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Die sowjetischen Interessen im Nahen Osten seit 1917 | APuZ 51-52/1975 | bpb.de

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APuZ 51-52/1975 Die sowjetischen Interessen im Nahen Osten seit 1917 Patt im Mittelmeer Die amerikanisch-sowjetischen Auseinandersetzungen um den Indischen Ozean

Die sowjetischen Interessen im Nahen Osten seit 1917

Walter Schilling

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Zusammenfassung

Die sowjetische Außenpolitik war bereits in der Gründungsphase des Sowjetstaates durch den Konflikt zwischen nationalen und revolutionären Interessen gekennzeichnet. Die nationalen Interessen erhielten dabei stets den Vorrang. Die politische, wirtschaftliche und militärische Schwäche der Sowjetunion in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hat die sowjetischen Politiker veranlaßt, ihre Nahostinteressen auf die südlichen Anrainerstaaten zu konzentrieren. Während in diesen Ländern nationale Sicher-heitsund Handelsinteressen die Aktionen der Sowjetunion bestimmten, dominierten für sie in den anderen Ländern des Nahen Ostens die revolutionären Interessen. Stalin identifizierte die revolutionären Interessen des Kommunismus mit den nationalen Interessen der Sowjetunion und betrachtete die internationale revolutionäre Bewegung als Instrument des Sowjetstaates. Hatte Stalin bis 1928 eine Zusammenarbeit zwischen revolutionären und nationalen Kräften im Nahen Osten unterstützt, um die Nahost-Länder aus der Abhängigkeit von den Kolonialmächten zu befreien, so führte der Wandel der Strategie im Jahre 1928 dazu, daß die Kommunisten in diesen Ländern von den nationalen Bewegungen weitgehend isoliert wurden. Ab 1935 suchte die Sowjetunion erneut eine Zusammenarbeit mit den nationalen Kräften, obwohl ihr Engagement im Nahen Osten bis 1945 gering blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Stalin-sehe Konzeption der antagonistischen zwei Weltlager und seine Forderung nach absoluter Kontrolle der nicht zum kapitalistischen System gehörenden Länder verhindert, die vielfältigen Ansatzmöglichkeiten für die sowjetische Politik im Nahen Osten zu nutzen. Die wesentliche Verbesserung der sowjetischen Machtstellung und die größere Realitätsnähe der sowjetischen Führung nach Stalin führten zu einer Neubewertung des Nahen Ostens und zur Umorientierung der Politik gegenüber dieser Region. Der Widerspruch zwischen dem revolutionären Auftrag und der Gefahr eigener Vernichtung zwang die sowjetische Führung zur indirekten Strategie in der politischen Auseinandersetzung mit ihren Hauptgegnern. Dem entsprach ein intensiveres Bemühen, sowjetische Interessen in diesem Gebiet zu verwirklichen: die Nahost-Länder aus der Abhängigkeit der kapitalistischen Staaten zu lösen, Verbündete zu gewinnen, wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten zu erzeugen und militärstrategische Vorteile zu erzielen. Den arabisch-israelischen Konflikt, innerarabische Auseinandersetzungen und den Emanzipationsprozeß von westlicher Vorherrschaft nutzte die Sowjetunion aus, um die eigene Position im Nahen Osten zu verbessern, geriet dabei aber auch in Gefahr, in bewaffnete Auseinandersetzungen verwicktelt zu werden. Die Unterstützung arabischer Interessen im Nahost-Konflikt endete dort, wo das politische Handeln der Araber sowjetischen Interessen widersprach. Das wachsende sowjetische Engagement im Nahen Osten vergrößerte die Gefahr, in einen Krieg zu geraten, und ließ die Kosten für eine Realisierung ihrer Interessen ständig zunehmen. Da die Sowjetunion stets Vorteile aus dem arabisch-israelischen Konflikt gezogen hat, andererseits aber die Eigendynamik militärischer Konfrontation nicht verkennt, liegt es in ihrem Interesse, wenn der Nahost-Konflikt eine politische Regelung findet, die die Kriegsgefahr vermindert, die politische, wirtschaftliche und militärische Durchdringung des Nahen Ostens durch die Sowjetunion weiterhin erlaubt und die militärische Präsenz in diesem Gebiet rechtfertigt.

Wer die sowjetischen Interessen im Nahen Osten unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität betrachtet, könnte leicht geneigt sein, den gegenwärtigen Interessenkonflikt in dieser Weltregion als eine Fortsetzung oder Neuauflage der „Orientalischen Frage" des vorigen Jahrhunderts anzusehen. Doch hat der heutige Nahost-Konflikt wenig mit der orientalischen Frage gemeinsam, die die Staaten Europas vor mehr als einem Jahrhundert beschäftigte. Die grundsätzlich veränderte weltpolitische Lage, die Verlagerung des Zentrums des Konflikts und die politische Bedeutung dieses Gebietes lassen einen solchen Vergleich nicht zu.

Das außenpolitische Interesse der Sowjetunion zu ermitteln und seine Implikationen zu bestimmen, ist eine analytische Aufgabe, die eine Gesamtbetrachtung der sowjetischen Außenpolitik im weltpolitischen Zusammenhang verlangt. Dies erscheint notwendig, weil die Auswahl der von einem Staat konkret anzustrebenden Interessenobjekte von den Prozessen seiner innerstaatlichen Willensbildung, seiner sozio-ökonomischen Struktur, der Wahrnehmung der Außenwelt und der Beurteilung seiner jeweiligen Lage in der internationalen Politik abhängt. Wir haben daher nach den Motivationen, Zielen und Erwartungen, den internen und externen Bedingungen sowjetischer Außenpolitik überhaupt und in bezug auf die Staaten des Nahen Ostens zu fragen.

Die Formulierung der Interessen und die Entscheidung über konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung ausgewählter außenpolitischer Interessen wird von jenen Personen oder Gruppen getroffen, die über die Machtinstrumente des betreffenden Staates verfügen. Wir müssen deshalb die Äußerungen und Handlungen sowjetischer Politiker in Vergangenheit und Gegenwart verfolgen. Hierbei ist zu beachten, daß sowjetische Politiker die Interessen ihres Staates in Begriffen des Marxismus-Leninismus beschreiben. Dies zwingt dazu, die Frage der Relevanz der Ideologie für die Formulierung der sowjetischen Interessen zu klären.

Grenzen und Probleme der Analyse ergeben sich daraus, daß das Denken der sowjetischen Entscheidungsträger nicht lückenlos nachvollziehbar ist, die Führung der Sowjetunion die Informationsquellen im Lande weitgehend kontrollieren kann und die Ideologie die nationalen Belange transzendiert. Eine Analyse darf sich deshalb nicht allein auf das gesprochene und geschriebene Wort der Entscheidungsträger stützen, sondern hat ihr tatsächliches Verhalten und die außenpolitischen Aktionen der Sowjetunion einzubeziehen.

Der Begriff des „Interesses"

Außenpolitische Interessen werden zu strukturbildenden Faktoren der internationalen Politik insbesondere dort, wo ihre Entsprechungen zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit oder ihre Widersprüche zu zwischenstaatlichen Konflikten führen. Wenn man „Interesse" als „das Zusammentreffen einer subjektiven Aufmerksamkeitsverteilung seitens einer . interessierten'Person oder Gruppe mit der objektiven Wahrscheinlichkeit, daß diese Person oder Gruppe von ihrer Umgebung unter gewissen Bedingungen belohnt wird“ auffaßt, so ist das Interesse gleichzeitig Haltung und Ziel eines Wollenden. Wir können also das außenpolitische Interesse der Sowjetunion im Nahen Osten als das mögliche Verhalten der sowjetischen Entscheidungsträger (Interessensubjekt) gegenüber dem Nahen Osten (Interessenobjekt) definieren, dessen Realisierung in einer konkreten Situation den existentiellen Belangen der Sowjetunion in maximaler Weise entspricht. Da die Informationen über die Außenwelt selektiv empfangen und in Begriffen des Bezugssystems der Entscheidungsträger bewertet werden, kann der Marxismus-Leninismus bei der Formulierung der sowjetischen Interessen nicht irrelevant sein. Der Marxismus-Leninismus ist kein unabänderliches Gesetz, das die sowjetischen Politiker für jede Situation anwenden können, aber auf der anderen Seite erscheint Politik ohne ideologische Präformierung ebenso unmöglich wie die Existenz empirischer Wissenschaft ohne Begriffe und Hypothesen, die auf theoretischer Überlegung beruhen. Vielmehr beinhaltet der Marxismus-Leninismus Über-zeugungen, die der Interpretation offenstehen und sogar revidiert werden, wenn sie eine Anpassung an objektive Bedingungen nicht mehr zulassen. Die Bedeutung des Marxismus-Leninismus für die Formulierung der Außenpolitik der Sowjetunion liegt darin, daß er die Wahrnehmung der Außenwelt, der Aktionen anderer Staaten, die Zuordnung von Werten und die Auswahl eigener Handlungsrichtungen, Ziele und Interessen bestimmt. Er legt damit Denkstrukturen fest, die für die Bildung von Entscheidungen wesentlich sind, und versorgt die Entscheidungsträger mit Kategorien und Werten, die es ihnen erlauben, ihr jeweiliges Verhalten zu rechtfertigen.

Man darf aber nicht erwarten, daß die sowjetische Politik allein aus der profunden Kenntnis des Marxismus-Leninismus vorhersagbar wäre: Praktische Politiker können ihre Entscheidungen nicht auf einen in einer bestimmten Zeit gültigen Katalog von Regeln gründen. Auch ist die Lehre des Marxismus-Leninismus permanentem Wandel unterworfen, der von Analytikern sowjetischer Politik nicht vorhergesehen werden kann. Dies wird von Chruschtschow bestätigt, wenn er sagt: „Die Lehre des Marxismus-Leninismus ist der Ausdruck der fundamentalen Interessen der Arbeiterklasse, der fundamentalen Interessen des arbeitenden Volkes. Sie ist kein

Dogma, sondern Anleitung zur praktischen revolutionären Aktion. Auf jeder neuen Stufe der historischen Entwicklung stellt das Leben seine Aufgaben, die sich aus den Erfordernissen der Gesellschaft ergeben. Ein kreativer Zugang zur Lehre, die Fähigkeit, die Wissenschaft des Marxismus-Leninismus zu entwikkeln und voranzutreiben, besteht darin, die neuen Aufgaben gesellschaftlicher Entwicklung auf der Basis emer wissenschaftlichen Durchdringung der Erfahrung des Lebens richtig zu verstehen und Wege zur praktischen Erfüllung dieser Aufgaben zu zeigen."

