Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Chinesische Bedrohungsvorstellungen im Verhältnis zur Sowjetunion | APuZ 1/1978 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1/1978 China als Entwicklungsland. Versuch zum Verstehen Et tu, China? Entwicklungstendenzen der chinesischen Politik seit dem Tode Mao Tse-tungs Chinesische Bedrohungsvorstellungen im Verhältnis zur Sowjetunion

Chinesische Bedrohungsvorstellungen im Verhältnis zur Sowjetunion

Gerhard Wettig

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit den ausgehenden fünfziger Jahren bestehen akute ideologische und politische Spannungen zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion. Trotzdem nahm der Konflikt in chinesischen Augen erst ein Jahrzehnt später den Charakter einer bedrohungsträchtigen Auseinandersetzung an. Die Gründe hierfür und die Art der chinesischen Argumentation wie Sehweise werden analysiert. Die chinesischen Bedrohungsvorstellungen nahmen ihren. Ausgang von der Besetzung des „sozialistischen Bruderstaates" Tschechoslowakei durch die UdSSR. Nach chinesischer Ansicht läßt sich ein derartig radikaler und brutaler Bruch der Verpflichtung zur intersozialistischen Solidarität nur erklären, wenn man der Sowjetunion ein hinsichtlich Intensität und Reichweite völlig grenzenloses Machtstreben — also einen Drang zur totalen Weltherrschaft — unterstellt. Dieser Drang wird gegenwärtig primär als gegen Westeuropa bzw. gegen die west-lichen Rückhaltpositionen im Süden Europas gerichtet angesehen. Darin erblickt die chinesische Seite eine sehr große mittelbare Bedrohung für sich selbst: Die UdSSR würde mit der Erlangung der Kontrolle über Westeuropa zur global dominierenden Supermacht aufsteigen, der niemand mehr erfolgversprechenden Widerstand entgegenzusetzen vermöchte. Daher appelliert die Volksrepublik China vor allem an die entwickelten Industriestaaten außerhalb des Warschauer-Pakt-Bereichs, den Pressionen und Lockungen der Sowjetunion entschlossen entgegenzuwirken und sich zur Wahrung der gemeinschaftlich bedrohten Unabhängigkeit zu einer Einheitsfront zusammenzufinden.

Die folgenden Ausführungen stellen Schlüsse dar, die der Verfasser aus Gesprächen und Eindrücken während einer China-Reise und aus Zeugnissen der polemischen Auseinandersetzung Chinas mit der UdSSR gezogen hat. Besonders aufschlußreich für die Art, wie die chinesischen Politiker und Kommentatoren den russischen „Polarbären" in der Öffentlichkeit darstellen, ist der — 1976 in Peking für sowjetische Leser ausgewählte und übersetzte — Zeitungsartikel-Sammelband „Gnusnoe oblice sovetskogo social-imperializma" („Das widerwärtige Antlitz des sowjetischen Sozialimperialismus").

Die Entstehung der chinesischen Bedrohungsvorstellungen

Der Beginn des Konflikts mit der Sowjetunion wird in China auf die ausgehenden fünfziger Jahre datiert. Die Auseinandersetzung hatte in der damaligen chinesischen Sicht eine starke ideologische und politische Intensität. Der Heftigkeit der Polemik ungeachtet, glaubte sich die chinesische Seite sozusagen in einer Art Familienstreit (der ja auch sehr erbittert sein kann) mit einem sich ebenfalls als sozialistisch empfindenden Land zu wissen. Die Macht der Sowjetunion wurde nicht als eine militärische Bedrohung empfunden. Eine gleichzeitig betriebene Konfrontationspolitik gegenüber westlichen Staaten, insbesondere gegenüber den USA, erschien praktikabel, weil das Bewußtsein von der Begrenztheit des chinesisch-sowjetischen Konflikts eine antisowjetische Rückversicherung bei der zweiten Weltmacht überflüssig machte.

Die militärische Aktion der Sowjetunion gegen die Tschechoslowakei 1968 erschütterte bei der chinesischen Führung den Glauben an den friedlichen Charakter der sowjetischen Absichten, hatten doch die Männer im Kreml nunmehr eine ideologisch-politische Kontroverse mit einem kommunistisch regierten Land durch die Gewalt ihrer überlegenen Waffen entschieden. Dabei war es für Peking gleichgültig, daß der tschechoslowakische Reformkommunismus bei den Chinesen keinerlei Sympathie genoß und im Vergleich zum sowjetischen „Chruschtschowismus ohne Chruschtschow" als eine womöglich noch unerfreulichere Form des „Revisionismus" galt.

