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Schweden -Die „politische Wende" findet nicht statt | APuZ 45/1977 | bpb.de

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APuZ 45/1977 Die intellektuelle Opposition in der DDR seit 1956. Ernst Bloch — Wolfgang Harich — Robert Havemann Aspekte der „britischen Krise" Schweden -Die „politische Wende" findet nicht statt

Schweden -Die „politische Wende" findet nicht statt

Herbert Petersen

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Zusammenfassung

Eine „politische Wende“ ist mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte vom sozialdemokratischen Minoritätskabinett durch die bürgerliche Majorität nicht eingetreten. Der Sozialstaat wird nicht abgeschafft; vielmehr sind weitere Reformen geplant, sobald die gegenwärtige Wirtschaftskrise — die im wesentlichen auf Absatzschwierigkeiten im Zusammenhang mit der allgemeinen internationalen Konjunktur zurückzuführen ist — überwunden werden kann. Das „schwedische Modell“ bleibt. Die aus den Konservativen, der liberalen Volkspartei und der bäuerlichen Center-Partei zusammengesetzte, unter Thorbjörn Fälldin als Ministerpräsident amtierende bürgerliche Regierung, hat im jetzt abgelaufenen ersten Jahr ihrer dreijährigen Legislaturperiode keine profilierte „bürgerliche" Politik betrieben, wie auch die Politik ihrer sozialdemokratischen Vorgängerin nicht als einspurig „sozialistisch“ zu bezeichnen war. Da in grundlegenden Fragen in Schweden ein breiter Konsens besteht, konnte der Regierungswechsel auch nicht zu spektakulären Änderungen führen. Gegenwärtig verdienen die Bemühungen der Regierung Fälldin besonderes Interesse, mit der Problematik des Sozialstaates in der akuten Wirtschaftskrise fertig zu werden. Die Voraussetzungen für die bisher so erfolgreiche schwedische Wirtschaftspolitik, wie sie in der ersten industriellen europäischen Entwicklung durch den schwedischen Export von leicht auszubeutenden und leicht absetzbaren Naturschätzen wie Erz und Holz gegeben waren, dürften kaum noch ein zweites Mal eintreten. Es geht jetzt um eine umfassende Strukturbereinigung der Industrie, um ihre Konkurrenzkraft zu stärken und den hohen schwedischen Lebensstandard zu halten. Zum Verständnis der schwedischen Politik von heute sind überdies die charakteristischen Merkmale des „schwedischen Modells“ in ihrer Bedeutung und Funktionsweise dargestellt worden.

Das „schwedische Modell" unter der Regierung Fälldin — Zielkontinuität mit neuen Mitteln

Die öffentliche Meinung in der Welt wertete den Ausgang der schwedischen Parlaments-wählen im Herbst 1976 ziemlich einmütig als eine »politische Wende“, — was immer man darunter verstehen wollte. Nach 44jähriger fast ununterbrochener sozialdemokratischer Regierungszeit hatten relativ geringfügige Verschiebungen zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen Lager zur parteipolitischen Umstellung des Kräfteverhältnisses im Parlament (Reichstag) geführt, die Sozialdemokraten in die Opposition versetzt und eine bürgerliche Dreiparteienkoalition aus der bäuerlichen Center-Partei, der liberalen Volkspartei und der konservativen Moderata unter dem Centerparteiführer Thorbjörn Fälldin als Ministerpräsident ermöglicht. Im Reichstag stehen sich jetzt 180 bürgerliche und 169 sozialistische (Sozialdemokraten und Kommunisten) Abgeordnete gegenüber.

Daß ein Regierungswechsel (zeitlich wider Erwarten) im Herbst 1976 möglich war, rechtfertigt das internationale Aufsehen, überall ist „das schwedische Modell", der perfekte Wohlfahrtsstaat, ein Begriff, den man der Leistung der Sozialdemokraten zuschrieb. Der Machtwechsel wird an diesem System aber nichts wesentliches ändern. Der Sozialstaat wird nicht angetastet, noch gar in Frage gestellt. Es ist bereits von seinem weiteren Ausbau zu gegebener Zeit die Rede. Regierung und Opposition haben ja das gleiche Ziel, nämlich das „Volksheim" so wohnlich wie möglich zu machen. Die Schweden haben dafür den schwer übersetzbaren Begriff des „samhälle“, des Gemeinwesens, das mehr besagt als Gesellschaft und etwas von der hier waltenden, stark ausgeprägten Solidarität ahnen läßt. Es gibt ein breites Feld politischer Übereinstimmung. Der Regierungswechsel war auch nicht das Zeichen eines plötzlichen Sympathieumschlags gegen die Sozialdemokraten, sondern eher das Ergebnis einer unterschwelligen, sich langsam verbreitenden Einsicht, daß eine gesunde Demokratie des Wechsels der Regierungen bedarf. Da der Wohlfahrtsstaat an die Grenzen seines finanziellen Leistungsvermögens gestoßen war und in organisatorische Schwierigkeiten geraten zu sein schien, konnte ihm daher eine „Atempause" bekömmlich sein, während derer im Regieren noch nicht beanspruchte Kräfte, von weitgehend gemeinsamer weltanschaulicher Grundlage aller politischen Parteien aus, die Mittel zum Ziel überdenken konnten. Eine gewisse Verdrossenheit hatte sich gegen das System des alles regulierenden „starken Staates" gerichtet. Der Wohlfahrtsstaat mit dem höchsten Lebensstandard, der angeblich umfangreichsten und arrogantesten Bürokratie und den höchsten Steuern war für manche Bürger zu einem Problem geworden. Beim Versuch, weitgehende zentrale Steuerung mit den traditionellen demokratischen Freiheitsprinzipien zu verbinden, waren ausgleichende Gerechtigkeitsbemühungen in Konflikt mit den aus freier Konkurrenz zu gewinnenden Vorteilen geraten. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe kollidiert offensichtlich eine planende Wirtschaftspolitik (motiviert mit der rasanten Entwicklung der Technik im modernen Staat) mit den Forderungen nach individueller Freiheit.

Die jetzige bürgerliche Dreiparteien-Koalition ist ein Gebilde mit nicht unerheblichen Gegensätzen. Ein ständig strapazierter Prüfstein für den Zusammenhalt sind die weit auseinanderklaffenden Gegensätze in der Kernkraft-frage: zwei der Regierungsparteien sind für volle bzw. fast volle Durchführung des Kernkraftausbauprogrammes, das der Reichstag 1975 beschlossen hat; die Partei des Ministerpräsidenten Fälldin bleibt bei ihrer Wahlkampf parole: heraus aus der Kernkraftgesellschaft. Um Entscheidungen in dieser Frage — obwohl pausenlos im Interesse der Elektrizitätsversorgung und Vollbeschäftigung von der Wirtschaft und Opposition dazu gedrängt — hat die Regierung sich bisher mit Teilkompromissen gedrückt. So sollen die sechs bereits arbeitenden Reaktoren weiter betrieben werden, vier neue gebaut aber nicht in Betrieb genommen werden, und die drei letzten das Reißbrett nicht verlassen. Planmäßig wird der Reichstag das Energieproblem 1978 ohnehin neu behandeln. Die beiden kleineren (kemenergiefreundlichen) Regierungsparteien werden die Koalition wegen dieser „Herzenssache“ der größeren Partei nicht auffliegen lassen wollen, eine vorgesehene Volksabstimmung noch vor 1978 verlockt keine Partei, ebensowenig Neuwahlen, obschon aus unterschiedlichen Gründen. Eine Volksabstimmung in der Kernkraftfrage käme einer Konkurserklärung der Regierung gleich, denn gewinnen kann eine der drei Parteien nur auf Kosten der anderen Koalitionspartner.

Eines der profiliertesten Regierungsmitglieder, der neue Industrieminister Nils Asling, von der Schweizerischen Handelszeitung nach dem „Neuen“ gefragt, das nach dem Regierungswechsel eingetreten sei, sieht in der Kernkraftfrage (die wohl auch als wahlentscheidend bezeichnet werden kann), den Punkt, wo ein radikaler Umschwung in Schweden eingetreten ist. Das Denken in diesem Sektor sei vitalisiert und bewege sich in neuen Begriffen. Durch die Verabschiedung eines „Bedingungskatalogs" (Aufarbeitung des Brennstoffes und Endlagerung des Atommülls) durch den Reichstag wäre eine Atempause bis 1985 zur Prüfung alternativer Energiequellen erreicht worden. Die Industrie selbst ist darin schon initiativ. Ein Projekt zur Lieferung flüssigen Gases wird beraten, an der Entwicklung von Sonnenenergie arbeiten mehrere Firmen. Denkbar wäre auch (aber nur gegen den Widerstand der Umweltschützer) ein weiterer Ausbau von Wasserkraft. Einen Ersatz von Kernkraft (heute 18 °/o der Energieversorgung) durch Ol wünscht die Regierung nicht.

Im übrigen unterscheidet sich die Politik der Regierung Fälldin von derjenigen ihrer Vorgängerin nicht im Ziel, sondern in den Mitteln, zu diesem Ziel zu gelangen: „Wir wollen den Sozialstaat nicht abschaffen." Es handle sich nur um Nuancen. Zu gegebener Zeit soll es zu weiteren Reformen kommen. Bezüglich der Wirtschaft bestehe der Unterschied zu früher darin, daß die Regierung den Rahmen absteckt, aber mit Regulierungen möglichst wenig ins Detail gehen will. Die Bürokratie soll gedämpft, generell dezentralisiert, dem Bürger mehr individuelle Freiheit bei der Regelung seines persönlichen Lebens gelassen werden. Kurzum: mehr Individualität und „etwas weniger Staat."

Gleichwohl mußte mit staatlichen Mitteln (über 12 Mrd. skr) massiv in die Entwicklung eingegriffen werden, die immer deutlichere Strukturprobleme aufweist. Die an Uberkapazität leidende Werftindustrie z. B. wird mit staatlichen Garantien auf Lager arbeiten, die drei staatlichen Werften sollen fusioniert und aus der Holding Statsföretag herausgenommen und dem Industrieministerium direkt unterstellt werden.

Das sei jedoch keine prinzipielle Entscheidung gegen staatliches Engagement in Form von Aktiengesellschaften, obwohl gerade hier eine kritische Sonde angelegt werden soll. Gemqinwesen und Unternehmen müßten auch künftig bei Strukturrationalisierungen zusammenarbeiten.

