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Präsenz und Wirken der Katholischen Kirche in der Öffentlichkeit | APuZ 29-30/1977 | bpb.de

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APuZ 29-30/1977 Evangelische Kirche und politische Öffentlichkeit Präsenz und Wirken der Katholischen Kirche in der Öffentlichkeit

Präsenz und Wirken der Katholischen Kirche in der Öffentlichkeit

Johannes Hirschmann SJ

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Studie gibt eine Übersicht über die Hauptmotivationen und Schwerpunkte der Einflußnahme der katholischen Kirche in der Bundesrepublik seit 1945. Sie vollzieht sich in wachsender Kooperation mit der evangelischen Kirche. Zugleich zeigt sich in ihr der Zusammenhang mit den Nachkriegsentwicklungen der Weltkirche, etwa in ihrer Soziallehre oder in ihrer Erneuerung auf dem II. Vatikanischen Konzil. Allgemeine Züge des kirchlichen Wirkens in der Öffentlichkeit nach 1945 sind sowohl bestimmt durch das Wiederaufgreifen von Linien aus der vornationalsozialistischen Zeit, den Beitrag zur vertieften Besinnung auf Grundwerte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als auch durch die neu sich stellenden Aufgaben im gespaltenen Deutschland. Die wiedergewonnene und gestärkte Freiheit des kirchlichen Wirkens zeigt sich in allen Lebensbereichen. Von besonderer Bedeutung erscheint dabei ihre Soziallehre, die in den drei Jahrzehnten dieses Zeitraums innere Entwicklungen durchmachte, deren Gewicht dann vorübergehend geschwächt erscheint, neuerdings jedoch neubelebt wird. Ausführlich wird die Rolle des Verbandskatholizismus und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken behandelt, aber auch der hierarchischen Institutionen, die sich in dieser Zeit neu differenzieren. Von besonderer Bedeutung sind die Impulse, die vom II. Vatikanischen Konzil ausgehen. Der zweite Teil der Studie illustriert diesen Gesamtprozeß anhand einzelner Felder: Bemühungen um Ehe und Familie, um Jugend und alte Mernschen, die sozialkaritativen Dienste der Kirche und ihre sozialpolitische Tätigkeit, Schwerpunkte der kirchlichen Arbeit im Bildungswesen und in den Medien. Zum Schluß werden einige besonders umstrittene Aspekte kurz gestreift: das Verhältnis der katholischen Kirche zu den politischen Parteien, ihr intensiviertes Verhältnis zum europäischen Einigungsprozeß, ihre zunehmende Aufgeschlossenheit für die umfassenden Fragen der eins werdenden Welt: alles nicht nur Fragen des Beitrags der Kirche zum Bewußtsein, sondern auch zur Gestaltung unserer Zeit.

I. Einleitung

In vielfacher Weise und in unterschiedlicher Intensität wirkt die Katholische Kirche auf die Gestaltung der Öffentlichkeit, des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens der Bundesrepublik Deutschland ein. Sie tut es bewußt und aufgrund ihres Selbst-und Sendungsverständnisses. Sie begreift sich darin umfassender als nur von ihrem gesellschaftsund staatspolitischen Auftrags her: nämlich als Gemeinschaft derer, die sich in ihrer gesamten Existenz an Jesus von Nazareth, seiner Person, seiner Botschaft, seinem Leben und seinem Werk orientieren. Seine „Sache" ist die Vermittlung des Evangeliums, seines Wortes von dem, den er seinen Vater nennt, und in dessen universalen Heilswillen alle Menschen auf eine universale „Bruderschaft" hin angesprochen sind, auf Sein „Reich”. Diese „Sache" geht den Menschen in der Gesamtheit seiner Existenz an: nicht nur in seiner Innerlichkeit, sondern auch in seinen äußeren Beziehungen und Verhaltensweisen; nicht nur in seiner Privatsphäre, sondern auch in seinem vielschichtigen Verbund mit Gesellschaft und Staat.

Wenn hier von einem Tiefsten und Letzten — innerweltlich, phänomenal und rational adäquat nicht mehr „Verifizierbaren" — die Rede ist, so soll damit gesagt werden, daß gerade das Zeugnis für dieses übersteigende das Wichtigste ist, um was es der Kirche in ihrer Präsenz, ihrer Wirksamkeit in der Welt von Gesellschaft und Staat geht.

Die Universalität in dieser kirchlichen Sendung bringt mit sich, daß kirchliches Wirken in einem bestimmten Raum und in einer bestimmten Zeit nicht gesondert gesehen werden kann von seinen Erd-und Weltgeschichte einbeziehenden Zusammenhängen. Zwar versteht sich die Katholische Kirche in der Bundesrepublik als eben diese dogmatisch und geschichtlich bestimmte Institution, die das Wort „Katholische Kirche in der Bundesrepublik" ausdrückt. Sie setzt sich damit aber nicht in Gegensatz, sondern in eine nicht weniger bestimmbare Verbundenheit mit den anderen christlichen Kirchen; ja sie bekennt sogar, daß auch das Werte-und Überzeugungspotential, selbst das Glaubenspotential der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften — etwa das der Muslims, Hindus oder Buddhisten, ja selbst der Kern der Lebensorientierung aller „Menschen guten Willens" — nicht ohne Zusammenhang mit dem sind, als was sie sich selbst versteht. Der Prozeß, in dem sich dieses Wollen der Kirche konkretisiert, hat Wurzeln und Traditionen in der Gesamtgeschichte unseres Volkes. Hier soll er vor allem in jener Ausformung betrachtet werden, die ihm in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland gegeben wurde. Es bleibt nicht zu vergessen, daß diese Geschichte zunächst noch einige Jahre als eine gemeinsame verlief, die die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik miteinander verbindet. Wenn, auch unsere Betrachtung nur die Entwicklung in der Bundesrepublik betrifft, so sei doch hier darauf hingewiesen, daß, über alle Spaltungen der späteren Jahre hinweg, zwischen Ost-und Westdeutschland eine Fülle von Verbundenheiten geblieben sind, politische Vorgänge gemeinsame Antworten geweckt haben, gemeinsame Anliegen und Erwartungen gerade in den Kirchen lebendig blieben. Katholischerseits sind sie vor allem in den Katholikentagen von Bochum (1949) bis Berlin II (1958) artikuliert worden.

II. Allgemeine Züge des kirchlichen Wirkens in der Öffentlichkeit

1. Ansätze in der unmittelbaren Nachkriegszeit Der Wiederbeginn des kirchlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geschah im Kontrast zu einem politischen System, das den Anspruch der Kirche auf öffentliches Wirken grundsätzlich und praktisch erheblich eingeschränkt hatte. Trotz einiger Unsicherheiten von Bischöfen, Theologen und katholischen Intellektuellen zur Zeit der Machtübernahme — verursacht durch eine gewisse Faszination des nationalsozialistischen Autoritätsverständnisses und Antiliberalisnius, sowie durch die Kommunismuskritik und die (scheinbaren) Versprechungen der Kirchenpolitik (Reichskonkordat 1933) — hatte die Katholische Kirche im ganzen, unterstützt durch den Papst und gläubige Kreise in der evangelischen Kirche, dem Nationalsozialismus widerstanden und damit Voraussetzungen für die Teilnahme am Wiederaufbau des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens nach 1945 geschaffen. War in der nationalsozialistischen Zeit der Beitrag der Kirche zum Wohlfahrtswesen, zum Schulwesen, zur Bildung der öffentlichen Meinung, zur Mitgestaltung von Literatur, Presse, Film und Rundfunk, natürlich erst recht des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und vor allem parteipolitischen Lebens immer mehr zurückgedrängt, der kirchliche Einfluß auf Gesetzgebung und Rechtsgestaltung durch den Kampf gegen den „politischen Katholizismus" unterbunden worden, so erhielt die Kirche in den westlichen Besatzungszonen früh ihre umfassende Handlungsfreiheit zurück. Sie konnte sich umfassend beteiligen an der Überwindung der Kriegsschäden und Kriegsfolgen; dabei kam ihr die Solidarität von Katholiken aus anderen Ländern, vor allem auch aus dem Vatikan, zugute. Eine Bekehrungsarbeit unter innerlich nazistisch Gebliebenen schien in umfassendem Maß nicht nötig; es zeigte sich, daß der Nationalsozialismus unter den Katholiken wenig echte „Gläubige" gewonnen hatte. Ein größeres Problem waren dagegen die von Mitläufern gesuchten „Persilscheine" als Entnazifizierungshilfe.