Das sowjetische Konzept des „Interesses" ist aufgrund des Marxismus-Leninismus eng mit Klassenkategorien verknüpft. Da die Durchsetzung der Interessen des Weltproletariats Macht erfordert, werden die sowjetischen Interessen mit den Interessen des Weltproletariats, als dessen Avantgarde sich die Sowjetführung versteht, identifiziert. Hierdurch erhält das nationale Interesse der Sowjetunion eine normative Qualität.

So wird deutlich, daß die Interessen der Sowjetunion im Nahen Osten aus der Relation zwischen den durch den Marxismus-Leninismus beeinflußten Ziel-und Wertvorstellungen der sowjetischen Entscheidungsträger und den Funktionen dieser Ideologie in einer bestimmten historischen Situation ermittelt werden können. Dies vermag eine Betrachtung der Prämissen sowjetischer Außenpolitik in der historischen Perspektive besonders klar herauszustellen.

Anfänge sowjetischer Außenpolitik: Lenin

Die Prinzipien sowjetischer Außenpolitik wurden unter der Leitung Lenins schon vor der Oktoberrevolution und in den Gründungsjahren der Sowjetunion im Zentralkomitee der KPdSU ausgearbeitet. Erst ab 1919 ging diese Funktion an das Politbüro über, in dem Lenin wiederum die Führung innehatte. In diesen Gremien setzte er seine politischen Konzeptionen durch, so daß Tschitscherin in einem Gedenkartikel 1924 von Lenin und „seiner Außenpolitik" sprechen konnte. Der Leiter des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten war nur der Ausführende politischer Direktiven, die oft bis ins Detail gingen. Lenins persönliche Rolle in der Formung der sowjetischen Außenpolitik manifestiert sich insbesondere in seinem Entwurf einer Theorie der internationalen Beziehungen und einer grundlegenden Strategie der Sowjetunion in der Politik gegenüber anderen Staaten.

Nach Lenins Auffassung waren „die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen für uns die wichtigste Frage geworden .. . In den ersten Jahren seines Bestehens kämpfte der Sowjetstaat gegen Feinde von innen und außen um seine bloße Existenz, so daß Lenin als vorrangiges Ziel sowjetischer Außenpolitik formulierte: „Das Wichtigste ist, sowohl für uns als auch, vom Standpunkt des internationalen Sozialismus, die Erhaltung Sowjetrußlands." Die Verluste und Schäden, die der Erste Weltkrieg in Rußland hervorgerufen hatte, die militärische Intervention britischer, französischer, amerikanischer und japanischer Truppen seit dem 9. März 1918 und der Bürgerkrieg begrenzten die Handlungsfähigkeit des neu gegründeten Staates so stark, daß sich dessen politische Führung auf die Aufgabe konzentrieren m März 1918 und der Bürgerkrieg begrenzten die Handlungsfähigkeit des neu gegründeten Staates so stark, daß sich dessen politische Führung auf die Aufgabe konzentrieren mußte, „um jeden Preis die Revolution zu verteidigen" 6). Von der Zielvorstellung und den eigenen Fähigkeiten aus war es in dieser Situation nur konsequent, wenn die sowjetische Außenpolitik versuchte, die politische und wirtschaftliche Blockade gegen Sowjetrußland zu durchbrechen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit anderen Objekten zuwandte. Auch nach Beendigung des Bürgerkrieges und der Intervention blieb es grundlegendes Ziel der sowjetischen Außenpolitik, das Erreichte abzusichern und zu konsolidieren. Das Interesse der Sowjetunion galt vor allem der Erringung faktischer internationaler Anerkennung und den unmittelbaren Anrainerstaaten, zu denen friedliche Beziehungen angestrebt wurden.

Die ersten außenpolitischen Abkommen der Sowjetunion, die'Friedensverträge mit den baltischen Staaten und mit dem Iran, Afghanistan und der Türkei, festigten die politische Lage des Staates. Der Inhalt der einzelnen Abkommen läßt deutlich werden, daß es Si-cherheits-und Handelsinteressen waren, die die sowjetischen Politiker beim Abschluß dieser Verträge leiteten. Der sowjetisch-iranische Vertrag vom 26. Februar 1921 verpflichtete in Artikel 5 beide Seiten, „nicht zuzulassen, daß auf ihren Territorien der anderen Seite feindlich gesinnte Organisationen oder bewaffnete Gruppen gebildet werden bzw. sich aufhalten" 7). Am 28. Februar 1921 schlossen die Sowjetunion und Afghanistan einen Freundschaftsvertrag, dem am 31. August 1921 ein Neutralitätsund Nichtangriffsabkommen folgte 8). Der am 16. März 1921 mit der Türkei abgeschlossene Vertrag ging sogar so weit, daß die Türkei eine Finanzhilfe in Höhe von Millionen Goldrubel für den Ankauf von Waffen erhielt 9).

Große Bedeutung maßen die sowjetischen Entscheidungsträger der Konferenz von Lausanne (20. November 1922 bis 24. Juli 1923) zu, die sich vor allem mit Nahostfragen beschäftigen sollte. Kern dieser Konferenz war die Meerengenfrage, die auch die Sowjetunion berührte. Das sowjetische Interesse an diesem Problem formulierte Lenin am 27. Oktober 1922: 1. Befriedigung der nationalen Bestrebungen der Türkei, 2. die Schließung der Meerengen für alle Kriegsschiffe in Friedens-und Kriegszeiten, um Konflikte zu vermeiden, 3. die volle Freiheit der Handelsschiffahrt 10). Als am 24. Juli 1923 der englische Entwurf angenommen wurde, der die Souveränität der Türkei begrenzte und alle Staaten berechtigte, im Schwarzen Meer eine Kriegsflotte zu unterhalten, erhielten die Beschlüsse nicht die Zustimmung der Sowjetunion, deren Vertreter schon während der zweiten Phase der Konferenz vom 23. April 1923 bis 24. Juli 1923 nicht mehr zugelassen worden waren.

Vom Ziel und der Handlungsfähigkeit der sowjetischen Außenpolitik her gesehen, lag der arabische Teil des Nahen Ostens als Interessenobjekt der politischen Führung der Sowjetunion in dieser Zeit an der Peripherie des Denkens und Handelns. Es gibt aus diesen Jahren nur wenige Äußerungen sowjetischer Politiker und Wissenschaftler zur arabischen Welt, und gemessen an der Zahl der Veröffentlichungen, die sich auf arabische Länder bezogen, war die Information über dieses Gebiet in der Sowjetunion gering. Die Aufmerksamkeit der sowjetischen Führung richtete sich — zunächst — auf den Westen, in Erwartung weiterer Revolutionen, und als diese nicht eintraten, auf die situationsbedingten „näherliegenden" Probleme der unmittelbaren Sicherung des Sowjetstaates.

Lenin hatte sich schon um die Jahrhundertwende mit der Frage der Beziehungen eines — zukünftigen — Sowjetstaates zu den Ost-ländern beschäftigt und hierbei offenbart, daß er diese Länder als eine Ganzheit und im Zusammenhang mit der revolutionären Bewegung sah. Dies wird auch aus einer Äußerung nach der Gründung der Sowjetunion deutlich, als er feststellte, daß „die revolutionäre Bewegung der Völker des Ostens sich heute nur in unmittelbarer Verbindung mit dem revolutionären Kampf unserer Sowjetrepublik gegen den internationalen Imperialismus erfolgreich entwickeln und ihr Ziel erreichen kann" Eine spezifische Hinwendung zu den arabischen Ländern des Nahen Ostens fehlt bei Lenin, doch hatte er die Bedeutung aller abhängigen und unterdrückten Völker in der Dritten Welt für das zukünftige Kräfteverhältnis zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Staaten erkannt. Die nationalen Befreiungsbewegungen auch im Nahen Osten zu unterstützen, schien Lenin schon damals eine lohnende Aufgabe, um Verbündete zu gewinnen und die außenpolitischen Gegner zu schwächen Diese Möglichkeit war es vor allem, die auch die arabischen Länder zum Interessenobjekt der Sowjetunion werden ließ. Sie ergab sich aus dem Wandel sowjetischen politischen Denkens, nachdem die in Westeuropa erwarteten Revolutionen nicht eingetreten waren und die Sowjetunion ihre Macht konsolidiert hatte. Die Umgestaltung der Welt wurde nun als ein umfassender Prozeß angesehen, der durch die Oktoberrevolution initiiert worden war und dessen Epizentrum in den Ländern des Nahen und Fernen Ostens lag. Das Leninsche Bild einer Zweiteilung der Welt in einen imperialistischen Westen und einen revolutionären Osten reflektierte den Zusammenbruch der alten, auf Europa zentrierten internationalen Ordnung und begann sich auf die sowjetische Außenpolitik auszuwirken. Lenins Programm wurde im Juli 1920 auf dem 2. Komintern-Kongreß angenommen und zielte darauf, die kapitalistischen Staaten von ihren Rohstoffquellen, Absatzmärkten und billigen Arbeitskräften im Osten zu trennen und den Einfluß der kommunistischen Parteien in jenem Gebiet zu stärken.