Die aktive Regionalpolitik wird überprüft, um ein industrie-und arbeitspolitisches regionales Gleichgewicht sicherzustellen. Die Bevölkerungsstruktur soll bleiben. Vollbeschäftigung gilt nach wie vor als erster Punkt der Wirtschaftspolitik, noch vor der Erhaltung des Geldwertes und der Inflationsbekämpfung. Daß es zwei Arbeitslosenstatistiken gibt, diejenige des Statistischen Zentralbüros, die 3, 3 0/0 Arbeitslose errechnet, und diejenige der Arbeitsmarktbehörde, die 1, 6% nachweist, liegt daran, daß letztere die umschulenden Arbeitslosen nicht mitrechnet, denn „Arbeitsausbildung ist ein integrierter Teil des schwedischen Arbeitslebens.“ Im übrigen muß der Staat zur Zeit wegen der angespannten Wirtschaftslage stärker als er will stützend und regulierend in den Entwicklungsprozeß eingreifen. An sich sollte die Hauptverantwortung für Strukturveränderungen und Beschäftigung nicht beim Staat, sondern bei den Unternehmen selber liegen.

Was das Wahlvolk von Regierung und Opposition ein knappes Jahr nach dem Regierungswechsel denkt, zeigt die letzte Meinungsumfrage des SIFO-Instituts. Die Sozialdemokraten sammeln seit ihrer Wahlniederlage Pluspunkte, die regierende Center-Partei verliert an Sympathien, Moderate und Liberale haben ebensoviel wie die Bürgerlichen und haben etwas gewonnen. Zur Zeit werden für die Sozialdemokraten 49, 2 % notiert; sie allein Kommunisten zusammen. Und wenn heute gewählt würde, könnten sie wieder an das Regierungsruder kommen. Die Lage der Kommu39 nisten nach der Parteispaltung hat sich stabilisiert. Da Schweden schon früher manchen anderen Ländern als nachahmenswertes oder abschreckendes „Modell“ erschien, ist es jetzt besonders interessant, zu beobachten, wie die Regierung Fälldin mit der Problematik des Sozialstaats fertig wird. Aber wie immer sich das Modell weiter ausformen mag, es ist die Frucht eigenständiger Entwicklung.

Charakteristische Merkmale des „schwedischen Modells" sollen im Folgenden in ihrer Bedeutung und Funktionsweise aufgezeigt werden. Sie bilden den Bezugsrahmen, in dem die politisch-ökonomischen Bestrebungen der Regierung Fälldin gesehen werden müssen.

I. Zum politischen System Schwedens

Dualistische Wirtschaftsordnung Die 8 Millionen Einwohner Schwedens stellen 4 Millionen Erwerbstätige, die bis vor kurzem pro Kopf der Bevölkerung das zweitgrößte Bruttosozialprodukt der westlichen Welt erarbeiteten. Zur Zeit stagniert der Zuwachs nahezu. Seit die verheiratete Frau infolge der Streichung der gemeinsamen Besteuerung selbständiges Steuerobjekt geworden ist, sind die Arbeitskraftreserven nahezu voll ausgeschöpft. Der schwedische Lebensstandard gehört nach wie vor zu den höchsten der Welt. Die schwedische Industrie zahlt die höchsten Stundenlöhne. In erstaunlich kurzer Zeit, aber später als auf dem Kontinent, war aus dem typischen Agrarland einer der modernsten Industriestaaten der Welt geworden. Die Entwicklung einer kontinentaleuropäischen Generation überspringend, tauschte die Bevölkerung sozusagen den Acker gegen die rostfreie Stadtküche ein. Sie tat das jedoch gewissermaßen „kollektiv“. Ihrem Wesen nach waren es „Siedler“ (Ulrich Herz). Die relative Einheitlichkeit der sozialen Herkunft prägt auch heute noch das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der modernen schwedischen Gesellschaft.

In wessen Auftrag wird dieses BSP, von dem ca. 40 °/o auf die Industrie und ca. 8 °/o auf die Forstwirtschaft entfallen, erarbeitet? Wer besitzt die Produktionsmittel in diesem fast ein halbes Jahrhundert lang von sozialdemokratischen Regierungen verwalteten Land? 90 ®/o davon sind in privater Hand, 6 Prozent bei den Verbrauchergenossenschaften und 4 °/o beim Staat Der Wald gehört zur Hälfte den Bauern, d. h. Genossenschaften der Waldbesitzer mit großem Industriebesitz, 25 “ /» privaten Aktiengesellschaften und 25 0/0 Staat und Kommunen. Von den 15 Geschäftsbanken besitzt der Staat die kürzlich mit der Postbank fusionierte Kreditbank, an der Ge-samttätigkeit der Banken ist er mit 10 °/o, die Genossenschaften mit 5 °/o beteiligt.

Marktwirtschaft und selbstverantwortliches Unternehmertum sind die wichtigsten Grundpfeiler der Wirtschaft. Die wirtschaftliche Machtkonzentration in den Händen einiger weniger ist erheblich. Ein Fünftel aller Lohnempfänger arbeitet in Firmen, die von 17 Eigentümergruppen kontrolliert werden. Ein Drittel des besteuerten Vermögens liegt bei 5 % der Reichsten. Auch der bisherige Arbeitsfriede ist nicht staatlichen Eingriffen, sondern der Stärke der Partner auf dem Arbeitsmarkt zu verdanken, die ihre Positionen frei aushandeln (obwohl das mit der Zeit schwieriger wird). Bisher zeigten auch die Gewerkschaften viel Einsicht in gesamtwirtschaftliche Notwendigkeiten. Umfang und Breitenwirkung ihrer Organisationen ist größer als in vergleichbaren Industrieländern. Die Industriearbeiter sind zu 90— 95°/gewerkschaftlich organisiert. Gleiches gilt für die Angestellten, auch für die im öffentlichen Dienst, denen seit 1965 Verhandlungs-und Streikrecht zusteht. Die Bindung des Arbeitergewerkschaftsbundes an die sozialdemokratische Partei ist zwar eng, Kollektivanschluß aber — eine Zeitlang öffentlich diskutiert — lehnt die Mehrheit der Arbeiterschaft offenbar ab.

Durch Zusammenarbeit konnte in Schweden der Klassenkampf vermieden werden. Das beste Wirtschaftsergebnis, so sah es einst ein Gewerkschaftsboß, wird durch „von staatlichen Regulierungen möglichst ungestörte expansive Kräfte" erreicht, und der nach 20jähriger „Machtausübung" pensionierte Finanzminister Sträng beschied den Verfasser in einem Interview für die „Schweizerische Handelszeitung" auf die Frage, wieso mit den Sozialisierungsparagraphen im sozialdemokratischen Parteiprogramm nicht ernst gemacht werde: „Wir sind keine Dogmatiker, sondern Pragmatiker. Das Zweckmäßige hat den Ausschlag zu geben, nicht die Doktrin!" Das bedeutet aber nicht, daß in der sozialdemokratischen Partei und bei den Gewerkschaften radikale Sozialisierungs-resp. Nationalisierungsforderungen aufgegeben worden wären. Im Wahlkampf spielte der kollektive Lohnempfängerfonds-Entwurf der Gewerkschaften eine unheilvolle Rolle. Einer noch von der Regierung Palme eingesetzten Gutachterkommission war unabhängig hiervon die Aufgabe gestellt worden, an Hand mehrerer Modelle Grundsätze für Arbeitnehmerfonds zu entwickeln, die die solidarische Lohnpolitik erleichtern, der Kluft zwischen Kapital und Arbeit entgegenwirken und die Entwicklung zur Betriebsdemokratie fördern sollen.

Bezeichnend für das Minimum an Dogmenhörigkeit bei den politischen Parteien Schwedens ist die Nationalisierung des „Reichtums besonderer Art", nämlich der nordschwedischen Erzgruben Luossavaara-Kirunavaara (LKAB). 90°/0 des Aktienkapitals der 1890 gegründeten LKAB waren 1903 von der Trafik AB Grängesberg Oxelösund (TGO) erworben worden. 1906 wies der Reichstag einen Sozialisierungsantrag ab. 1907 kam es über Verhandlungen um die Frachttarife mit dem Staat als dem Eigner der Erz-Eisenbahn und nachdem der Staat auch ein Anleihegesuch über 20 Mill, skr abgelehnt hatte, zur Abtretung von 50% des Aktienbesitzes der TGO an den Staat. Nach damals allgemeiner Auffassung gehörte ein so großes Objekt nicht in private Hand, sondern sollte vom Gemeinwesen verwaltet werden. 1927 beschloß der Reichstag auf Antrag der konservativen Regierung des Admiral Lindman die Einlösung der LKAB-Aktien durch den Staat. Aber erst 1957 machte dieser, nunmehr über die sozialdemokratische Regierung Erlander, von seinem Optionsrecht Gebrauch. Die Grängesberggesellschaft war bis 1975 mit 5 % weiter am AK beteiligt. Es war also eine „Nationalisierung mit Zugeständnissen“, denn auf sein Optionsrecht auf die Handelsflotte der TGO verzichtete der Staat, gründete zusammen mit der TGO dage-gen eine gemeinsame Verkaufsgesellschaft für das Erzgeschäft. Das Schema Staat/Privatunternehmen ist in letzter Zeit mehrfach auf Grund wechselnder Initiativen durchexerziert worden, unabhängig von unterschiedlicher Wirtschaftsauffassung. st die wirtschaftliche Macht also „kapitali-stusch“

und war die politische jahrzehntelang „sozialistisch“, so zielt die schwedische Wirtschaftspolitik wohl am ehesten in eine liberale Richtung. Aber alle diese Klischee-Begriffe sind eben doch nicht treffend für die gemischte Wirtschaft schwedischen Typs mit ihrer interventionistischen Wirtschaftspolitik und zahlreichen staatlichen Diensten parallel zur Dominanz der Privatwirtschaft im Produktionssektor. Schweden geht seinen eigenen Weg. Gegenwart und Zukunft werden als „nie ganz zu lösende Aufgabe" empfunden.

In den letzten Jahren hat sich der Staat aber doch wesentlich aktiver im Wirtschaftsleben engagiert. Aus der wachsenden internationalen Konkurrenz und der rasanten Entwicklung der Technik leitete er zunehmende Verantwortung ab, den Innovationsprozeß — vor allem in Forschung und Entwicklung — zentral zu stimulieren und zu lenken. Der Staat sollte „zu einem frühen Zeitpunkt dabei sein" und nicht nur „Aufwaschhilfe" leisten, sollte der private Sektor solcher bedürfen. Das bedeutete verstärkten Regierungseinfluß. Der Privatwirtschaft wurde die Staatswirtschaft als „Gleichgewichtsfaktor" gegenübergestellt. Die Rolle des Staates auf dem Kreditmarkt war der springende Punkt, die Macht des Staates über die Wirtschaft zu vermehren. Der Staat verfügt dazu über zwei wichtige Instrumente: seit 1959 über den Allgemeinen Pensionsfonds und seit 1967 über die Investitionsbank. Der Allgemeine Pensionsfonds verfügt über 37 Prozent, Staat und Gemeinden über 32 Prozent und der Privatsektor über nur 31 Prozent des Kapitalmarktes.

