John F. Kennedy und die Kuba-Krise 1962. Zur Revision und Bestandsaufnahme der Ereignisse vor 15 Jahren
Christian Hacke
/ 39 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
15 Jahre nach der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation während der Kuba-Krise ist eine Analyse von Interesse, weil im Verlauf der Jahre sowohl die politische Bewertung von John F. Kennedy als auch die der Raketenkrise selbst in der amerikaniscnen Politikwissenschaft eine Revision erfahren hat. So wird etwa die These vertreten, Kennedy habe die USA damals leichtfertig an den Rand eines Nuklearkrieges gebracht. Eine weitere These ist, daß das Verhalten der amerikanischen Regierung während der Krise das Wettrüsten zwischen Ost und West nicht verringert, soncrn beschleunigt habe. Diese und andere Fragen werden in dem Beitrag näher beleuchtet, sodann wird der Versuch einer abgewogenen Wertung unternommen.
I. Einleitung
Vor 15 Jahren, nachdem die Kennedy-Administration entdeckte, daß die Sowjetunion auf der Insel Kuba, 90 Meilen vor der amerikanischen Küste, Mittel-und Langstreckenraketen installierte, kam es vom 16. bis 28. Oktober 1962 in der Karibik zur großen politischen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, die als Kuba-Krise oder als Raketenkrise in die Geschichte eingegangen ist.
Durch eine Seeblockade der Insel Kuba und ein militärisch-politisch abgestuftes Krisen-management erreichte der amerikanische Präsident Kennedy, daß nach 13 Tagen höchster Kriegsgefahr zwischen den beiden Supermächten die fast vollendeten Raketenbasen wieder abgebaut und mit den Raketen zu-rüde in die Sowjetunion geschifft wurden. Kein anderes Ereignis der 000 Tage währenden Präsidentschaft von John F. Kennedy hat den Kennedy-Mythos so geprägt wie dieses. Kein anderes Ereignis symbolisiert heute in der Retrospektive so deutlich den Rubikon zwischen der Ära des Kalten Krieges und der beginnenden Ost-West-Entspannung. Kein anderes Ereignis der amerikanischen Außenpolitik vor Vietnam hat sich aber auch mittlerweile einer Revision größerer Bedeutung unterziehen müssen wie die Kuba-Krise.
In der amerikanischen Politikwissenschaft wurde bis Ende der sechziger Jahre ein Bild der Kuba-Krise und John F. Kennedys gezeichnet, das besonders im Hinblick auf die Ermordung Kennedys am 22. 11. 1963 heroisierende Merkmale aufwies: „Kennedys Haltung während der Kuba-Krise, so sagte mir ein europäischer Politiker, kann vielleicht gesehen werden wie die Haltung der Griechen gegenüber den Persern in der Schlacht von Salamis 480 v. Chr., — nicht nur als Wendepunkt in der Geschichte, sondern als Beginn eines wirklich goldenen Zeitalters." 1) Dieses hohe Lob wurde ihm nicht zuletzt deshalb zuteil, weil er nach allgemeiner Auffassung die Ziele und Motive der Sowjetunion zwar klar erkannte, gleichzeitig aber eine differenzierte Eindämmungspolitik der . flexiblen Antwort'in der Krise selbst betrieb und damit die Sowjetunion nicht zur außenpolitischen Demütigung zwang, sondern ihr die Möglichkeit zum-ehrenvollen Rückzug offenließ. John F. Kennedy fürchtete aus geschichtlicher Erfahrung kaum ein Problem mehr als das der Fehleinschätzung der Motive und Absichten des Gegners: „Wenn Sie die Geschichte dieses Jahrhunderts betrachten, den Ersten Weltkrieg, der tatsächlich aufgrund einer Reihe von Fehleinschätzungen der Absichten anderer ausbrach ..., wenn Sie alle diese Fehleinschätzungen betrachten, die zu Kriegen geführt haben, dies alles macht unsere Zeit, wie ich bereits gesagt habe, zu so einer gefährlichen Zeit. Ich bin aber der Überzeugung, daß jedermann, der einen Blick auf die schicksals-hafte Liste der Atomwaffen wirft und sich klar darüber wird, daß die Kommunisten eine völlig verdrehte Vorstellung von den Vereinigten Staaten haben, . . . erkennt, daß aus diesen Gründen das Leben in den 60er Jahren so voller Risiken ist."
Deshalb war Kennedy sehr beeindruckt von Barbara Tuchmans Buch „The Guns of August" über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und während der Kuba-Krise sagte er zu seinem Bruder Robert: „Ich werde keinen Weg einschlagen, der es rechtfertigen könnte, daß irgend jemand ein ähnliches Buch über „Die Raketen im Oktober'schreibt."
John F. Kennedy sollte Sich täuschen. Der Wandel im politischen Klima und im Selbstverständnis der USA brachte seit dem Ausgang der sechziger Jahre auch eine Revision der politischen Bewertung der Kennedy-Administration mit sich. Das Pendel schlug aus: Kennedy, vormals Inkarnation und Personifizierung des amerikanischen Traums von Freiheit, Größe und moralisch-politischem Sendungsbewußtsein, der gleichzeitig die Ost-West-Entspannung initiierte, verkörperte nun für viele Kritiker die Wurzeln der amerikanischen Tragödie der sechziger Jahre Dies war nicht ohne Ironie, denn Kennedy selbst hat eine Revision des Geschichtsbildes der amerikanischen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg gefordert: „Jeder Absolvent dieser Universität, jeder denkende Bürger ... sollte damit beginnen, in sich zu gehen und seine eigene Einstellung zu den Möglichkeiten des Friedens, zur Sowjetunion, zum Verlauf des Kalten Krieges, zur Freiheit sowie zum Frieden im eigenen Lande zu überprüfen."
Nachdem eine erste Forschergeneration die Ursachen und Wirkungen des Kalten Krieges von 1943 bis Mitte der fünfziger Jahre neu analysierte und interpretierte bemüht sich nun eine zweite Generation um die kritische Überprüfung der Außenpolitik der John F. Kennedy-Administration.
Nadi Auffassung dieser Forscher riskierte John F. Kennedy ohne hinlängliche Begründung eine nukleare Katastrophe, als er 1962 die Sowjetunion zwang, die Raketen in Kuba wieder abzubauen, wobei nicht nur die Sowjetunion und die USA, sondern weitere Teile der Erde, z. B. Europa, davon hätten getroffen werden können Darüber hinaus versäumte es der amerikanische Präsident, im Rahmen des atlantischen Bündnisses entsprechende Konsultationen zu führen: „Kennedy war darauf vorbereitet, bis an die Grenze eines Nuklearkrieges zu gehen, der, falls er ausbrechen würde, auch die NATO-Partner unter großen menschlichen Verlusten miteinbeziehen würde; trotzdem schloß er sie bei einer solchen schwerwiegenden Entscheidung aus." Im Rahmen dieser Argumentationskette bestand für John F. Kennedy keinerlei Grund für eine solche dramatische Konfrontation, weil diese durch normale diplomatische Verhandlungen hätte vermieden werden können: „Diese furchtbare Konfrontation war nicht notwendig, sie hätte auf normalem diplomatischem Wege vermieden werden können." So z. B. als Präsident Kennedy gegenüber dem sowjetischen Außenminister Gromyko am 18. Oktober nicht darauf hinwies, daß er Beweise für den Aufbau von Raketenbasen hätte
Auch der amerikanische Publizist Walter Lippmann vertrat die Auffassung, Kennedy hätte die Russen nicht öffentlich, sondern geheim darüber informieren sollen, daß er über Beweise verfüge, daß die Sowjetunion Raketenbasen in Kuba aufbaue Diese Auffassung wird auch von mandien Kritikern vertreten, wobei von der Vorstellung ausgegangen wird, eine vertrauliche Nachricht an Chruschtschow hätte den Russen eine Chance gegeben, ohne Demütigung und ohne öffentliche Konfrontation die Raketen wieder abzuziehen In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, daß der kubanische Präsident Dorticos am 8. Oktober 1962 bereits auf der Generalversammlung der UNO erklärt habe, Kuba besitze zwar ausreichend Waffen, um sich vor einer Invasion der USA zu schützen, aber am liebsten würde Kuba auf diese Waffen verzichten, wenn, wie auch der kubanische Ministerrat später äußerte, die USA die Integrität und Souveränität Kubas respektieren würden und eine Garantie gäben, in Zukunft auf Invasionsversuche zu verzichten
Diese Erklärungen bedeuteten nach Auffassung der Revisionisten, daß bei einer entsprechenden Reaktion der USA Kuba bereit gewesen wäre, die nuklearen Raketen wieder abzugeben Da dies exakt das Ergebnis der Kennedy-Chruschtschow-Kontakte während der Krise Wäre, hätte John F. Kennedy gar nicht erst eine solche Krise beschwören müssen, die zudem bei einer sowjetischen Weigerung, die Raketen abzubauen, zu einer militärischen Konfrontation hätte führen können.