Auf dem „Kongreß der Völker des Ostens" in Baku am 1. September 1920 demonstrierten die sowjetischen Entscheidungsträger erneut, daß sie sich der politischen Bedeutung des Nahen Ostens für den Kampf mit dem Kapitalismus bewußt waren: Hier versuchten sie konsequent, die Moslems für einen umfassenden Kreuzzug gegen den Westen zu gewinnen Wenn auch die Baku-Konferenz die Erwartungen der Sowjets nicht erfüllte, so wurde ihre Herausforderung doch bereits in westlichen Staaten beachtet. Die um faktische und juristische Anerkennung ringende Sowjetunion mußte in einem Handelsabkommen, das sie am 16. März 1921 mit Großbritannien schloß, versprechen, auf alle feindlichen Handlungen gegen britische Institutionen einschließlich Propaganda unter den asiatischen Völkern zu verzichten

Die leninistische Position gegenüber den Ländern und Völkern auch des Nahen Ostens wurde dennoch von Zinoviev auf dem 4. Komintern-Kongreß im November 1922 mit seinen „Thesen zur Ostfrage" bekräftigt. Aus dieser Sicht lag die politische Signifikanz der Länder des Nahen Ostens darin, daß sie den kapitalistischen Staaten als Rohstoffquellen, Absatzmärkte und Reservoir billiger Arbeitskräfte dienten und Völker beherbergten, die von Kolonialmächten unterdrückt wurden. Einen Sieg des Sozialismus hielt Lenin nicht für möglich, ohne die Länder und Völker des gesamten Ostens unter Kontrolle des Sozialismus gebracht zu haben.

Stalins Politik gegenüber dem Nahen Osten

Anders als bei seinem Vorgänger beruhte Stalins Autorität nicht auf einer Überzeugungskraft innerhalb der Partei, sondern auf seiner Macht über die Partei. Das Politbüro als Entscheidungseinheit verlor damit seine Bedeutung, die es unter Lenins Führung besaß.

Grundlage für die Außenpolitik bildete auch bei Stalin die Erhaltung der UdSSR: „Die Sowjetunion ist die Basis der weltweiten revolutionären Bewegung, und diese Bewegung zu verteidigen und zu erweitern, ohne die So-wjetunion zu verteidigen, ist unmöglich." Aus seiner Sicht wurden die internationalen Interessen des Kommunismus mit dem nationalen Interesse der Sowjetunion gleichgesetzt, eine Auffassung, die sich aus dem dichotomischen Zwei-Lager-Bild ergab, das in den frühen zwanziger Jahren als Reaktion auf die feindliche Umwelt und Bekämpfung der Sowjetunion durch die USA, Großbritannien, Frankreich und Japan entstand. Dem entsprach Stalins Formulierung einer Politik des „Sozialismus in einem Lande", die er konse-quent verfolgte. Stalin betrachtete daher den internationalen Kommunismus als ein bloßes Instrument der sowjetischen Macht. Revolutionäre Siege ohne sowjetische Hilfe und Führung schienen ihm weder möglich noch wünschbar.

Auch Stalin war die entscheidende Bedeutung der „Ostländer" bewußt. Er hatte schon am 24. November 1918 unter dem Titel „Vergeßt den Osten nicht“ geschrieben: „Die Imperialisten haben schon immer den Osten als die Grundlage ihres Wohlstandes betrachtet. Sind die unschätzbaren natürlichen Rohstoffquellen des Ostens nicht der Zankapfel zwischen den Imperialisten aller Länder? Dies, in der Tat, erklärt, warum die Imperialisten niemals aufgehört haben, an China, Indien, Persien, Ägypten und Marokko zu denken, während sie in Europa kämpften und über den Westen sprachen — denn der Osten war immer der wirkliche Schlüsselpunkt... Es ist die Aufgabe des Kommunismus, den Jahrhunderte währenden Schlaf der unterdrückten Völker des Ostens zu unterbrechen, die Arbeiter und Bauern dieser Länder mit dem emanzipatorischen Geist der Revolution zu infizieren, sie zum Kampf gegen den Imperialismus zu bewegen und so den Weltimperialismus seiner sichersten und unerschöpflichen Reserven zu berauben."

Die wirtschaftliche und militärische Schwäche der Sowjetunion Anfang der zwanziger Jahre hinderte Stalin jedoch daran, den Interessen des Sowjetstaates auch im Nahen Osten Nachdruck zu verleihen. In klassischer „Balance-of-Power" -Diplomatie wurden die Interessen Frankreichs und Großbritanniens gegeneinander ausgespielt und eine gemeinsame Front zwischen revolutionären und nationalen Kräften unterstützt.

An der Auffassung Lenins, daß innerhalb der nationalen Befreiungsbewegungen und ihrer Organisationen die Kommunisten eine führende Rolle spielen sollten, hielt Stalin fest. Gleichzeitig wurde der Versuch unternommen, neben den dem Bürgertum entspringenden nationalen Bewegungen die Bauern und Arbeiter zu einer revolutionären Kraft zu entwickeln, die nach sowjetischem Verständnis des „proletarischen Internationalismus" sich bedingungslos der sowjetischen Autorität unterordnen mußte , Die russischen revolutionären Interessen im Nahen Osten fügten sich zwar im allgemeinen zu den Interessen, die die Sowjetunion mit der Gleichgewichtsdiplomatie verfolgte. Dennoch geriet die sowjetische Außenpolitik in ein Dilemma, da sie die Interessen des „sozialistischen Vaterlandes" mit den Interessen der Weltrevolution identifizierte. Diese Prämisse führte unter den Bedingungen der Weltpolitik in den zwanziger Jahren auch im Nahen Osten dazu, daß sowjetische Machtinteressen mit revolutionären Interessen in Konflikt gerieten und die sowjetischen Entscheidungsträger die letzteren ihren Machtinteressen opferten.

In diesem Zusammenhang reflektiert das Programm der Errichtung des Sozialismus in einem Lande eine zeitliche Verschiebung des weltrevolutionären Ziels. Stalin hat diese Schlußfolgerung nicht geleugnet, rechtfertigte aber seine Politik mit der Begründung, daß der Machtzuwachs der Sowjetunion auch die revolutionären Kräfte insgesamt stärkt. Die von sowjetischen Politikern behauptete Interessenkongruenz erlaubte ebenso eine Politik der Kooperation, der friedlichen Koexistenz, zwischen Sozialismus und Kapitalismus in einer bestimmten historischen Epoche.

Die Konsolidierung der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, die Katastrophe der kommunistischen Bewegung im Fernen Osten 1927 und ihre Rückschläge auch in Europa führten zu einem Wandel der Strategie der sowjetischen Außenpolitik, der sich in den Resolutionen des 6. Komintern-Kongresses am 1. September 1928 niederschlug. Sie offenbaren den extremen Egozentrismus des Sowjetstaates in der Führung der Außenpolitik und dokumentieren die Revision eines Aspektes Leninscher Strategie gegenüber dem Nahen Osten, die seit dem 2. Komintern-Kongreß von 1920 galt: die Zusammenarbeit von revolutionären und bürgerlich-nationalen Gruppen, die darauf zielte, die Herrschaft der kapitalistischen Staaten in diesem Gebiet abzulösen.

Die neue Strategie gestattete eine Kooperation revolutionärer mit nationalen Gruppen nur dann, wenn sicher war, daß Kommunisten die Bewegung leiteten und revolutionäre Ziele erreicht werden konnten. Sie konzentrierte sich darüber hinaus auf das städtische Proletariat und ignorierte die im Nahen Osten besonders zahlreiche Landbevölkerung. Diese Strategie isolierte die Kommunisten in den Ländern des Nahen Ostens von den nationalen Bewegungen und überließ die politischen Aktionen dem nationalen Bürgertum, dessen Stärke die sowjetische Führung unterschätzte.

Nachdem die revolutionäre Agitation trotz guter Ansatzpunkte bei den Aufständischen im August 1929 in Palästina der Sowjetunion keinen Fortschritt gebracht hatte, wurde die sowjetische Führung durch die Aktivität Deutschlands und Italiens im Nahen Osten veranlaßt, wieder nach Zusammenarbeit mit den nationalen Bewegungen zu suchen — eine Politik, die sich auf dem 7. Komintern-Kongreß 1935 in der Annahme der Volksfronttaktik manifestierte. Das gleichwohl geringe Engagement der Sowjetunion im Nahen Osten zwischen 1935 und 1945 kann dadurch erklärt werden, daß die Ereignisse in Mitteleuropa und im Fernen Osten die Aufmerksamkeit der sowjetischen Führung fesselten. Eine Ausnahme bildete nur die kurze Zeit der Kooperation mit dem nationalsozialistischen Deutschland, als die Sowjetunion eine Gelegenheit sah, ihre Position zu verbessern und im November 1940 von Hitler die volle Kontrolle über entscheidende strategische Gebiete und Militärbasen in der Türkei forderte

Mit dem Angriff Deutschlands am 22. Juni 1941 stand jedoch die nationale Existenz des Sowjetstaates auf dem Spiel, so daß ihre nationalen Interessen eine Zusammenarbeit mit den Westmächten verlangten. Auch dieses Bündnis versuchte die Sowjetunion zur Förderung ihrer Interessen im Nahen Osten zu nutzen, indem sie von den Alliierten 1944 neben strategischen Punkten in der Türkei das UN-Mandat über Tripolitanien beanspruchte Beide Forderungen wurden auf der Konferenz von Potsdam abgelehnt, weil Großbritannien seine vitalen Interessen in Ägypten und im Persischen Golf gefährdet sah, wenn diesem Verlangen nachgegeben würde. Trotzdem ist dieser Zeitraum nicht unbedeutend für die Stellung der Sowjetunion im Nahen Osten geblieben, denn die lokalen kommunistischen Parteien festigten ihre Organisation und gewannen eine Basis zur weiteren Arbeit.

