Das Wertproblem in der politischen Bildung der Gegenwart
Wolfgang W. Mickel
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Zusammenfassung
Bis zu Beginn der siebziger Jahre haben sich politische Bildung und Pädagogik, in der Bundesrepublk Deutschland mit der Wertproblematik schwergetan. Dies hängt mit der tiefreichenden Zäsur im tradierten Wertsystem durch die Jahre 1933 und 1945 zusammen. Während die Staaten in Ost und West ihre überkommenen Werte fast kontinuierlich durch Unterricht und Erziehung Weitergaben, entstand in der Bundesrepublik infolge der Zeitereignisse und kritischer Reflexion der neueren deutschen Geschichte ein Werte-vakuum. Vor allem wollte man sich vor den vermeintlichen sozialpsychologischen Folgen eines neuen (verbindlichen) Wertsystems bewahren. Man nahm den Verlust der gruppenintegrativen Wirkung eines Wertsystems in Kauf und denunzierte letzteres als irrational. Politische Bildung sollte allein auf Rationalität gegründet sein. Der Mensch als ein ens rationale et irrationale wurde ignoriert. Dieses Vorgehen ließ Sich so lange durchhalten, wie man in der Bundesrepublik mit dem materiellen Wiederaufbau beschäftigt war und sich keine nennenswerten Störungen in einer fast zwanzig Jahre prosperierenden Wirtschaft und innerem wie äußerem Frieden bei ständiger Erweiterung von sozialer Sicherheit und allgemeiner Bildung einstellten. Gelegentliche Einzelaktionen, z. B. Hakenkreuzschmierereien, restaurativer Nationalismus, Demonstrationen gegen Bundeswehr, Atomrüstung, Notstandsgesetze usw., signalisierten zwar ein latentes andersgerichtetes politisches, Potential, wurden aber letztlich als bloße Störfaktoren betrachtet. Seit den siebziger Jahren ist die Bundesrepublik in eine innere Krise geraten. Zu deren Bewältigung fehlt ein Wertsystem, das die Grundfreiheiten der Verfassung als unbestrittenes (zwar diskutierbares) Minimum fest im öffentlichen Bewußtsein integriert. Was man 25 Jahre hindurch denunziert hatte — nämlich ein Wertsystem als nationalen Stabilisationsfaktor —, ist nun zum Problem unserer staatlichen und gesellschaftlichen Existenz geworden. Zusammen mit einem Mangel an Geschichtsbewußtsein bemerkt man insbesondere bei der Jugend ein Fehlen an nationaler Identifikation und Loyalität, ohne die kein Staat bestehen kann. Das Wertsystem erhält eine in der Nachkriegszeit nie gekannte Aktualität. Aufgabe der politischen Didaktik ist es, die Diskussion um die Normen und Werte der politischen Bildung so rasch wie möglich zu führen und Versäumtes nachzuholen. Die vorgelegte Analyse gibt eine Übersicht über den derzeitigen Diskussionsstand.
I. Die Wechselbeziehung von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen bei der Herausbildung des Wertbegriffs
Wertprioritäten in der Geschichte der Politischen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg Politische Bildung ist ohne den Wertbegriff nicht denkbar, andernfalls würde sie zu einem unverantwortlichen, opportunistischen, ungeschichtlichen Dezisionismus denaturieren. Die herrschenden Werte einer Gesellschaft waren stets auch die Lernziele der Schulen. Jede Staats-und Gesellschaftstheorie enthält normative, wertbezogene Postulate. So ist innerhalb der Demokratietheorie bedeutsam, welchen Stellenwert z. B. Demokratie und Pluralität, Freiheit und Gleichheit, Individualität und Sozialität einnehmen sollen. In der Geschichte der Politischen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich (epochale) Wertprioritäten feststellen, die ihrerseits die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik wider-spiegeln: Während der Epoche der Partnerschaftserziehung galt vorrangig der Zentral-begriff der Gemeinschaft, es folgte die Erziehung zum Staat und zur demokratischen Verantwortlichkeit, dann zu nationalen Werten, Vor-und Leitbildern (moralische Erziehung) 1), darauf zu fundamentalen Einsichten, schließlich trat politische Erziehung in die Phase der Ideologiekritik und sozialwissenschaftlichen Analyse ein.