Die Evakuierungen im Laufe des Krieges und die Vertreibung von Millionen aus ihrer Heimat stellten die Kirche neben dem Kampf ge-gen Hunger und andere Kriegsfolgen zunächst vor die Notwendigkeit neuer Gemeindebildungen. Wie die Verfolgungen der vergangenen Jahre ermöglichten diese Tätigkeiten eine breite Solidarisierung, die im Wiederaufbau auch dem Zusammenwirken kirchlicher und staatlicher Kräfte zugute kam. Sie wurde nicht wenig gestützt durch die in der nationalsozialistischen Verfolgung gewachsene Kooperation der Konfessionen. So gelang den Kirchen nicht nur der Aufbau von Tausenden neuer Gemeinden und die Herstellung eines neuen ökumenischen Zusammengehörigkeitsgefühls, sondern auch die Bereitschaft zu einer Neuordnung der Strukturen ihrer Arbeit in Gesellschaft und Staat.

Als eine wahre Hilfe wird man dabei das Gedächtnis an die Blutzeugen der nationalsozialistischen Zeit ansehen können. Bei einigen von ihnen, wie P. Alfred Delp, Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus, Eugen Bolz und Otto Graf, sowie auch vielen anderen Opfern der Konzentrationslager ging es ja unmittelbar um das Zeugnis der Christen im Weltdienst an Staat und Gesellschaft. Viele Bekenner wie Friedrich Muckermann und Fritz Kühr hatten Grundlagen für die Nachkriegszeit geschaffen, die für das christliche Bewußtsein bedeutsamer sind als der bloß äußere Auftrieb. Widerstandskämpfer brachten Entscheidendes ein in den neuen Anfang.

2. Die kirchliche Soziallehre

Die katholischen Christen, die nach 1945 beim Wiederaufbau von Gesellschaft und Staat mitwirkten, hatten in der Soziallehre — wie sie vor allem von Pius XL (Quadragesimo anno 1931, Divini illiusmagistri 1928, Divini Redemptoris 1933 und Mit brennender Sorge 1937) und seinem Nachfolger Pius XII. (vor allem in vielen Weihnachtsund Osteransprachen seit 1942) auf der Basis der ersten großen Sozialenzykliken Leos XIII. (1891) weiterentwickelt worden war — für ihre Arbeit eine gute theoretische Orientierung. Die päpstlichen Aussagen konnten dies auch deswegen leisten, weil in ihre Formulierungen viel Arbeit deutscher katholischer Sozialwissenschaftler und — das darf man nach der Tradition des deutschen Sozialkatholizismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vergessen — viele Erfahrungen deutscher katholischer Sozialarbeit eingegangen waren.

Es war für ihren Beitrag zur Erstellung eines Konsenses in den Grundwerten der neu zu schaffenden Verfassungen der Länder in der Bundesrepublik höchst bedeutsam, daß den in dieser Soziallehre enthaltenen Aussagen über die Würde der menschlichen Person, ihre Grundrechte, ihre wesentliche Hinordnung auf Freiheit und Gemeinschaft sowie über fundamentale Ordnungsstrukturen unseres Zusammenlebens (wie die auf Ehe begründete Familie, das sozialverpflichtete Eigentum, den subsidiären Charakter staatlichen Handelns und die Einbindung staatlicher Souveränität in die zu organisierende Völkergemeinschaft) in der Zeit nach den Zweiten Weltkrieg auch außerhalb der Kirche eine Erneuerung des Naturrechts im nichtkatholischen Rechtsdenken (Radbruch) entsprach. Das schlug sich auch nieder in den Verfassungen des Bundes und der Länder und wurde vor allem in der ersten Zeit der Rechtsprechung unserer Obersten Gerichte greifbar. Den ursprünglichen Konsens in den Grundwerten zu erhalten, ist angesichts der Neubelebung des rechtlichen Positivismus im zweiten Jahrzehnt der Bundesrepublik und problematischer Ideologien und Pragmatismen im dritten Jahrzehnt in Staat und Gesellschaft schwerer geworden. Dieser Konsens beruhte nicht auf dem Mißbrauch kirchlicher Macht-und Ideologieeinflüsse, sondern auf einer ursprünglichen, vor allem in der nationalsozialistischen Unrechtserfahrung gewachsenen Nähe von Kirche und Gesellschaft.

Dieser Orientierung unseres Rechtsbewußtseins gelang es in der Folgezeit, gewisse große offene Rechtsfragen erfolgreich anzugehen. An dieser Entwicklung waren die Kirchen wesentlich beteiligt. Ich nenne darunter vor allem den Lastenausgleich, die behutsame Entwicklung des Familienrechts und den Aufbau des Familienlastenausgleichs, die Neuordnung der Sozialleistungen, eine den Rechtsanspruch auf Hilfe in Not sichernde, dabei Elternrecht und Recht der freien Wohlfahrtspflege achtende Erneuerung des Sozial-und Jugendhilferechtes, ein ausgewogenes Wehrpflicht-und Wehrdienstverweigerungsrecht, das Mitbestimmungsrecht in der Wirtschaft sowie ein nicht zu pragmatisches Strafrecht. In mancher der großen Rechtsschöpfungen der letzten Jahre wird das Nachlassen des ursprünglichen Konsenses spürbar, der neue Widerstand der Kirche verständlich.

• In der Kirche selbst ging am Ende der fünfziger Jahre die Kraft der Soziallehre zurück.

Das hat mehrere Ursachen: In der Politik und den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen trat an die Stelle der prinzipiellen Argumentation und Entscheidung ein stark pragmatischer Grundzug (Entideologisierung). In der kirchlichen Lehrverkündigung kam es — vorbereitet durch einen wachsenden Pluralismus in der Lehre, etwa in den Fragen der „Berufständischen Ordnung", der wirtschaftlichen Mitbestimmung, des Zueinanders von Eigentum und Arbeit, der Interpretation des Subsidiaritätsprinzips, der Bewertung des Sozialismus, des Verhältnisses zwischen zeitlosen Prinzipien und dem Gewicht empirischer Daten — zu Spannungen (in Deutschland etwa zwischen den Richtungen Gundlach-Meßner und von Nell-Breuning). Offenkundig war zum wenigsten in der Aussageweise und der konkreten Auswertung eine Akzentverschiebung zwischen den Ansichten der Pius-Päpste und denen von Johannes XXIII. (Mater et magistra 1961, Pacem in terris 1962) und Paul VI. (Populorum progressio 1967), die sich enger an französische und italienische Elemente der Soziallehre (Chenu, Lehret, Pavan u. a.) anschlossen. Das II. Vatikanische Konzil hält sich (vor allem in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes 1965) mehr an die neue Linie; die letzten Aussagen des jetzigen Papstes zeigen wieder eine große Differenziertheit (z. B. Octogesimo anno 1971). In der nachkon-ziliaren Richtung der Soziallehre zeigt sich ein stärkeres Einströmen der weltweiten Sozialprobleme (Entwicklungsfrage, Organisation der Völkergemeinschaft, Überwindung von Großideologien).