Nach dieser Auffassung gefährdete Kennedy also Millionen von Menschenleben, nur um ein vorteilhaftes psychologisches Erscheinungsbild für seine Außenpolitik zu erreichen, ohne daß die Substanz der politischen oder militärischen Situation sich entscheidend geändert hätte. Das Ultimatum an die Sowjetunion, die Raketen abzubauen, war unter diesen Gesichtspunkten ungerechtfertigt weil die Raketen — auch nach Auffassung der Kennedy-Administration — keine unmittelbar neue physische Gefahr für die USA darstellten. So erklärte John F. Kennedy in einem Fernsehinterview am 17. Dezember 1962: „Die Sowjets planten, im November aller Welt die Tatsache mitzuteilen, daß diese Raketen in unmittelbarer Nähe der Vereinigten Staaten stationiert worden seien. Es bestand nicht etwa die Absicht, sie abzufeuern, weil die Sowjets, sollten sie in eine nukleare Auseinandersetzung hineingeraten, aüf ihre eigenen Raketen in der Sowjetunion hätten zurückgreifen können. Aber politisch gesehen hätte dies das Gleichgewicht der Kräfte verändert.
Es hätte so ausgesehen, und der Anschein wirkt aüf die Realität ein."
Unter diesen Gesichtspunkten schien der eingeschlagene Weg der Kennedy-Administration besonders problematisch, weil sie nicht vorhersehen konnte, ob die Sowjetunion sich nicht doch letztlich für eine feste Haltung, für eine Eskalation der Krise entscheiden würde.
John F. Kennedys außenpolitisches Ansehen war seit der gescheiterten Invasion Von Exil» Kubanern mit amerikanischer Unterstützung in der kubanischen Schwei nebucht 1961 bei dem sowjetischen Premier Chruschtschow gesunken.
Dieser negative Eindruck hatte sich beim Gipfelgespräch zwischen Kennedy und Chruschtschow in Wien im Juni 1961 verstärkt. Der Aufbau der sowjetischen Raketen-basen auf Kuba war deshalb für Kennedy eine willkommene Gelegenheit, sich als erfolgreicher, starker und entschlossener Führer der westlichen Welt gegenüber der sowjetischen Führungsmacht zu profilieren
Auf militärstrategischer Ebene wurde der Kennedy-Administration der Vorwurf gemacht, sie habe mit ihrem Beharren auf strategischer Überlegenheit die Sowjetunion indirekt dazu gezwungen, Raketen auf Kuba zu stationieren, um die wachsende Disparität bzw. Überlegenheit der Vereinigten Staaten hierdurch zu verringern Schon Kennedys Wahlkampfkritik 1959/60 an der Raketenlücke und einer angenommenen sowjetischen Überlegenheit erwies sich sehr schnell als falsch; das Gegenteil war der Fall Da die USA trotzdem enorm weiterrüsteten, um ihr Konzept der strategischen Überlegenheit auszuweiten, lag hierin ein wichtiges Motiv für die Sowjetunion, Raketen auf Kuba zu stationieren.
Die strategischen Folgewirkungen der Kuba-Krise waren nach Auffassung der Kritiker entsprechend negativ. Die Krise bewirkte lediglich eine Beschleunigung des Wettrüstens, weil die sowjetische Führung glaubte, daß vor allem wegen der nuklearen Überlegenheit der USA eine erfolgreiche Politik der Kennedy-Administration möglich war und Chruschtschow deshalb im Oktober 1962 zum Rückzug gezwungen wurde. Um so mehr wuchs nun in der Sowjetunion die Bereitschaft, eine nukleare Parität oder sogar eine nukleare Überlegenheit zu erreichen, um damit international ähnlich erfolgreich operieren zu können. Die Folge waren große Riistungsanstrengungen der Sowjetunion Mitte der sechziger Jahre
Louise FitzSimons vertritt die Auffassung, daß aus militärischen Überlegungen die Bedrohung für die USA nicht ausreichend wat, um eine solche Krise heraufzubeschwören. Politisch gesehen war die Haltung der USA . unvernünftig'; Verhandlungen und eine eventuelle Neutralisierung Kubas hätten das Problem besser gelöst und die Resultate wären langfristig für die USA günstiger gewesen
Obwohl der innenpolitische Druck der Konservativen auf John F. Kennedy schon vor Ausbruch der Kuba-Krise stark war und er zum direkten militärischen Eingreifen aufgefordert wurde, hätte Kennedy nach Auffassung mancher Kritiker den Aufbau der sowjetischen Raketenbasen tolerieren sollen. Kennedy »hätte der Bevölkerung die Wahrheit sagen sollen ... Er hätte sagen können, daß die Raketen keine neue und unvorhergesehene Bedrohung darstellen, er hätte dem Land verständlich machen müssen, daß der entscheidende Unterschied lediglich darin bestünde, daß wir uns nun in einer Lage befinden wie die Europäer, die schon seit Jahren Tür an Tür mit den sowjetischen Kurzstreckenraketen leben."
Eine ähnliche Auffassung vertrat im übrigen Verteidigungsminister McNamara, der hierzu lapidar erklärte: „Rakete ist Rakete, es macht keinen großen Unterschied, ob man von einer Rakete getötet wird, die aus der Sowjetunion oder aus Kuba abgeschossen wird."