Der Allgemeine Pensionsfonds (ATP) ist ein Fonds in Verbindung mit der allgemeinen Zusatzrente, die alten Bürgern über die nackte Existenz ein gutes Einkommen sichern soll; die Pension beläuft sich (wenn das System 1986 voll ausgebaut sein wird) auf zwei Drittel des Durchschnittseinkommens der 15 besten Verdienstjahre und kann bis zu einem Höchstbetrag von ca. 30 000 skr jährlich steigen. Infolge des raschen Wirtschaftswachstums der 60er Jahre und der allgemein hohen Beschäftigung wuchs der Fonds rascher als erwartet. Er beläuft sich heute (31. 8. 1977) auf 110 Mrd. skr und ist damit, indem er für schätzungsweise ein Drittel des gesamten schwedischen Kreditmarktes aufkommt, ein gewaltiges potentielles Machtmittel in der Hand der jeweiligen Regierung. Schätzungsweise wird das Fondsvermögen im Jahr 2000 ca. 174, 8 Mrd. skr betragen, und erst nach dem Jahr 2010 wird der Abfluß durch Renten-zahlungen dem Geldzufluß entsprechen. Inzwischen hat der Fonds das Recht zum Aktienkauf in begrenztem Umfang erhalten. Daß er zum Instrument staatlicher Herrschaft über die Wirtschaft werden könnte, wird vom Direktor des Fonds bestritten, weil die Fonds-Grundregel „ganz und gar geschäftlich mit Einkünften und Sicherheit" festgelegt ist.

Im Unterschied zum neutralen Pensionsfonds hat die Investitionsbank die Aufgabe, soziale wie auch finanzielle Aufgaben wahrzunehmen. Sie verfügt über ein Kapital von rund 700 Mill. DM und ist zu Finanzierungen in Höhe des Fünffachen dieser Summe berechtigt; durch ihre Finanzierungstätigkeit soll sie „zu Rationalisierungen, strukturellen Anpassungen und zur Entwicklung ermuntern". Als zentrales Gremium aus Vertretern der privaten und kooperativen Industrie, der Gewerkschaften und des Staates figuriert der „Wirtschaftspolitische Rat“, und als „Katalysator" mit stimulierender Funktion wurde die staatliche Entwicklungsgesellschaft zur Auswertung technischer Erfindungen geschaffen.

Die Wirtschaft beantwortete diese Gründung mit einer privaten Innovationsgesellschaft, die der staatlichen sogleich Zusammenarbeit anbot. „Die Besitzverhältnisse spielen eine geringe Rolle", so der Vorsitzende dieser Gesellschaft, „für ideologische Unterschiede zwischen privat und staatlich ist Schweden zu klein, wesentlich ist die geschäftsmäßigideenmäßig richtige Leitung". Das ist sehr typisch für die allgemeine Einstellung. Auch die staatlichen Vertreter in den Aufsichtsräten der großen Geschäftsbanken werden zwar für recht überflüssig, aber nicht gerade für ein Unglück gehalten, — „taugen sie etwas", so sagte einer der einflußreichsten Banker, „dann werden sie uns auch nützlich sein". Ein Gegensatzverhältnis sah die private Wirtschaft bislang aus staatlichen Gesellschaften prinzipiell erwachsen, sofern es bei nicht staatlichen Planungs-und Steuerungsfunktionen bliebe und direkte staatliche Unternehmen den gleichen harten wirtschaftlichen Gesetzen unterworfen bleiben. Aber Zusammenarbeit setzt Gegenseitigkeit voraus. Auch die Wirtschaft muß durch frühzeitiges „Dabeisein" auf wirtschaftliche Entscheidungen einwirken können. Dies ist ein in der Verfassung durch das sogenannte „Remiss-System“ und das Prinzip der Öffentlichmachung verankerter Grundgedanke.

Das Remiss-System — öffentliche Kontrolle und Rechtssicherheit Eine Besonderheit der schwedischen Staatsverwaltung ist ihr dualistischer Aufbau. Da ist einerseits die Regierung mit den ihr untergeordneten Behörden, und da ist andererseits der vom Volk als sein Vertreter gewählte Reichstag, mit vom Ständestaat (Adel, Priester, Bürger und Bauern) übernommenen Rechten und Pflichten. Er allein übt das „uralte Recht des Volkes aus, sich zu besteuern“. Bezeichnend für diese Staatsverwaltung ist der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, dem in Zweifelsfällen gegenüber der Effektivität stets der Vorrang gegeben wird: die Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit ist das eigentliche Ziel der Verwaltung. Daraus wiederum resultiert einerseits die Unabhängigkeit der selbständigen Behörden und Ämter und andererseits das sog. Offentlichkeitsprinzip, daß alle Schriftstücke und Akten der Verwaltung öffentlich zugänglich sein müssen.

Die „vom alten germanischen Gemeinwesen bewahrte Freiheitstradition" (Hesslen) sorgte nicht nur für weitgehende Unabhängigkeit der zentralen Verwaltung vor königlicher Willkür, sondern führte auch gründlicher und früher als in vergleichbar strukturierten anderen Ländern das Prinzip der öffentlichen Kontrolle im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Druck-und Pressefreiheitsgesetz ein. Es ordnet an, daß alle allgemeinen Schriftstücke und Dokumente, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vorgeschrieben ist, jedermann (I) zugänglich zu machen sind. Regierung und Reichstag arbeiten sozusagen „bei offenen Türen" unter fortwährender Kontrolle der Öffentlichkeit. („In den Archiven der Regierung ist das Arsenal der Opposition angelegt", G. Löwenhielm, 1771— 1856.)

Größtmöglicher Rechtssicherheit dient auch, daß seit 1809 das höchste administrative unabhängige Gericht und nicht das verantwortliche Ministerium in letzter Instanz Beschlüsse der schwedischen Staatsverwaltung zu beurteilen hat. Den Inhalt der schwedischen Demokratie faßt Prof. Heckscher so zusammen: die Bürger sind zugleich „Kunden" und „Prinzipale“ der Verwaltung. In Ausübung ihrer demokratischen Befugnisse als „Prinzipale“ werden sie in hohem Grade von den Erfahrungen geleitet, die sie als „Kunden" dieser Verwaltung gemacht haben. Die Unabhängigkeit der schwedischen Behörden dürfte in der Welt einmalig sein. In der Regel sind in anderen Ländern die Verwaltungsorgane in die entsprechenden Ministerien eingereiht oder stehen unter der Kontrolle eines politisch verantwortlichen Amtsträgers. So trägt z. B. in England der Minister vor dem Parlament die Verantwortung und der Beamte darf öffentlicher Kritik nicht ausgesetzt werden; ähnlich auch in den USA. Anders aber in Schweden, wo die politische Übereinstimmung zwischen Regierung und Beamten keine, oder eine nur sehr geringe Rolle spielt. Beim Regierungswechsel 1976 kam es zu nur wenigen Verabschiedungen und in einem Fall, einer Versetzung wegen, zu breiter Pressekritik wegen dieser Maßnahme. Die schwedischen Beamten sind unabsetzbar und unabhängig von politischen Rücksichtnahmen. Sie haben bedeutende selbständige Befugnisse, in die der Departmentchef (Minister) nicht eingreifen darf, weil grundsätzlich viele staatliche Verwaltungsangelegenheiten von der Politik fernzuhalten sind. Das gilt für Gerichte, Gesetzesausführungen, Verfügungen und Anordnungen. Wohl arbeiten die selbständigen Behörden nach Richtlinien, und die innere Struktur der Verwraltungsorgane ist fortlaufender Rationalisierung unterworfen. Da nach schwedischer Auffassung das durch Gesetze zusammengehaltene Staatswesen durch die Unabhängigkeit der Behörden gut verankert ist, ist Unabsetzbarkeit der Beamten die Regel, Vertrauensaufträge die Ausnahme. Als Zwischenstufe ist der zeitlich begrenzte Auftrag eingeschaltet. Als „Vertrauensbeamte" absetzbar sind die obersten Chefs der militärischen und zivilen Verwaltungen, alle Minister (Staatsräte) die meisten Generaldirektoren (Behördenchefs) und Diplomaten. Sie unterstehen der Jurisdiktion des aus hohen Richtern, Verwaltungsbeamten und Offizieren zusammengesetzten Reichsgerichtes, bei dem der Konstitutionsausschuß des Parlaments (Reichstag) nach jährlicher Prüfung der Tätigkeit der Minister Klage erheben kann. Dieses Gericht ist seit 1809 nur fünfmal zusammengetreten und hat kein einziges Absetzungsurteil gefällt.

Seit jeher arbeitet die schwedische Verwaltung nach dem Prinzip einer Gerichtsbehörde nach Anhören beider Seiten. Jeder Staatsbürger kann sich mit allen Klagen, wie es bisher formuliert wurde, „an den König" wenden. Jedoch nicht direkt, sondern (seit 1776) über die Instanz des Justizobmannes (JO). Dieser von einem Reichstagsausschuß auf vier Jahre gewählte Volljurist wacht über die Einhaltung der Gesetze durch die Beamtenschaft. Er kann auch von sich aus eingreifen und hat immer „nach eigenem Ermessen“ zu urteilen, ob der betreffende Fall beim Gericht anhängig gemacht werden soll. Klagt der JO aber ohne Grund an, so hat er sich wie jeder andere Bürger vor Gericht zu verantworten. Faßt ein Beamter einen Beschluß, so geschieht das immer auf eigene Verantwortung, auf eine höhere Instanz läßt sie sich nicht abwälzen. Diese Verantwortlichkeit der Beamten ist „eine lebendige Realität" (Hesslen).

Die Einrichtung der etwa 50 zentralen Behörden, wie z. B. die Sozialdirektion, die Medizinalverwaltung, das Kammerkollegium (Katasteramt), Post und Eisenbahn etc. gehen auf die sog. „Freiheitszeit", den Übergang vom Absolutismus zur Demokratie nach dem Tode Karls XII. zurück. Nach der Verfassung von 1720 durften Mitglieder des Reichsrats (Regierungskonseil) nicht auch zugleich Chefs der „Kollegien", d. h.derjengen Behörden sein, die als eine Art Staatssekretärexpedition arbeiteten; sie werden heute von Generaldirektoren geleitet. Der jeweilige Minister ist die Spitze des Verwaltungszweiges. Das Kanzleikollegium, die oberste Spitze der Kollegien, ist der Ursprung der heutigen Ministerien, zusammengefaßt unter der Bezeichnung „Seiner Königlichen Majestät Kanzlei". Jede zentrale Behörde arbeitet nach den Richtlinien des Ministers, welcher der Regierung Rechenschaftsbericht und Budgetentwurf vorlegt.