Zu den ersten beiden Phasen gehörten Gemeinschaftstugenden wie Kooperation, Mit-menschlichkeit, Toleranz, Einordnen, Dienen, Pflichtbewußtsein, Opferbereitschaft, Sittlichkeit, Humanität, Würde des Menschen, Individualität, Persönlichkeitsentfaltung Charakter-und Gewissensbildung, Haltung Es handelt sich durchweg um verschiedenen geistesgeschichtlichen Ebenen entstammende . konservative'Wertbegriffe Bis zur Mitte der sechziger Jahre blieb die Erwartenshaltung in der Bevölkerung kongruent mit der ökonomischen Entwicklung und mit dem politischen System. Die Wertfrage stellte sich nicht im Grundsätzlichen wie in den folgenden Jahren bis heute; der Grundkonsens — hervorgerufen durch die Befriedigung der unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Sicherheitsbedürfnisse — war weitgehend vorhanden. Die letzte Phase ist demgegenüber gekennzeichnet durch Begriffe wie Rationalität, Partizipation, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz, Mündigkeit, Kritik(fähigkeit), Selbst-und Mitbestimmung, Menschenwürde.
Bis zu dieser Phase der kritisch-emanzipatorischen Erziehung seit etwa 1967 (Ende der ersten Wirtschaftskrise, Große Koalition, Notstandsgesetzgebung) hatten die angeführten Wertbegriffe eine systemstabilisierende, affirmative Funktion; sie beruhten auf moralisch-ideellen Positionen und einem bürgerlich-idealistischen Begriffshorizont. Sie richteten sich im wesentlichen nach dem Verlauf der Politik: Rekonstruktion von Staat und Gesellschaft nach traditionellen Mustern, Westintegration, Antikommunismus, Wiedervereinigungspolitik, Kalter Krieg, Abgrenzung gegenüber dem Osten, soziale Stabilisierung im Innern, parteipolitische Abstinenz der Bevölkerung, gesellschaftlicher und politischer Immobilismus usw.
Die Studenten, Schüler und Lehrlinge, vorbereitet durch das Wiederaufleben der Sozial-wissenschaften und der sie (mit-) bedingenden Wissenschaftstheorien (besonders der Kritischen Theorie), haben am Ausklang der sechziger Jahre erhebliche Defizite in der Gesellschaft der Bundesrepublik aufgedeckt und ein neues Demokratieverständnis (Prozeßdemokratie versus Ordnungsdemokratie) gefordert. Zur Grundlage der Politischen Pädagogik wurde die Konfliktlehre. Fortan beherrsch(t) en Begriffe wie Interessen, Kämpfe, Macht-und Herrschaftsansprüche von Gruppen, Emanzipation usw. das gesellschaftspolitische Feld.
Der Wertepluralismus wurde sichtbar neue Auffassungen entwickelten sich über Begriffe wie Freiheit und Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Individuum und Gesellschaft usw.
Der in der Nachkriegszeit erfolgte bewußte Rekurs auf ein affirmatives, die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen restaurierendes Wertsystem wurde gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre von der Studentenbewegung in seiner konservativen Funktion entlarvt. Sie stellte ihre eigene aufklärerische Auffassung von Rationalität, Kritik und Emanzipation dagegen. Das Herausfinden von sog. objektiven Widersprüchen in der Gesellschaft auf der Grundlage des „richtigen“ Bewußtseins sollte zu rationalen Verhaltenskriterien und Gesellschaftsmodellen führen und hatte die unbefragte (Wert-) Evidenz für sich. Diese neomarxistische Variante des Selbst-und Wertbewußtseins verabsolutierte mit dem Mittel des ideologiekritischen Befragens von Interessenpositionen, gesellschaftlichen Strukturen und Antagonismen, sozialen Klassen, von Basis und überbau die eigene Methode und sparte diese gleichzeitig von der Kritik aus. Daher war es kein Wunder, daß dieser Vulgärmarxismus in einem blinden, voluntaristischen Aktionismus endete. Dort, wo man einflußreiche Positionen in (Hoch-) Schule, Verwaltung, Justiz und Sozial-arbeit gewonnen hatte, wurden Indoktrination und Protektion rigider gehandhabt als unter der Herrschaft denunzierter Demokraten.