Die Bedeutung dieser Lehrentwicklung nimmt bei uns wieder zu, vor allem unter dem Einfluß der Mitwirkung an der Bewältigung der Entwicklungsund Friedensfragen. Zugleich zeigt sich, inspiriert durch Impulse des Mönchengladbacher Katholikentages (1974), ein Neuaufleben theoretischer Diskussionen (zuletzt vor allem um Grundwerte und Grundrechte) und theologischer Reflexionen (u. a. bei der Gemeinsamen Synode [1971— 1975] der Bistümer in der Bundesrepublik). Ein Kreis von Professoren wie Wetter, Reding, Bochenski hatte in den sechziger Jahren z. B. im Rahmen der Paulus-Gesellschaft (darunter Rahner, Metz, Vorgrimler) das Gespräch auch mit Vertretern des Neomarxismus und mit unorthodoxen Marxisten begonnen. Zu einer effizienten geistigen Auswirkung ist es jedoch leider nicht gekommen. Noch weniger gelang das in der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus, obwohl sich im Rahmen der Bayerischen Katholischen Akademie Ansätze dazu gezeigt hatten. Auch der Versuch von J. B. Metz, durch eine „Politische Theologie"

die Grundlagen der Soziallehre auf die ganze Theologie auszuweiten, hatte nicht den erwarteten Erfolg. Die von Mönchengladbach (Bischöfliche sozial-wissenschaftliche Arbeitsstelle) jüngst ausgehenden Beiträge zur Erschließung der Geschichte der Soziallehre und Sozialen Bewegung in Deutschland lassen Impulse auch für eine verstärkte systematische Reflexion erhoffen, die einer neuen Praxis organisch verbunden ist. Bedenkt man die Hilfe, die in vergangenen Jahrzehnten das „Staatslexikon der Görresgesellschaft" gegeben hat, so könnte auch die angesagte Neuherausgabe dieses wichtigen Standardwerkes der kathoschen Sozialforschung in Deutschland diese Bewegung beschleunigen.

3. Der deutsche Verbandskatholizismus in der Nachkriegszeit

Für die praktische Verwirklichung der Sozial-lehre war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Verbandskatholizismus eine entscheidende Kraft gewesen. Aus der vom Ausland (Irland, Frankreich, Belgien) mitangeregten Inanspruchnahme des Koalitionsrechtes entstanden, von weitschauenden Persönlichkeiten wie Ritter von Buß, Lonning, von Ketteier, Kolping, Franz Hitze, Windthorst gefördert, schenkte er der katholischen Kirche nach dem Verlust zweier ihrer Machtpositionen — der Verbindung von Fürsten-und Bischofsamt und des kirchlichen Großgrundbesitzes in der napoleonischen Säkularisation — neue Instrumente zur Durchsetzung ihrer Ziele in Staat und Gesellschaft. Ihren Höhepunkt erreichten diese Aktivitäten in der spätwilhelminischen und frühen Weimarer Zeit, in der indessen der Niedergang des Volksvereins für das katholische Deutschland bereits eine Krise anzeigte. Sie wurde begünstigt durch den Verlust der Einheit in der sich immer stärker differenzierenden Vielfalt der Verbände und durch Grundsatzspannungen zu der pastoralen Erneuerungsbewegung (z. B. zwischen der mehr nach innen gerichteten, stärker hierarchiebezogenen Seelsorge und der als „individualistisch" oder peripherorientiert betrachteten Außenarbeit der Kirche). Es kam auch zu Spannungen zwischen den Einflußbereichen der Bischöfe und der „Verbandskardinäle" — so nannte man die geistlichen Leiter der überdiözesanen Verbandszentralen. Das Reichskonkordat hat daher in seinen den Verbänden ungünstigen Bestimmungen auch kirchliche Befürworter gehabt. In der nationalsozialistischen Zeit schienen Seelsorgeämter und bischöfliche Haupt-und Arbeitsstellen einen Ersatz für die Verbandstätigkeit zu liefern. Kein Wunder, daß manche kirchliche Kreise nach 1945 die Rückkehr des Verbandskatholizismus in engen Grenzen zu halten wünschten.

Aber die Verbände kamen fast alle wieder. In der Zeit des Verbots, der Verfolgung, in den Schützengräben, in Untergrund und Widerstand hatten ihre Mitglieder erfahren, was ein «katholischer Verband" ist, wie er mit Christus und den Menschen zugleich verbindet.

Die Berufsorganisationen wie KAB (Katholische Arbeiter-Bewegung), Kolping, Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung, die Bünde (Neudeutschland, Quickborn, Jugendbund), die Vereinigungen der Lehrerinnen, der Fürsorgerinnen, der Hausangestellten sowie die Gliedverbände des Caritasverbandes lebten ebenso wieder auf wie die Studentenvereinigungen und der Akademikerverband, wie Frauenbund und Deutsche Jugend-kraft. Es gab, vom Ausland inspiriert, neue Organisationen wie die Christliche Arbeiter-jugend und den Bund katholischer Unternehmer. Neue Zwecke sammelten neue Mitgliedschaften: Elternvereinigungen, die Filmliga, der Familienbund deutscher Katholiken, der Bauorden, die Abstinenzbewegungen, der Jugendschutz. Von besonderer Bedeutung für die Wahrung ihres heimatlich-kirchlichen Er-bes wurden die Verbände der Schlesier, der Ermländer, der Sudetendeutschen; sie haben entscheidend dazu beigetragen, daß der Verlust ihrer Heimat nicht zu einer gesellschaftlichen und politischen Katastrophe in der Bundesrepublik wurde. Auch neue Berufsgruppen sammelten sich: die Ärzte in den St. Lukas-Gilden, die katholischen Buchhändler, die berufstätigen Frauen, die freien Caritasschwe-stern, die kirchlichen Angestellten. Sie haben kirchliche Sozialethik in die Welt ihres Berufs mitgestaltend hineingetragen.

Manche von ihnen lockerten die Strenge des Verbandsprinzips, wurden informeller (wie die Männerwerke, die Frauen-und Müttervereine) und schufen sich neue Möglichkeiten des Eindringens in die Gesellschaft (wie manche Jugendorganisationen, die „christlichen Logen", ökumenische Arbeitskreise, Gruppen der christlich-jüdischen Verständigung). Ein Gut-teil der kirchlichen Bildungsarbeit wird durch diese Verbände vermittelt und ein großes Stück kirchlicher Diakonie von ihnen getragen, wie durch die Vinzenzkonferenzen oder die St. Elisabeth-Vereinigungen. Die Sozial-dienste katholischer Frauen und Männer haben sich um Hunderttausende von Gefährdeten gekümmert, um Behinderte aller Art, um Arme, Erholungsbedürftige, Rehabilitanden, um Frauen in Konfliktfällen. Die ungeschriebene Geschichte des Verbandskatholizismus zeigt auch in dieser Nachkriegszeit die Kraft seiner ursprünglichen Idee.

Diese Idee hat sich in vielen Fällen mit spirituellen Impulsen verbunden, wie bei den Gemeinschaften Christlichen Lebens, bei Schön-statt und in der „Legio Mariens", im Dritten Orden und bei den Focolarini, den „armen Brüdern" von Charles de Foucaud, beim Opus Dei, bei der Weltverantwortung aus christlichem Gewissen. Viele Verbände haben sich zu Arbeitsgemeinschaften verbunden, z. B. im Einsatz für die Familie oder in der Arbeit für ausländische Arbeitnehmer. Für die Förderung der Zusammenarbeit mit anderen Ländern ist das St. Ansgarwerk für den Norden Europas, das Maximilian-Kolbe-Werk für die Kontakte mit Polen vorbildlich geworden. Eine besonders bedeutsame Arbeit leistet die katholische Friedensbewegung Pax Christi. Manche dieser Vereine sprechen nur regional begrenzte Gruppen an. Viele (über 200) sind überdiözesan und zusammengefaßt in der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Verbände. Sie artikuliert gelegentlich, unterstützt durch die Millionenzahl ihrer Mitglieder, Vorstellungen über die Gestaltung unseres kulturellen und politischen Lebens.

Diese Verbände und Vereine haben ihre Probleme: das Problem der Abgrenzung ihrer Mitgliedschaften, der Wahrung ihrer ursprünglichen Zielsetzung sowie ihrer innerkirchlichen Autonomie, der rechten Zusammenarbeit untereinander und mit anderen in-nerkirchlichen Strukturen, der Sicherung wie der Öffnung des konfessionellen Prinzips. Andere Probleme ergeben sich aus der Kooperation mit ähnlich gerichteten ausländischen Organisationen oder internationalen Dachorganisationen. Der Verbandskatholizismus hat auch seine Kritiker. Aber er wird wohl noch lange eine unentbehrliche Form der Einwirkung der Kirche auf die Gesellschaft sein; er ist eben selbst in besonderer Weise ein Stück Gesellschaft in der Kirche. Im II. Vatikanischen Konzil hat er, vor allem im Dekret über das Laienapostolat, eine starke Ermutigung und Vertiefung seiner theologischen Begründung erfahren.

4. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken — Katholikentage

Der deutsche Verbandskatholizismus als Träger des Weltbezugs der Kirche ist eng verbunden mit dem Zentralkomitee. Aus dem ersten Katholikentag (Mainz 1846) hervorgegangen, hat es die Entwicklung des Verbandskatholizismus maßgeblich beeinflußt, war teilweise sein Sprachrohr, verstand sich als seine „Generalversammlung". In der ersten Nachkriegszeit schien diese Verbindung zunächst gefährdet, behauptete sich dann aber,, zumal, als zwischen 1952 und 1954 das ursprüngliche Zentralkomitee der Katholikentage sich in das heutige „Zentralkomitee der deutschen Katholiken* verwandelte. Seit dieser Zeit versteht es sich nicht mehr bloß als Arbeitsgemeinschaft von Persönlichkeiten, die die freien Kräfte des katholischen Apostolates — im Unterschied zum hierarchischen — in der Mitverantwortung für die Sendung der Kirche sammeln, sondern als Arbeitsgemeinschaft derer, die dem Laientum der Kirche zugehören und deren Apostolat darum besonders dem Weltauftrag der Kirche zugeordnet ist. Hierarchisch anerkannt und der Hierarchie durch einen Bischöflichen Assistenten verbunden, trifft es seine Entscheidungen in eigener Verantwortung. Sein Präsidium besteht aus fünf Laien; sein Geschäftsführender Ausschuß (von der Vollversammlung gewählte Laien und Geistliche) erledigt die regelmäßig anfallende Arbeit. Die Mitglieder des ZdK sind 66 Vertreter der katholischen Laienarbeit aus den Bistümern und 66 aus den Verbänden: sie repräsentieren so ein hohes Maß katholischer gesellschaftsbezogener Arbeit. Hinzu kommen etwa 25 von ihnen selbst hinzugewählte Persönlichkeiten, die ebenfalls größtenteils den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, in denen die Kirche tätig ist, zugeordnet sind. Die Stellungnahmen des Zentralkomitees werden teilweise in den Sachreferaten seines Generalsekretariats in Bonn-Bad Godesberg sowie in Kommissionen (zusammengesetzt aus Mitgliedern des Zentralkomitees und Beratern aus etwa neun Sachbereichen) vorbereitet. — Das Zentralkomitee arbeitet zusammen mit dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und dem Kommissariat der Deutschen Bischöfe, ferner mit vergleichbaren zentralen katholischen Gremien in Europa und im Päpstlichen Staatssekretariat. Seine Stellungnahmen zu Fragen unseres kirchlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens drücken umfassend, aber ohne Exklusivität oder Monopolanspruch den staats-und gesellschaftsbezogenen Willen der in ihren Institutionen repräsentierten deutschen Katholiken aus. Das Zentralkomitee wählt seit der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer 1965 zwölf Mitglieder der „Gemeinsamen Konferenz", zu der die Bischofskonferenz ebenfalls zwölf Vertreter entsendet. Sie besprechen die gemeinsamen Anliegen der Kirche in Deutschland, auch die ihres Wirkens in Staat und Gesellschaft.

Der alle vier Jahre stattfindende Deutsche Katholikentag dient der öffentlichen Aussprache und Aussage über das Wollen der deutschen Katholiken in Kirche, Staat und Gesellschaft. Er steht in Fühlungnahme mit dem Evangelischen Kirchentag und greift auch in Zusammenarbeit mit diesem in Arbeitstagungen Fragen auf, die z. B.den Sozialen Wohnungsbau, Ehe und Familie und die Entwicklungsarbeit der Kirchen betreffen. Geschichte und Ablauf der Katholikentage sind darum Brennpunkte des Willens zur Erfüllung des Weltauftrags der Katholiken. In einigen anderen Ländern hat ihre Arbeit Entsprechungen angeregt, z. B. in Österreich und jüngst auch in Italien. 5. Kirchenamtliche Strukturen im Dienst des Wirkens der Kirche in Staat und Gesellschaft

Nicht nur die Laien, Glieder der Kirche in ihrem Dienst an der Welt, sondern auch das hierarchische Amt hat Zeugnis zu geben von seiner Einstellung zu Gesellschaft und Staat aus dem Blickwinkel christlichen Verständnisses sowie seiner Einschätzung der staatlichen Gewalt in ihrer Hinordnung auf den Menschen. „Du hättest keine Gewalt", wird von Jesus dem Vertreter oberster staatlicher Gewalt gesagt, „wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“. Daran muß — in immer wieder neuen zeitentsprechenden Variationen — die Autorität in der Kirche alle Autorität in Staat und Gesellschaft erinnern.

Das setzt die ständige Begegnung von kirchlicher Führungsverantwortung mit staatlicher und gesellschaftlicher voraus. Aber ihre Struktur wandelt sich mit den Veränderungen in Staat und Gesellschaft. Der Kontakt von kirchlichem Amt und staatlichem Amt in Staat und Gesellschaft vollzog sich konkret vor allem auf drei Stufen: auf der Stufe des Papsttums, im Land vor allem durch die Nuntiaturen; durch die Bischöfe und die Verlautbarungen ihrer Konferenzen; im Dienste der Priester im Rahmen ihres seelsorgerischen Amtes.

Die Nuntiaturen sind geblieben. Ihre Stellung ist konkordatsrechtlich bei uns anerkannt; die Konkordate selbst sind verfassungsrechtlich bestätigt. Partner des Heiligen Stuhles sind Bund und Länder. Die Konkordatsmaterien um-greifen auch politische Fragen, wie z. B. das Verhältnis der Bundesregierung zum Heiligen Stuhl, das Besetzungsrecht der Bistümer, ihre Grenzziehung, das Verhältnis von Staat und Kirche, das Recht der kirchlichen Verbände. Besonders wichtig ist der Einfluß der Kirche auf die Schule (Gewährleistung des Elternrechts, freie Schulen, Religionsunterricht in der Schule).

Die Deutsche Bischofskonferenz besitzt verschiedene Zentralstellen, die Gesellschaft und Staat verbunden sind (pastoral-weltkirchliche Aufgaben, Bildung, Medien). Dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz sind mehrere entsprechende bischöfliche Haupt-und Arbeitsstellen zugeordnet, die sowohl zu dem jeweiligen Sachbereich Kontakt haben wie auch zu politischen Stellen, die für die Ordnung und Förderung des gleichen Bereichs zuständig sind. Durch persönliche Kontakte mit führenden Männern und Instanzen nehmen die Bischöfe zu den Auftrag der Kirche berührenden Frage Stellung, z. B. durch Hirtenbriefen und Erklärungen.