Während der Periode von 1922 bis 1945 konzentrierte die sowjetische Führung ihre Aufmerksamkeit auf Europa und den Fernen Osten. Ihre Interessen im Nahen Osten blieben sekundär gegenüber dem wesentlichen Interesse, Sicherheit für die Existenz des Sowjetstaates zu erreichen. Die innerstaatlichen Probleme der Sowjetunion, ihre anfängliche wirtschaftliche und militärische Schwäche und die hierdurch begrenzten politischen Möglichkeiten haben ein stärkeres Engagement im Nahen Osten verhindert. Wie bereits Stalin sehr früh deutlich machte, beruhte das Interesse der Sowjetunion im Nahen Osten auf der Eigenschaft dieses Gebietes als Rohstoffquelle, Absatzmarkt und Reservoir billiger Arbeitskräfte, die die Macht westlicher kapitalistischer Staaten mitbegründete. Er schien daher eine Möglichkeit zu bieten, die Macht der Staaten zu verringern, die die sowjetischen Politiker als Gegner betrachteten, und so die internationale Lage der Sowjetunion zu verbessern. Die Sowjets hielten die im Nahen Osten vorhandenen nationalen Bewegungen ebenso für geeignet, ihre kapitalistischen Gegner zu schwächen, doch mußten sie auf längere Sicht unter die Kontrolle der auf die Sowjetunion zentrierten revolutionären Bewegungen gebracht werden. Es war aber konsequent, wenn die Sowjetunion zunächst auf der Konferenz von San Francisco (25. 4. — 26. 6. 1945) verlangte, allen abhängigen und kolonialen Ländern die Unabhängigkeit zu geben

Aus dem Zweiten Weltkrieg gingen die USA und die Sowjetunion als Weltmächte hervor. Großbritannien und Frankreich wurden erheblich geschwächt, und in der Dritten Welt gewannen die nationalen Befreiungsbewegungen entscheidende Bedeutung. Der von den sowjetischen Führern gesehene und für notwendig erachtete Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus nahm nach dem vorübergehenden Bündnis während des Zweiten Weltkrieges wieder klare Konturen an: „Der Kampf zwischen den zwei Lagern bestimmt jetzt das Schicksal der ganzen Welt und der Menschheit. Dieser Kampf wird immer mehr zur entscheidenden dynamischen Kraft der Entwicklung unseres Zeitalters zum Kommunismus." Stalins Konzeption der antagonistischen zwei Weltlager, deren Zentren die USA und die Sowjetunion bildeten, erlebte eine Renaissance und wurde mit der Grün-düng der Kominform in Warschau im September 1947 zur offiziellen Leitlinie sowjetischer Außenpolitik. Kriterium der Zugehörigkeit zum kommunistischen Lager war für Stalin die Kontrolle des jeweiligen Staates durch die Sowjetunion. Für ihn gab es keine Neutralität, kein „Nonalignment“, keine „Dritte Kraft": „In unserer Epoche gibt es keine Dritte Kraft, Und sie wird es nicht geben ... Zwei Kräfte, zwei Lager existieren auf der Welt.“ Da es weder einen geographischen noch einen politischen Raum zwischen diesen zwei Lagern gab, klassifizierte Stalin alle Gebiete und Länder, die der sowjetischen Kontrolle nicht erreichbar waren, als feindlich. Die politische Konsequenz dieser Konzeption für das sowjetische Verhalten gegenüber den Ländern des Nahen Ostens bestand so in der Begrenzung der Möglichkeiten für die sowjetische Politik, die Interessen des Sowjetstaates in dieser Weltregion wirksam zu fördern. Die Konzeption Stalins war den Realitäten in den Ländern des Nahen Ostens nicht angepaßt, denn es hätte in der Logik der Entwicklung gelegen, diese Länder als Dritte Kraft anzuerkennen.

In der ersten Phase Stalinscher Nachkriegspolitik, als der Antagonismus noch nicht die spätere Härte und Ausschließlichkeit angenommen hatte, wurden die lokalen kommunistischen Parteien im Nahen Osten noch angewiesen, die nationalen Befreiungsbewegungen zu unterstützen, doch zeigten sowjetische Forderungen gegenüber den unmittelbaren südlichen Anrainerstaaten bereits weitergehende Interessen der Sowjetunion an: Sie stellte territoriale Ansprüche an die Türkei, verlangte eine Revision des internationalen Status der Dardanellen und einen Vertrag mit dem Iran, der die Nutzung der Ölquellen in diesem Lande betraf

In den arabischen Ländern des Nahen Ostens versuchte die Sowjetunion zunächst, das Bewußtsein einer durch die imperialistischen Mächte verursachten Armut, Rückständigkeit und Abhängigkeit zu erzeugen und sich selbst in einer progressiven Rolle bei der Entwicklung nationaler Befreiungsbewegungen darzustellen: „Die Position der Sowjetunion zur kolonialen Frage unterscheidet sich grundsätzlich von der der kapitalistischen Länder. Die Sowjetunion war immer der unerschütterliche Feind aller Formen und Erscheinungen kolonialer Unterdrückung." Obwohl die Sowjetunion im Nahen Osten nie als Kolonialmacht aufgetreten war, schien die Lage in diesen Ländern für die Förderung ihrer Interessen sehr kompliziert. Das harte innersowjetische Vorgehen gegen den Pan-Islamismus und die Juden schuf eine Barriere insbesondere gegenüber den herrschenden Klassen in den Nahostländern, so daß die kleinen kom-munistischen Parteien nicht offen unterstützt werden konnten und diese wenig Chancen hatten, innerhalb der nationalen Befreiungsbewegungen entscheidende Positionen zu besetzen.

In der Konsequenz des sowjetischen Ringens mit den kapitalistischen Staaten lag es, wenn die Sowjetunion den Kampf der Israelis gegen die britische Mandatsmacht in Palästina während der Jahre 1946— 1948 mit Waffenlieferungen förderte, für einen separaten israelischen Staat in Palästina plädierte und den Angriff der Arabischen Liga auf den neuen Staat als „Aggression“ bezeichnete denn die Verdrängung Großbritanniens aus Palästina schwächte den Einfluß der Westmächte und bedeutete einen Prestigeverlust, da sie aufzeigte, daß man eine Großmacht überwinden konnte. Darüber hinaus mußte ein israelischer Staat inmitten der arabischen Welt permanenten Konflikt zwischen dem Westen und den Arabern schaffen und auf lange Sicht der Sowjetunion günstige Ansatzmöglichkeiten bieten, um in dieser Weltregion Fuß zu fassen. Aber bereits im Herbst 1948 konnte die Sowjetunion keinen Nutzen mehr aus den Bindungen an Israel ziehen, als sich die Beziehungen zwischen Israel und Großbritannien normalisierten.

Die zunehmende antiwestliche Bewegung in den arabischen Ländern leitete Ende der vierziger Jahre die zweite Phase der Stalinschen Nachkriegspolitik im Nahen Osten ein, die sich auf propagandistische Arbeit beschränkte, weil Stalins außenpolitische Konzeption keine wirksamere Verfolgung sowjetischer Interessen zuließ. Das geringe Engagement der Sowjetunion im Nahen Osten von 1949 bis 1953 hat der sowjetischen Politik später sehr genützt, da dieses Verhalten den Eindruck des „Desinteresses“ bei vielen Arabern hervorrief. Die Wandlung der Sowjetunion zur Welt-macht am Ende des Zweiten Weltkrieges ver-lieh der sowjetischen Führung ein neues Bewußtsein der größeren eigenen Handlungsfähigkeit und Stärke, das eine Erweiterung der Interessen stimulierte. Hierbei waren es die strategische und ökonomische Bedeutung der Türkei, des Iran und Tripolitaniens, die das Interesse der sowjetischen Führung hervorriefen. Der Versuch, diese Interessen teils durch politischen Druck, teils mit Zustimmung der Westmächte zu realisieren, schlug fehl, weil sie den Interessen der Westmächte zuwider-liefen und diese sich in der stärkeren Position befanden.

Die politische Situation im Nahen Osten während der Jahre 1945— 1953 bot vielfältige und erfolgversprechende Ansatzmöglichkeiten für die sowjetischen Politiker, die Interessen ihres Staates wirksam zu fördern, doch haben die Vorstellungen Stalins von einer antego-

nistisch-zweigeteilten Welt und der hiermit verknüpfte Wille zur absoluten Kontrolle die Wahrnehmungsfähigkeit vieler sowjetischer Politiker so verengt, daß der reale Charakter der internationalen Lage nicht erkannt werden konnte. Wie das Verhalten gegenüber Israel nach 1948 zeigt, verlor die sowjetische Führung die Orientierung, wenn das Muster der internationalen Beziehungen nicht mehr dem vorgegebenen Bild entsprach. Sie war nur selten fähig, die begrenzten gemeinsamen Interessen, die sie mit den nationalen Bewegungen in diesen Ländern teilte — das Hinaus-drängen der kapitalistischen Staaten aus diesem Gebiet —, in längerfristige politische Aktionen zu verwandeln.

Sowjetische Nahost-Politik in der Chruschtschow-Ära

Nach dem Tod Stalins paßten sich dessen Nachfolger den Realitäten der Außenwelt wieder an, obwohl eine stringente marxistisch-leninistische Analyse der internationalen Lage aus den Jahren 1953/54 fehlt. Das kurzlebige Malenkov-Regime, dessen Ziel es war, die bestehende Machtposition der Sowjetunion zu erhalten, durch möglichst geringe Kräfte ab-

zusichern und mit den frei werdenden Mitteln die innere Ausgestaltung des Staates zu verbessern, hat bereits die allmähliche Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik gegenüber den Ländern des Nahen Ostens eingeleitet. Die sowjetische Führung suchte wieder den Kontakt zu den antiwestlich eingestellten Unabhängigkeitsbewegungen in den arabischen Ländern und begann erneut eine Politik der Unterstützung, anstatt den bedingungslosen Übertritt zum Kommunismus zu fordern.