Für die Einschätzung des Ereignisses war vielmehr allem Anschein nach ein anderer Umstand entscheidend. In der Tschechoslowakei des Jahres 1968 bestand — anders als in Ungarn 1956 — für die kommunistische Herr-Schafts-und Gesellschaftsordnung keine unmittelbare Gefahr, und das kommunistische Selbstverständnis der tschechoslowakischen Reformer konnte kaum einem Zweifel unterliegen. Wenn nun die sowjetische Führung sich anheischig machte, nach ihrem Gutdünken über die kommunistische Rechtgläubigkeit anderer Länder zu befinden und die des Abweichlertums für schuldig erachteten Staaten mit militärischen Mitteln zu disziplinieren, dann mochte dies künftig — so wie gegenwärtig gegenüber der Tschechoslowakei — auch gegenüber China geschehen können. Dieser Überlegung wurde um so größeres Gewicht beigemessen, als die sowjetische Führung mit der These, daß einem irrenden Glied der „sozialistischen Gemeinschaft" auch gegen dessen Willen „brüderliche Hilfe" bis hin zum Einsatz von Waffengewalt gegen nichtsowjetkonforme Kräfte zuteil werden müsse (der sogenannten „Breshnev-Doktrin"), den Anspruch auf Durchsetzung sowjetischer Disziplin im kommunistischen Lager auch theoretisch fixierte.

Demgemäß lassen sich seit dem Spätsommer 1968 Anzeichen dafür erkennen, daß die chinesische Führung ihre außenpolitische Orientierung zu überdenken begann. Ab Frühherbst 1968 benutzten chinesische Politi-ker, die bis dahin ausschließlich von einem amei-ikanischen „Imperialismus" gesprochen hatten, den Negativbegriff des „Sozialimperialismus", um sowjetisches Herrschaftsstreben zu verurteilen. Anfang 1969 begann in Peking und danach auch anderswo in China der Bau von Luftschutzstollen als Vorkehrung für den Fall sowjetischer Bombenangriffe. Die Entscheidung dazu muß mehrere Monate früher — also kurz nach der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei — gefallen sein.

Die weitere politische Entwicklung war geeignet, die chinesischen Gefühle der Bedrohung gegenüber der Sowjetunion zu verstärken. Die militärischen Zusammenstöße am Ussuri im März 1969 wurden von der sowjetischen Führung zum Anlaß genommen, einer Reihe von westlichen Regierungen die sowjetische Version der Ereignisse zu übermitteln und dabei auf ein angeblich gemeinsames sowjetisch-westliches Interesse gegenüber der als Gefahr hingestellten Volksrepublik China hinzuweisen. Der Umstand, daß die Männer im Kreml ein antichinesisches Einvernehmen auch mit bisher angefeindeten westlichen Staaten (wie namentlich der Bundesrepublik Deutschland) herzustellen suchten, mußte in Peking besonders beunruhigend wirken.

Während der folgenden Jahre änderte sich das außenpolitische Verhallen Chinas allmählich, aber konsequent. Chinesische Kommentatoren und Politiker begannen immer deutlicher Interesse an einer politischen und militärischen Stärkung Westeuropas und an einem Zusammenschluß der westeuropäischen Staaten zu bekunden. Nacheinander kehrte sich die Wertung der EG, der NATO und der amerikanischen Europa-Präsenz vom Negativen ins Positive. Zugleich wurden die Westeuropäer nachdrücklich vor der sowjetischen Entspannungsoffensive unter der Leitparole einer „europäischen Sicherheit" gewarnt: Die von Moskau angestrebte Sicherheitskonferenz, so hieß es, diene nur sowjetischen Expansionszielen und drohe für die westliche Seite zu einer „Unsicherheitskonferenz" zu werden. Die gewohnte chinesische Polemik gegen die „Supermacht" -Politik richtete sich immer weniger gegen die USA und wurde um so nachdrücklicher auf die Sowjetunion angewandt. Schließlich bemühte sich die chinesische Führung ohne viel Rücksicht auf ideologische Gesichtspunkte um eine Normalisierung des zwischenstaatlichen Verhältnisses zu Jugoslawien. Bei alledem nahm sie in Kauf, daß sich eine Entfremdung zu ihrem treuesten Partner in Europa, zu Albanien, anbahnte.