Mit diesem eingeschlagenen Weg wollte sich John F. Kennedy aber auch für die Kongreßwahlen im Herbst 1962 rüsten. Dieser Punkt wird von den Kritikern besonders stark betont. Eine kompromißlose und erfolgreiche Haltung Kennedys in der Kuba-Krise mußte zweifellos den Demokraten einen Stimmenzuwachs bringen: „Diese , Auge-in-Auge'-Kraftprobe war unnötig, aber Kennedy brauchte einen Sieg, der am Vorabend der Kongreßwahlen 1962 besonders hilfreich war, wie Sorensen in seiner Kennedy-Biographie anmerkte.“
Diese Revision des Bildes von John F. Kennedy und der Kuba-Krise hebt sich nicht unbeträchtlich von der noch bis vor kurzem üblichen Sichtweise der Dinge ab, die Kennedy als den Retter der westlichen Welt erscheinen ließ. Er ist für die Kritiker eher ein Politiker, der befürchtet, von Chruschtschow nicht ernst genommen zu werden und vielleicht eine weitere außenpolitische Niederlage hinzunehmen; deshalb ging er ein unwägbares Risiko ein, um bei den Kongreßwahlen durch einen Erfolg in dieser Krise einen Sieg erringen zu können. Kennedy erscheint ihnen als ein Mann, der mit einer Politik der permanenten Krisenerwartung und Krisenbereitschaft einen gefährlichen außenpolitischen Aktionismus betreibt, der wegen außenpolitischer Erfolglosigkeit nun in der Kuba-Krise, wenn auch bei großer Eskalationsbereitschaft bis hin zum Nuklearkrieg, eine Erfolgsmöglichkeit sieht
Wäre es da nicht besser gewesen, wie Ronald Steel es gewünscht hat, wenn Chruschtschow die Raketenbasen auf Kuba hätte vollenden können und diese dann nach umfassenden Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA wieder abgebaut worden wären?
War es nicht nur gefährlich, sondern auch unangemessen, wenn Kennedy eine bedingungslose und öffentlich eingestandene Niederlage von einem „stolzen und mächtigen Gegner“ forderte, der sich selbst im Recht und die USA im Unrecht sah?
II. Bestandsaufnahme und Rückblick auf die Kuba-Krise 1962
1. Vorbemerkung Ohne Zweifel ist es das Verdienst dieser Kritiker, der verbreiteten Mythologisierung von John F. Kennedy entgegengewirkt zu haben. Dabei erhebt sich aber die Frage, ob sie bei diesem Versuch nicht über das Ziel hinausgeschossen sind. Auffällig bei der vorge-tragenen Argumentation ist, daß das Verhalten der Sowjetunion einerseits und das Verhalten der Vereinigten Staaten andererseits mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird. Weiterhin ist auffällig, daß die oben angesprochenen Faktoren beim Entscheidungsprozeß eine gewisse Rolle spielten. Entscheidend ist jedoch, daß das bisherige Ver-halten der Sowjetunion, ihre erhöhte Risiko-und Konfrontationsbereitschaft seit Ende der fünfziger Jahre, eine verstärkte politische Gefahr für die USA und ihre Verbündeten darstellt, Dieser Punkt wird bei der Interpretation durch die Kritiker vernachlässigt. Sie suggerieren eine Außenpolitik der Sowjetunion, die rein defensiv ist. Durch die Raketen-Stationierung auf wird sozusagen die gerechte Sache verteidigt, um darüber hinaus die „verdiente strategische Parität“ erlangen zu können.
Das Dilemma der Außenpolitik John F. Kennedys lag darin begründet, daß seine Konzeption der neuen Grenze, als eine revolutionäre Außenpolitik gedacht, mit dem revolutionär-sozialistischen Anspruch der Sowjetunion und Chinas zusammenprallte. Er hatte recht — was seine Kritiker nicht anerkennen —, die Aktionen der Sowjetunion gerade auch in Kuba als politisch-psychologisch subversiv und militärisch-strategisch ungünstig für die USA zu bewerten und dem entgegenzuwirken. Ob seine Politik generell und seine Haltung in der Kuba-Krise im besonderen als abenteuerlich zu bewerten ist, wird vielleicht deutlicher, wenn man die sowjetischen Motive und Ziele näher beleuchtet. Ein solches Vorgehen wird von den Kritikern nicht ohne Grund fast völlig vermieden. 2. Die sowjetischen Motive für die Raketenstationierung auf Kuba a) Die außenpolitischen Motive Die Entscheidung der sowjetischen Regierung, auf Kuba Mittel-und Langstreckenraketen zu stationieren, innerhalb deren Aktionsradius fast der gesamte nordamerikanische und ein großer Teil des südamerikanischen Kontinents gelegen hätte, mußte im Falle der Entdeckung zu einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten führen, deren Folgen vermutlich schon bei der Entscheidung für diese Stationierung von der Sowjetunion berücksichtigt wurden.
Das Bündel der Motive der Sowjetunion für diese Aktionen stellt eine Mischung aus innen- und außenpolitischen, strategischen und psychologischen Überlegungen dar, die in diesem Zusammenhang nur sehr gerafft dargestellt werden können Eine Raketenbasis der So-wjetunion vor der amerikanischen Küste sollte speziell den Ländern Lateinamerikas deutlich machen, daß ein kleines Land sich sogar direkt vor den Küsten der USA unbesorgt der Sowjetunion anschließen könne Weiterhin sollten diese Basen das Prestige der Sowjetunion und Kubas in Lateinamerika stark vergrößern Eine erfolgreiche Raketensta. tionierung auf Kuba hätte ihre psychologische und machtpolitische Wirkung auch auf Asien und Europa nicht verfehlt. Die Stagnation bei der Verfolgung sowjetischer Ziele in Europa, besonders in Berlin, hätte unter Umständen dadurch beendet werden können Kurz: Die Sowjetunion hätte verdeutlicht, daß sie gewillt und in der Lage ist, die bipolaren Einflußzonen zu ihren Gunsten zu verändern, b) Die innersozialistischen Motive Der sowjetische Plan für eine Raketenstationierung auf der kubanischen Insel hatte auch innersozialistische Gründe: Im sino-sowjeti sehen Konflikt, dem ideologischen Disput de beiden Hegemonialmächte innerhalb des sozialistischen Lagers, hätte die Sowjetunion bewiesen, daß sie noch immer eine revolutionäre Macht ist. Die chinesischen Angriffe auf die Sowjetunion gipfelten schon vor de: Kuba-Krise in dem Vorwurf, die Sowjetunion hätte das Ziel der soziälistischen Weltrevolution zugunsten eines Arrangements mit den USA aufgegeben. Mit der Raketenstationierung auf Kuba hätte die Sowjetunion deutlich gemacht, daß sie die Zielsetzung des mare stisch-leninistischen Gedankenguts noch lange nicht auf den ideologischen Kehrrichthaufen der Geschichte geworfen hat Den Kem der ideologischen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und China, nähmlich die Frage, ob die sowjetische Außenpolitik durch die revolutionäre oder durch die konservative Komponente in der Zukunft bestimmt wird, drückt Edward Crankshaw folgendermaßen aus: „Die Sowjetunion ist mit ihrer Rolle als Weltmacht mehr beschäftigt als mit dem Fortgang der Weltrevolution .. aber viele der chinesischen Vorwürfe gegenüber der Sowjetunion zielen genau in diese Kerbe, so daß Chruschtschow, wenn er die Führung und Autorität der KPdSU außer-und innerhalb der Sowjetunion aufrechterhalten will, immer wieder demonstrieren muß, daß er in der Tat ein guter Leninist ist.“ c) Die militärstrategischen Motive Die von Kennedy im Wahlkampf aufgestellte Behauptung, es bestände im militärstrategischen Verhältnis USA—Sowjetunion eine Raketenlücke, entpuppte sich schon in den ersten Monaten der Kennedy-Administration als eine Fiktion Es stellte sich — im Gegenteil — heraus, daß die zu Beginn der Kennedy-Administration von den amerikanischen Geheimdiensten vorgenommenen Schätzungen des sowjetischen Raketenpotentials um 70 °/o zu hoch waren. Im Dezember 1961 hatten die USA gegenüber der Sowjetunion eine Raketenüberlegenheit im Verhältnis von 3: 1, die durch die enormen Rüstungsanstrengungen der Kennedy-Administration bis zum Oktober 1962 auf 4: 1 erhöht werden konnte
In dieser strategisch ungünstigen Situation hätte die Sowjetunion durch die Stationierung voi. 48 MRBMs und 24 IRBMs sowie 42 Atombombern vom Typ IL 28 auf Kuba das strategische Ungleichgewicht auf 1: 2 verkürzen können Diese Entscheidung wirft ein interessantes Licht sowohl auf den militär-strategischen Entscheidungsprozeß im sowjetischen Regierungssystem als auch auf die Umorientierung des militärstrategischen Denkens
Bis 1960 war die Mehrheit des sowjetischen Generalstabs nur an Raketenwaffen inter-essiert, die als . unterstützende Artillerie'in einem Krieg in Europa eingesetzt werden konnten. Folglich standen die Raketen unter dem Oberkommando der Artillerie, einer Waffengattung der erdgebundenen Kampftruppen. Doch schon 1960 hatte die Anzahl der russischen Mittelstreckenraketen, die auf Mittel und Westeuropa gerichtet waren, eine dreifache „overkill-Kapazität" erreicht; der Aufbau eines Langstreckenraketenpotentials hingegen machte nur geringe Fortschritte. Chruschtschow entdeckte den politischen Wert der strategischen Raketenwaffen, speziell der Langstreckenraketen, und trat deshalb für einen verstärkten und beschleunigten Aufbau der IRBMs ein, die unter einem gesonderten Oberkommando stehen sollten. Seine Zielsetzung war die quantitative Einpendelung des Raketenpotentials auf ein strategisches Gleichgewicht mit den USA.