Trotz der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel im Juli 1953 setzte sich in der Sowjetunion immer stärker die Erkenntnis durch, daß in dem permanenten Konflikt zwischen Arabern und Israelis deutlich Stellung genommen werden mußte, wenn die sowjetischen Interessen optimal erfüllt werden sollten. Da es den Sowjets aufgrund begrenzter gemeinsamer Interessen näher lag und vorteilhafter schien, sich den Zielen der Araber anzupassen, unterstützte die Sowjetunion die arabischen Staaten konsequent bei den Abstimmungen in der UNO

Die Versuche Malenkovs, die Beziehungen zur Türkei und zum Iran freundschaftlicher zu gestalten, reflektieren ein eher defensives Verhalten. Das mangelnde Machtbewußtsein, die Absicht Malenkovs, nur eine Minimalabschreckungsmacht aufzubauen und die Konsumgüterindustrie stärker zu fördern, boten seinen Kritikern, Chruschtschow und Bulganin, Anlaß zu seinem Sturz. Sie verlangten den weiteren Aufbau militärischer Streitkräfte und der Schwerindustrie, die nach ihrer Meinung die essentiellen Grundlagen des Kampfes gegen die Weltmacht USA und ihre Verbündeten bildeten -

Das neue Regime begann eine dynamische Politik, die darauf zielte, die internationale Lage völlig umzuformen, das westliche Bündnissystem, das in der Stalin-Ära geschaffen wurde, zu zerbrechen, und die nicht mehr nach totaler Kontrolle, sondern nach Einfluß strebte. Sie erhob die „Schwächung der Positionen des Imperialismus" zum Programm und bemühte sich, in diese Positionen selbst einzurücken

Die grundsätzliche Neubewertung der Funktion der Dritten Welt hatte für die sowjetische Haltung gegenüber dem Nahen Osten weitreichende Konsequenzen: entschlossen wurde nunmehr die antiwestliche Politik arabischer Staaten unterstützt, sowjetisches technologisches Know-how, Kapital und Waffen angeboten, die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen ausgeweitet Mit der Anerkennung der politischen Eigenständigkeit der Staaten der Dritten Welt durch die Sowjetunion in der Erklärung des Außenministeriums zur Bandung-Konferenz (18. — 24. 4. 1955) und dem über die CSR abgewickelten sowjetisch-ägyptischen Waffengeschäft vom September 1955 erzielte die sowjetische Außenpolitik ihren entscheidenden Durchbruch im Nahen Osten Der sowjetische Entschluß, Waffen zu Bedingungen an Ägypten zu liefern, die der Westen nicht zu erfüllen bereit war, enthielt wenig Risiken, erzeugte aber stetig enger werdende Beziehungen und Bindungen, die den Einfluß der Sowjetunion im Nahen Osten wesentlich stärkten und somit ihren Interessen dienten. Sie werden auch aus der ideologischen Rechtfertigung dieser Politik deutlich, die der sowjetische Parteichef Chruschtschow, der in zunehmendem Maße die Außenpolitik der Sowjetunion bestimmte, auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 gab. Chruschtschow definierte die internationale Lage der Sowjetunion in bezug auf drei Kategorien von Staaten: den sozialistischen, den imperialistischen und den nicht zu den ersten beiden zählenden Für ihn existierte eine Welt, in der zwei Weltmächte und ihre Staatensysteme um Macht und Einfluß kämpften. In diesem Ringen maß Chruschtschow den ungebundenen und unterentwickelten Staaten große Bedeutung zu und sah eine neue Epoche anbrechen: „Die vollständige Auflösung des infamen Kolonialsystems ist als eines der akutesten und dringendsten Probleme auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die neue, von Lenin vorhergesagte Periode in der Weltgeschichte, in der die Völker des Ostens bei der Bestimmung der Ziele der ganzen Welt eine aktive Rolle spielen und zu einem neuen und mächtigen Faktor in den internationalen Beziehungen geworden sind, ist angebrochen."

Auf den signifikanten Wandel der sowjetischen Sicht der internationalen Politik weisen auch die Neugründung des „Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen" im April 1956, der Boom der politikwis29) senschaftlichen Literatur und die Rezeption der westlichen wissenschaftlichen Werke über internationale Politik hin. Sowjetische Politiker betonten sogar, daß die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Formulierung sowjetischer Außenpolitik herangezogen werden müßten Die im Nahen Osten praktizierte Politik und ihre Rechtfertigung auf dem 20. Parteitag dokumentieren den fundamentalen Wechsel der sowjetischen Strategie, die ein Dilemma lösen soll, das seit 1954 von den sowjetischen Politikern empfunden wird: den Widerspruch von marxistisch-leninistischem Auftrag der Weltrevolution und der Möglichkeit der eigenen Vernichtung durch einen nuklearen Weltkrieg. Bereits Malenkow war bewußt, daß ein Weltkrieg, der mit nuklearen Waffen ausgetragen würde, „die Zerstörung der Weltzivilisation" bedeutete. Die Erkenntnis dieser Gefahr und das Bewußtsein der sowjetischen Inferiorität ließen Chruschtschow zu der von Lenin empfohlenen indirekten Strategie zurückkehren. Mit seinem Verhalten demonstrierte er die Fähigkeit, ideologische Positionen zu überdenken und, falls nötig, zu revidieren sowie der Realität anzupassen.

Die erneute Proklamation einer Politik der friedlichen Koexistenz verlieh der sowjetischen Außenpolitik pragmatische Flexibilität, war aber zugleich mit dem Anspruch verbunden, die politischen Entwicklungen überall in der Welt beeinflussen zu können. Eine bloße Erhaltung der bestehenden internationalen Machtverteilung konnte die sowjetische Führung nicht hinnehmen, wenn sie ihr revolutionäres Ziel nicht aufgeben wollte, wie Chruschtschow später deutlich schrieb: „Kein Marxist-Leninist interpretierte die friedliche Koexistenz der Staaten mit verschiedenen Gesellschaftssystemen jemals als Aufrechterhaltung des Status quo."

Eine politische Führung, die das Ringen mit der gegnerischen Weltmacht als hervorstechendsten Wesenszug der internationalen Politik betrachtete, die bestehende internationale Machtverteilung zu ihren Gunsten zu ändern suchte, ohne durch einen Krieg mit den USA die nationale Existenz zu gefährden, mußte sich bemühen, ihre ökonomische, tech33 nologische und militärische Basis zu vergrößern und ihre Interessen in der Dritten Welt auszuweiten.

Der Nahe Osten erhielt unter diesen Aspekten als Interessenobjekt der Sowjetunion einen neuen Wert: Die Aussicht, innerarabische, arabisch-israelische Konflikte und den Emanzipationsprozeß von westlicher Vorherrschaft ausnutzen zu können, die kapitalistischen Staaten von ihren Rohstoffquellen, Absatzmärkten und strategischen Positionen zu verdrängen und diese sich selbst nutzbar zu machen, rief das eindrucksvolle sowjetische Engagement nach 1954 hervor Durch die Bemühungen der USA, die Nahost-Staaten in das westliche Bündnissystem zu integrieren, und durch den Abschluß des Bagdad-Paktes sahen die Sowjets darüber hinaus unmittelbare Sicherheitsinteressen berührt Die Nah-ost-Politik Chruschtschows reflektiert daher das aufgeklärte außenpolitische Interesse der Sowjetunion, mit diesen Staaten freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten — obwohl Angehörige der kommunistischen Parteien verfolgt wurden —, ökonomische und damit politische Abhängigkeit zu erzeugen, ideologische Verbündete zu gewinnen und militär-strategische Vorteile gegenüber den USA zu erzielen. Diese Außenpolitik übertrug das Ringen der Weltmächte mit neuen Mitteln und Methoden auch auf den Nahen Osten.

Dem differenzierten und auf die Bedürfnisse der einzelnen Nahost-Staaten berechneten politischen Verhalten der Sowjetunion kam eine oft unkritische und die Konsequenzen nicht bedenkende Bereitschaft dieser Staaten entgegen, die begrenzten gemeinsamen Interessen übermäßig zu betonen.

Schon im Jahre 1955 war es den Sowjets gelungen, durch ein insbesondere auf Ägypten und Syrien bezogenes Hilfsund Handelsprogramm von bis dahin unbekanntem Ausmaß und das entscheidende Waffengeschäft vom September 1955 dem Bagdad-Pakt entgegenzuwirken. Die Sowjetunion betrachtete das westliche Paktsystem im Nahen Osten als Einengung ihrer Handlungsfreiheit, weil jede ernste Auseinandersetzung mit diesen Staaten einen Konflikt mit den USA bedeutet hätte. Mit dem Waffenlieferungsabkommen von 1955 verhalf die Sowjetunion Ägypten aus einem Dilemma, da sie die von Nasser gewünschten Waffen lieferte und als Bezahlung Waren akzeptierte, die im Westen nicht abgesetzt werden konnten, und bereitete so den Boden für engere wirtschaftliche und politische Bindungen. Dieser sowjetische Erfolg schwächte darüber hinaus die Stellung des Irak in der arabischen Welt und veränderte das militärische Gleichgewicht.

Während die Sowjetunion ihre Rolle als Protektor der arabischen Interessen betonte, bewies die Politik der ökonomischen, finanziellen und militärischen Hilfe ihre Eignung, die auf die Angebote der Sowjetunion eingehenden Staaten des Nahen Ostens aus westlicher Abhängigkeit zu befreien und sowjetischem Einfluß zu öffnen.

Als Nasser am 26. Juli 1956 auf die Weigerung der USA, Großbritanniens und der Weltbank, das Assuan-Projekt zu finanzieren, mit der Verstaatlichung des Suez-Kanals reagierte, unterstützte die Sowjetunion die ägyptische Aktion und erhöhte sogleich ihre militärtechnologische und wirtschaftliche Hilfe. Während zunächst das Recht Ägyptens betont wurde, den Suez-Kanal uneingeschränkt zu verwalten, meldete die Sowjetunion später ihr Mitspracherecht an und legte in der Folgezeit gegen alle Lösungsversuche, die keine sowjetische Beteiligung vorsahen, ihr Veto ein

Die israelische Invasion Ägyptens im Oktober 1956, der ein britisch-französicher Versuch, die Suezfrage militärisch zu lösen, unmittelbar folgte, bot der Sowjetunion eine einzigartige Gelegenheit, sich mit der arabischen Welt zu solidarisieren, zeigte aber ebenso die für Moskau neue Gefahr, auch militärisch in den Nahost-Konflikt verwickelt zu werden. Einen Krieg hatte die sowjetische Führung weder erwartet noch wollte sie an ihm beteiligt sein wie auch die Verlegung der IL-28 Staffel nach Oberägypten schon andeutete. Als eigentlichen Gegenspieler sahen die Sowjetführer im Nahen Osten die USA: Sie wurden in einer Propagandakampagne als wirkliche Feinde der arabischen Staaten hingestellt Während Präsident Eisenhower am 5. Januar 1957 das amerikanische Interesse im Nahen Osten neu formulierte ersetzte die Sowjetunion die den Ägyptern verlorengegangenen Waffen und band durch zu-sätzliche finanzielle Anleihen und Handelsabkommen Ägypten und Syrien noch stärker an sich. Auch übernahm sie Finanzierung und Bau des Assuan-Projekts Die Reaktion der Sowjetunion auf die Eisenhower-Doktrin, deren Ausführung das weitere sowjetische Vordringen verhindern sollte, war so erfolgreich, daß ihre Thesen vollständig von der öffentlichen Meinung in den arabischen Ländern übernommen wurden