Die Wertung der sowjetischen Rolle unter den kommunistisch regierten Staaten

Auch wenn die chinesische Seite bereits in den sechziger Jahren gelegentlich deutlich gemacht hat, daß die UdSSR durch „ungleiche Verträge" der Zarenzeit in den Besitz ihrer Fernostgebiete gelangt sei, und mit Karten-veröffentlichungen hervorgetreten ist, welche die frühere Zugehörigkeit dieser Territorien zu China zeigen, spielen Grenzprobleme keine entscheidende Rolle im sowjetisch-chinesischen Konflikt. Die chinesische Führung hat keinen Zweifel daran gelassen, daß sie die Abtretungen von 1858 und 1860 respektiert. Strittig zwischen der UdSSR und China sind lediglich unbedeutende Gebietsstreifen, vor allem im Raum von Chabarovsk und im Pamir-Gebirge. Sie lohnen für die chinesische Seite keinesfalls einen größeren Konflikt. In Peking wäre die Führung bereit, diese Frage ruhen zu lassen, wenn die Sowjetunion die Existenz eines offengebliebenen Problems anerkennen würde und zu Maßnahmen der militärischen Entspannung an der Grenze bereit wäre. Aber auch die fehlende Bereitschaft Moskaus hierzu würde nicht ausreichen, um China das Gefühl einer totalen Bedrohung von Seiten der UdSSR zu vermitteln. Dies wird durch ein sehr viel größeres und stärkeres Schreckbild bewirkt.

Die Art, in der die Sowjetunion imperiale Herrschaft über osteuropäische Staaten ausübt, läßt nach chinesischer Darstellung die politischen Absichten des Kremls in schlimmstem Licht erscheinen. Der sowjetische Ruf nach „Integration" im Rahmen der Warschau-er-Pakt-Organisation, des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und der ideologischen Zusammenarbeit wird in Peking als das Bestreben der UdSSR gedeutet, eine einseitige Kontrolle über andere kommunistisch regierte Staaten zu verwirklichen. Die Sowjetunion, so heißt es, maße sich willkürlich die Entscheidung über die politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten anderer Staaten an. Souveräne Staaten würden so behandelt, als ob sie abhängige Teilrepubliken der UdSSR wären.

Die „Breshnev-Doktrin", die in China zur persönlichen Denunzierung des Generalsekretärs der KPdSU auch so genannt wird, gilt als eine „faschistische" These, die um sowjetischer Einmischungsbefugnisse willen anderen kommunistisch regierten Staaten lediglich eine „begrenzte Souveränität" zugestehe. Bei dieser Sicht sowjetischen Herrschaftsverhaltens haben die Chinesen das Bild der völlig zum Satelliten gewordenen Mongolischen Volksrepulik vor Augen. Auch eigene Erfahrungen im Umgang mit der UdSSR wirken nach — namentlich die Erinnerung an Vorschläge Chruschtschows für eine militärische „Integration" Chinas mit der Sowjetunion, deren Verwirklichung, wie man in Peking meint, China unter weitgehende sowjetische Kontrolle gebracht hätte.

Die Wertung der Sowjetunion als Weltmacht

Das sowjetische Vorgehen gegenüber der Tschechoslowakei gilt heute in China als ein untrügliches Anzeichen dafür, daß die UdSSR ihre Macht rücksichtslos und weltweit auszudehnen bestrebt ist. Das dabei verfolgte Ziel sei die Weltherrschaft. In Stellungnahmen propagandistischen Charakters wird der Vergleich der „neuen Zaren" im Kreml mit Hitler nicht gescheut.

Nach chinesischer Ansicht werden die sowjetischen Weltherrschaftsambitionen durch zahllose Indizien zweifelsfrei erhärtet. Am häufigsten und nachdrücklichsten verweisen chinesische Repräsentanten darauf, daß der riesige Umfang der sowjetischen Streitkräfte und Rüstungen weit über dem durch Selbstbehauptungserfordernisse hervorgerufenen Bedarf liege und überdies in einem grotesken Mißverhältnis zu dem relativ schwachen wirtschaftlichen Potential der UdSSR stehe. Nach chinesischer Einschätzung dient die starke sowjetische Heeresmacht nicht zuletzt auch Einschüchterungszwecken. Besorgnis ruft weiter der sowjetische Flottenaufbau hervor, der die Bedürfnisse einer Landmacht weit überschreite und eine globale Expansionspolitik militärisch zu unterstützen bestimmt sei. Die vielfachen sowjetischen Versuche, Länder der Dritten Welt wirtschaftlich, politisch und militärisch an Moskau zu binden und auf ihrem Territorium sowjetische Stützpunkte zu etablieren, beweisen nach chinesischer Meinung ebenfalls das ungehemmte Machtstreben der UdSSR.