Dieses Bemühen der sowjetischen Regierung ab 1960 wurde durch den beschleunigten Raketenaufbau der USA seit der Präsidentschaft Kennedys erschwert. Eine Raketenstationierung auf Kuba hätte dieses Problem vor allem ökonomisch wesentlich erleichtert, weil die 48 geplanten Mittelstreckenraketen in Kuba die Funktion von Langstreckenraketen übernommen und damit vorerst den Haushalt entlastet hätten. Dieses Faktum mag die Kompromißbereitschaft der konservativen Militärs, die dem Experiment auf Kuba zunächst mit großer Skepsis entgegensahen, erleichtert haben. 3. Die sowjetische Einschätzung der amerikanischen Außenpolitik der Kennedy-Administration
Die entscheidende Frage bezüglich der geplanten Raketenstationierung mußte für die sowjetische Führung die Einschätzung der Reaktionsfähigkeit und der Reaktionswilligkeit der amerikanischen Regierung sein. Wie würde J. F. Kennedy reagieren, wenn er erfährt, daß direkt vor den Küsten Floridas russische Raketen auf die USA gerichtet sind? Die Einschätzung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der amerikanischen Regierung war in den Augen der sowjetischen Führung durch die Kluft zwischen rhetorischem Anspruch und realem Ergebnis in der außenpolitischen Zielsetzung der Vereinigten Staaten gekennzeichnet.
Die dilettantische Planung und Durchführung der Invasion in der Schweinebucht im April 1961 ließen Kennedy als einen Präsidenten, er-B scheinen, der die Zugel des Regierungsappa-rates, speziell des außenpolitischen Teils der Regierungsmaschinerie mit seiner ungeheuren Komplexität, nicht unter Kontrolle hatte Andererseits darf nicht unterschätzt werden, daß die Auswirkungen der Schweinebucht-Affäre auf den amerikanischen Regierungsmechanismus in der Kuba-Krise vom Oktober 1962 zweifellos positiv waren. So stellte Arthur Schlesinger fest: „Ohne Zweifel trug die Niederlage in Kuba 1961 zum Erfolg in Kuba 1962 bei.“ Einen weiteren hohen Stellenwert in der Einschätzung der Kennedy-Administration durch die sowjetische Führung nahm das Gespräch zwischen Kennedy und Chruschtschow in Wien am 3. und 4. Juni 1961 ein. Die Einschätzung der Person Kennedys durch den russischen Ministerpräsidenten ist keineswegs einheitlich. So meinen Arthur Schlesinger und Theodore Sorenson, daß der amerikanische Präsident einen standfesten Eindruck gemacht habe Heinz Pächter kommt in seiner Analyse jedoch zu einem gegenteiligen Ergebnis das durch James Restons Betrachtung erhärtet wird Folglich hätte die amerikanische Regierung damit rechnen müssen, daß die Sowjetunion in nächster Zukunft die angebliche Schwäche der amerikanischen Haltung testen werde. Die Frage des Wann und Wo blieb jedoch unbestimmt. Zwar drohte Chruschtschow einerseits in Europa mit dem separaten Friedensvertrag mit der DDR, andererseits versicherte er jedoch, daß die Sowjetunion keine einschneidenden außenpolitischen Veränderungen vornehmen werde, bevor nicht die amerikanischen Kongreßwahlen im November 1962 stattgefunden hätten. 4. Die amerikanische Einschätzung der sowjetischen Außenpolitik Das Problem Kuba, die Achillesferse der Kennedy-Administration, rückte seit der Bekanntgabe über die Ausrüstung Kubas mit konventionellen Waffen durch die Sowjetunion, um einer amerikanischen Invasion vorzubeugen, immer mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, ja die republikanische Partei erklärte, daß sie Kuba zum Wahlkampfthema Nr. 1 machen würde.
Zwar erhielt der amerikanische Geheimdienst einerseits schon seit eineinhalb Jahren Informationen über einen Raketenaufbau in Kuba, andererseits betonte die russische Regierung immer wieder, daß sie weder Raketen auf Kuba stationiert habe, noch beabsichtige, zu irgend einem Zeitpunkt solche dort zu installieren Obwohl die amerikanische Regierung seit dem Bekanntwerden der konventionellen Militärhilfe für Kuba verstärkten Zweifel am Wahrheitsgehalt der Versicherungen der sowjetischen Führer hegte, glaubte sie doch nicht, daß diese so unklug sein könnte, nach Präsident Kennedys ausdrücklicher Warnung vom 4. und 13. September 1962 an der amerikanischen Entschlossenheit zu zweifeln. Außerdem kamen die Rußlandexperten im Außenministerium und im Weißen Haus sowie die amerikanischen Geheimdienste zu der Über-zeugung, daß eine russische Raketenstationierung auf Kuba völlig ausgeschlossen sei. Durch die Aushebung von 150 000 Reservisten, die der Kongreß mit 76: 0 Stimmen bewilligte, machte Kennedy deutlich, daß seine Entschlossenheit nicht nur verbal war, sondern daß er einer eventuellen Raketenstationierung mit militärischen Mitteln begegnen würde.
Auf Grund der fortgeschrittenen Wahlkampf-atmosphäre wurde die innenpolitische Aus-einandersetzung über Kuba immer härter Sie erreichte ihren Höhepunkt, als der republikanische Senator Keating aus New York am 10. Oktober 1962 erklärte, er könne mit . hundertprozentiger Sicherheit'beweisen, daß sich in Kuba sechs Raketenrampen für Mittelstreckenraketen im Aufbau befänden Diese Äußerungen führten zu der längsten und härtesten Auseinandersetzung im Kongreß seit dem Korea-Krieg. Ein republikanischer Senator forderte sogar die sofortige Invasion Kubas. Innerhalb des amerikanischen Geheimdienstes verdichtete sich inzwischen die Befürchtung, daß in Kuba Raketenbasen errichtet würden, immer mehr, und am 14. Oktober 1962 enthüllten die Filme des letzten U-2-Fluges eindeutig, daß in der Gegend von San Christobai Startrampen für Mittelstrek-kenraketen installiert wurden. Am gleichen Tag erklärte McGeorge Bundy, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates, jedoch in einem Fernsehinterview: „Meines Wissens gibt es derzeit keine Anhaltspunkte. Ich glaube, daß es auch nicht wahrscheinlich ist, daß die kubanische Regierung und die sowjetische Regierung zusammen den Plan verfolgen, große Offensivkapazitäten zu installieren." Erst am späten Abend des 15. Oktober 1962 erhielt Bundy die Beweismaterialien, die er am 16. Oktober morgens dem Präsidenten überbrachte.