Mit Syrien, das sich 1957 am stärksten an die Sowjetunion anlehnte, schlossen die Sowjets am 28. Oktober 1957 einen Kooperationsvertrag, der ihre Position und ihren Einfluß wesentlich stärkte. Eine dreimonatige Kampagne gegen den Westen, die sogar in der militärischen Bedrohung der Türkei gipfelte, hatte diesen Vertrag vorbereitet

Das Grundmuster sowjetischer Nahost-Politik änderte sich 1958 nur wenig. Die unerwartete Revolution am 14. Juli in Bagdad wirkte sich vorteilhaft für die Sowjetunion aus, da hiermit ein weiterer Staat aus dem westlichen Paktsystem ausschied und sowjetischem Einfluß zugänglich wurde Ein Wirtschaftshilfeabkommen am 11. Oktober 1958, die Waffenlieferung vom April 1959, der Konflikt zwischen Nasser und der irakischen Führung und die starke irakische KP boten auch hier der Sowjetunion Gelegenheit, mehr Einfluß zu gewinnen und zugleich den ägyptischen Präsidenten zur Mäßigung gegenüber Kommunisten zu veranlassen

Die Verfolgung von Anhängern der kommunistischen Partei in Ägypten im Jahre 1958 führte zwar zu einer Abkühlung der sowjetisch-ägyptischen Beziehungen, doch dies beeinträchtigte nicht die gegenseitigen Bindungen und den Strom der ökonomischen und militärischen Unterstützung, solange die internationale Position der Sowjetunion aus dieser Beziehung Vorteile zog.

Auch hier mißachtete die Sowjetführung die Interessen der lokalen kommunistischen Partei, da das bestehende Verhältnis zu Ägypten ihren nationalen Interessen nützte. So übte Chruschtschow auf dem 21. Parteitag im Januar 1959 nur milde Kritik: „Wir können nicht versäumen, die Tatsache klar auszusprechen, daß eine Kampagne gegen progressive Kräfte in einigen Ländern unter dem falschen Slogan des Antikommunismus geführt wird ... Der Kampf gegen kommunistische und andere progressive Parteien ist eine reaktionäre Sache." Zugleich machte Chruschtschow deutlich, daß beim Kampf gegen den Imperialismus die ideologische Übereinstimmung mit dem Partner zweitrangig sei: „Ideologische Meinungsverschiedenheiten müssen die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen unseren Ländern nicht behindern."

Die Äußerungen Chruschtschows auf dem 21. Parteitag zu den Zielen und Interessen der Sowjetunion spiegeln auch die Erkenntnis wider, daß die Eigenschaften der arabischen Führer eine folgerichtige und systematische Politik sehr erschwerten. Einerseits mußten die Sowjets nach einer politischen Gruppe suchen, die sich ihnen bedingungslos anpaßte, andererseits behinderte der Widerspruch zwischen Kommunismus und Nationalismus diese Bemühungen. Das Problem der Steuerung und das Interesse der Sowjetunion an der Kontrolle von krisenhaften Entwicklungen im Nahen Osten war für die sowjetische Führung immer akuter geworden, da sie eskalierende Kriege für möglich hielt und einer solchen Eigengefährdung ausweichen wollte Von dieser Erkenntnis her ist auch das Streben nach mehr Einfluß zu verstehen. Die oft spontanen Aktionen der Araberführer nahmen den Sowjets immer wieder die Initiative und zwangen sie zur Improvisation. Da selbst eine kommunistische Partei im Nahen Osten nur bedingt lenkbar war, konnte die Sowjetunion nur dann mit einem Erfolg ihrer Politik rechnen, wenn es gelang, das Eingreifen der USA in die für die Sowjetunion auswertbaren Konflikte im Nahen Osten zu verhindern.

Der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluß der USA in dieser Weltregion mußte daher verringert, ihre Bewegungsund Handlungsfreiheit eingeengt werden. So forderte die Sowjetunion von den USA, ihre Stützpunkte im Nahen Osten aufzugeben, die 6. Flotte aus dem Mittelmeer zurückzuziehen und die Eisenhower-Doktrin fallenzulassen. Die große Bedeutung des Zusammenwirkens von Militärstrategie und Politik für die eigene Handlungsfreiheit war den Sowjets schon in den fünfziger Jahren bewußt: „Militärstrategie ist eine aktive Hilfe der Politik, die zu-weilen entscheidenden Einfluß auf ihre Entwicklung ausübt, wie dies gegenwärtig der Fall ist.“ Aber während die Sowjetunion ihre militärische Macht gegen Ende der fünfziger Jahre entscheidend auf strategische Raketenwaffen stützte und sich hier auch überlegen glaubte zeigten die Fehlprognosen einer amerikanischen „Raketenlücke“ und der Rückzug aus Kuba 1962 deutlich ihre strategische Unterlegenheit gegenüber dem Hauptgegner. Ihr Fehlschlag in Kuba führte den sowjetischen Entscheidungsträgem erneut vor Augen, daß „die Verhinderung des nuklearen Krieges eine Voraussetzung für die sozialistische Weltrevolution" darstellte und das revolutionäre Ziel nur bei eigener strategischer Überlegenheit, die global einsetzbar war, erreicht werden konnte. Ein Wandel der sowjetischen Seestrategie war dazu zwingend notwendig und wurde auch vollzogen, wenn sowjetische Militärwissenschaftler die Unerläßlichkeit globalstrategischer Mobilität und den Charakter maritimer Operationen als „instruktiv für die Bestimmung von Aufgaben und Aufbau unserer Seestreitkräfte" bezeichneten. Aus dieser Perspektive gewann auch der Nahe Osten für die Sowjetunion größere Bedeutung, und sie erweiterte ihre In. teressen in diesem Gebiet. Es war deshalb konsequent, wenn die Sowjetunion sich seit dieser Zeit stärker um Stützpunkte im Nahen Osten bemühte und dem Aufbau einer Mittelmeerflotte mehr Nachdruck verlieh. Neben dem direkten militärischen Nutzen gewährte die Präsenz sowjetischer Streitkräfte und die Einsatzbasen im östlichen Mittelmeer der wirtschaftlichen und politischen Durchdringung der Staaten des Nahen Ostens einen wertvollen Schutz, da sie die Handlungsfreiheit des Gegners insbesondere in Krisensituationen begrenzte.

Die sowjetischen Interessen im Nahen Osten unter Breschnew und Kossygin

Die Nachfolger Chruschtschows setzten dessen generelle strategische Linie in der Politik gegenüber den Staaten des Nahen Ostens fort. Sie zielt auf eine graduelle Veränderung der Machtverteilung zwischen den Weltmächten zugunsten der Sowjetunion: „Sowjetische Außenpolitik dient dazu, friedliche Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus zu sichern, Einheit und Zusammenhalt der sozialistischen Länder zu gewährleisten, revolutionäre Befreiungsbewegungen zu unterstützen, die Solidarität und Zusammenarbeit mit den unabhängigen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern zu fördern und die Prinzipien der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen weiterzuentwickeln.“

Das Grundmuster dieser Politik ist bis heute erhalten geblieben. Aber deutlicher als während der Regierungszeit Chruschtschows bestimmen aus sowjetischer Sicht zwei Elemente den internationalen Machtkampf: der Aufstieg der Volksrepublik China und die Notwendigkeit für eine Weltmacht — wie die Sowjetunion—, ihre Interessen in allen Teilen der Erde wirksam vertreten und möglichst durchsetzen zu können, ohne sich selbst zu sehr zu gefährden. Die steigende Bedeutung der Volksrepublik China wurde schon Anfang der sechziger Jahre gesehen: „China, das Land mit einem Viertel der Erdbevölkerung, wird sich, wenn es einen gewissen Entwicklungsstand der Produktivkräfte erreicht hat, auch in ökonomischer Hinsicht zu einer der größten Weltmächte entwickeln.“

Obwohl der Wettbewerb der Sowjetunion mit den USA auch gegenwärtig noch dominiert, hat die sowjetische Führung erkannt, daß sich die internationale Politik in zunehmendem Maße in einer Dreiecksbeziehung vollzieht, die die Sowjetunion zwingt, langfristig ihre Machtpositionen zu sichern und auszudehnen Der sowjetischen Außenpolitik stellt sich daher die Aufgabe, das relative Gewicht der Sowjetunion durch ihre Mittel und Methoden gegenüber den USA und ihren Verbündeten sowie der Volksrepublik China zu erhöhen, wobei nicht an die Errichtung eines Imperiums gedacht wird, sondern die Sowjetunion eine sozialistische Gemeinschaft der Nationen schafft, deren Glieder eine Form der Zusammenarbeit finden und praktizieren, die der Sowjetunion eine der klassischen Hegemonie-staaten ähnliche Position gewährt.

Unter dem Gesichtspunkt des Ringens der Weltmächte um politische, wirtschaftliche und militärstrategische Superiorität gewann der Nahe Osten für die Sowjetunion wachsenden Wert, denn die Vorherrschaft über ein Gebiet, das durch seine zahlreichen Erdöl-quellen, seine strategische Lage und als Absatzmarkt bedeutsam ist, konnte die internationale Machtstruktur wesentlich verändern.

Diese mit den Zielen des Sowjetstaates korrespondierenden Eigenschaften des Objekts erzeugten die Interessen der Sowjetunion und riefen ihr erhöhtes Engagement hervor. So erhielten — wie schon zwischen 1955 und 1964 — die Länder des Nahen Ostens den größten Teil der sowjetischen Wirtschaftshilfe, ca. 40 °/o, wobei Ägypten der bedeutendste Einzelempfänger war. Die gesamte sowjetische Wirtschaftshilfe an Ägypten in den Jahren 1954— 1968 umfaßte mehr als 1 Milliarde Dollar Da für die Sowjetunion diese Hilfe ökonomisch immer ein Verlustgeschäft darstellt, sind die politischen Motivationen offensichtlich obwohl die sowjetischen Politiker bei diesen Investitionen auch ökonomische Kriterien berücksichtigten. Uber eine bloße Wirtschaftshilfe hinaus hat auch die neue Führung der Sowjetunion versucht, ihren Einfluß und — in Staaten wie Ägypten — die Abhängigkeit durch Handelsverträge und technologische Hilfe zu vergrößern. Die „Gemeinsamen Wirtschaftsausschüsse auf Regierungsebene", die seit 1965/66 bestehen, gestatten es der Sowjetunion, sich genau über die Wirtschaftsentwicklung Ägyptens zu in-formieren Bereits bis April 1965 stammten 47, 5 ’/o der gesamten Kredite an Ägypten aus den sozialistischen Ländern

Ausmaß und Charakter dieser Handelsvereinbarungen sowie der Versuch der Sowjetunion, politische Gruppen in den Staaten des Nahen Ostens zu fördern, die auch eine stärkere ideologische Anlehnung an die Sowjetunion erwarten ließen, zeigen deutlich das sowjetische Interesse, außenpolitische Übereinstimmung mit diesen Nationen zu erzielen.