Die alte Tradition des Ständereichstags setzt auch der Reichstag fort. Nicht getrennt als Regierungspartei und Opposition, auch nicht parteiweise aufgeteilt, sind dort die Abgeordneten plaziert, sondern zusammen nach ihren Wahlkreisen. Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Bauern und Kommunisten haben also sozusagen „gemeinsam" vordringlich das Wohl ihres Wahlkreises im Visier. Das dürfte der Sachbezogenheit der Diskussion Vorschub leisten. Der schwedische — bisher mit Erfolg eingehaltene — Weg des Kompromisses ist im wesentlichen das Ergebnis eines relativ gut funktionierenden Gleichgewichts zwischen unterschiedlichen Interessen und ideologischen Auffassungen. Regierung und Opposition haben sich bisher relativ vorteilhaft ergänzt, respektive einander korrigiert. In dieses Bild gehören auch die Organisationen in der pluralistischen Wirtschaftsgesellschaft. Das zeigt sich überzeugend an der Behandlung von Gesetzentwürfen vor endgülti43 ger Beschlußfassung nach dem sogenannten „Remiss-Verfahren" (remittieren = weiterleiten) das auf dem lapidaren Satz in der Verfassung von 1809 basiert: „Ämter und Behörden haben sich bei der Durchführung ihrer Aufgaben die Hände zu reichen.“

Das geht so vor sich: Bevor eine Regierungsvorlage an den Reichstag geht, muß sie nach einer von der Regierung festgesetzten „Remissliste“ und „Remisszeit" an grundsätzlich zwei Empfängergruppen gehen: an zur Rückäußerung verpflichtete zentrale Behörden und an eine Reihe öffentlicher und privater Instanzen, wie Kommunen, Interessenverbände, wissenschaftliche Institute etc., denen „zur Rückäußerung Gelegenheit gegeben wird". Schließlich kann auch jeder Bürger unaufgefordert ein Remiss-Gutachten abgeben, denn das Prinzip der Öffentlichmachung hat dafür gesorgt, daß der aktuelle Entwurf in diesem Stadium gedruckt oder vervielfältigt öffentlich zugänglich ist und meist auch bereits in der Tagespresse kommentiert wurde. Die vom zuständigen Ministerium bearbeiteten eingelaufenen Remissäußerungen gehen dann an die Reichstagsausschüsse, die ihrerseits weitere Expertisen auch außerhalb der Verwaltung einzuholen pflegen. Immer aber ist beim Remiss Einvernehmen, Rücksprache mit anderen Instanzen vorgeschrieben, und die Beschlußfassung erfolgt dann nach einer ganzen Skala verschiedener Möglichkeiten, von der „kollegialen Entscheidung" bis zum „Ein-Mann-Beschluß". Mit dem Begriff eines „Dienstweges" läßt sich diese (in der Verfassung nicht verankerte) mit der Zeit eingespielte freie Form der Zusammenarbeit schwedischer Behörden nicht fassen; sie beruht auf einem gesunden Kompromißwillen. Für besonders wichtige Fragen setzt die Regierung sogenannte „Komitees" (Ausschüsse) von Sachverständigen ein, unter Vorsitz nicht immer des Ministers, sondern auch von höheren Beamten oder Parlamentsabgeordneten außerhalb der Regierung. Sie bestehen in der Regel aus Vertretern dreier Hauptgruppen: Amtsträgern im allgemeinen Dienst, Parlamentariern und übrigen, d. h. Vertretern privater Berufe, Interessengruppen, ideellen Verbänden und Wissenschaftlern. Anders ausgedrückt: es sind verschiedene Kräfte beteiligt: Regierung, Verwaltung, Parteien und Verbände. Von hier kommen die Vorschläge zu Ermittlungsgutachten. Aber deren Wahl und Typen, die Direktiven zur Komiteearbeit, werden von der Regierung bestimmt, die auch die Vorsitzenden ernennt. Das ist sicherlich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die allgemeine Machtposition der schwedischen Regierung im politischen Leben. Wenn die schwedische Politik aber mit Recht als eine Politik der Kompromisse bezeichnet wird — Kompromiß hat hier einen guten Klang —, so liegt das auch stark an der Praxis der Komiteearbeit. Ihre eigentliche Funktion ist es ja, Kompromisse zwischen den Vertretern verschiedener politischer Mandate zustande zu bringen.

In dem Maße, in dem der Staat seine Einflußnahme ausdehnt, spielen nun auch die Verbände eine immer größere Rolle. Dieser gewohnheitsrechtlich verankerte Einfluß wird von den Verbänden intensiv dazu ausgenutzt, eine Regierungsvorlage bereits im Stadium der Vorbereitung zu beeinflussen. Der Staat seinerseits erhält dadurch wertvolle Expertisen und zwingt zugleich die Verbände zu frühzeitigen Stellungnahmen. Auch unaufgeforderte Stellungnahmen von Verbänden werden nicht selten in Ausschußgutachten der Komitees verarbeitet resp. in extenso veröffentlicht. Ihre Argumente wiegen schwer in der Debatte. Offenbar steht die Neigung, am „Remiss" teilzunehmen, in angemessener Beziehung zum gewonnenen Resultat. Die private Wirtschaft konnte bisher aus diesem System Vorteile ziehen und sich dank dieser gewohnheitsrechtlichen Spielregeln während der sozialdemokratischen Regierungszeit befriedigend arrangieren. Die Zusammenarbeit zwischen Politikern, Bürokraten, Behörden und Verbänden in der Komiteearbeit wird als vielleicht ebenso gewichtig für die Gesetzgebung bewertet, wie der Einfluß im Parlament. Das ist um so bedeutsamer, als schwedische Unternehmer im Reichstag nicht zahlreich vertreten sind.

Schwedens „bewaffnete Neutralität"

Mit Glück und diplomatischem Geschick hielt Schweden sich über 150 Jahre aus kriegerischen Verwicklungen heraus. Seit dem Verlust seiner Großmachtstellung liegt es zwischen West und Ost im Windschatten der großen Politik. Die unverändert einmütig akzeptierte Maxime heißt hier „Bündnisfreiheit im Frieden zwecks Neutralität im Kriege . Aber dies ist keine international garantierte Neutralität (wie bei der Schweiz) und auch keine aus der Geschichte begründbare (wie bei Österreich). Die schwedische, selbstgeB wählte Neutralität wird „von Fall zu Fall" elastisch gehandhabt; sie ist keine Ideologie an sich, sondern „ein Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele" (Olof Palme). Sie hindert Schweden nicht an der engagierten Mitarbeit bei der UNO und im Europarat. UNO-Zusammenarbeit ist sogar ein zentraler Bestandteil der schwedischen Außenpolitik im Sinne nützlicher, ausgleichender, vermittelnder Funktion. Ideologische Experimente liegen den pragmatischen Schweden nicht. Aber die Zahl ihrer Experten auf führenden internationalen Posten ist groß. Namen wie Alva Myrdal und Inga Thorsson, Vorkämpferinnen für internationale Entspannung und Abrüstung, haben weltweit einen guten Klang. Olof Palme hat sich in der Dritten Welt unangefochtene Autorität verschafft. Die schwedische Neutralitätspolitik hielt das Land von der NATO fern, nachdem im Jahr 1948 ein schwedischer Versuch zu einer nordischen Verteidigungsgemeinschaft gescheitert war; sie schließt nach schwedischer Auffassung auch eine Vollmitgliedschaft bei der EG aus.

Aber: „si vis pacem, para bellum.“ Schwedens Neutralität ist eine bewaffnete Neutralität. Wenn Stalin einmal dem finnischen Staatspräsidenten Paasikivi gegenüber äußerte, „gegen die Geographie" sei schwer anzukommen, so wissen die Schweden sehr wohl um dieses Problem. Die Risiken ihrer exponierten geographischen Lage zwischen West und Ost erfordern eine starke und abschrekkende, eine „friedensbewahrende" Verteidigung. Als stabilisierender Gleichgewichtsfaktor im Nordosten Europas ist Schweden international anerkannt. Erst starke Verteidigung macht Neutralitätspolitik glaubhaft

Das weitgehend kupierte, von Seen und Wasserläufen durchzogene, dünn besiedelte Land (19 Einwohner auf den Quadratkilometer) begünstigt die Verteidigung, Befestigungen und Schutzräume; Tausende von Vorratskammern für den Ernstfall sind im Urgestein angelegt. Die eng mit der Wirtschaft zusammenarbeitende staatliche Behörde für die Volksversorgung im Kriegsfall gleicht mit einem Jahresumsatz von gut 100 Mill, skr bei 800 Vorrats-lagern mit Waren im Wert von über einer Milliarde Schwedenkronen an ca. 400 verschiedenen Plätzen im Lande einem großen Warenhaus. Die „normale" Krisenbereitschaft soll bis zum Jahr 1980 durch Lagerung von Rohstoffen und Halbfabrikaten (vorzüglich auch Arzneimitteln) vom heutigen Stand auf den Wert von 1, 7 Mrd. skr erhöht werden. Die großen Naturschätze und die hochentwickelte Lebensmittelproduktion machen Schweden im Fall einer Absperrung nahezu autark. Auch ca. 90 % des erforderlichen Kriegsmaterials produziert Schweden selbst. Etwa 4 % des Bruttosozialprodukts gehen auf das Verteidigungsbudget. Mit den höchsten militärischen Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung in Westeuropa nimmt Schweden den vierten Platz in der Welt ein.

Die „totale" Verteidigung ist im Prinzip in militärische, zivile, wirtschaftliche und psychologische Sektoren geteilt. Im Ernstfall geht das ganze Land „unter die Erde". Die Zivilverteidigungspflicht umfaßt alle Frauen und Männer (sofern diese zwischen dem 18. und 47. Lebensjahr nicht der allgemeinen Wehrpflicht unterliegen) zwischen dem 16. und 65. Lebensjahr. Als Grundsatz des schwedischen Verteidigungsprinzips gilt: „Kein Mann zu Hause, wenn dem Lande Gefahr droht." Bei der besonders exponierten militärpolitischen Lage Schwedens mit einer Frontlänge, die einer Linie von Lübeck bis Brindisi entspricht, zwischen der NATO und der UdSSR, wäre ein Berufsheer kaum aufrechtzuerhalten. In der Wehrmacht resp. Kriegsorganisation von einer halben Million Mann gibt es kaum mehr als 12 000 Berufssoldaten, darunter weniger als 3 000 Offiziere. Die Armee ist in Friedenszeiten „beurlaubt". Aber sie kann im Falle der Gefahr sehr schnell aktiviert werden; ihre erforderliche Ausrüstung finden die Männer in über 1 500 Depots in ihrer nächsten Nähe.