Wie konnte die amerikanische Regierung zu der eklatanten Fehleinschätzung bezüglich der russischen Motivation und außenpolitischen Zielsetzung kommen? 5. Die sowjetische Strategie der Täuschung Die Sowjetunion wandte eine außenpolitische Strategie an, die man als Strategie der Täuschung bezeichnen kann. Diese war jedoch nicht kombiniert mit einer Strategie der massiven militärischen Drohung, wie sie die Sowjetunion z. B. während der Berlin-Krisen praktizierte. Die sowjetischen Maßnahmen bis zum Ausbruch der Kuba-Krise zeigten deutlich, daß hier erstmals die USA und die westliehe Welt nicht durch offiziöse Ankündigungen in Panik versetzt werden sollten. Im Gegenteil: Es war das Ziel der sowjetischen Führung, die Vereinigten Staaten vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Die Strategie der Täuschung, kombiniert mit der Zielsetzung eines fait accompli, war die entscheidende Neuerung im außenpolitischen Instrumentarium der Sowjetunion und der Grund, warum die Vereinigten Staaten erst , 5 Minuten vor 12’ die noch im Bau befindlichen Raketenbasen entdecken konnten. Hinzu kommt, daß ein Grundmuster im angelsächsischen Denken, eine Art . politisches fair play', auf die Denkund Aktionskategorien der sowjetischen Führung übertragen wurde. Dies wird in Kennedys erbitterter Reaktion bei der Entdeckung der Basen deutlich. Umgekehrt nahm die Sowjetunion an, daß ihre Interpretation von Konfliktlösungen der amerikanischen entsprechen würde.
Zusammenfassend kann man zu dem Ergebnis kommen, daß jede der beiden Seiten ihre eigenen Klischeevorstellungen über den anderen auf das zu erwartende Verhalten des Kontrahenten übertrug: Beide Regierungen konnten oder wollten nicht glauben, daß die Gegenseite das tun würde, was sie dann tatsächlich tat. 6. Die Kuba-Krise unter dem Aspekt der Eskalation a) Gefahr der Eskalation in Berlin Chruschtschow hatte zwar ausdrücklich betont, er wolle das Berlin-Problem bis nach den Kongreßwahlen vertagen, aber mußte man jetzt nicht mit einer neuen Eskalation in Berlin rechnen? Um dieser Eskalation vorzubeugen, betonte Präsident Kennedy in seiner Fernsehrede am 22. Oktober, daß eine Verschärfung der Situation in Berlin die schwersten Konsequenzen nach sich ziehen würde. War diese Äußerung Kennedys lediglich „eine rhetorische Abschreckung“ oder wurde eine mögliche Eskalation in Berlin konkret in die militärische und politische Planung der USA einbezogen? Schon seit dem Fiasko in der Schweinebucht im April 1961 und auf Grund der permanenten sowjetischen Drohung, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, hatte Kennedy einen Planungsstab für Berlin eingesetzt, der unter der Leitung von Dean Acheson stand und dem Präsidenten direkt unterstellt war. Während das Exekutiv-Komitee des Nationalen Sicherheitsrates seit dem 16. Oktober permanent tagte, schien die Gefahr einer zweiten Berlin-Krise offenkundig zu sein. Sowohl die Gespräche zwischen Gromyko und Kennedy als auch die Briefe Chruschtschows an Kennedy machten klar, daß zumindest nach den Kongreßwahlen ein russischer Vorstoß in der Berlin-Frage zu erwarten sei. Noch am 16. Oktober 1962 forderte das infoffizielle Parteiorgan der KPdSU, Prawda, den sofortigen Abschluß eines separaten Friedensvertrages mit der DDR. Als Chruschtschow erklärte, er würde „gerne und bald" in die USA kommen, schien seine Strategie klar zu sein: Nach dem vollendeten Aufbau der Raketenbasen würde er entweder vor der UNO oder auf einem Gipfeltreffen mit Kennedy die Raketenstationierung offenbaren und den USA ein Tauschgeschäft anbieten: Die Sowjetunion würde ihre Raketenbasen auf Kuba abbauen, wenn sich die amerikanische Regierung in der Frage West-Berlins „verständig“ zeigen würde Aus einer Bemerkung Präsident Kennedys ging hervor, daß auch er die eigentliche Konfliktgefahr zunächst in Europa vermutete und folglich in der Raketenstationierung nur eine Hebelfunktion für die sowjetische Zielsetzung in Berlin sah Aus der Befürchtung heraus, daß die Sowjetunion möglicherweise einen weiteren Konfliktherd in Berlin schaffen würde, hatte Kennedy innerhalb des Exekutivkomitees schon im Stadium der Planung eine Gruppe unter der Leitung des Unterstaatssekretärs im Verteidigungsministerium, Paul Nitze, beauftragt, im Falle einer solchen Eskalation in Berlin militärische und politische Optionen vorzubereiten. Die Argumentation der „Falken", insbesondere von John McCloy und Dean Acheson, für einen direkten konventionellen Angriff auf die russischen Basen in Kuba resultierte aus dieser Befürchtung, eine Blockade Kubas würde lediglich eine Blockade Berlins nach sich ziehen. Erst Robert F. Kennedys moralische Argumentation, daß eine direkte Attacke nicht mit dem Gedankengut der amerikanisehen Tradition in Einklang stünde, wendete das Blatt zugunsten einer mehrheitlichen Befürwortung der Blockade. b) Gefahr der Eskalation in der Türkei Die zweite Möglichkeit für eine Eskalation der Krise lag in der Befürchtung, daß Chruchtschow einen Tausch mit den amerikanischen Mittelstreckenraketen-in der Türkei anstreben würde. Genau wie die Idee der beiden Blockaden war auch die Idee einer gegenseitigen Aufgabe der Raketenbasen von „schimmernder Symmetrie" Die Vorgeschichte um die Mittelstreckenraketen vom Typ Thor und Jupiter wirft ein bezeichnendes Licht auf den Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß des außenpolitischen Regierungsapparates der Vereinigten Staaten und die Einflußmöglichkeit des Präsidenten. Schon im Frühjahr 1962 hatte Kennedy auf Anraten des Verteidigungsministers McNamara seinen Außenminister Dean Rusk beauftragt, die türkische Regierung davon zu unterrichten, daß die veralteten Jupiter-und Thor-Basen abgebaut werden sollten. Auf der NATO-Ministerkonferenz im Mai 1962 trug der amerikanische Außenminister und Paul Nitze vom Verteidigungsministerium das amerikanische Anliegen dem türkischen Außenminister Selem Sarper vor. Der türkische Außenminister bestand auf der Aufrechterhaltung der Basen.