Der Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und Ägypten vom 27. Mai 1971 verpflichtete die Partner sogar zur Zusammenarbeit auf allen Gebieten und zur Konsultation Er wurde geschlossen, obwohl der ägyptische Präsident Sadat die Mitglieder einer auch gesellschaftspolitisch nach der Sowjetunion ausgerichteten Oppositionsgruppe um Ali Sabri Anfang Mai 1971 entmachtet hatte und gerichtlich verfolgen ließ.

Der Vertrag bestätigte nicht nur den bis dahin bestehenden Zustand. Sein Zweck war es vielmehr, bisherige Bindungen zu sichern, zu vertiefen und weitere Möglichkeiten zu schaffen, die der Sowjetunion eine effektivere Einwirkung auf die Politik im Nahen Osten gestatteten. In diesem Kontext müssen auch die Gespräche des ägyptischen Präsidenten Sadat in Moskau vom 11. bis 13. Oktober 1971 gesehen werden. Der ägyptische Präsident versprach damals erneut, sich bei der Umgestaltung der Gesellschaft seines Landes der Erfahrung der Sowjetunion zu bedienen und verurteilte Antikommunismus und Antisowjetismus, während die sowjetische Führung die militanten Äußerungen Sadats abschwächte, weitere militärische Unterstützung zwar zusagte, aber darauf bestand, daß eine Lösung des Nahost-Konflikts nur im Rahmen der UNO-Resolution Nr. 242 vom 22. November 1967 gesucht werden sollte

Die sowjetisch-ägyptischen Beziehungen blieben daher nicht ohne Reibungen. Während Sadat immer wieder ein „roll back" Israels forderte und entsprechende Waffen von der Sowjetunion erbat, zeigte Moskau deutliche Zurückhaltung und lieferte im wesentlichen nur defensiv einsetzbare Waffen an Ägypten. überdies trugen die Absprachen der So-wjetunion mit den USA zur Verhärtung des ägyptischen Kurses bei. Moskau wurde vorgeworfen, nur eigene Interessen zu verfolgen, die arabische Sache aber ungenügend zu unterstützen. Einen Höhepunkt erreichte die Verstimmung mit der Ausweisung der sowjetischen Militärberater Mitte Juli 1972. Dennoch galt der Freundschaftsvertrag weiter, und bereits im Herbst 1972 mußte Sadat in Moskau um die Fortsetzung der Waffenhilfe bitten. Dem ägyptischen Verlangen kamen die Sowjets aber erst im April 1973 — nach dem Besuch von Außenminister Fahmi und Verteidigungsminister Ismail in Moskau — zögernd und unvollkommen nach. Die Rückkehr ihrer Militärberater konnten die Sowjets nicht durchsetzen. Bei mehr als einer Gelegenheit mußte die sowjetische Führung seither erfahren, daß ihr Einfluß, ihre Unterstützung, ihre Berater von den Ägyptern zwar gebraucht werden, aber im Grunde nicht willkommener sind, als es einst Briten und Franzosen waren. Uber die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sowjetunion und Ägypten halfen bisher auch die zahlreichen Besuche der Außenminister nach dem Oktoberkrieg 1973 nicht hinweg. Die Wirksamkeit des Freundschaftsvertrages vom 27. Mai 1971 reduzierte sich beinahe auf den Austausch von Grußbotschaften zum vierten Jahrestag seiner Gültigkeit. Mit der Unterzeichnung des zweiten Sinai-Abkommens am 4. September 1975 und einer weitgehenden Anlehnung Ägyptens an die USA erreichten die sowjetisch-ägyptischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt.

Nach dem schnellen Abzug des sowjetischen Personals aus Ägypten im Jahre 1972 wandte sich das Hauptinteresse Moskaus Syrien, dem Irak und Libyen zu. Diese drei Staaten wurden seither von den Sowjets als zuverlässigste Verbündete im Nahen Osten hingestellt und deren positive Entwicklung allein der sowjetischen Hilfe zugeschrieben Die deutliche Bevorzugung Syriens und Libyens auch im Hinblick auf die Lieferung modernster Waffen gerieten fast zu einer Demonstration gegen Kairo. Dennoch kann die sowjetische Unzufriedenheit mit den bisherigen Ergebnissen ihrer Außenpolitik in diesem Bereich nicht übersehen werden. Die hohen Investitionen und die immer gefährdete politische Dividende sind seit 1955 Gegenstand innersowjetischer Diskussion geblieben: „Die internationale Aktivität der Entwicklungsländer hat Insgesamt noch nicht die Hoffnung erfüllt, die man in sie während der Periode des Kampfes der Völker Asiens und Afrikas gegen den Kolonialismus und für die Befreiung setzte." Aus sowjetischer Sicht erschien auch die Außenpolitik der Nahoststaaten „in vielen Fällen inkonsistent und wechselhaft"

Die Palästinenser entsprachen bisher nicht den sowjetischen Vorstellungen von einer politischen Elite, die zur besseren Steuerung der Politik im Nahen Osten im Sinne der sowjetischen Interessen benutzt werden konnte. Sie wurden sogar kritisiert wegen ihrer „unrealistischen Haltung, die die Gegebenheiten im Nahen Osten nicht berücksichtigt" Dennoch unterstützten die Sowjets die Palästinenser, da sie als Schicksalsfiguren des arabisch-israelischen Konflikts zwar nicht problemlose Begleiter, aber inzwischen unentbehrliche Gesprächspartner geworden sind. Insgesamt jedoch betrachtet die Sowjetunion ihre Politik gegenüber den Nahoststaaten als Erfolg. In zunehmendem Maße hat die Sowjetunion ihre Wirtschafts-und Entwicklungshilfepolitik zur Förderung ihrer außenpolitischen Interessen im Nahen Osten eingesetzt. Sie richtete sich in den letzten Jahren nicht mehr allein auf Staaten, die dem westlichen Bündnis-system nicht angehören. Vielmehr wurde und wird versucht, auch Staaten wie die Türkei und den Iran durch konstruktive und aktive Wirtschaftshilfeprogramme dem sowjetischen Einfluß langfristig zu erschließen

Weitreichende Konsequenzen für die sowjetische Nahostpolitik hat die wachsende Bedeutung der Erdölvorkommen im Nahen Osten gehabt. Da die Sowjetunion selbst über wesentliche Erdölquellen verfügt, ist die Kontrolle des Olgeschäftes für sie keine Frage des überlebens, doch erzeugte die Möglichkeit, den Einfluß kapitalistischer Staaten auch auf diesem Sektor zurückzudrängen, aus dem Olgeschäft Profit zu ziehen und weitere Bindungen zu den Nahoststaaten zu schaffen, zunehmendes Interesse. Darüber hinaus gestattete die Abnahme des Nahost-Ols, den in den letzten Jahren durch den fortschreitenden Industrialisierungsprozeß stark gestiegenen sowjetischen Bedarf zu decken und teurere Er-schließungen eigener Vorkommen zu begrenzen. Die langfristigen Lieferverträge mit Syri65 en 1965, dem Iran 1966, Irak 1967, Libyen 1969, die auch sowjetische technische Hilfe bei der Neuerschließung und Ausbeutung der Erdölvorkommen regeln, dokumentieren, daß die Sowjetunion sich massiv in das Olge-schäft einschalten konnte.

In ihrem Bemühen um globalstrategische Mobilität und der Suche nach strategischen Positionen hat die Sowjetunion die Schlüsselstellung des Nahen Ostens für ihr Vordringen nach Afrika und in den Indischen Ozean nicht übersehen. Die militärische Präsenz der Sowjetunion im Nahen Osten wurde während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ständig erweitert, ihr militärisches Engagement auf den Sudan, Somalia und den Yemen ausgedehnt und eine Mittelmeerflotte geschaffen, die die Handlungsfähigkeit der Westmächte einengte, deren Bereitschaft, in lokale Konflikte einzugreifen, herabsetzte und die sich in diesem Gebiet befindet, „um die Staatsinteressen" der UdSSR zu schützen Die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte ist seither ein Faktor, der bei jeder politischen Aktion im Nahen Osten berücksichtigt werden mußte. Da eine so große Kriegsflotte im Mittelmeer nicht gehalten werden konnte, ohne daß permanente Einsatzhäfen und Stützpunkte zur Verfügung standen, erwarb die Sowjetunion Nutzungsrechte der Häfen von Alexandria, Port Said, Latakia und Marsa Matruk überdies steht der Sowjetunion der Stützpunkt Mers-el-Kebir in Algerien als Ausbes-serungsund Versorgungshafen zur Verfügung. Auch im Indischen Ozean erhöhte die Sowjetunion ihre militärische Präsenz. Zahlreiche Äußerungen sowjetischer Politiker und Militärs lassen erkennen, daß dieser Region eine außerordentlich große strategische Bedeutung zugemessen wird Die sowjetischen Angriffe gegen die Errichtung der US-Basis auf Diego Garcia zeigen, daß die USA als der wesentliche Gegenspieler gesehen werden Der Bau der Marinebasis Hodeida im Süden der arabischen Halbinsel und das Engagement in Somalia weisen auf den Willen der Sowjetunion hin, die Seeüberlegenheit der westlichen Mächte in diesem Gebiet zu brechen und den Verbindungsweg nach Südostasien zu sichern Auf lange Sicht könnte ein Erfolg dieser Bemühungen sogar zu einer Bedrohung der westlichen Verbindungswege führen. Breschnew machte überdies die Absicht der Sowjetunion deutlich, ihre bisher noch immer vorhandene globalstrategische Unterlegenheit besonders im Hinblick auf die Entwicklung ihrer Seemacht auszugleichen: „Wir betrachteten und betrachten niemals eine Situation als ideal, in der die Kriegsflotten der Großmächte auf längere Zeit fern von ihren Küsten operieren. Wir sind bereit, dieses Problem zu lösen, aber unter Gleichen ...“

Die Interdependenz der sowjetischen Interessen und deren permanente Ausdehnung werden auch von sowjetischen Militärstrategen wie Admiral Gorschkow, dem Befehlshaber der sowjetischen Seestreitkräfte, nicht geleugnet: „Mit der wachsenden Wirtschaftsmacht der Sowjetunion weiten sich auch ihre Interessen auf den Meeren und Ozeanen immer mehr aus und werden dementsprechend neue Anforderungen an die Seestreitkräfte hinsichtlich ihrer Verteidigung gegen Übergriffe der Imperialisten gestellt."