Zur Sicherung einer ungestörten allgemeinen Mobilmachung dient außerdem die „Heimwehr"; diese einzigartige Organisation von ausschließlich unbesoldeten Freiwilligen, entstanden aus der Notlage zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, als Dänemark und Norwegen von Hitlers Truppen besetzt wurden und das damals nur unzulänglich gerüstete Schweden in die Gefahrenzone geraten war. Inzwischen wurden die Aufgaben der heute 100 000-Mann-Organisation auch auf den Schutz öffentlicher Gebäude erweitert, 20 000 sogenannte „Lottas“ von der freiwilligen und gleichfalls unbesoldeten Frauenorganisation stießen im Expeditions-, Verpflegungs-und Transportdienst hinzu und im Ernstfall sind etwa 70 000 in lebenswichtigen Betrieben arbeitende Heimwehrleute (im Normalfall vom allgemeinen Wehrdienst befreit) automatisch bei ihren Betrieben dienstverpflichtet. Die Ausbildung der Heimwehr und die Besoldung der insgesamt 101 Führungskräfte und des angestellten Büropersonals kostet den Staat jährlich 57 Mill, skr im Rahmen des Verteidigungsetats von insgesamt 9 785 Mill. skr.

Monarchie im Wandel der Zeit Die „unzeitgemäße" schwedische Monarchie erhielt inzwischen, nachdem der Beschluß dazu schon zu Lebzeiten des allseits hoch geehrten alten Königs vom Reichstag gefaßt worden war, aber erst nach seinem Ableben in Kraft treten sollte, mit der Thronbesteigung des jungen Königs bereits ein neues Gewand. Alle Parteien einigten sich darauf, die Monarchie als Staatsform zu behalten, das ganze Gewicht der Machtausübung aber auf den Reichstag zu verlegen. Der König ist an der Spitze der Nation die Krönung des Gemeinwesens, sein Symbol und eine „Klammer" mit rein repräsentativen Aufgaben ohne Machtbefugnisse.

Das neue Arrangement wäre kaum so verhältnismäßig glatt über die Bühne gegangen, wenn es sich nicht zu Lebzeiten des alten Königs vollzogen hätte. König Gustav VI. Adolf noch ganz in den autoritären Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgewachsen, hatte als über 60jähriger den schwedischen Thron bestiegen und war, ganz im Einklang mit seinem Volk insofern stilbildend, als er sein Erbe zu einem modernen Beruf entwickelte. „Vor allem die Pflicht" war sein Wahlspruch. Die Hoffnungen der offensichtlich nicht sehr zahlreichen überzeugten Republikaner gingen zeitweise wohl dahin, der Nachfolger werde von der Symbolgestalt seines Großvaters zu sehr abstechen und all seiner „Machtfunktionen" entkleidet, werde man ihn bald „vergessen" können. Ministerpräsident Palme tröstete denn auch die Untröstlichen unter seinen Anhängern mit der Versicherung, die neue Verfassung erlaube die Abschaffung der Monarchie „mit einem Federstrich". Verfassungstechnisch ist das sicher möglich, politisch in absehbarer Zeit aber wohl kaum. Manche Beobachter meinen sogar, die Monarchie habe sich in letzter Zeit gefestigt. Das ist nicht zuletzt Königin Silvia zu verdanken und ihrer erstaunlichen Popularität.

II. Wirtschaftsprobleme — Prüfstein der Regierung Fälldin

Gleichzeitig mit dem Regierungswechsel sind im Zusammenhang mit den internationalen Konjunkturschwierigkeiten gravierende Wirtschaftsprobleme deutlich geworden, wie sie der Öffentlichkeit und wohl auch den neuen Männern kaum bewußt waren. Die schwedische Wirtschaftspolitik hatte in den letzten Jahren — bei weitgehender Einigkeit der politischen Parteien — die weltweite Rezession auf ihre Weise durchzustehen versucht, indem sie — statt die Produktion dieses stark exportabhängigen Landes der internationalen Niedrigkonjunktur anzupassen und ein dementsprechendes Maß an Arbeitslosigkeit hinzunehmen — auf Lager produziert und durch umfangreiche Ausländsanleihen für Liquidität gesorgt hat. Aber die Hochkonjunktur ließ länger als berechnet auf sich warten und ist auch heute nicht in Sicht. Aber selbst wenn sie im Winter 1977 kommen sollte, wird sie wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein. Die Frage ist daher: wird die Regierung Fälldin in Anbetracht der heutigen hohen Kostenlage die wirtschaftliche Stellung Schwedens in so kurzer Zeit entscheidend verbessern können?

Auch wenn die Regierung die eher kurzfristigen Probleme — eine Auslandsverschuldung von ca. 30 Mrd. skr und eine negative Zahlungsbilanz sowie die ungünstige Devisenlage — meistern kann, so dürfte die Lösung der längerfristigen (vor allem) Strukturprobleme schwerer zu bewerkstelligen sein. Die Voraussetzungen für eine weitere erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung haben sich nämlich inzwischen verändert.

In die erste industrielle Entwicklung war Schweden mit den großen, leicht aufzuspürenden und auszubeutenden Naturschätzen Erz und Holz eingetreten. Außerdem verfügte das Land über ein hohes handwerkliches Ausbildungsniveau und eine gut funktionierende Rechts-und Gesellschaftsordnung. Der wirtschaftliche Aufschwung war spektakulär, der höchste Lebensstandard der Welt schnell erreicht. Aus zwei Weltkriegen konnte sich Schweden heraushalten.

So günstige Voraussetzungen aber dürfte es kaum noch einmal geben. Auf Standardsteigerungen muß wenigstens zunächst verzichtet werden. Es geht jetzt um einen Zeitgewinn für eine umfassende Strukturbereinigung: Eine Industriebranche nach der anderen ist in eine Krise geraten; die um etwa 20% zu hohen Lohnkosten schwächen die Konkurrenz-kraft. In früheren Jahren konnte die Erhöhung der relativen Lohnkosten durch schnellere Produktivitätserhöhung der schwedischen Industrie kompensiert werden. Aber während die Lohnkosten in den beiden letzten Jahren hier schneller stiegen als in den Konkurrenzländern, stieg die Produktivitätsentwicklung in Schweden geringer an als im Durchschnitt der Konkurrenzländer.

Ein drohender Arbeitskonflikt auf breiter Ebene aber konnte vermieden werden. Die Tarifpartner haben zum wiederholten Mal ihre Neigung bewiesen, Konflikte tunlichst zu vermeiden. Der liberale Arbeitsminister wertete das als einen Sieg der Regierung. Zwar stellte der Chef des Gewerkschaftsbundes recht gelassen fest, eine Standarderhöhung sei nicht zu erreichen gewesen, bemängelte aber auf dem nordischen Bau-und Holzarbeiterkongreß in Norwegen die „unsichere Wirtschaftspolitik" der schwedischen Regierung, die eine fachliche Strategie in der Einkommenspolitik unmöglich mache. Die Tarifverhandlungen waren kompliziert, obwohl die Möglichkeit zur Vereinfachung dadurch gegeben ist, daß erstmalig die Gewerkschaft der Privatangestellten und der Gewerkschaftsbund miteinander abgestimmte Forderungen stellten. Aber die schlechte nationale wie internatiohale Konjunktur machte einen Schiedsrichter erforderlich. In diesem Zusammenhang wurde der Wunsch nach einer ständigen Mittlerorganisation mit einem Stab kompetenter Experten, wie es sie in Finnland und Norwegen gibt, laut, obwohl nach wie vor die Vorteile des gegenwärtigen Systems, in dem die Mittler nicht als Schiedsrichter aufzutreten brauchen und es so schließlich weder Sieger noch Besiegte gibt, überwiegen. Im übrigen nimmt man interessiert die Mahnung des finnischen Staatspräsidenten Kekkonen zur Kenntnis, der die Streikwaffe für »veraltet" erklärt und statt dessen eine effektive Unternehmensdemokratie empfiehlt. Streiks wären weder prinzipiell noch ethisch nichtig, denn sie richteten sich gegen das ganze Volk resp.den Staat, mit dem man sich im Norden von jeher identifiziert: „Der Staat, das sind wir!"

Bestandteil der Lohntarifverhandlungen in diesem Jahr war erstmalig die zum Gesetz erhobene „Mitbestimmung“ in den Betrieben.

Da die Lohnfrage aber nicht unmittelbar davon berührt wurde, klammerte man das Thema wegen seiner Neuartigkeit und Komplexität zunächst aus und verhandelt zur Zeit darüber. Am 1. Januar 1977 trat das neue Tarifvertragsgesetz unter dem bezeichnenden Namen „Gesetz über die Mitbestimmung im Betrieb“ in Kraft. „Mitbestimmung“ aber wird bereits seit 1973 durch ein bis 1976 befristetes Gesetz über Arbeitnehmervertreter in den Verwaltungsräten (ein Zwischending zwischen Aufsichtsrat und Geschäftsführungsorgan einer deutschen AG) von Aktiengesellschaften und Genossenschaften mit mindestens 100 Beschäftigten (ausgenommen Banken und Versicherungsgesellschaften) in der Praxis erprobt. Danach entsenden die Arbeitnehmer zwei Vertreter und zwei Ersatzmänner aus ihrer eigenen Belegschaft in den Verwaltungsrat; diese besitzen dort alle Rechte und Pflichten der übrigen Vorstandsglieder, ausgenommen bei Fragen, die eine Kampfabstimmung oder den Abschluß und die Kündigung von Kollektivverträgen betreffen. Alle Arbeitnehmervertreter wurden in Sonderkursen ihrer Organisation für diese besondere Aufgabe geschult. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer waren im allgemeinen mit den Versuchsergebnissen zufrieden. Manche größeren Unternehmen hatten bereits vor dem befristeten Gesetz mit eigenen Mitbestimmungssystemen gute Ergebnisse erzielt. Generell läßt sich sagen, daß die Arbeitgeberseite unerwartete, aber zuverlässige Expertisen aus dem Betrieb notiert, für die Arbeitnehmerseite sich eine wertvolle Informationsquelle geöffnet hat und die Gewerkschaft an Ansehen gewann. Alle politischen Parteien sind sich grundsätzlich auch darüber einig, daß die Betriebsangestellten am Vermögenszuwachs der Unternehmen beteiligt werden sollen. In allen Schichten der Bevölkerung ist der Mensch in den Mittelpunkt des Bewußtseins gerückt.

Das heißt: die Produktion soll auf den Menschen ausgerichtet werden, nicht der Mensch der Produktion angepaßt sein. Das ist der Sinn des vielfach noch unklar formulierten, oft gar nicht begriffenen und viel umstrittenen Strebens nach „Gleichheit aller". Es geht darum, die Solidarität der Gesellschaft zu mobilisieren.