Im Sommer 1962 hatte Kennedy die Frage erneut aufgeworfen. Das amerikanische Außenministerium empfahl dem Präsidenten jedoch, die türkische Regierung nicht zu drängen, weil erneute Gespräche mit ihr inzwischen wiederum gescheitert waren. Auch Verteidigungsminister McNamara wurde in die Verhandlungen mit einbezogen — jedoch ohne Erfolg
Obwohl die Basen militärisch veraltet waren, hatten sie nach türkischer Argumentation einen symbolischen Sicherheitswert. Wichtig erscheint auch die ökonomische Argumentation zu sein, die in den offiziellen Gesprächen nicht angeschnitten wurde und die Kennedy in einer Bemerkung zu Adlai Stevenson so umschrieb: „Diese Raketen in der Türkei sind nicht viel wert, aber was die Türken wollen und brauchen, sind die Löhne und Gehälter, die diese Basen bieten." Kennedy hatte schließ-lieh — die türkischen Einwände nicht berücksichtigend — den endgültigen Abbau der Raketenbasen für die dritte Augustwoche 1962 angeordnet; er wurde jedoch nicht durchgeführt Das Beispiel der Raketenbasen in der Türkei zeigte, wie beschränkt die Möglichkeiten der amerikanischen Regierung sind, die Grenzen des Bündnisses zu durchbrechen.
Chruschtschows tatsächliche Forderung nach Abbau der Basen in seinem Brief vom 27. Oktober 1962 an Präsident Kennedy während der Krise zeigte, daß die Idee des Basenaustausches durchaus im Bereich des Möglichen lag. Ein eventueller sowjetischer Angriff auf die Basen in der Türkei als Antwort eines amerikanischen Angriffs auf die Basen in Kuba hätte bedeutet, daß der Konflikt sich auf das westliche Bündnis ausgedehnt hätte, da bei einer solchen Attacke die NATO unmittelbar in die Konfrontation hineingezogen worden wäre. In seinem am 28. Oktober 1962 mit dem russischen Botschafter Dobrynin geführten Gespräch machte Robert F. Kennedy deutlich, die amerikanische Luftwaffe würde angreifen, falls am folgenden Tage die Sowjets nicht mit dem Abbau der Basen beginnen würden. Andererseits legte er dem Botschafter der UdSSR dar, daß die amerikanischen Basen in der Türkei veraltet seien und innerhalb der nächsten Monate abgebaut werden würden, daß jedoch unter dem Druck der augenblicklichen Situation die amerikanische Regierung auf Chruchtschows Tauschgeschäft nicht eingehen würde. Die Eindeutigkeit der amerikanischen Haltung und gleichzeitig die inoffizielle Zusicherung, die Raketenbasen in der Türkei abzubauen, veranlaßten Chruschtschow zum Einlenken. Er erklärte sich bereit, die Raketenbasen auf Kuba abzubauen. Damit war die Gefahr einer Eskalation der Krise gebannt. 7. Die Krise als amerikanisch-sowjetische Kommunikation Die horizontale Kommunikation während der Krise mit der Sowjetunion zeichnete sich dadurch aus, daß die Maxime der „abgestuften Abschreckung“ die Grundlage für die politische Entscheidung bildete Die diplomatischen und militärischen „Signale" mußten für die Gegenseite unverwechselbar sein, denn „für den Präsidenten stellte sich das Problem, die Ereignisse genau unter Kontrolle zu halten, so daß die sowjetische Führung Zeit zum Sehen, Denken und Blinzeln haben würde" Die bipolare Kommunikation zeichnete sich dadurch aus, daß eine hohe Übereinstimmung zwischen den Aktionen der Gegenseite und der Beurteilung der Aktionen der anderen Partei zustande kam. Die Krise war also nicht allein „als eine Konfrontation zu verstehen, in der zwei Seiten unabhängig voneinander agieren, sondern als System engverzahnter Interaktionen und Wechselwirkungen" Dem sowjetischen Ministerpräsidenten wurde folglich keine Forderung, die er nicht verstehen konnte, keine, die er nicht erfüllen konnte, und keine, die darauf abstellte, ihn unnötig zu demütigen, gestellt. Im Gegenteil: Das Exekutivkomitee erörterte, wie die sowjetische Reaktion auf jeden möglichen Schritt der Vereinigten Staaten sein würde und wie dann die amerikanische Antwort auf die sowjetische Reaktion sein müsse usw., oder, wie es Averell Harriman ausdrückte: „Wir müssen Chruschtschow einen Ausweg lassen; falls uns dies gelingt, können wir den Einfluß der Falken in der sowjetischen Führung verringern. Aber wenn wir ihm einen Ausweg verweigern, dann werden wir diese Angelegenheit bis zum Nuklearkrieg eskalieren müssen." Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Zielsetzung der abgestuften Abschrekkung, nämlich jeder politischen oder militärischen Entscheidung ein Maximum an Spiel-raum für verschiedene Optionen zu lassen, am Beispiel der Kuba-Krise verifiziert werden konnte und somit den gelungen Testfall dieser Theorie darstellt.
III. Die Folgen der Kuba-Krise
1. Die Abgrenzung der Interessenssphären Als nach der Kuba-Krise eine Beruhigung der Weltlage eintrat, glaubte man, daß der Beginn einer neuen Ära der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen angebrochen sei. Dabei wurde jedoch vergessen, daß nicht die vorhergegangene Annäherungspolitik Kennedys, sondern im Gegenteil erst sein entschlossenes Auftreten während der Krise eine gewisse Entspannung herbeigeführt hatte. Als erstes hatte die Regierung Kennedy der sowjetischen Regierung verdeutlicht, daß das Gleichgewicht der Großmächte, die bisherige Abgrenzung der Interessensphären, durch die Großmächte selbst eingehalten werden muß. Dies hatte zur Folge, daß die russische Strategie der Drohung mit militärischer Gewalt oder die Methode des diplomatischen Drucks, der durchaus in militärische Aktion eskalieren kann, vorerst an Bedeutung verlor. Zu fragen ist, ob die Mäßigung in der Methode auch eine Mäßigung in der politischen Zielsetzung der Außenpolitik der Sowjetunion zur Folge hatte. Fest steht, daß die Situation des atomaren Patts und die Fähigkeit beider Mächte, den Angreifer mit einem Vergeltungsschlag total zu zerstören (wer zuerst zuschlägt, stirbt als zweiter), auf die bipolare Balance stabilisierend wirkte. 2. Wandel in der Struktur des internationalen Systems Vor der Kuba-Krise war das bipolare Interaktionsmuster zwischen der Sowjetunion und den USA primär durch Prestige und Machtstreben unter Androhung nuklearer Gewaltanwendung gekennzeichnet. Die Kuba-Krise leitete nun nicht gerade eine intime Phase zwischen den beiden Hegemonialmächten ein, aber die gemeinsam überstandene Gefahr eines möglichen Nuklearkrieges hatte zur Folge, daß man, wenn auch nur in begrenztem Umfang, bipolare Sicherheitsmechanismen einbaute wie den . heißen Draht'am 20. Juni 1963. Die Problematik der Abrüstungsbemühungen muß in diesem Zusammenhang unerwähnt bleiben Es bleibt jedoch festzuhalten, daß der Abschluß des Atomteststopp-Abkommens vom 5. August 1963 der erste große Fortschritt im Bereich der Abrüstungsbemühungen darstellte, um den man sich seit Jahren vergeblich bemüht hatte.
Nach der Kuba-Krise schälte sich immer mehr eine gemeinsame Zielsetzung heraus, die die Bündnispolitik der Vereinigten Staaten während der J. F. Kennedy-Administration in starkem Maße beeinflussen sollte: das Interesse der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, eine Ausweitung der Atomwaffenmächte unter allen Umständen zu verhindern. Die Furcht vor Proliferation, die Vorstellung, daß mehrere Staaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnten, wurde zum Hauptanliegen beider Mächte. Wie sehr diese um die Aufrechterhaltung der „bipolaren Nukleararistokratie" innerhalb der eigenen Einflußsphäre ringen mußten, zeigte die Auseinandersetzung um den Abschluß dieses Vertrages innerhalb der beiden Blöcke.