Trat im Vergleich zur Weimarer Zeit die unmittelbare Tätigkeit von „politischen Prälaten" in der Bundesrepublik zurück — durch sie gab es eine umfassende Information der Bischöfe über politische und soziale Fragen —, so sind an ihre Stelle auf Bundesebene und in den meisten Ländern Kommissariate der Bischöfe als Kontaktstellen zu den Parlamenten und Regierungsstellen getreten. Durch unmittelbare Kontakte mit Regierung und politischer Parteien nehmen sie Einfluß sowohl auf die Gesetzgebung als auch allgemein auf politische Entscheidungen. Expertenkommissionen unterstützen sie dabei. Sie stehen gleichzeitig mit entsprechenden Stellen der evangelischen Kirche in Kontakt und veröffentlichen zu umstrittenen Fragen Stellungnahmen aus kirchlicher Sicht. 6. Das II. Vatikanische Konzil und die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland Auf die Entwicklung des kirchlichen Einsatzes in Staat und Gesellschaft hat kein Ereignis einen so tiefgehenden Einfluß ausgeübt wie das II. Vatikanische Konzil (1961— 1965). Liegt auch sein Schwerpunkt mehr in Fragen der kirchlichen Lehre und Seelsorge, so gab es doch auch erneuernde Impulse für die kirchliche Arbeit in Staat und Gesellschaft. Es betont den Weltauftrag der Kirche und spricht in diesem Zusammenhang besonders die katholischen Laien und ihre eigene Verantwortung an (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes; Laiendekret). Ein Dekret ist den Medien gewidmet, eine Deklaration dem Erziehungswesen. Bei der Bildung des Klerus und der Ordensleute wird die Befähigung zu der ihrer Stellung in der Kirche entsprechenden Arbeit des Weltbezugs immer wieder betont. Für die Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken sind die Dekarete über den Ökumenismus, die Ostkirchen und die nichtchristlichen Religionen vertiefte und ergänzte Grundlegung. Von besonderer Bedeutung ist hier die Erklärung zur Religionsfreiheit. Von den durch das Konzil angeregten Institutionen haben besonders die Bischofssynode und der Weltlaienrat mit der Kommission für „Gerechtigkeit und Frieden" eine weltweite, auch in der Bundesrepublik ausgewiesene Bedeutung. Konkretisiert und entsprechend der deutschen Situation weitergeführt wurden die Anregungen des Konzils durch die von 1971 bis 1975 in Würzburg tagende Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar widmet sich nur ein von einer Kommission erarbeitetes und von dem Präsidium veröffentlichtes Arbeitspapier den „Aufgaben der Kirche in Staat und Gesellschaft", aber eine Reihe von Beschlüssen bezieht sich unmittelbar auch auf die konkretisierende Erfüllung dieser Aufgaben, so die Beschlüsse über „Unsere Hoffnung“, über „Die kirchliche Jugendarbeit", über „Kirche und Arbeiter", über „Kirche und ausländische Arbeitnehmer", über „Schwerpunkte kirchlicher Arbeit im Bildungsbereich", über den „Beitrag der Kirche der Bundesrepublik für Entwicklung und Frieden*, über „missionarische Dienste an der Welt“. Zu nennen sind noch ein dem publizistischen Bereich gewidmetes Arbeitspapier sowie das über „Die Kirche vor der Not der Gegenwart“.

In Bistümern und Verbänden geht die Durchführung dieser Beschlüsse weiter. Hierzu wurden — für die innere Struktur der Bistümer und der kirchlichen Dienste sowie für die Mit-verantwortung aller Glieder des Gottesvolkes — wichtige Rahmenordnungen geschaffen. Wir erhoffen von ihnen in den kommenden Jahrzehnten Hilfe für die Einflußnahme der Kirche in allen Bereichen der Gesellschaft. Für die Erfüllung dieser Hoffnungen ist nichts wichtiger als die Erneuerung der charismatischen und spirituellen Kräfte in ihr.

III. Einige Einzelfelder der Präsenz und Wirksamkeit der Kirche in Staat und Gesellschaft

1. Ehe und Familie

Gehören auch Ehe und Familie zunächst zum menschlichen Privatbereich und hat auch die Kirche in ihrer Arbeit diese Autonomie und Priorität der Familie in der Gesellschaft und ihr gegenüber immer besonders betont, so muß dieses Feld doch im Zusammenhang unserer Arbeit über Präsenz und Wirksamkeit der Kirche in Gesellschaft und Staat besonders betrachtet werden. Die Familie ist in ihrem Recht ursprünglicher als der Staat, bedarf aber zur Entfaltung der in ihr liegenden — vor allem auch sozialen — Kräfte des staatlichen Schutzes und der staatlichen Förderung. Die Kirche legt deshalb nicht nur auf ihre Arbeit in und für die Familie besonderes Gewicht, sondern tut dies auch für die Stellung der Familie in Gesellschaft und Staat.

So hat die Kirche sich schon seit den ersten Wochen der Nachkriegszeit besonders um die Familie gekümmert. Sie hat sich dafür eingesetzt, daß ihre Stellung in den Verfassungen von Bund und Ländern gestärkt wurde. Es ging ihr dabei besonders um den Schutz des ungeborenen Kindes, die Sicherung der Institution Ehe und Familie, um die Verbesserung der Stellung der Frau und Mutter, auch der des nichtehelichen Kindes in Gesetzgebung und caritativen Diensten, um die Gewährleistung des Elternrechtes, besonders im Schulund Jugendhilferecht. Zwei flankierende Hilfen hat sie in den fünfziger Jahren mit aufbauen helfen: den Familienlastenausgleich und den sozialen Wohnungsbau. Gerade die Zerstörung von acht Millionen Wohnungen durch den Krieg war der Anlaß zu einem in den Bistümern geschaffenen Wohnungsbau-werk, das sehr stark die Eigeninitiative ansprach. Nikolaus Ehlen und sein Schüler Paul Lücke haben Hervorragendes in diesem Bereich getan. Die Katholikentage von Bochum (1949) und Fulda (1954) unterstützten das Werk, an dessen Durchführung auch der Verbandskatholizismus entscheidenden Anteil hatte (Ostvertriebenenverbände, Kolpingsfa-milie). Sie haben — zusammen mit der Caritas — ein reichgegliedertes Programm der Mütter-und Kindererholung durchgeführt und sich an der Errichtung von Kinderdörfern beteiligt. Die Caritas betonte in ihrer Arbeit die Bedeutung des Familienprinzips in der Beratung, Hilfe und Fürsorge und suchte auch die Heimarbeit an ihm zu orientieren.

Beim Ausbau des Familienrechts war die Kirche mitbeteiligt. Hier kam es ihr vor allem darauf an, bei der Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau das Abgleiten in die Nivellierung der Geschlechter und den Verlust der Autonomie der Familie gegenüber Ausweitungen staatlicher Eingriffs-möglichkeiten zu vermeiden. Widerstand leistete sie gegen die Abwertung der Hausfrauenarbeit und den Zwang von Müttern mit Kleinkindern zur außerhäuslichen Berufsarbeit. Bei der Reform des Nichtehelichenund Adoptionsrechts stellte sie ihre bei der Sozialarbeit gemachten Erfahrungen zur Verfügung und baute das zahlenmäßig in der Bundesrepublik stärkste Angebot von Ehe-, Familien-und Erziehungsberatung aus. Die durch die Änderung des Strafrechts zum § 218 StGB notwendig gewordene Beratung für Frauen in Konfliktsituationen und die durch die Reform des Ehescheidungsrechtes nötige Erweiterung der Eheberatung machen eine erneute Vergrößerung und Verdichtung des Beratungsnetzes erforderlich.

Der Familienbund der deutschen Katholiken, eng verbunden mit den Elternvereinigungen, zusammenarbeitend mit dem entsprechenden evangelischen Familienbund und dem interkonfessionellen Verband, setzt sich für den weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Förderung der Familien ein, denen ein sozialer Abstieg nach der Geburt des zweiten Kindes droht. Die rückläufige Entwicklung der Bevölkerungsbewegung in letzter Zeit veranlaßt auch die Kirche, mit zu überlegen, wie in den nächsten Jahrzehnten drohende negativ? Auswirkungen verhindert werden können. Dazu bedarf die Familienpolitik der staatlichen Förderung. Aber auch die Wirtschaft muß familienfreundlicher werden, z. B. durch Schaffung von mehr Plätzen für Halbtagsarbeit von Frauen. Die Kirche sucht hier das Bewußtsein für die nötigen Schritte zu wecken.

2. Jugend und Alter

Der Bund der deutschen Katholischen Jugend vereint in sich sowohl die Jugendarbeit in den Gemeinden wie in den Gliederungen (KJG) der berufsbezogenen Verbände (Jung-kolping, Landjugend, Katholische Studierende Jugend u. a.). Auch die Studentische Arbeit ist in sie einbezogen. In der ersten Nachkriegszeit ließen die in der Weimarer Zeit starken Einflüsse der Jugendbewegung nach; dafür wirkten sich die Anregungen des in Belgien und Frankreich entwickelten Typs sozialaktiver Arbeit stärker aus (Christliche Arbeiterjugend, Katholische studierende Jugend, Landvolkjugend). Jugendbewegte Elemente bewahrten vor allem die St. Georgs-Pfadfinder. Die katholische Sportjugendorganisation (DJK) setzt sich ein für Breitensport, Schulsport, Sport mit Behinderten, Sport in der Gefängnisfürsorge; sie hat mehr als 300 000 Mitglieder und erwarb im Kreis der gesamten Sportbewegung Deutschlands eine anerkannte Stellung.