Mitbestimmung im Arbeitsleben ist demnach in Schweden eine „von unten" her, von den einzelnen Gewerkschaftsmitgliedern (1, 9 Millionen Mitglieder sind gewerkschaftlich organisiert) getragene „Umwandlung des Gemeinwesens"; am Arbeitsplatz selbst sollen Refor47 men abgesichert werden. Die Gewerkschaften sollen zu einer Schule für Betriebsdemokratie werden und diese Schulung für das neue Mitbestimmungsrecht, die betriebliche Demokratie (entsprechend etwa dem deutschen Partnerschaftsgedanken) in das gewerkschaftliche Bildungswerk eingegliedert werden. Die Grundausbildung findet in örtlichen Studien-zirkeln oder in Internatskursen statt, die Kosten trägt die Gewerkschaft. Auch der Staat subventioniert, der Gewerkschaftskongreß meldet aber schon Ansprüche auf Arbeitgeber-abgaben an.

In 31 staatlichen Behörden (darunter 7 Ministerien) mit insgesamt 500 000 Beschäftigten wird seit 6 Jahren in aller Stille das Versuchsmodell einer Beteiligung der Angestellten an der Beschlußfassung erprobt, dessen Ergebnisse jetzt veröffentlicht wurden. Die ihm zugrunde liegende „Philosophie“ ist einfach: Der Arbeitnehmer „verkauft“ einen Teil seines Ich an den Arbeitgeber und ordnet sich damit der konventionellen Hierarchie unter. Als Gegenleistung soll er (außer dem Gehalt) das Recht haben, die ihn und seine Arbeitswelt betreffenden Beschlüsse mit zu beeinflussen. Diese einfachen „moralischen“ Forderungen gilt es in administrative und juristische Wirklichkeit umzusetzen. Statt wie bisher vom Chef allein, werden die Beschlüsse in Personalangelegenheiten jetzt von einer Beschlußgruppe gefaßt. Damit ist die Verantwortung auf alle Mitglieder der Gruppe gleichmäßig verteilt, die Beschlüsse werden durch demokratische Abstimmung gefaßt und auf diese Weise die hierarchische Struktur — es geht ja um Beschlüsse des Arbeitgebers — teilweise über Bord geworfen. In dieser „dritten Phase" der Umwandlung der Gesellschaft zeichnen sich interessante Entwicklungslinien des „schwedischen Modells" ab. Die diese Versuchsreihe leitende Kommission war von der sozialdemokratischen Regierung eingesetzt worden und schloß ihre Tätigkeit kurz vor dem Regierungswechsel ab. Die Regierung Fälldin wird über Fortsetzung oder Einstellung der Versuche zu entscheiden haben. Daß sie ebenso wie die Arbeitnehmerorganisationen an einem Beschluß in dieser Frage interessiert ist, darf schon im Hinblick auf die sozialpolitische Grundeinstellung des liberalen Regierungspartners angenommen werden.

III. Die Sozialdemokraten in der Opposition

Mit ihrem Parteiführer Olof Palme an der Spitze entwickelten die Sozialdemokraten schon bald nach dem Regierungswechsel im Parlament, in öffentlichen Reden und in der Presse eine lebhafte, aktive Oppositionsarbeit, die sich vor allem mit der Wirtschafts-, Steuer-und Familienpolitik und mit einem alternativen Entwurf zum Staatshaushalt beschäftigte.

In drei Phasen hat sich nach einer Darstellung in der Zeitung „Tiden" (Nr. 7/1976) die Entwicklung zum Sozialstaat Schweden unter sozialdemokratischer Führung vollzogen. In der ersten Entwicklungsphase wurde das Fundament für die soziale Wohlfahrt gelegt, indem Schweden als „Laboratorium für die progressiven Ideen der Welt“ figurierte (Parlamentarismus aus England, Gewerkschaften nach deutschem Muster). In der zweiten Phase der 30er und 40er Jahre wurde die soziale Wohlfahrt durch Produktionserhöhung und soziale Reformen verstärkt; Schweden erreichte in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eine Spitzenposition in der Welt. Mit dem Sprung vom Notwendigen zum ma-terieilen Überfluß, sozialer Sicherung und Beteiligung aller am Produktionsergebnis bei Gleichberechtigung der Geschlechter, erschien es als die Verwirklichung aller Träume des demokratischen Sozialismus.

Aber die Formel der 60er Jahre hatte inzwischen an Überzeugungskraft verloren, weil neue Probleme und ein neues Bewußtsein Zweifel an der Überflußgesellschaft geweckt hatten. Aus der Diskussion über Umweltfragen, Gleichberechtigung, Erneuerung des Arbeitslebens und der Forderung nach Solidarität innerhalb Schwedens und draußen in der Welt bildet sich eine neue Handlungslinie heraus; die Partei begann Lösungen zu suchen „im eigentlichen Kern der gedanklichen Tradition des demokratischen Sozialismus“; fertige Lösungen aber hat sie noch nicht. Gleichwohl sieht sie nur in einem „demokratischen Sozialismus" die Möglichkeit zu einer „Harmonisierung der Industriegesellschaft (Palme im Frühjahr 1976: „Wir müssen die Industriegesellschaft nicht nur verteidigen, sondern sie auch fortentwickeln und vertiefen ). die Möglichkeit, den unverantwortlichen VerB brauch der Welt-Rohstoffe zu bremsen und in der Wohlfahrtgesellschaft einen Platz zu finden, der „nicht der Platz einer parasitären Oberschichtklasse" ist.

Laut Prof. Johansson von der Universität Stockholm ist die dritte Phase der Entwicklung u. a. mit der Reform des Arbeitsrechts eingeleitet worden. Bei der Demokratisierung des Arbeitslebens hat die Partei zwar Pionierarbeit geleistet, aber einer einzelnen Partei sind auch Grenzen für ihre Bewegungsfreiheit gesetzt. Denn typisch für alle Reformen dieser Phase ist ihre breite politische Verankerung. Die Konsequenz im Hinblick auf den politischen Charakter auch der künftigen Aufgaben, den Lebensfragen, über die das ganze Volk beschließen muß, ist die Zusammenarbeit aller.

Am Lohnempfängerprojekt des Gewerkschaftsbundes (dem sogenannten Meidner-Plan) macht Johansson deutlich, daß kollektive Arbeitnehmerfonds in Gewerkschaftshand im Gegensatz zum sozialdemokratischen Parteiprogramm stehen, das die Verfügungsgewalt in den Händen des ganzen Volkes liegen sehen will. Der Gewerkschaftsanspruch diskreditiere die sozialdemokratische Partei in den Augen der Bürgerlichen, denen dieser Anspruch wie eine Ideologie in nacktem Eigeninteresse erscheinen müsse. Die Forderung, die Macht des Kapitals zu brechen, lasse sich nicht vom Recht der Fachverbände auf Mitbestimmung im Produktionsprozeß ableiten, sondern nur aus den faktischen Verhältnissen der Produktion im Gemeinwesen und der daraus abgeleiteten Forderung nach planmäßiger Haushaltung unter der ständigen Kontrolle mündiger Bürger. Das ist „demokratischer Sozialismus“.

Die Demokratisierung des Arbeitslebens nennt Johansson etwas „geschichtlich Neues". Hatte sich die Entwicklung in den beiden ersten Phasen nach europäischem Muster vollzogen, so ist Schweden mit seinen eigenständigen Vorhaben wie solidarische Lohnpolitik, aktive Arbeitsmarktpolitik und obligatorische Dienstpension allein und ohne Vorbilder in die dritte Entwicklungsphase eingetreten. Der Zuwachs der produktiven Kräfte und die gradweise „Vergesellschaftung der Produktion" sei soweit fortgeschritten, daß „Sozialismus sowohl nötig wie möglich ist".

Der negative Wahlausgang — so Johansson — wäre kein Grund für eine Überprüfung der Hauptziele der Arbeiterbewegung hinsichtlich der Harmonisierung des Arbeitslebens durch das Beschlußrecht über Produktion und Mittelverteilung in den Händen des ganzen Volkes. Privatbesitz werde dadurch nicht abgeschafft, auch nicht Grund und Boden verstaatlicht. Wohl aber sollen die großen Unternehmen von den drei Partnern gemeinsam verwaltet werden: Besitzern, Angestellten und dem Gemeinwesen. Die Parlamentswahl im Herbst 1976 war die erste schon von der dritten Entwicklungsphase beherrschte Wahl. Die Wähler, sicher auf ihren Arbeitsplätzen, vertrauten darauf, daß sich darin nichts ändern werde, daß Beschäftigung und Pensionen nicht nur von der bisher regierenden Hälfte des Volkes, sondern auch bei der sich zur Regierungsübernahme anschickenden anderen Hälfte, also im Willen des gesamten Volkes garantiert waren. Die politischen Reformen und die erfolgreiche Wirtschaftspolitik ließen die Menschen erstmalig über die drei Jahre hinaus, mit denen sich die sozialdemokratische Wahlpropaganda vorzugsweise beschäftigte und die neue Einstellung dabei übersah, an die Zukunft denken. Johansson glaubt, daraus für den Prozeß der Demokratisierung des Wirtschaftslebens in der aktuellen dritten Entwicklungsphase den Schluß ziehen zu können, daß die diesbezüglichen Wertungen der Arbeiterklasse im ganzen Volk verankert sind.

IV. Politische Grundwerte als Bezugspunkt zwischen alter und neuer Regierung

Der „Funktionssozialismus"

Der von aller Welt im Herbst 1976 als „politische Wende" apostrophierte Regierungswechsel hat das Ziel, den weiteren Ausbau des Sozialstaates, nicht verändert; die neue Regierung strebt ihm teils „mit neuen Mitteln", kurz gesagt: mit der Gewährung von mehr individueller Freiheit und etwas weniger „Staat“ zu. „Das schwedische Modell", so unterschiedlich es bisher in der Welt beurteilt worden ist, wird weiterhin als in seiner Ausformung von der gesamten Bevölkerung ge49 tragene „Eigenständigkeit zwischen West und Ost" interessierter Aufmerksamkeit sicher sein können.