Die sowjetische Entspannungspolitik auf dem europäischen Kontinent tut dem chinesischen Bild einer bedrohlichen Politik Moskaus keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das sowjetische Vorgehen solle den Westen zu einer ähnli-chen Beschwichtigungspolitik verführen, wie sie Großbritannien und Frankreich 1938 gegenüber Hitler betrieben hätten. Während der Warschauer Pakt seine militärische Überlegenheit auf dem europäischen Schauplatz vergrößere, werde den NATO-Staaten eine Schwächung ihres Verteidigungssystems nahegelegt. Zugleich suche die sowjetische Führung die westlichen Zusammenschlüsse mittels des Trugbildes einer Ost-West-Gemeinsamkeit zu paralysieren. Die sowjetische Wirtschaft, die — nicht zuletzt wegen der ihr auferlegten übermäßigen militärischen Lasten — Zeichen ernster Schwäche zeige, solle mit westlicher Hilfe saniert werden, um dann anschließend in den Dienst des rücksichtslosen anti-westlichen und anti-chinesischen Kampfes gestellt zu werden.

Die chinesischen Kommentatoren und Politiker äußern die feste Überzeugung, daß Westeuropa das Hauptziel des sowjetischen Expansionsstrebens sei. Das wirtschaftliche, technische und politische Potential der westeuropäischen Staaten stellt, wie es heißt, den entscheidenden Faktor dar, mit dessen Hilfe die UdSSR das Kräfteverhältnis in der Welt endgültig zu ihren Gunsten verändern könnte. Konsequenterweise konzentriere die sowjetische Führung ihre Macht auf dem europäischen Schauplatz. Dort seien drei Viertel ihrer Streitkräfte disloziert; sie besäßen eine erhebliche Überlegenheit gegenüber den Truppen der NATO. Die chinesische Seite ist sich dabei durchaus der Tatsache bewußt, daß die UdSSR machtpolitische Veränderungen am ehesten im Nahen Osten, in Afrika und zuweilen auch in Teilen Asiens erhoffen kann und dort auch am offensivsten agiert. Die Meinung geht jedoch dahin, daß es sich pri-mär um Umgehungsmanöver handele, die letztlich auf die Aushöhlung der westlichen Positionen in Europa und damit auf die Vorbereitung einer sowjetischen Herrschaft über diesen Kontinent in seiner Gesamtheit abzielten. Nach chinesischer Ansicht nimmt die sowjetische Führung nur darum zu derartigen Manövern Zuflucht, weil die politischen Verhältnisse in Europa kein direkt offensives Vorgehen erlauben.

Die eurozentrische Expansionsstrategie der UdSSR betrachtet die chinesische Führung mittelbar als gegen ihr Land gerichtet: Wenn Westeuropa mit seinen Ressourcen, so ist die Überlegung, erst einmal sowjetischer Kontrolle unterworfen wäre, dann geriete die übrige Welt außerhalb de Sowjetlagers — und nicht zuletzt das im sowjetischen Vorfeld liegende China — in eine machtpolitisch hoffnungslose Position gegenüber der UdSSR.

Die innenpolitischen Schlußfolgerungen der chinesischen Führung

Im Gefühl einer akuten und vitalen Bedrohung durch die UdSSR hält es die chinesische Führung für notwendig, das militärische Potential ihres Landes so weit wie möglich zu mobilisieren. Die Parole lautet, China müsse jederzeit auf den möglichen sowjetischen Angriff vorbereitet sein. Dabei sind sich die Leiter der chinesischen Politik bewußt, daß sie bei einer militärischen Auseinandersetzung technisch unterlegen wären. Sie vertrauen jedoch darauf, daß die sowjetischen Streitkräfte bei einem Vordringen auf chinesisches Gebiet zunehmend auf Schwierigkeiten treffen müßten, die mit der Weite des fremden Raumes und mit der Zahl der feindlichen Bevölkerung Zusammenhängen. Die Hoffnung geht dahin, daß die maoistische Strategie des Volkskrieges die Invasoren allmählich zermürben werde, ohne daß deren technische Überlegenheit Abhilfe schaffen könne. Natürlich, so heißt es, würden die Verluste auf chinesischer Seite riesig sein, aber der Feind werde auf die Dauer außerstande sein, mit seinen Schlägen die Entscheidung zu seinen Gunsten zu erzwingen.