Die Gemeinsame Synode der deutschen Bistümer hat einen Beschluß über „kirchliche Jugendarbeit" veröffentlicht, der, die Erfahrungen der Arbeit der letzten Jahre auswertend, Orientierungen für diese gibt. Der Beschluß betont vor allem die Verbesserung des personellen Angebotes vor dem Sachangebot (Hei-men, Veranstaltungen, Programmen). Das letztere hat dem ersten zu dienen; nach wie vor will die Jugend Mitträger der Arbeit sein, nicht bloßes Objekt. Andererseits ist die Jugend offen für die Zusammenarbeit mit Erwachsenen. Der Gruppenarbeit stehen heute wertvolle Erfahrungen der Gruppenpsychologie zur Verfügung.

Mit dem Wachsen der durchschnittlichen Lebenserwartung und infolge der vom Gesetzgeber gegebenen Möglichkeit des vorgezogenen Rentenalters mit vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist für die Kirche eine Ausweitung des Arbeitsfeldes der Hilfe für die alten Menschen verbunden.

Andererseits sind viele alte Menschen durchaus zu Selbsthilfe fähig und bereit, in der kirchlichen Gemeinde zu helfen. Formen der Begegnung helfen die Einsamkeit und das Gefühl, überflüssig zu sein, zu überwinden. Ein hoher Prozentsatz alter Menschen lebt in Alten-und Pflegeheimen. In der Kirche gibt es an die 1 500 Altenheime mit über 60 000 Plätzen. Der Bedarf an Heimen wie an Pflegekräften wächst. Die Orden finden in ihnen eine neue Betätigung. Wichtig ist der Kontakt mit der jüngeren Generation. Die stärkere Öffnung vieler für religiöse Fragen gibt der Kirche besondere Möglichkeiten. Sowohl sozialpolitisch wie sozialkaritativ wachsen die Erwartungen an den kirchlichen Einsatz.

3. Die sozialkaritativen Dienste und die sozialpolitische Tätigkeit der Kirche Im Arbeitspapier „Die Not der Gegenwart und der Dienst der Kirche" der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer gibt es eine Statistik aus dem Jahr 1973, die sich allein mit dem Wirken des deutschen Caritasverbandes beschäftigt. Dort wird berichtet, „daß mehr als eine Million Menschen täglich in über 14 000 Heimen, Krankenhäusern, Kindergärten, Tagesstätten und Sonderschulen betreut werden; daß allein von Schwerstbehinderten unter denen, die durch geistige, seelische oder körperliche Schäden behindert sind, ca. 40 000 Menschen in besonderen Einrichtungen gefördert werden; daß es für Familien, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind, ca. 130 Ehe-und Familienberatungsstellen gibt, ca. 600 Familien-pflegestationen sowie 300 Dorfhelferinnenstationen; daß es ca. 400 Kur-und Ferienheime gibt sowie Tageseinrichtungen mit über 10 000 Plätzen für Kinder, Mütter, alte Menschen und ganze Familien; daß für eine nicht zu zählende Zahl von gefährdeten Menschen, die ausbrechen oder zugrunde zu gehen drohen, Fachleute und Helfergruppen zur Verfügung stehen;

daß Aussiedlern aus Ost-und Südosteuropa, ausländischen Arbeitnehmern und vielen weiteren geholfen wird — auch solchen, die durch Überschwemmung, Dürreperioden, Erdbeben und Kriegseinwirkungen Hab und Gut verlieren;

daß 234 574 Frauen und Männer, darunter 46 934 Ordensleute, die Caritasarbeit zu ihrem Lebensberuf gemacht haben;

daß 500 000 freiwillige Helfer diese Dienste unterstützen."

Könnte der Staat nicht alles dies heute mit seinen Wohlfahrtseinrichtungen tun? Gewiß, die Entwicklung des Prinzips der Sozialstaatlichkeit hat dazu geführt, daß heute vielen geholfen wird, denen früher nicht geholfen wurde. Aber Recht auf Hilfe ist noch nicht die Hilfe selbst. Die meisten Hilfsbedürftigen brauchen vor allem den Menschen, der hilft. Allzu viele fallen noch durch die Maschen des perfektionierten öffentlichen Wohlfahrtsnetzes, stoßen sich an der Kälte und Unpersönlichkeit seines Bürokratismus, seiner Abstraktheit, die im Menschen vieles von dem ausklammert, was seine Not ausmacht oder noch größer macht. Und es gibt sehr viele, denen die Not nicht „abgenommen werden kann", die nur jemanden brauchen, der mit ihnen die Not trägt. Es ist eine Erfahrung, daß dazu eine Motivierung nötig ist, die aus tieferen Beweggründen stammt als die öffentlich angeregte. Gewiß kann der Christ sich auch außerhalb der kirchlichen Organisationen engagieren. Gewiß hat auch in diesen die Organisation, die unumgänglich ist, wenn wirksam und nachhaltig geholfen werden soll, ihre Grenzen und Schattenseiten, aber sie sind und bleiben unentbehrlich.

Doch die Unentbehrlichkeit dieses Einsatzes ist zugleich verbunden mit der Einsicht, daß notwendige Hilfe sinnlos wird, wenn sie nicht verknüpft ist mit dem Willen, nicht nur Symptome der Not zu kurieren, sondern zugleich ihre Ursachen anzugehen. Oft sind es verkehrte soziale Strukturen, eine unausgeglichene Verteilung der Güter und Lasten in der Welt, sozial nicht verantwortbare Unterschiede unter den menschlichen Gruppen, Mängel des Rechtes, Härten und Lücken des Gesetzes, die sichtbar zu machen Aufgabe der Kirche ist neben unverzüglicher Hilfe da, wo Not nicht warten kann. Sonst weckt ihre Hilfe den Verdacht, sie bewirke, daß Not durch Hilfe zementiert werde.

Es ist sinnvoll, Caritas und Sozialpolitik zu unterscheiden: sie sind aber auch in der Kirche nicht zu trennen. So sehen wir, daß die Caritas einerseits an der Beratung der Gesetzgebung mitwirkt, andererseits durch ihre sozialpolitischen Aktivitäten dafür sorgt, daß gesellschaftspolitische Frei-Räume erkämpft werden. Wir spüren das heute beim Problem des Ehescheidungsfolgenrechts, der Neuordnung der Personensorge, der Gestaltung des Ausländerrechts, des Krankenhausfinanzierungsrechtes. An wenigen Stellen sind Kirche, Staat und Gesellschaft so aufeinander angewiesen wie im Bereich sozialer Hilfen, sind abstrakte Entwürfe einer Trennung von Kirche, Staat und Gesellschaft leichter als lebensfremd zu belegen als hier.

Die Zusammenfassung der großen Wohlfahrtsverbände in unserem Recht und ihre Ausstattung mit öffentlicher Rechtsstellung ist bereits eine organisatorische Hilfe zur Kooperation. Es mußte für die Kirche ein weiteres dazukommen: der Ausbau ihrer Verbindung nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit anderen Großorganisationen unserer Gesellschaft, z. B. mit den Gewerkschaften und ähnlichen Interessenvertretungen ebenso wie mit den Institutionen der sozialen Sicherheit. Es ist verständlich, daß die Kirche zunächst einverstanden war mit der Nichtwiederkehr christlicher Gewerkschaften nach dem Krieg. Ihre Mitoption für die Einheitsgewerkschaften, die am Anfang wohl politisch bedingt war, auch wohl im Interesse der Arbeitnehmer lag, hat sie Anfang der fünfziger Jahre — ohne viel Glück — zu revidieren versucht. So ist die Kirche zwar in gutem Kontakt mit dem Staat geblieben, hat jedoch den nicht weniger wichtigen Kontakt zu den Gewerkschaften zu wenig gepflegt. Gleiches wäre im Hinblick auf die Verbindung zu anderen Institutionen zu sagen. Auch ihre eigenen sozial-und arbeitsrechtlichen Strukturen sind nicht hinreichend genug entwickelt worden: durch sie hätte sie gesellschaftliche Modellarbeit im umfassenden Sinn leisten können. Die Synode hat das moniert. Das bedeutet nicht, daß die Sozialarbeit der Kirche ohne Einfluß geblieben wäre. Positive Beispiele sind die Reform der Sozialleistungen und neue Motive in der Eigentumspolitik (Investivlohn).