Abschließend kann man zu dem Ergebnis kommen, daß die Kuba-Krise für die sechziger Jahre das letzte Beispiel einer direkten Konfrontation der beiden Großmächte darstellte. Sie signalisierte den Anfang einer neuen Entspannungsphase zwischen den beiden Blöcken und bewirkte auch, daß sich das Instrumentarium der Abschreckung wandelte. Dies bedeutete, daß eine direkte sowjetische Herausforderung in Europa vorerst nicht zu befürchten war Die Nuklearwaffen als Mittel politischer Drohung wurden teilweise ersetzt durch subtilere und — so paradox es klingen mag — durch die erneute Anwendung von „konventioneller Gewalt", besonders bei Konflikten der Dritten Welt, die jedoch außerhalb der bipolaren und klar abgegrenzten Interessenssphären der beiden Großmächte ausgetragen werden Diese klare Abgrenzung und die gegenseitige Respektierung der Interessenzonen stellt das Hauptergebnis der Kuba-Krise dar.
IV. Schlußbetrachtung
Die Darlegung der sowjetischen Motive und Zielsetzungen für die Installierung der Raketen auf Kuba und die daraus resultierenden Eskalationsgefahren sollten verdeutlichen, daß viele Argumente der hier vorgestellten Kritik einer Überprüfung bedürfen und zum Teil nicht haltbar sind.
Zu dem Vorwurf, daß Kennedy leichtfertig eine nukleare Katastrophe im November 1962 riskiert habe, läßt sich sagen, daß Kennedy in der Tat eine hohe, aber kalkulierte Risikobereitschaft zeigte. Kennedys Verhalten in der Kuba-Krise zeichnet sich eben gerade dadurch aus, daß er nicht sofort die von vielen anderen gewünschte Option des direkten Luftangriffs auf die Raketenbasen befürwortete, sondern sich zunächst für eine Blockade Kubas entschied. Die unter Kennedy eingeführte neue Militärdoktrin der abgestuften Abschreckung, daß nämlich jeder politischen oder militärischen Entscheidung ein Maximum an Spielraum für verschiedene Optionen zukommen müsse, konnte am Beispiel der Kuba-Krise verifiziert werden. Somit stellt die Kuba-Krise die gelungene Anwendung der Theorie der abgestuften Abschreckung dar. Auch das Argument, die Krise hätte durch diplomatische Geheimverhandlungen mit der Sowjetunion bereinigt werden können, bedarf der Überprüfung. Der sowjetischen Strategie der Täuschung, die zudem hohe politische und strategische Vorteile für die internationale Situation der Sowjetunion innerhalb und außerhalb des sozialistischen Lagers gebracht hätte, konnte wohl kaum mit Mitteln der konventionellen Diplomatie erfolgreich begegnet werden Eine starke und trotzdem flexible Antwort war notwendig: „Dieser heimliche, plötzliche und umfangreiche Aufbau von kommunistischen Raketen, der im krassen Gegensatz zu früheren sowjetischen Versprechen .. . steht, stellt eine absichtliche, provokatorische und ungerechtfertigte Veränderung des Status quo dar, die von unserem Land nicht hingenommen werden kann, wenn unser Mut und unsere Verpflichtungen von Freund und Feind noch ernst genommen werden sollen."
In der Tat stellte sich für Kennedy die Forderung, nach einer Kette von außenpolitischen Mißerfolgen der Sowjetunion deutlich zu machen, daß die westliche Führungsmacht entschlossen sei, die Sowjetunion außenpolitisch in ihre Schranken zu weisen. Zu Recht wird von den Kritikern darauf verwiesen, daß Kennedy von einer politischen, militärischen und strategischen Überlegenheit der USA im internationalen System ausging. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, daß Kennedy dabei die politischen Ambivalenzen seiner Zeit personifiziert: Einerseits ist er noch verhaftet in den Denkgewohnheiten des Kalten Krieges, ja er wird durch das Verhalten der Sowjetunion entgegen seinem Willen zu einer Haltung der militärischen und politischen Stärke gezwungen, andererseits machte er auch schon vor der Kuba-Krise deutlich, daß er eine amerikanisch-sowjetische Entspannung suchte. Wer Kennedy unterstellt, er wäre allein der imperialen Außenpolitik von Acheson und Dulles in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren verpflichtet gewesen, interpretiert nicht nur die Außenpolitik jener Zeit, sondern auch die Außenpolitik Kennedys falsch, denn er war eben mehr als ein romantischer Imperialist. Die Kritiker sind der Meinung, Kennedy hätte den Aufbau von Raketenbasen auf Kuba tolerieren sollen, da diese keine neue direkte militärische Gefahr für die Vereinigten Staaten bedeutet hätten. Jedoch lediglich unter militärischen Gesichtspunkten wäre eine solche Lösung möglich gewesen. Aus dem politischen Denken der Zeit heraus hätten jedoch die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der westlichen Welt dadurch eine politisch-psychologische Niederlage erlitten. Ihre Entschlossenheit, eine Verschiebung des politisch-militärischen Kräfteverhältnisses gegenüber der Sowjetunion nicht zuzulassen, hätte an Überzeugungskraft verloren.
Zweifellos spielten innenpolitische Erwägungen eine Rolle, die letztlich aber als untergeordnet bezeichnet werden können. Viele Kritiker vergessen bei ihrer Argumentation die machtpolitischen Realitäten des internationalen System in der Phase des Kalten Krieges. Sie vergessen, ignorieren oder verkleinern die machtpolitische Dynamik, (die auch von der Außenpolitik der Sowjetunion mitbestimmt wurde, und interpretieren die Rhetorik und Programmatik der Sowjetunion defensiv; sie betrachteten aber Rhetorik und Realität der Vereinigten Staaten als deckungsgleich, wobei sich ja herausgestellt hat, daß gerade die mangelnde Bereitschaft der USA, ihrem rhetorischen Anspruch einer Politik der Stärke nachzukommen, die Sowjetunion in ihrem Vorhaben bestärkte, ihre Einflußsphäre auch notfalls mit Gewalt abzusichern und auszudehnen. Andererseits müssen einige Argumente, die im Zuge der kritischen Geschichtsschreibung an Bedeutung gewonnen haben, zu Recht betont werden. In der Folge der Kuba-Krise zerbrach die Einheit des sino-sowjetischen Kommunismus. Die Kuba-Krise hat den Weg für eine neue China-Politik der USA frei gemacht; diese Chance wurde jedoch von John F. Kennedy noch nicht gesehen, sondern erst gegen Ende der sechziger Jahre genutzt, als sich in den USA ein differenzierteres Kommunismusbild ent-wickelte. John F. Kennedy hatte seit der Kuba Krise zwar eine wachsende Bereitschaft zur Detente erkennen lassen, aber die Ambivalenz seiner Grundhaltung blieb: Einsicht in die Entspan nung mit der Sowjetunion ja, aber die Konsequenz eines revidierten Kommunismusbildes wollte und konnte sich bei John F. Kennedy nicht einstellen. Er blieb beim vom Kalten Krieg geprägten Kommunismusbild: „Wir müssen zwischen unserer Hoffnung und unseren Illusionen unterscheiden; dabei sollen wir auf stetigen Fortschritt in Hinblick auf weniger gefährliche Beziehungen mit der Sowjetunion hoffen, uns aber keinen Illusionen über die kommunistischen Methoden und Ziele hingeben.“
So blieb auch Kennedys China-Bild nach der Kuba-Krise hoffnungslos antiquiert. Er konnte nicht erkennen, daß Pekings Feindschaft gegenüber den USA ihren Grund in der langen Feindschaft der USA gegenüber der Volksrepublik China hatte, die wiederum in einem kriegerischen und aggressiven Kommunismusbild begründet lag. Es klingt heute, nach 15 Jahren, fast absurd, aber ein Ergebnis der Kuba-Krise war, daß John F. Kennedy nach dieser Krise nicht mehr in der Sowjetunion, sondern in China die größte und langfristig gefährlichste Macht sah, die den Weltfrieden bedrohen würde. Noch acht Tage vor seinem Tod sagte Kennedy: „Es scheint mir, als ob Rot-Chinas Politik nicht nur die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Rot-China verursacht, sondern auch die zwischen Rot-China und ihren südlichen Nachbarn, ja sogar auch die zwischen Rot-China und anderen kommunistischen Ländern."