Nicht die Anwendung militärischer Macht im Kriege hat die Sowjetunion dazu bewegt, globalstrategische Handlungsfähigkeit zu erwerben. Vielmehr schufen nach sowjetischem Verständnis die politischen Implikationen militärischer Macht, ihr latenter Einfluß im Frieden, eine Möglichkeit, sie als Instrument der Außenpolitik zu benutzen.

In einer bemerkenswerten Artikelserie im Morskoj sbornik wies Admiral Gorschkow darauf hin, daß Seemacht nicht aktiv ausgeübt werden muß, wenn man beabsichtigt, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die Geschichte, so lehrt Gorschkow, habe gezeigt, daß die Seemächte großen Einfluß allein dadurch gewinnen konnten, daß die anderen Staaten deren Machtposition anerkannten und ihre Politik diesen Bedingungen anpassen mußten. Bereits die militärische Präsenz auf allen Weltmeeren reicht aus, um „Verlauf und Ausgang von Konflikten zu beeinflussen"

Angesichts der Gefahr der Konfrontation mit den USA hat die Sowjetunion kein Interesse an militärischen Auseinandersetzungen und befürwortet eine politische Regelung des arabisch-israelischen Konflikts, die es ihr erlaubt, als Garant eines Modus vivendi in diesem Gebiet aktiv mitzuwirken Aus dem sowjetischen Verhalten wird deutlich, daß der arabisch-israelische Konflikt mit dem Ringen der Weltmächte um Einfluß im Nahen Osten untrennbar verknüpft ist. Die Sowjetunion hat daher stets auf der „vollständigen Erfüllung aller Punkte der Resolution des Sicherheitsrates vom 22. November 1967 und dem Rückzug Israels auf die Linie vom 4. Juni 1967" bestanden

Dieses grundlegende Verhalten änderte sich auch während und nach dem Yom-Kippur-Krieg nicht. Die Sowjetunion unterstützte die ägyptischen Ansichten und forderte erneut die Durchsetzung der UNO-Resolution Konsequent wurde der für die Kampfhandlungen benötigte Nachschub geliefert und die Flottenstärke im Mittelmeer erhöht. Das gemeinsame Interesse der beiden Weltmächte, eine militärische Konfrontation zu vermeiden und ihr Streben nach Entspannung blieben jedoch dominant: Sie verhandelten und bestimmten den Waffenstillstand. Wenn Breschnew andererseits eine „besondere Verantwortung" für die Regelung des Nahost-Konflikts beansprucht, so bedeutet dies, daß die Sowjetunion Machtverschiebungen in diesem Gebiet nicht den Staaten des Nahen Ostens überlassen will, aber auch die Beherrschung des Nahen Ostens durch die USA als Bedrohung der eigenen Sicherheit empfindet.

Die Wiedereröffnung des Suez-Kanals lag immer im sowjetischen Interesse, konnte aber nie ein Ersatz für eine politische Regelung im Nahen Osten sein Die acht Jahre währende Schließung dieses Wasserweges behinderte zwar die strategische Mobilität der sowjetischen Seestreitkräfte, ihrer Handelsmarine und ihren gesamten Handelsverkehr mit den Staaten südlich und östlich von Suez, der im letzten Jahrzehnt infolge des wachsenden Engagements in Südostasien besonders stark anstieg. Doch richtete sich das sowjetische Primärinteresse stets darauf, im Rahmen langfri-stiger Zielsetzungen mehr Einfluß im Nahen Osten zu gewinnen. So war es nur konsequent, wenn die Sowjetunion Kissingers Diplomatie der kleinen Schritte, die den amerikanischen Einfluß im Nahen Osten ausdehnte und die sowjetisch-ägyptischen Beziehungen weiter verschlechterte, ablehnte und statt dessen die Wiederaufnahme der Genfer Nah-ost-Konferenz forderte

Nach sowjetischer Vorstellung sollten die Verhandlungen dabei in drei Phasen verlaufen:

1. Einigung über eine vollständige Rückgabe aller von Israel eroberten arabischen Gebiete. 2. Einigung über die Garantie der legitimen Rechte des arabischen Volkes von Palästina und Errichtung eines eigenen Staates.

3. Garantien für die Rechte aller Staaten im Nahen Osten — einschließlich Israel — auf Existenz und unabhängige Entwicklung

Ein derartiges Programm würde die permanente Mitwirkung und Einflußnahme der Sowjetunion im Nahen Osten sichern. Vor allem nach dem Scheitern der Kissinger-Mission für ein Sinai-Abkommen Ende März 1975 entfaltete die Sowjetunion eine rege diplomatische Aktivität, um die Wiederaufnahme der Genfer Konferenz zu erreichen. Doch hatte der ägyptische Präsident die Hoffnung auf einen Erfolg der Politik der kleinen Schritte noch nicht aufgegeben. Der Abschluß der Kissinger-Mission im August 1975 ließ die Sowjetunion erneut an Boden im Nahen Osten verlieren und verschlechterte ihr Verhältnis zu Kairo weiter. Mit der Unterstützung aller Staaten und politischen Gruppen im Nahen Osten, die — wie die Palästinenser — eine Politik der kleinen Schritte bekämpfen, versucht die Sowjetunion nunmehr, ihre Position wieder zu festigen Trotzdem liegt gerade hier in absehbarer Zukunft noch die Chance der Sowjetunion, ihre politischen, wirtschaftlichen und militärstrategischen Interessen im Nahen Osten zu verwirklichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl W. Deutsch, Politische Kybergtik, Modelle und Perspektiven, Freiburg 1968, S. 22

  2. Pravda vom 28. 8. 1957.

  3. Izvestija vom 30. 1. 1924.

  4. V. I. Lenin, Werke, Berlin 1953, Bd. 28, S. 145.

  5. V. I. Lenin, Werke, Berlin 1953, Bd. 31, S. 126.

  6. Ebenda, S. 118.

  7. Lenin, a. a. O., Bd. 33, S. 372.

  8. Lenin, a. a. O., Bd. 30, S. 136.

  9. Lenin, a. a. O., Bd. 30, S. 145.

  10. Narody Vostoka 1/1920, S. 59.

  11. Leonard Shapiro, Soviet Treaty Series, Vol. I, Washington D. C., S. 102.

  12. I. V. Stalin, Gesammelte Werke, Moskau 1953, Bd. 10, S. 51.

  13. I. V. Stalin, Werke, Moskau 1953, Bd. 4, S. 174 ff.

  14. I. V. Stalin, Gesammelte Werke, Moskau 1953, Bd. 10, S. 51.

  15. Eugene V. Rostow, The Middle Eastern Crisis in the Perspective of World Politics, in: International Affairs, London, April 1971, Vol. 47 Nr. 2, S. 275.

  16. Ebenda.

  17. W. I. Antjudiina-Moskowtschenko, Die internationalen Beziehungen im Mittelmeerraum während der entscheidenden Wende des Kriegsverlaufs, in: W. G. Truchanovskij, Geschichte der internationalen Beziehungen 1939— 1945, Berlin 1965, S. 211.

  18. Z. A. Stepanian, Die unüberwindliche Bewegung zum Kommunismus, in: Voprosy Filosofii 2/1948, S. 87.

  19. Ebenda, S. 86.

  20. Novoe vremja vom 1. 10. 1945.

  21. Pravda vom 7. 8. 1947.

  22. Eugene V. Rostow, a. a. O., S. 280.

  23. L. N. Vatolina/E. A. Beljaev, Die Araber im Kampf um ihre Unabhängigkeit (russ.), Moskau 1957, S. 10; vgl. A. F. Sultanov, Sowjetisch-arabische Freundschaftsbeziehungen (russ.), Moskau 1961, S/18.

  24. Pravda vom 8. 11. 1954; vgl. Izvestija vom 3. 2. 1955.

  25. A. F. Sultanov, a. a. O., S. 21.

  26. L. N. Vatolina, a. a. O., S. 184.

  27. Ebenda, S. 21.

  28. Pravda vom 15. 2. 1956.

  29. j Ebenda.

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  31. Pravda vom 13. 3. 1954.

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  33. L. N. Vatolina, a. a. O„ S. 22.

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  38. Izvestija vom 15. 12. 1956.

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  40. A. F. Sultanov, a. a. O., S. 20.

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  43. Pravda vom 14. 7. 1960.

  44. A. F. Sultanov, a. a. O., S. 20.

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  79. Pravda vom 27. 4. 1975.

  80. International Affairs 4/1975, Moskau, S. 38-, vgl. Pravda vom 31. 8. 1975 und Mezdunarodnaja ekonomika i mezdunarodnyje otnosenija 8/1975, S. 104.

Weitere Inhalte

Walter Schilling, Dr. phil., geb. 1938, Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Slawistik an der Universität München, Oberstleutnant i. G. im Bundesministerium der Verteidigung. Veröffentlichungen u. a.: Der Sturz Sukarnos und die . Neue Ordnung'in Indonesien, in: Politische Studien 190, März 1970; Imperatives oder freies Mandat für unsere Abgeordneten?, in: Frankfurter Hefte 9/1974; L’Ostpolitik — une deception?, in: La Tribune d’Allemagne Nr. 605 vom 16. 8. 1975.