Auch neue Formen der kirchlichen Sozialatbeitkönnten, ähnlich wie im 19. Jahrhundert das Krankenhaus oder um die Jahrhundertwende Institutionen der Fürsorge, neu entwickelt werden. Dabei ist z. B. an die Sozial Station in den Gemeinden und Pfarrverbänder zu denken. Behutsam wäre zu sondieren, W‘ ökumenische Trägerschatten in der Sozialarbeit in Frage kommen. Die konfessionelle Sozialarbeit an der Ruhr war jahrelang kein schlechtes Modell.

Eine einzigartige Ausweitung hat die Verbindung von sozialem Engagement und caritativem Dienst — auch in Zusammenarbeit mit evangelisch-diakonischer Arbeit — weltweit in den Hilfswerken der Entwicklungsarbeit gewonnen, vor allem in den Werken von „Misereor*, „Adveniat“ und „Missio“. Sie führten zu einer Stützung und Förderung des Bewußtseins für die Bedeutung der Entwicklungshilfe und zu einem entsprechenden Zusammenwirken mit staatlicher Entwicklungshilfe. In der Nachkriegszeit kooperierten sie mit weltweiten Institutionen der internationalen Caritas sowie der Päpstlichen Kommission für „Gerechtigkeit und Frieden". Sie sind mit einer Intensivierung der kirchlichen Friedensarbeit verbunden, in Deutschland vor allem auch mit der Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Kirchen (Polen), und unterstützen auch die Mitarbeit der deutschen Katholiken im Ausbau der Kooperation in der Völkergemeinschaft (Sorge für die Dritte Welt: Lateinamerika, Afrika und Asien). Hier vollzieht sich ein Teil der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als expansiver Weltmacht, die nicht auf Gewalt verzichten will.

4. Schwerpunkte der kirchlichen Arbeit im Bildungswesen und in den Medien

In dem Beschluß der Gemeinsamen Synode über „Schwerpunkte kirchlicher Arbeit im Bildungswesen" werden sechs Schwerpunkte genannt, die, wenn auch von unterschiedlichem Gewicht in Tradition und Gegenwart, neben dem caritativen-sozialen Bereich das zweite Hauptwirkungsfeld der Kirche in der Gesellschaft umschreiben. Auch hier ist in vielem die Kirche dem Staat zuvorgekommen und hat Pionierarbeit geleistet. Zu nennen ist etwa die Arbeit im Kindergarten, in Schule und Hochschule sowie die Behindertenpädagogik. Ebenso ist ihr Beitrag zur Erwachsenenbildung älter als der staatliche.

Die zunehmende Bedeutung einer differenzierten Bildungsbemühung vom Gemeinwohl her hat ein wachsendes Gewicht der öffentlichen Träger in der Gestaltung des Bildungswesens nach sich gezogen.

Bei der Kirche steht die Bemühung um die Gestaltung des Schulwesens an vorderster Stelle. Sie wird bestimmt durch die Sorge um die Gewährleistung des Elternrechtes und durch das Interesse an der schulischen Religionserziehung (Sicherung der Konfessionsschule). Diesem Ziel diente ihr Kampi um die Schulartikel in den Verfassungen und das Streben um die Wahrung ihres durch die Konkordate mitgeschaffenen, durch den Nationalsozialismus angeschlagenen Besitzstandes. Dieser umfaßt: Elternrecht, Gewährleistung der Option der konfessionellen Schule, Gewährleistung des Religionsunterrichtes an den allgemeinbildenden Schulen (unter Wahrung der Toleranz), Gewährleistung der freien Schule (Privatschule) sowie Gewährleistung der katholischen Lehrerbildung. Die rechtliche Sicherung von alledem war in den einzelnen Ländern, bei denen die Schulhoheit liegt, nicht vollständig zu erzielen.

Der Ansatz der Schularbeit der Kirche nach 1945 stand im Zeichen der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Wiedereinrichtung der Konfessionsschulen). Die zunächst erreichten Erfolge stellten sich im Laufe der Zeit als problematisch heraus: Die zunehmende konfessionelle Mischung der Bevölkerung, die pädagogische Notwendigkeit des Ausbaus größerer Schuleinheiten, die Annäherung der Lehrerausbildung an die Hochschulausbildung, unterschiedliche Einstellung in den christlichen Kirchen zu Schulfragen und anderes begründeten das Zurücktreten des konfessionellen Prinzips in Schule und Lehrerausbildung sowie das Zunehmen der Einheitsschule in den sechziger Jahren. Zwar war auf dem Katholikentag in Fulda 1954 ein Versuch zu einem breiteren Experiment der freien katholischen Schule in der Diaspora diskutiert worden, hatte sich aber nicht durchsetzen können. Zu stark erwies sich auch bei den Katholiken die Kraft eines gewissen staatlichen Schulmonopols.

Wenn wir heute noch etwa 600 allgemeinbildende und 500 berufsbildende Schulen in katholischer Trägerschaft haben, dann geht es in ihnen nicht um ein bloßes Prinzip. Angesichts der nicht selten in die öffentlichen Schulen eindringenden ideologischen Belastung im Widerspruch zu Religionsfreiheit und Elternrecht stellen sie eine gleichrangige Alternative zu diesen dar, die nicht auf Privilegierungen wirtschaftlich bessergestellter Eltern beruht. Sie haben die Möglichkeit, auch ein inhaltlich vom katholichen Menschenbild — das auch Gewissensfreiheit und Toleranz einschließt — deutlicher geprägtes Erziehungsziel zu vermitteln. Ob diese Chance bei der weiteren Entwicklung unseres Schulwesens im Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung zu halten ist, muß die Zukunft zeigen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß in der katholischen Arbeit für die Schule neben den Gymnasien, vor allem den humanistischen, die Berufsschule zu kurz gekommen ist. Der Fehler wird zugegeben, und Vorschläge zur Behebung werden gemacht. Bedauerlich ist, daß dies vielfach zu sehr in Verbindung mit der Problematik des Numerus clausus an den Hochschulen und der Arbeitsplatz-sicherung gesehen wird: Auch die zu starke Bindung an vordergründige Wirtschaftsinteressen darf nicht überhand nehmen.