Es ist erstaunlich, daß in Kennedys Berater-stab (den „Besten" und „Gescheitesten“ des Landes) keine Ansätze für eine neue realistische China-Politik der USA entwickelt wurden. Das Gegenteil war der Fall: Kennedys Rolle und Bedeutung für das amerikanische Engagement in Vietnam liegen in der Furcht vor einem aggressiven Kommunismus in Asien und einer vermuteten Dominotheorie begründet, wobei das Zentrum für diese Gefahren in China vermutet wurde. Die Kuba-Krise hatte aber noch eine andere negative Auswirkung: Sie hat die Kennedy-Administration, der es an intellektueller Überheblichkeit nicht gerade mangelte, noch selbstsicherer und weniger selbstkritisch gemacht. Dieses Gefühl übertrug sich auch auf die Nation. Der Dichter Robert Frost sah mit Kennedy ein augusteisches Zeitalter anbrechen. Amerika erlebte in der Tat seinen imperialen Scheitelpunkt; die politische, strategische und moralische Überlegenheit der USA schien nach der Kuba-Krise ihre Rechtfertigung und Bestätigung erlebt zu haben. Von Oktober 1962 bis zum November 1963 hatten die USA in ihrer Geschichte einen Hauch von politischer und moralischer Überlegenheit, ja Allmacht erreicht, der dann im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre in ein Gefühl der Ohnmacht und Resignation umschlug
Der Tod Kennedys im November 1963 war somit Ende und Beginn zugleich: Ende des Glaubens an ein Sendungsbewußtsein der USA und Anfang der außen-und innenpolitischen Frustrationen, die das Selbstverständnis der USA schwer erschüttern sollten. Für mehr als zehn Jahre tauchten die USA in eine allumfassende politische Krise, die mit John F. Kennedys Tod begann. Kennedy und die Kuba-Krise symbolisieren die Ambivalenzen, den Übergang, die Zwischenstufen zwischen zwei Epochen: vom Kalten Krieg zu der Epoche, die sich um dessen Eindämmung und um Entspannung bemühte. Wir wissen nicht, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätte John F. Kennedy weitergelebt, aber auch heute, 15 Jahre nach der Kuba-Krise, scheint die Wirkung von Herman Melville's Gedicht, das er nach der Ermordung Präsident Lincolns 1865 geschrieben hat, ungebrochen:
„When they killed him in his pity, When they killed him in his prime ...
• •. They killed him in his kindness,
In their madness, in their blindness, And they killed him from behind . .
Nichts wäre schlimmer, als wenn der kleine, aber bedeutende politische Nachlaß von John F. Kennedy durch Idealisierung und Mythologisierung eine abgestandene Museumspatina annehmen würde. Die Fragestellungen, die er aufgeworfen hat, haben seither an Eindringlichkeit gewonnen Präsident Kennedy war wohl der glaubwürdigste Politiker der bürgerlichen Gesellschaften. Ihm gelang es, das Ideal der Freiheit als ein Bürgerziel, nicht als eine dogmatische Forderung darzustellen. Durch seinen politischen Führungsstil bewies er, daß regieren und verwalten nicht mit Manipulation gleichzusetzen ist und Macht nicht unmoralisch sein muß. Kennedy war der überzeugendste Repräsentant der freiheitlichen bürgerlichen Demokratie, nicht zuletzt deshalb, weil er gleichzeitig ihr härtester Kritiker war, ihre soziale und moralisch-politische Erneuerung eindringlich forderte und auch selbst vorantrieb. Das Bild, das man sich von Kennedy machte, schwankte schon zu seinen Lebzeiten zwischen zwei Extremen. Nach dem Fiasko der Schweinebuchtaktion 1961 warf man ihm vor, er spreche wie Churchill, handele aber wie Chamberlain. Nach der großen Konfrontation mit der Sowjetunion 1962 wandelte sich dieses Bild. Die Kritiker in der amerikanischen Politikwissenschaft betrachteten Kennedy als Kalten Krieger, der wie der friedfertige amerikanische Präsident Wilson sprach, aber wie Dulles handelte.
Kennedys Strategie des Friedens hatte aber zwei klare Orientierungspunkte: Sicherheit auf der einen, Entspannung auf der anderen Seite. Kennedy fand dafür die prägende Formulierung: „Verhandeln wir nie aus Furcht, aber fürchten wir uns auch nie davor, zu verhandeln!" Jede Analyse, die neben der Komponente „Sicherheit" die der „Entspannung" nicht berücksichtigt, vereinfacht die Außenpolitik der Ära Kennedy auf unzulässige Weise. Zwar hat man gesagt, Kennedy sei außen-politischen Konflikten ausgewichen und habe eine globale Friedensordnung lieber auf der Grundlage von rationalem Kalkül erreichen als durch einen Konflikt die Gefahr einer nu-klearen Konfrontation heraufbeschwören wollen. Dies ist richtig. Doch ebenso richtig ist, daß Kennedy einen Konflikt, wenn er sich ihm gegenübergestellt sah, mit allen Kräften kontrolliert durchzustehen suchte.
Während und nach der Kuba-Krise von 1962 bewies Kennedy, daß er trotz seiner idealistischen Rhetorik ein pragmatischer Politiker der begrenzten Zielsetzung war. Er übte Selbstbeschränkung und ließ der Sowjetunion einen annehmbaren und ehrenvollen Ausweg. Gleichzeitig bahnte die Kuba-Krise den Weg zu einem Wandel in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen von der Konfrontation zur begrenzten Kooperation. Auf die Asienpolitik der Vereinigten Staaten hatte die Kuba-Krise allerdings fatale Auswirkungen.
Christian Hacke, Dr. phil., Dipl. Pol., geb. 1943, Studium der Soziologie u. Polit. Wiss, in Freiburg und an der FU Berlin; seit 1974 Lehrbeauftragter an der Universität Bonn, derzeit Habilitationsstipendiat der DFG (Thema: Die amerikanische Außenpolitik in der Ära Nixon-Kissinger). Veröffentlichungen u. a.: Die Ost-u. Deutschlandpolitik der CDU/CSU. Wege und Irrwege der Opposition seit 1969, Köln 1975; Die Position der CDU/CSU zur KSZE, in: H. Haftendom u. a. (Hrsg.), Verwaltete Außenpolitik, Köln 1977; verschiedene Buch-und Zeitschriftenbeiträge zu Fragen der deutschen und amerikanischen Außenpolitik.