Die chinesische Führung vertritt die Ansicht, daß die UdSSR auch durch den Einsatz von Kernwaffen keine entscheidenden Vorteile erzielen könne: China sei ein unterentwickeltes Land, das sich durch die Ausschaltung bestimmter Zentren nicht tödlich verwunden lasse, und die völlige physische Vernichtung von Land und Volk sei — im Gegensatz zur Etablierung der sowjetischen Kontrolle über China — kein Ziel, das die Männer im Kreml vernünftigerweise anstreben könnten. Daher werde letztlich die konventionelle Kriegführung den Ausgang des Kampfes bestimmen.

Das militärische Konzept der chinesischen Führung ist zwar defensiv ausgerichtet, sieht jedoch für den Fall einer sowjetischen Inva-sion ein aktiv-elastisches Operieren vor. Die Vorbereitungen überall im Lande stehen im Zeichen eines Mao-Wortes: „Tiefe Tunnel graben, überall Getreidevorräte anlegen, nie nach Hegemonie streben." Der Wille zur entschlossenen Verteidigung wird durch ein systematisches militärisches Training breiter Bevölkerungsschichten in der Volksmiliz demonstriert. Auch wenn diese Aktivität — zumindest in gefährdet erscheinenden Gebieten — sogar die Ausbildung von Halbwüchsigen und Kindern einschließt, kann man doch nicht von einer einseitigen Militärlastigkeit des chinesischen Gesamtverhaltens sprechen.

In Abweichung vom stalinistischen Entwicklungsmodell sehen die chinesischen Wirtschaftsplaner keinen disproportionierten Ausbau der Schwerindustrie und des Rüstungssektors auf Kosten der übrigen Ökonomie vor. Sie glauben, daß der technisch-wirtschaftliche Fortschritt einen Weg nehmen müsse, der den ökonomischen und sozialen Verhältnissen im Lande gerecht werde. Dementsprechend sieht das Programm der „vier Modernisierungen" zunächst eine Förderung der Landwirtschaft vor. Daraus sollen sich dann Impulse für die Entwicklung der Leichtindustrie ergeben, die ihrerseits dann auf die Schwerindustrie weiterwirken sollen. Erst wenn diese Basis geschaffen ist, kann nach chinesischer Ansicht an eine umfassende Modernisierung der Streitkräfte gedacht werden. Logischerweise wird die chinesische Nuklear-rüstung nur bis zu einem bestimmten Mindestniveau vorangetrieben, das als abschrekkendes Gegengewicht gegen das sowjetische Kernwaffenpotential notwendig erscheint

Der Beobachter gewinnt den Eindruck, daß die militärischen Vorbereitungen Chinas vor allem dem Zweck dienen, den potentiellen sowjetischen Angreifer abzuschrecken. Dieser Einschätzung steht freilich entgegen, daß nach offizieller chinesischer These die Politik des sowjetischen „Sozialimperialismus" früher oder später einem Aggressionskrieg zusteuert und daß mithin ein globaler militärischer Konflikt als unausweichlich gilt. Gelegentlich heißt es dabei ausdrücklich, daß dies auch die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China bedeuten würde.

Zwei Indizien können jedoch dafür sprechen, daß die These nicht zum Nennwert genommen werden muß. Die chinesische Führung gibt die Absicht zu erkennen, den Krieg so weit wie möglich hinauszuzögern, und sie hält es dabei für möglich, daß dies über sehr lange Fristen hinweg gelingen könnte. Der erhoffte Aufschub reicht weit über das Jahr 2000 hinaus und greift damit in eine Zukunft voraus, deren Verhältnisse sich jeder prognostischen Extrapolation entziehen. Könnte das nicht auf eine Verzögerung bis zum St. -Nimmerleins-Tag hinauslaufen? Diese Vermutung gewinnt dadurch weiter an Wahrscheinlichkeit, daß es gelegentlich auch Aussagen gibt, nach denen unter bestimmten Voraussetzungen der Friede gewahrt bleiben könnte. Könnte die These von der Unvermeidlichkeit des großen Krieges nicht vielleicht als ein Instrument gedacht sein, das im In-und Ausland den furchtbaren Ernst der Bedrohung durch die Sowjetunion unterstreichen soll? Die Unvermeidlichkeitsthese enthält insbesondere für den Westen den warnenden Hinweis, daß mit der Sowjetunion nicht zu spaßen — und vor allem keine erfolgversprechende Entspannungspolitik zu betreiben — sei.

