüstungsaufträgen hat einen erkennbaren, aber begrenzten Einfluß. Politisch-ideologische Faktoren spielen eine wesentlich größere Rolle im rüstungspolitischen Entscheidungsprozeß. Es zeigt sich also, daß die Rolle des militärisch-industriellen Komplexes vielfach überbewertet worden ist. Deutlich ist ferner der Zusammenhang zwischen dem politischen Engagement von Entscheidungsträgern für innenpolitische Reformen und eine Begrenzung der Rüstungen. Es fällt auf, daß gerade diejenige Gruppe auf den außenpolitischen Gegner als Feind fixiert ist und eine expansive Rüstungs-B politik fordert, die in den Bereichen Sozialpolitik und Bürgerrechte eine konservative Position bezieht.
Ein bedeutendes Hindernis auf dem Weg zu wirksamen Begrenzungen der Rüstungen sind irrationale Feindbilder und die konservative Interpretation des strategischen Gleichgewichts durch die Aufrüstungs-Fraktion. Im Kontext der anhaltenden Konkurrenz zwischen den Supermächten und der ständigen technologischen Neuentwicklung von Waffensystemen ist es für die Befürworter von Entspannung und Rüstungsbegrenzungen auf beiden Seiten wesentlich schwieriger, eine internationale Zusammenarbeit zu entwickeln als für die Rüstungsfraktionen, die sich wechselseitig legitimieren. Sicher verwenden die „hardliners" auf sowjetischer Seite die Argumente und Maßnahmen der „Falken" und des militärischen Establishments in den Vereinigten Staaten, um ihre Position in der sowjetischen Diskussion über die Rüstungspolitik zu rechtfertigen — möglicherweise mit vergleichbaren Argumenten.
Durch die Wahlen 1974 wurde die Position der Liberalen im Senat zahlenmäßig gestärkt, im Verteidigungsausschuß ist die Rüstungsbegrenzungs-Fraktion jetzt mit vier Senatoren vertreten, den Demokraten Symington (Missouri), Culver (Iowa), Hart (Colorado) — Hart war 1972 McGoverns Wahlkampf-Manager — und Leahy (Vermont). Der Nahost-Krieg 1973, die sowjetische Raketenrüstung und der (perzipierte) Prestige-und Einflußverlust der USA nach der endgültigen Niederlage in Indochina 1975 haben jedoch die politische Position des Pentagon und der Aufrüstungsfraktion gefestigt.
Die USA haben seit SALT I eine Fülle von Weiterentwicklungen und Neuerungen im Bereich der strategischen Rüstung unternommen Daß die Vereinbarungen mit der Sowjetunion in Wladiwostok nichts mit Rüstungsbegrenzung zu tun haben, sondern lediglich die weitere Aufrüstung kodifizieren, in, Teilbereichen sogar beschleunigen, ist von weiten Teilen der Publizistik, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit erkannt worden Bei den gegenwärtigen absurden Größenordnungen der nuklearen Vernichtungsmittel gäbe es allerdings genügend Spielraum für Maßnahmen der risikofreien Selbstbeschränkung, wie sie zuletzt der amerikanische Wissenschaftler und frühere Berater Präsident Kennedy's, George Rathjens, gefordert hat Um solche Beschränkungen im Nuklearbereich durchzusetzen, bedarf es der politischen Diskussion und Auseinandersetzung. Nur wenn es gelingt, das einseitige Konflikt-und Sicherheitsverständnis der Aufrüstungsfraktion in den USA (und in anderen NATO-Ländern) abzubauen, wird es möglich sein, auch den Diskussionsprozeß in der Sowjetunion (und in anderen Warschauer-Pakt-Staaten) günstig zu beeinflussen. Erst in einem Klima der nuklearen Selbstbeschränkung und der politischen Empathie für den Gegner werden die internen Spielräume für Verhandlungsund Konzessionsbereitschaft so groß sein, daß es zu wirksameren internationalen Begrenzungen der strategischen Rüstung kommen kann.
Gert Krell, geb. 1945 in Darmstadt; Studium der Anglistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Köln und Marburg; seit 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK (Hessische Stiftung Friedens-und Konfliktforschung) in der Arbeitsgruppe USA/NATO. Promotion über „SALT, die amerikanische Rüstungspolitik und die Prioritäten-Debatte“ in Vorbereitung. Veröffentlichungen: Die Kritik der amerikanischen Rüstung und die Debatte um die „National Priorities", in: Politische Vierteljahresschrift XIV, 4 (Dezember 1973); Counterforce: Auf dem Weg zum „humanen" Nuklearkrieg? Ein Beitrag zur jüngsten amerikanischen Diskussion über die Nuklearstrategie, in: Sicherheitspolitik heute II, 2 (Sommer 1975); mit C. Bielfeldt und S. Tiedtke: Aufrüstung durch Rüstungsvergleiche. Europäische Sicherheit: ein Rechenkunststück?, in: Bielfeldt, Krell u. a., Frieden in Europa? Zur Koexistenz von Rüstung und Entspannung, Reinbek 1973.