Offensichtlich hat die linke Reformbewegung, trotz zugestandener Erfolge, den Bogen überspannt und ist zum Bürgerschreck geworden übereilte, unausgereifte Maßnahmen wie die Verunsicherung der Justiz und ihrer Organe, die Anwendung von Gewalt gegen Sachen und Menschen, die Ablehnung des Leistungsprinzips in allen Bereichen, die Verweigerung von Loyalitäten, die Ignorierung rechtsstaatlichen Verhaltens, die Verschär-fung der außerparlamentarischen Opposition und Infragestellung der parlamentarischen Demokratie sowie des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus haben viele Menschen in unserem Lande verängstigt.
Der darauf erfolgte konservative Rückschlag bestand und besteht in dem Ruf nach Ordnung und Sicherheit im Sinne einer formaldemokratisch-engen Auslegung des Grundgesetzes. Konservative Publizisten rufen nach einem starken Staat, nach einem harten Durchgreifen der Justiz-und Polizeibehörden, nach Wiederherstellung der (Amts-) Autorität in den (Hoch-) Schulen, nach politischer Disziplinierung usw. Dieser Konservativismus ist z. T. irrational geprägt, mehr eine Sache des Glaubens, Fühlens und der inneren Haltung als der Vernunft. Deshalb sind große Teile seiner Inhalte problematisch. Dies zeigt sich in seinem gefühlsmäßigen Eintreten für Tradition und Erbe, für Heimat-und Sinnverständnis, für die Anerkennung übergeordneter Normen, für Tugenden wie Dienst, Opfer und Pflicht, für die Nation, das Naturrecht, die In-fragestellung des Wohlstands als Ausdruck des praktischen Materialismus, für Selbstwert und Eigengesetzlichkeit, für das Gemeinwohl auf christlich-abendländischer Grundlage, für das Eintreten gegen die (vermeintliche) Vermassung, für das (angeblich) anthropologisch Unveränderbare, für das Bewußtsein der Grenze — alles Formulierungen, die sich rationaler Begründung weitgehend entziehen bzw. einem bestimmten Wertsystem zuzuordnen sind. Der Einsatz des Konservativismus für einen starken, organisch gegliederten Verfassungsstaat (C. Schmitt, W. Weber, E. Forsthoff), für Autorität (gegen gleichmacherischen Demokratismus), für die Bevorzugung des Rechtsstaatsprinzips vor dem Sozialstaatsprinzip (z. B. gegen die sog. Gewerkschaftsmacht), für Stabilität und Ordnung, für machtvolle staatliche Institutionen, für Eliten, gegen Rationalismus und Liberalismus, gegen Planung und Kollektivismus entspricht seiner hierarchischen Grundhaltung.
Demgegenüber ist ein Wertsystem erforderlich, das auf die heutigen Probleme in emanzipatorischer Absicht eingeht: auf Fragen des ökologischen Gleichgewichts, auf den vorsichtigen Umgang mit knappen Ressourcen, auf die Humanisierung der Arbeitswelt, auf zwischenmenschliche Solidarität, auf Probleme der Gesundheit und der sozialen Sicherung, auf die Verbesserung der demokratischen Strukturen in Staat und Gesellschaft, auf die Lösung arbeitsmarkt-und strukturpolitischer Fragen, auf die sinnvolle Ausfüllung der Freizeit, auf die Hinwendung zu menschlichen Sinnfragen usw. Solche Probleme erfordern eine neue Wertorientierung — in Gestalt von Einstellungen, Haltungen, Meinungen, Präferenzen, Glaubenssystemen usw., bei denen das evaluative Moment, d. h. die Anwendung bestimmter normativer Standards, im Vordergrund steht —, die sich von der vordergründig materiellen Ausrichtung der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte durch einen stärker verantwrortungsethisch-kollektiven und teilweise immateriellen Bezug von der seitherigen individuell-materiellen Zentrierung unterscheidet. 2. Die Wende in der politischen Wertorientierung nach der Studentenbewegung Die Wende in der Wertorientierung in der Bundesrepublik ist etwa mit dem Jahr 1972 anzusetzen und seitdem durch eine Reihe von nationalen und internationalen Faktoren ausgewiesen: dem Auslaufen der studentischen Protestbewegung, dem Ende der staatlichen Reformpolitik infolge knapper Finanzen, dem Rückschritt in der europäischen Einigungspolitik als Folge nationaler und internationaler Wirtschafts-und Währungsprobleme, dem Beginn einer restaurativen Nationalpolitik, dem zunehmenden Selbstbewußtsein der Länder der Dritten Welt (Olkartell, Forderung nach einem Rohstoffkartell, Nord-Süd-Dialog), den ungelösten Ausbildungs-und Beschäftigungsfragen, der zunehmenden Kriminalität, der Polarisierung der politischen Parteien, dem Nahostkonflikt, den Rückschlägen in der West-Ost-Entspannungspolitik usw. Weltweit ist das Bewußtsein einer globalen Krisensituation vorhanden.