Die außenpolitischen Schlußfolgerungen der chinesischen Führung

In Übereinstimmung mit der These, daß die Entwicklung auf dem europäischen Schauplatz über die sowjetischen Weltherrschaftspläne entscheiden werde, richten die Leiter der chinesischen Außenpolitik ihr Bemühen darauf, vor allem die Westeuropäer zum entschlossenen Widerstand gegen die UdSSR zu ermuntern. Im einzelnen sollen vor allem der Wille zur militärischen Verteidigung und die Bereitschaft zum politischen Zusammenschluß in Westeuropa ermutigt werden. Den geostrategischen und machtpolitischen Verhältnissen in Europa, die der Sowjetunion eine überlegene Position zuweisen, trägt die chinesische Seite Rechnung, indem sie den Rückhalt Westeuropas an den USA für unverzichtbar erachtet. Mit einem Unterton der Kritik an dem gegenwärtigen Zustand heißt es freilich, daß dem amerikanisch-westeuropäischen Verhältnis eine „gleichberechtigte Partnerschaft" zugrunde liegen müsse.

Die chinesische Führung orientiert sich an dem Gedanken, alle Länder der Welt, die von der UdSSR noch unabhängig seien und sich gegen sowjetische Herrschaftsgelüste zur Wehr setzten, müßten zu einer formlosen Einheitsfront zusammenfinden. Dabei wird in erster Linie an eine Achse China — Westeuropa — Japan gedacht. Die Einstellung gegenüber den USA dagegen ist nicht frei von Vorbehalten. Denn den Vereinigten Staaten haftet in chinesischer Sicht das schimpfliche Etikett einer „Supermacht" an, die überdies — ihres grundlegenden Antagonismus zur UdSSR ungeachtet — immer wieder im Verdacht steht, gegenüber der anderen Super-macht einen schwächlichen Beschwichtigungskurs zu steuern und vielleicht sogar zeitweilig ein Komplicenverhältnis zu ihr zu suchen.

Trotzdem ist sich die chinesische Führung darüber im klaren, daß die Amerikaner nicht beiseite bleiben können, wenn eine weltweit erfolgreiche Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion betrieben werden soll. Diesem Hauptinteresse werden alle anderen Fragen des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses nachgeordnet. Die chinesische Führung geht dabei von der Einschätzung aus, daß die USA ihre Gefährlichkeit als „Supermacht" weithin verloren haben. Die Vereinigten Staaten sind, so heißt es, von der UdSSR in die Defensive gedrängt worden. Die amerikanischen Energien werden demnach von dem Bemühen, den eigenen Abstieg zu stoppen und den sowjetischen Aufstieg aufzuhalten, voll in Anspruch genommen. Die Verfolgung aggressiver Pläne erscheint unter diesen Umständen kaum noch möglich. Die Wahrscheinlichkeit amerikanischer Angriffsoperationen wird nach chinesischer Ansicht darüber hinaus durch die Vetoposition, die der Kongreß gegenüber der Administration in Washington erlangt hat, praktisch auf Null reduziert. Die-jenige Weltmacht, die mittlerweile ihre Dynamik verloren hat und sich zu friedlichem Verhalten genötigt sieht, soll als Gegengewicht gegen die andere, die expansionistisch-militante Supermacht dienen.