Dieser „Mittelweg" (kapitalitische Wirtschaft/sozialistische Politik) ist als „Funktionssozialismus" bezeichnet worden. Nach dieser Theorie ist Besitz nicht unteilbar, die verschiedenen Besitz-Funktionen können gesondert „sozialisiert" werden. Seit dem Übergang der Sozialdemokratie von einem marxistisch gefärbten Staatssozialismus zum Funktionssozialismus war „Planwirtschaft" in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Laut Gunnar Adler-Karlsson von der dänischen „VersuchsUniversität" Roskilde hat der Funktionssozialismus (das in der Praxis erprobte, „am wenigsten schlechte System" — verglichen mit Kapitalismus und sowjetischem revolutionärem Sozialismus) „durch Aufteilung der einzelnen Machtbereiche in ihre verschiedenen Funktionen zwecks Verhinderung autoritärer Willkür" vier Hauptelemente: Vollbeschäftigung in der Wirtschaftspolitik (das „Recht auf Arbeit"); Gleichheit der Chancen in der Bildungspolitik; Umverteilung der Einkommen durch die Steuerpolitik und in der Sozialpolitik soziale Leistungen an alle, unabhängig von der Bedürftigkeit. Das wirtschaftspolitische Programm der Sozialdemokraten war „liberal" in bezug auf die Zielsetzung, „sozialistisch" in bezug auf die daraus gezogenen Schlüsse: angesichts der durch die Technisierung notwendigen Ubernahmefunktionen durch den „starken Staat" im Grundsatz auch für bürgerliche Parteien akzeptabel — in der Nutzanwendung divergieren die Meinungen. Angesichts erhöhter Ansprüche an den modernen Staat begegnen sich Bürgerliche und Sozialdemokraten „auf einer höheren Ebene des ideologischen Programms" (Bertil Ohlin, liberal). Das von allen Parteien akzeptierte wichtigste Element des „mittleren Weges" ist die Überzeugung, daß Macht ausbalanciert werden muß und Gewalt bei der Lösung gesellschaftspolitischer Probleme auszuscheiden hat.

Umweltbewußtsein als politisches Prinzip Daß die sozialdemokratischen Wahlkampf-strategen für die Reaktionen der Wähler aufgrund deren ausgeprägten Umweltbewußtseins so wenig hellhörig gewesen sind, ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die schwedische Sozialdemokratie an der Ausformung dieses Bewußtseins und an der Institutionalisierung der Frage selbst aktiv tätig gewesen ist. In die Zeit sozialdemokratischer Regierung fällt nahezu alles, was heute mit Umweltschutz bezeichnet wird. Die bäuerliche Center-Partei aber forderte als erste kategorisch Sicherheiten zum Schutz gegen die alles andere überschattende „Umweltgefährdung" durch Kernkraft. In diesem Lande, wo der soziale Ausgleich wohl am weitesten fortgeschritten ist, waren auch die Umweltprobleme frühzeitig zu einem politischen Faktor geworden, so wie sie es heute in der gesamten industrialisierten Welt sind. Das bedeutet, daß einerseits dem Staat größere Aufgaben zuwachsen und andererseits der mündige Bürger an der Verantwortung bei den entsprechenden Maßnahmen zu beteiligen ist. Beispielsweise an der Energiepolitik (Umweltverschmutzung, Sicherheitsrisiken als negative Folgen) wird deutlich, wie wichtig hier langfristige Planung „unter demokratischer Kontrolle und öffentlicher Diskussion" ist. Diese wachsende öffentliche Verantwortung für einen sinnvollen wirtschaftlichen Strukturwandel wird als die „umfangreichste Demokratisierung seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts" (Palme) empfunden.

Schon 1969 hatte Schweden ein Umwelt-schutzgesetz; seit 1967 gibt es als Kontrollund Verwaltungsbehörde das Staatliche Amt für Naturschutz. Das Konzessionsamt für Milieuschutz ist eine gerichtsähnliche Behörde, die wichtigere Anträge der Industrie und lokaler Behörden auf Genehmigungen industrieller Um-oder Neubauten (Standort, zulässige Werte für Abwässer etc.) behandelt. Grundsätzlich gilt, daß die Unternehmen die Kosten für Verunreinigungen der Umgebung schon in den Herstellungsprozeß mit einzubeziehen haben. Ältere Unternehmen können staatliche Beihilfe für nachträgliche Verbesserungen in Anspruch nehmen. Die Zellstoff-und Papierindustrie investierte im letzten Jahrzehnt über eine Milliarde Schwedenkronen in technische Verbesserungen und hat die zulässigen Werte für Abwässer generell über die staatlich zugelassene Norm hinaus reduziert.

Dem Schutz der Umwelt dient auch eine das ganze Land umfassende „physische Planung“, d. h. eine Übersicht über die Verwendung des Bodens. Sie basiert auf dem uralten, schriftlich nicht festgelegten Grundsatz des Billig" keitsrechts, das jedermann überall freien Zutritt unter der Voraussetzung gewährt, daß Ernte und Privateigentum dabei keinen Scha-B den nehmen. Daraus leitet sich ein Bebauungsverbot weiter Strecken der Seen-und Meeresküsten ab. Bessere Kontrollmaßnahmen haben verhindert, daß industrielle Verunreinigungen nicht entsprechend mit der Produktion zugenommen haben. Kommunale Kläranlagen können normalerweise mit staatlichen Zuschüssen von 30— 50 %o der Investitionskosten rechnen. Seit 1971 sind die kommunalen Behörden für die Reinhaltung in ihrem Zuständigkeitsbereich verantwortlich. Bis 1980, so bestimmte der Reichstag, müssen sie organisatorisch in der Lage sein, das gesamte Altpapier der Haushalte, Warenhäuser und Behörden abzutransportieren. Wie umweltbewußt man schon heute in Schweden ist, zeigt die Tatsache, daß in den Villenvororten vieler Städte der Haushaltsmüll freiwillig in Papier, Glas und „übriges“ sortiert und Papier wie Glas von der Kommune an die entsprechenden Fabriken zwecks Weiterverarbeitung (Recycling) gegen Transportkosten geliefert wird; die Kommune spart die Deponie. Das Ziel aller Bemühungen ist, weiterer Umweltzerstörung Einhalt zu bieten und bereits geschädigte Bezirke wieder herzustellen. Auf diese Weise konnten viele Seen gereinigt werden. Zahlreiche ökologische Freizeitgruppen sind aktiv im Umweltschutz tätig. Allenthalben, auch an den Universitäten, werden Kurse über Umweltprobleme abgehalten. Sicherheit, das weiß man in Schweden, umfaßt auch die Sicherung der Umwelt.

Solidarität mit Einwanderern Die große Zugkraft, die der Gedanke der „Solidarität der Gesellschaft" in Schweden ausübt, drückt sich auch in der Einwandererpolitik aus. Den Begriff „Gastarbeiter" gibt es hier nicht. Unbestritten ist, daß die Einwanderer einen klaren Anteil am hohen schwedischen Lebensstandard haben und bei gleichen Pflichten muß das anständigerweise mit gleichen Rechten honoriert werden. Seit 1976 wird ihnen das kommunale Wahlrecht zugestanden. Von den insgesamt 705 000 Einwanderern sind inzwischen 295 000 schwedische Staatsbürger geworden. . Wir planten nicht, ein Einwandererland zu werden", so der Chef der Einwandererbehörde. . Aber wir hatten in der Hochkonjunktur einen fertigen Produktionsapparat und Arbeitskräftemangel infolge des geringen Bevölkerungszuwachses." Schweden hat von dieser Situation profitiert, das macht eine Statistik der Stadt Göteborg deutlich: ohne die 60 000 Einwanderer (es ist dies jeder 7. Göteborger) wäre die Stadt um 20 000 Steuerzahler ärmer. Da die Einwanderer sofort in die Produktion eingegliedert werden, bedeutet das bei Alleinstehenden für die Stadt einen Nettoverdienst von 4 000 skr jährlich, denn sie erspart sich die Ausgaben für Schule, Kinderfürsorge und Krankenpflege. Laut Göteborger Statistik beanspruchen Einwanderer nicht mehr Sozialhilfe, als die Schweden der gleichen Einkommensklasse.

Die bisher — im Unterschied zu manchem anderen Lande — erfolgreiche schwedische Einwandererpolitik zeigte von Anbeginn Sonderzüge: der Einwanderer muß bereits vor seiner Ankunft in Schweden Arbeitsplatz und Wohnung in Schweden nachweisen. Die schwedische Arbeitsmarktbehörde prüft, in der Regel im Einvernehmen mit den Gewerkschaften, den Arbeitskräftebedarf. Praktisch wird die Einwanderung damit von den Gewerkschaften gesteuert. Ein Arbeitsausschuß des Gewerkschaftsbundes arbeitet an einem Programmentwurf zur weiteren Verbesserung der Einwandererpolitik.

Wahlfreiheit zwischen Integration in den schwedischen Kulturkreis oder Beibehaltung nationaler Eigenart ist ein Eckpfeiler der vorbildlichen schwedischen Einwandererpolitik. Neu ist die Erkenntnis, daß das Einwanderer-kind seine Muttersprache lernen muß; Untersuchungen zur Zweisprachigkeit haben die Befürchtung erhärtet, daß sonst ernsthafte Störungen im Entwicklungsprozeß auftreten können. Ausländerkinder haben jetzt das Recht auf zwei Wochenstunden kostenlos gegebenen Unterrichts in ihrer Muttersprache. Die „Fremdsprachigen" in den Stockholmer Grundschulen machten 1975 ca. 10 Prozent der gesamten Schülerzahl aus. Der Unterricht wird dort in insgesamt 37 verschiedenen Muttersprachen mit einem Kostenaufwand von 11, 5 Mill, skr jährlich erteilt.

Schwedische Entwicklungspolitik: Solidarität nach außen Den daheim gelebten Grundsatz der Solidarität haben die Schweden sehr einmütig und frühzeitig über die Grenzen hinaus in die Dritte Welt getragen. Olof Palme gilt nahezu als der Prototyp für diese Haltung, das Außenministerium unter Karin Söder, einem führenden Mitglied der Center-Partei, führt die Neutralitäts-und Solidaritätspolitik konsequent fort. Der den Sozialdemokraten in dieser Frage nahestehende liberale Entwicklungsminister Ola Ullsten scheint die Entwicklungshilfe weiter ausbauen zu wollen. Nachdem erstmals im Staatsetat 1951/52 ein bisher dort nicht geführter Posten von 2 Mill, skr für internationale Hilfstätigkeit auf Grund eines Aufrufs der UNO und der USA zur Förderung des Wohlstandes in den sogenannten unterentwickelten Ländern erschienen war, hat Schweden heute das Klassenziel der UNO von 0, 7 % des BSP mit einem Prozent des BNP (1976) bereits übertroffen und es stellt die geringsten Bedingungen an diese Hilfe.

Die Doktrin der Blockfreiheit — Grundlage der schwedischen Außenpolitik — bezieht sich historisch auf einen möglichen West-Ost-Konflikt. Abzuwarten ist, wie eine solche Politik im Zusammenhang miteinander eventuell in Konflikt geratender Interessen zwischen Nord und Süd geführt werden kann. Schweden ist marktwirtschaftlich eng mit Westeuropa verbunden, und das bringt Begrenzungen in den Wirtschaftsbeziehungen mit der Dritten Welt mit sich.