Mit der Kleinkinderpädagogik hat die Kirche vor allem ein soziales Problem aufgegriffen. Die katholische Kirche unterhält in der Bundesrepublik über 5 000 Kindergärten, das sind etwa 40 °/o der Gesamtzahl. Je stärker sich die eigentliche pädagogische Fragestellung herausstellt — stärkere Zuordnung zur Familie oder stärkere Zuordnung zur Schule —, um so mehr werden auch andere Aspekte deutlich: die Auswirkung des Geburtenrückgangs, das Problem der Ausländerkinder. Sie zwingen dazu, die Pädagogik des Kleinkindes neu zu überdenken. Störend wirkt sich bei den kirchlich getragenen Kindergärten der Rückgang der Schwesternberufe aus. Er läßt sich durch das stärkere Berufsangebot von katholischen Laien nur teilweise ausgleichen. Auch auf die Entwicklung der Hochschulen und Universitäten kann die Kirche im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten einwirken. Sie ist präsent in theologischen Fakultäten, kirchlichen Hochschulen und von ihr getragenen Fachhochschulen. Hier kann sie neben ihrem primären Ziel der ideologiefreien Erforschung der Wahrheit durch Schaffung menschenwürdiger Studien-und Prüfungsbedingungen und Ermöglichung des Zugangs von Kindern aus allen sozialen Schichten zur Hochschule einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die Kirche hat einen Teil ihres Defizits an akademisch ausgebildeten Bürgern ausgleichen und — nicht zuletzt durch die Tätigkeit der Görresgesellschaft — ihren Beitrag zu Forschung und Lehre erhöhen können. Die Arbeit in der Hochschulgemeinde geriet dabei zeitweise in eine Krise, von der sie sich nicht ganz erholt hat. Wichtig ist ihre ökumenische Zusammenarbeit und die Pflege des studentischen Gemeinschaftslebens — fern von jeder einseitigen Politisierung. Mit der Zunahme der Erwachsenenbildung/Weiterbildung in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit ist auch der katholische Beitrag erheblich gewachsen. Er wird geleistet auf der Ebene der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie durch Verbände und andere kirchliche Institutionen. Inhaltlich umfaßt er u. a. Ehe-und Familienbildung, allgemeine Ziele der Erwachsenenbildung sowie soziale und politische Bildung. Arbeitsgemeinschaften auf diözesaner und überdiözesaner Ebene bemühen sich um Kooperation. Besonders wirksam ist die Weiterbildungsarbeit der Akademien. Viele von ihnen stehen in katholischer Trägerschaft, öffnen sich aber in ihrem Programm auch allgemeinen Themen und nichtkatholischen Teilnehmern. Verschiedenenorts besteht eine gute Zusammenarbeit mit entsprechenden evangelischen und öffentlichen Einrichtungen. Die innere Strukturierung und das Zusammenwirken aller läßt noch Wünsche offen. Angesichts der Gefahr einer illegitimen Bevorzugung öffentlicher oder interkonfessioneller Träger bemühen sich die katholischen Einrichtungen um Gleichrangigkeit mit anderen Trägern und Gleichstellung bei der Förderung durch Bund, Länder und kommunale Gebietskörperschaften. Für die Beteiligung der Kirche im Bildungswesen wichtig ist die Mitgestaltung der Medien. Die Kirchen haben ein vitales Interesse an einer Beteiligung an den Massenmedien. Ein Dekret des II. Vatikanischen Konzils weist auf ihre Bedeutung hin. Sie ergibt sich einmal aus der Rolle, welche die Medien für die Kirche im Hinblick auf das Ermöglichen der Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst haben können. Die Kirchen müssen aber auch daran interessiert sein, „die Allgemeinheit über wichtige Vorgänge des kirchlichen Lebens und erst recht über die kirchlichen Auffassungen zu wichtigen Problemen des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu unterrichten. Wenn es richtig ist, daß im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Integration der kontinentalen europäischen Gesellschaften zu einem guten Teil von dem Zustand ihrer Information abhängig ist, so gilt das selbstverständlich auch von den großen Gruppierungen innerhalb dieser Gesellschaften, und damit auch für die Kirchen" (vgl.: Roman Herzog, Kirche und Massenmedien, in: Handbuch des Staatskirchenrechtes der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner in Verbindung mit Josef Listl SJ, Berlin 1975). Auch die Beteiligung der Kirchen am Meinungsbildungsprozeß in der Gesellschaft selbst verlangt diese Information der Allgemeinheit über die Medien.

Für den Bereich des Presse-und Filmwesens folgen die Kirchen den üblichen Formen der Einflußnahme: Bestellung von Pressereferen-ten, Spitzengespräche mit Verlegern und Chefredakteuren, Betrieb kirchlicher Presse-dienste usw., oder sie treten selbst als Verleger, Herausgeber oder Filmunternehmer auf. Es war für die Kirchen beim Aufbau des Zeitungswesens in der Bundesrepublik in der ersten Nachkriegszeit nicht leicht, eine eigene katholische Presse aufzubauen, doch gelang es katholischen Mitarbeitern in großen Tageszeitungen, eine beachtliche Präsenz und Repräsentanz katholischen Gedankengutes in die Presse einzubringen. Das ist bis heute so geblieben. Die Kirchenpresse im engeren Sinn (Kirchenzeitungen) ist zahlenmäßig groß, erreicht aber nicht eine adäquate Information der Öffentlichkeit über das katholische Denken zu den brennenden Fragen der Zeit. Der Versuch, eine auf breiter Ebene wirksame Wochenzeitung („Publik”) zu „institutionalisieren", mißlang aus mehreren Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann; der „Rheinische Merkur" ist ein beachtlicher, aber nicht ausreichender Ersatz, und die „Deutsche Tagespost" deckt nicht alle Bedürfnisse einer umfassenden Information. Besser als auf dem Zeitungssektor ging es mit der Zeitschriftenpresse. Von Fachpublikationen abgesehen, wurde hier eine gute Qualität erreicht (z. B. „Stimmen der Zeit", „Herder-

Korrespondenz", „Frankfurter Hefte“, „Dokumente"). Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang auch die Einrichtung und der Ausbau der „Katholischen Nachrichtenagentur".

Im Bereich des Hörfunks und Fernsehens hat die Kirche wertvolle Sendemöglichkeiten erhalten. Außerdem besitzt sie in diesen Medien das Recht, Mitglieder in die Aufsichtsgremien entsenden zu können. Im übrigen läßt die Deutsche Bischofskonferenz durch Projektgruppen Vorschläge für die rechtliche Form der Beteiligung der Kirche an den von verschiedenen Bundesländern geplanten Kabelfernsehpilotprojekten und die Art der Ausfüllung des Programms erarbeiten.

Die Kirche ist in der Bundesrepublik nicht unmittelbar als solche präsent in den Strukturen und Aktivitäten der politischen Parteien. Es gibt in ihnen — im Unterschied etwa zum Evangelischen Arbeitskreis in der CDU — z. B. keine ihr unmittelbar zugeordnete Institution. Es wäre verkehrt, daraus zu schließen, sie stünde in einer Aquidistanz zu den in der Bundesrepublik tätigen politischen Parteien. Die Nähe oder Distanz der Programme und der Wirksamkeit dieser Parteien zum Wollen der Kirche, das sich aus ihrem Selbstverständnis ergibt, bestimmt vielmehr über das konkrete unterschiedliche Verhältnis zu ihnen. Das „Christliche" in ihr selbst vermag dabei entscheidend beizutragen zum Verständnis des „Christlichen" da, wo es das Parteiprogramm spezifiziert, wenn es etwa gilt, gemeinsame Grundwerte im Wollen aller demokratischen Parteien bewußt zu erhalten, die den Lebensprozeß unseres Staates bestimmen.

Das gilt auch besonders im Hinblick auf zwei Dimensionen, die in zunehmendem Maße unsere Staatlichkeit und die Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens in Zukunft prägen werden. Die erste Dimension ist die europäische. Im Zusammenwirken von Bischofs-konferenzen nicht nur im westlichen, sondern im gesamten Europa, der katholischen Institutionen und Organisationen in der Bundesrepublik mit denen anderer europäischer Länder formieren sich hier neue Gehalte des Zueinanders von Kirche, Staat und Gesellschaft, die nicht nur in die gemeinsame europäische Zukunft eingebracht werden, sondern die auch wieder zurückwirken auf die Gestalt der Kirche in Deutschland.

In noch umfassenderem Maße gilt das — angesichts der zunehmenden Einheit der Welt — von der Interaktion der Kirche in Deutschland mit den Kirchen der anderen Kontinente der Welt. Gerade die Katholizität der Kirche erhält hier große Chancen. Sie produktiv und rezeptiv zu nutzen, bleibt die wachsende Aufgabe der Kirche der Zukunft. Gerade im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft haben diese anderen Kontinente und Kulturen andere Formen entwickelt als wir in der abendländischen Tradition. Vieles hat die Kirche Deutschlands hier weltweit noch anzubieten. Noch mehr hat sie zu lernen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Johannes B. Hirschmann, Dr. phil., geb. 16. 5. 1908 in Püttlingen/Saar; phil. und theol. Studien in Valkenburg (Holland), Rom und Münster i. Westf.; Dozent für Ethik, Moral-und Pastoraltheologie in Valkenburg (1939 bis 1942), Büren i. Westf. (1945— 1950), Pullach (1952) und Frankfurt a. M., Phil. -Theol. Hochschule Sankt Georgen (seit 1950). Seit 1926 Mitglied des Jesuitenordens; seit 1948 im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und als Berater der deutschen Bischofskonferenz, vor allem in sozialethischen Fragen, tätig. Päpstlicher Berater im II. Vatikanischen Konzil; von 1970— 1975 Synodale der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik. Veröffentlichungen: Mater et magistra, Münster 1963; Was sagt Bochum zum Mitbestimmungsrecht?, Paderborn 1950; Textgeschichte von „Gaudium et spes", insbesondere das Kapitel über die Wirtschaftsgesellschaft, in: Oeconomia Humana, Wirtschaft und Gesellschaft auf dem II. Vatikanischen Konzil, Köln 1968; Friede als Illusion und Wirklichkeit, in: Theologische Akademie, Frankfurt 1970; Theologie der Revolution, in: Theologische Akademie, Frankfurt 1970.