Die politische Bildung hat die neuen Wertnotwendigkeiten positiv aufgenommen. 1972 wurde ihre Rezeption durch eine Grundrechts-und -wertediskussion eingeleitet, an der sich vor allem Assel, Roloff, Fischer und Sutor beteiligten. Ein Jahr danach hat der Verfasser in seiner Antrittsvorlesung zum erstenmal auf die geänderte Bedeutung des Wertbegriffs für die politische Bildung hingewiesen, indem er sie auf der Folie der herrschenden Wissenschaftstheorien — des Kritischen Rationalismus, der Kritischen Theorie und der Systemtheorie — vom emanzipatorischen Ansatz her untersucht und deren methodologische Besonderheiten herausgearbeitet hat Dazu kam die Forderung nach Anerkennung des grundgesetzlich verankerten Minimalkonsenses in Form der (kritisch diskutierbaren) Grundwerte wie der Prinzipien der Demokratie, der Rechts-und Sozialstaatlichkeit, der Selbstbestimmung und -Verwirklichung, der Presse-und Meinungsfreiheit, der Toleranz usw. In der Bundesrepublik hatten Vorkommnisse beim Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler (1972) die Wertfrage aufkommen lassen, schließlich wurden die Bundestagswahlkämpfe von 1972 und 1976 u. a. unter Berufung auf die neu interpretierten Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz und Pluralismus geführt Zur gleichen Zeit erschienen die eine wertmäßige Neubesinnung auf der Basis der Kritischen Schule liberaler bzw. sozialistischer Provenienz signalisierenden Arbeiten von Giesecke, Schmiederer, Hilligen und Fischer. Ab 1975 ist eine konservative „Gegentendenzwende“ sichtbar in den Beiträgen von Boventer, Sutor, den Autoren der „arbeitsgruppe freie gesellschaft" sowie der Verfasser der sogenannten Gelben Bibel, denen es wieder mehr auf normative Kategorien wie Konsens, Kooperation, Gemeinwohl, Ordnung, Frieden usw. ankommt. 3. Die funktionale Definition von Werten und Nonnen Werte sollen als regulative Prinzipien für individuelles und soziales Handeln als handlungsleitende Standards des Wünschenswerten verstanden werden. Ihre Aufgabe besteht in der begründbaren Selektion von Handlungsalternativen. Sie sind von bloßen Attitüden, Bedürfnissen, Motivationen und Zielen zu unterscheiden. In unserem Zusammenhang interessieren die politischen Werte. Sie rekurrieren in ihrer Begründung auf die Gesellschaft und sind — im Gegensatz zu philosophischen oder theologischen Werten — aposteriori, d. h. durch positive Setzung entstanden, mit Ausnahme des als aprioristisch zu betrachtenden Wertes der Menschenwürde. Man unterscheidet kognitive und instrumenteile, affektiv-expressive und evaluativ-normative Werte. Alle sind ein funktionales Erfordernis eines sozialen Systems, der Wertbegriff kann aus keiner Gesellschaftstheorie völlig eliminiert werden. Werte sind verantwortlich für gesellschaftliche Konformität und Stabilität, für reziproke Rollenerwartungen u. dgl. Sie werden durch einen Sozialisations-und Lernvorgang internalisiert, schaffen feste Verhaltensmuster und sorgen für gesellschaftliche Kontinuität und Identität. Ferner sind sie ein Teil des sozialen Status und führen zu bestimmten Rollen-und Handlungserwartungen.