Grundsätzlich aber gilt, daß die stark auf sozialen Ausgleich eingestellte schwedische Gesellschaft der neuen Regierung wie auch der alten den Rücken für eine Stärkung der UNO u. a. als Mittel zur Wahrung der Interessen der kleinen Nationen deckt. Der Kernpunkt dieser „Doktrin der kleinen Nationen“ ist — wie der Direktor der Planungsabteilung des schwedischen Reichsamtes für internationale Entwicklungshilfe (SIDA) das sieht — die Skepsis gegenüber den Supermächten, die für die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung eintreten. Die UNO wird als ein Schutz der kleinen Nationen betrachtet. In gegenseitiger Solidarität und Zusammenarbeit unter den kleinen Nationen hat man eine Front gegen die Hegemonie der Großmächte aufgebaut. Die Doktrin ist damit gleichzeitig ein Versuch, sich mit den Ländern der Dritten Welt zu identifizieren. Schwedens Rolle als Vermittler und Schlichter geht auf eine sehr alte Tradition (Völkerbund) zurück. Im Nord-Süd-Konflikt hat Schweden nicht ohne Erfolg versucht, sich der neuen Situation anzupassen. Ein international anerkannter Mahner ist das Friedens-Forschungsinstitut SIPRI in Stockholm.

V. Schlußbetrachtung

Nach dem Regierungswechsel in Stockholm stellt sich heute die Frage, ob die Wahlversprechen von 1976 eingelöst werden konnten. Zwei schwedische Staatsrechtler, die Professoren Elvander/Uppsala und Back/Umeä kommen in ihrer im Auftrag des konservativen Stockholmer „Svenska Dagbladet" erstellten Analyse zu dem Schluß, daß bei keinem der großen Wahlversprechen der bürgerlichen Seite (Änderung der Energiepolitik, Reform der Familienpolitik und die strittige Frage der Lohnempfängerfonds) einer Lösung in Sicht ist. In einigen Fällen haben Kompromisse „in mit ideologischer Überbetonung belasteten kontroversen Fragen" eine kurze Atempause gebracht.

Daß in diesem ersten Jahr eine profilierte bürgerliche Politik gemacht worden wäre, erkennen die Gutachater nicht, wenn allerdings auch die Sozialdemokraten in mehr als vierzigjähriger Regierungszeit „keine speziell sozialistische Politik" betrieben hätten. Die neue Regierung mußte die Politik ihrer Vorgängerin weiterführen, weil eine Reihe der früher mit großer Einmütigkeit im Reichstag gefaßter Beschlüsse durchgeführt werden müßten. Da hinsichtlich der gemeinsamen Grundwerte in Schweden ein breiter Konsens besteht, konnte ein Regierungswechsel auch nicht grundlegende Änderungen herbeiführen.

Ansätze zu einem „bürgerlichen Profil" sehen die Professoren jedoch in einigen Regierungsdirektiven an Gutachterausschüsse. So hat etwa der Verteidigungshaushalt eine höhere Mittelzuweisung als zu sozialdemokratischen Zeiten, die Agrarpolitik wurde von der Center-Partei bevorzugt und bei der Gestaltung des Daten-Schutzes setzten sich bürgerliche Auffassungen durch. Gleiches gilt, obwohl hier auch die Sozialdemokraten für eine Neuorientierung sind, für die Regional-und Bodenpolitik. Ob in der Steuerpolitik die Wahlversprechen (Indexregulierung) realisiert werden oder das Problem infolge sozialdemokratischer Kritik vertagt wird, bleibt abzuwarten.

Inzwischen hat das Kabinett mit dem Austritt aus der Valutaschlange, einer lOprozentigen Abwertung der Schwedenkrone und einem Reformstopp für die nächsten zwei Jahre (einzige Ausnahme: die fünfte Urlaubswoche) weitere Initiativen zur Sanierung der Wirtschaft gestartet. Die in diesem „Krisenpaket“ gleichfalls enthaltene Kürzung der 4prozentigen Arbeitgeberabgabe auf 2 Prozent hält die Industrie für zu gering, zugleich auch den Prozentsatz der Geldabwertung, da deren Effekt von Unternehmen zu Unternehmen entsprechend des Verhältnisses des Imports zum eigenen Export variiert. Ein Lohnstopp wäre erwünscht; der Gedanke, ein Anwachsen der Dividenden-Ausschüttung zu stoppen, wird vom Aufsichtsratsvorsitzenden des Industrieverbandes als „nicht unlogisch“ bezeichnet.

Der Gewerkschaftsbund avisierte auf dem im September tagenden Metallarbeiterkongreß eine „untraditionelle" kommende Tarifrunde und hielt der Regierung als Versäumnis vor, daß sie weder Gewerkschaften noch Opposition vor dem Beschluß, die Valutaschlange zu verlassen, konsultiert hätte. In seiner Rede auf dem Metallarbeiterkongreß nahm Palme eine deutlich konstruktive Haltung ein, als er seine Hörer wissen ließ, die amtierende schwedische Regierung habe mit den gleichen Schwierigkeiten wie die gesamte westliche Welt zu kämpfen. Sein Programm, durch neu zu bildende Fonds (vorschlagsweise über 4 Mrd. skr) den Investitionswillen der Unternehmen anzuregen und ihnen bessere Kreditmöglichkeiten zu verschaffen, ist ein Ergänzungsvorschlag der Regierung. Zur gleichen Stunde hatte der Industrieminister Asling einen Krisenfond von 6 Mrd. skr avisiert, um eine Strukturverbesserung bestimmter Branchen zu erreichen und die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern.

Politisch erwies sich die Rede Palmes als eine deutliche Abgrenzung gegenüber konservativen Ordnungsvorstellungen und dem bäuerlichen Center, dagegen lobte er die Beschäftigungspolitik und den liberalen Arbeitsminister Ahlmark. Es mag darin eine interessante Perspektive liegen. Wenn nämlich, wie vielfach angenommen wird, die bürgerliche Koalition nur eine „Parenthese" wie man in Schweden sagt, von einer einzigen Legislaturperiode bleiben wird, so könnten die Sozialdemokraten bei den Wahlen 1979 das Rennen machen und falls sie die Majorität nicht erlangen, eine sozialdemokratisch-liberale Koalition bilden. Im Augenblick besteht jedoch keine unmittelbare Gefahr für die Regierung. Uber das Kernkraftausbauproblem wird sie zunächst nicht stolpern, sondern es wird jetzt wesentlich darauf ankommen, wie sich der immer noch ausstehende Konjunkturaufschwung im Hinblick auf die Sanierungsbemühungen der Regierung auswirkt und wie diese bei ihren Vorbesprechungen mit den Gewerkschaften über die bevorstehende Lohntarifrunde zurecht kommen wird. Palme zeigte sich in seiner Rede auf dem Gewerkschaftskongreß offen für ernste Überlegungen zur Lösung der akuten Wirtschaftskrise und ließ durchblicken, daß die Lohnempfänger gut daran täten, auf mit einer Stabilisierung der Wirtschaft unvereinbare Kompensationsforderungen zu verzichten. Als „kapitalistische" Ergänzung hierzu wäre eine Warnung des Aufsichtsratsvorsitzenden der Svenska Handelsbanken, Dr. Tore Browaldh, an die Adresse der Arbeitgeber zu nennen, die kräfte Erhöhung der Personalkosten nicht wie bisher durch lOprozentige Lohnbewegung (außertarifliche Löhne) selber zu verschulden und außerdem dadurch noch die Autorität der Gewerkschaften zu untergraben. Konsequenter Lohnstopp, Preissenkung und Produktivitätserhöhung könnten im Laufe von etwa zwei Jahren die akuten Strukturprobleme Schwedens lösen.

Dies ist nicht die einzige optimistische Deutung der sonst meist in Moll gehaltenen Prognosen. Mancher Wirtschaftsführer zeigt in seinen Äußerungen zur Lage etwas vom Geist der Erfinder-und Entwicklungsepoche, als die Fertigwarenproduktion dem traditionellen Rohstoffexport den Rang abzulaufen begann und der Schwerpunkt der schwedischen Exporterfolge nicht mehr auf der toten Materie, sondern bei den „immanenten Werten“ (Sigvard Strandh) des auf intensiver Forschung und Entwicklungsarbeit basierenden technischen Wissens und Könnens lag.

Einer der bisher erfolgreichsten Sanierer kränkelnder Industriebranchen, Prof. Ulf af Trolle, meint jedoch, auf überlegene Qualität und eigene hohe Technologie könne Schweden sich nicht mehr verlassen. Ein wettbewerbsfähiges Kosten-und Preisgefüge lasse sich nur durch eine „Regierung nationaler Sammlung" erreichen. Sieht man von einer heute gar nicht aktuellen „Institutionalisierung" einer solchen nationalen Sammlung ab, so sind Ansätze dazu — nicht zuletzt durch Palmes von den Vorstellungen der Regierung nicht so sehr abweichendes Sanierungsprogramm — festzustellen. Das politische Klima pendelt sich nach den spannungsträchtigen Anfangsschwierigkeiten der Umkehrung von Regierung und Oppositionsstellung offenbar wieder auf die typisch schwedische Linie der Kompromißbereitschaft, d. h.des ausschließlich sachbezogenen gemeinsamen Lösens anstehender Probleme ein. Regierung und Opposition werden in der aktuellen Krisenlage gewiß gemeinsame Lösungen finden, weil ihnen das Bemühen darum gleichsam „im Blute" liegt. Denn sie wissen aus den praktischen Erfahrungen ihres „Remißsystems", was Zusammenarbeit bedeutet. Vor 200 Jahren empfahl ein anonymes Memorandum dem mit Schweden im Krieg liegenden Zaren Peter von Rußland (laut R. Wittram, Peter I, Czar und Kaiser) die bereits erwähnten schwedischen „Kollegien“ zur Nachahmung und setzte diese mit dem Mechanismus einer Uhr gleich: „Denn wie in einer Uhr ein Rad von dem anderen sich muß treiben lassen, also muß in der großen Staatsuhr ein collegium das andere treiben, und wofern alles in einer accuraten Proportion und genauen harmonie stehet, kann nichts anderes folgen, als daß der Zeiger der Klugheit dem Lande glückliche Stunden zeigen werde."

Fussnoten

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Herbert Petersen, geb. 1902 in Fellin/Estland, Studium der Naturwissenschaften in Dorpat und Hamburg; Chefredakteur der Deutschen Zeitung (1933— 39) in Dorpat, der Ostseezeitung in Reval (1940) und der Revaler Zeitung (1942— 44) in Reval; nach dem Krieg Korrespondent deutscher, österreichischer und Schweizer Zeitungen in Schweden. Zahlreiche Veröffentlichungen in der deutschsprachigen Tagespresse (Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Schweiz) sowie in schwedischen Wirtschaftszeitschriften; Die Rettungsaktionen Schwedens im Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/57.