Nach chinesischer Einschätzung hat freilich auch die Sowjetunion gegenwärtig noch nicht diejenige Machtposition erreicht, deren sie bedürfte, um den Endspurt zur Weltherrschaft anzutreten. Sie ist mit ihrer politisch-militärischen Macht noch nicht in allen Teilen der Welt präsent, und ihr wirtschaftlich-technisches Potential ist noch immer zweitrangig. Aus dieser Lage ergibt sich nach chinesischer Ansicht für die Staaten außerhalb des Sowjet-lagers ein kategorischer Imperativ: Sie müssen, solange es noch Zeit ist, der UdSSR entschlossenen Widerstand entgegensetzen und sie an der Überwindung ihrer Schwächen hindern. Wenn die Außenwelt alles tut, um eine Ausdehnung der sowjetischen Macht zu verhindern und der UdSSR jede Hilfe beim Ausbau ihrer materiellen Basis zu versagen, werden den „neuen Zaren" noch lange die Voraussetzungen für den Griff nach der Weltherrschaft fehlen. Eine derartige Politik der entschlossenen Abwehr gegenüber der Sowjetunion gilt daher den Leitern der chinesischen Politik als der beste, ja als der einzige Weg, um die Katastrophe des Weltkrieges hinauszuschieben. Jedes andere Verhalten gegenüber Moskau erscheint in Peking als kurzsichtiger Beschwichtigungsversuch, der ungewollt den gemeinsamen Bedroher mit den Mitteln zur vollständigen Realisierung seiner gefährlichen Absichten versorgt.

Abschließende Wertung

Gemessen an europäischen Vorstellungen ist es frappierend zu sehen, in welcher Intensität und in welcher Totalität das chinesische Bewußtsein von dem Gedanken einer unabänderlich gegebenen sowjetischen Bedrohung bestimmt wird. Es gibt für den auswärtigen Beobachter nicht die leisesten Anzeichen dafür, daß dabei in dieser Hinsicht zwischen rivalisierenden politischen Gruppen oder zwischen dem Regime und der Bevölkerung ein Dissens existierte. Auch auf längere Sicht erscheint ein Wandel der Einstellung gegenüber der UdSSR kaum möglich. Die chinesische Seite könnte es zwar — ähnlich wie das sowjetische Gegenüber — als in ihrem Interesse liegend ansehen, wenn bestimmte politisch belastende Einzelstreitigkeiten (etwa an der Grenze) ausgeräumt würden und wenn die zwischenstaatlichen Beziehungen insgesamt weniger krisen-und spannungsträchtig wären. Dies würde aber kaum mehr als eine formelle Bereinigung der zwischenstaatlichen Beziehungen bedeuten. Auf absehbare Zeit, so will es scheinen, lassen sich die chinesischen Bedrohungsängste kaum abbauen. Eine substantielle chinesisch-sowjetische Wiederannäherung müßte eine Wiederaufnahme der Parteibeziehungen, mindestens aber einen grund-legenden Wandel des sicherheitspolitischen Verhältnisses (etwa durch eine Zurückziehung der Truppen aus den Grenzgebieten, durch eine sichtbare Aussöhnung oder durch einen vertraglichen Gewaltverzicht) einschließen — und bis dahin erscheint der Weg unendlich weit und schwierig.

Die chinesische Führung macht zur Rechtfertigung ihrer kompromißlosen Politik öffentlich geltend, daß der Abschluß von Gewaltverzichts-oder Nichtangriffsverträgen mit der UdSSR schon darum sinnlos wäre, weil der früher abgeschlossene zweiseitige Freundschaftsvertrag formell zwar noch existiere, sich aber faktisch als ein bloßes Stück Papier erwiesen habe. Solange die sowjetische Führung das genaue Gegenteil ihrer vertraglich festgelegten Verpflichtung tue, könnten ihre Offerten keine Glaubwürdigkeit beanspruchen. Von führender Seite in Peking heißt es weiterhin, daß die Sowjetunion erst durch eine Bereitschaft zu Maßnahmen einer militärischen Konfliktentschärfung und durch die Anerkennung des durch die „ungleichen Verträge" im vorigen Jahrhundert an China verübten Unrechts die Voraussetzungen zu einer Entspannung des chinesisch-sowjetischen Verhältnisses schaffen müsse.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geboren 1934 in Gelnhausen/Hessen; Studium der Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft; Wissenschaftlicher Referent und stellv. Leiter des Forschungsbereichs Politik am Bundesintitut für ostwissenschaftliche und internatonale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland, 1967; Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917, 1967; Politik im Rampenlicht, 1967; Potsdam und die deutsche Frage, 1970 (zus. mit E. Deuerlein, A. Fischer und E. Menzel); Europäische Sicherheit 1966— 1972, 1972; Frieden und Sicherheit in Europa: KSZE und MBFR, 1975; Community and Conflict in the Socialist Camp 1965— 1972, 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976, 19772; Der Kampf um die freie Nachricht, 1977; Broadcasting and Detente, 1977.