Die Begriffe „Wert" und „Norm" werden häufig synonym gebraucht. Eine genauere soziologische Unterscheidung bezeichnet den Wertbegriff als neutral, während die „Norm" Werte beinhaltet und von einer Allgemeinheit (Gruppe) gesetzt wurde sowie Sanktionscharakter hat. D. h. die Norm enthält ein Sollen, eine Verpflichtung, die bei Verletzung u. U. geahndet wird. Die Norm liefert einen Standard, eine Regel und ist stärker als der Wert auf ein (erwartetes) Verhalten oder Handeln bezogen.
Das semantische Spektrum des Wertbegriffs ist breit angelegt, da eine Wertdefinition, wissenschaftstheoretisch betrachtet, individuell von jedem Forscher vorgenommen werden kann. Das bedeutet, die meisten Normen und Werte, nach denen wir uns richten, sind durch das Verfahren ihres Zustandekommens legitimiert (z. B. durch Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen, Basiskonsens). Eine Reihe von Bezeichnungen für Werte lauten: Prinzipien, Postulate, Formen, Kriterien, Codes, Muster, Modelle, Maßstäbe, Regeln, Parameter, Matrices, Konzepte u. a. Der Wertbegriff ist demnach wenig präzis.
Nach einer (faktoriellen) Analyse des soziologischen Schrifttums hat Lautmann herausgefunden daß der Normbegriff nur für das Handeln, der Wertbegriff für das Handeln und alle weiteren Objekte (Artefakte, Abstrakta, Eigenschaften, Zustände) verwendet wird. Folglich ist „Regel" das Formelement der Norm, im Sinne von „Handlungsregel" zu verstehen, als Richtschnur, während das klarste Formelement von Wert „Maßstab" heißt (ein allgemeineres Wort). Dazu kommen für „Norm" die oben genannten Momente der Allgemeinheit ihrer Setzung durch eine gesellschaftliche Gruppe und die Sanktionierung von Handlungsabweichungen. Beides findet sich nicht beim „Wert". Normen sind präziser als Werte. Werte sind oft so allgemein, daß konkrete Handlungsanweisungen — Normen — ihre Realisierung übernehmen müssen. Allerdings stehen die Werte durch ihren höheren Grad an Allgemeinheit über den spezielleren Normen, so daß bei einer Hierarchisierung die Werte das Allgemeine darstellen und die Spezifika, die Normen, legitimieren.
II. Die Wertrepräsentanz in der Didaktik politischer Bildung
Die politische Bildung befindet sich in einer Legitimationskrise infolge normativer Defizite. Es ist ihr offensichtlich nicht hinreichend gelungen, eine Identifikation des jungen Menschen mit der demokratischen Gesellschaft und dem demokratischen Staat der Bundesrepublik herzustellen und entsprechende (kritische) Loyalitäten zu schaffen sowie eine allgemeinverbindliche Wertorientierung zu bewerkstelligen. Die notwendige Grundwerte-diskussion fand nur ausnahmsweise statt. Einige Ansätze in den fünfziger und sechziger Jahren, die auf ein eingeschränktes Staatsbewußtsein abzielten, wurden durch eine vermeintlich wert-und emotionsfreie Erziehung zur Rationalität und Kritikfähigkeit abgeblockt. Die Inhalte spielten eine sekundäre Rolle. Gegen Ende der sechziger Jahre bot sich der Marxismus als ein geschlossenes Wert-system mit der vermeintlichen Fähigkeit zur Lösung aller menschlichen Probleme an. Neomarxistische Schlagworte von „der Gesellschaft", den „objektiven Bedürfnissen", dem „richtigen Bewußtsein", den „Klassen" Verhältnissen, den „Grundwidersprüchen", den im Kapitalismus unauflösbaren „Antagonismen" und „Konflikten" figurierten für scheinbar Vorhandenes. Die Hoffnungen auf eine globale Identifikation, z. B. mit Europa, mit den Entwicklungsländern, mit den Unterprivilegierten in aller Welt, erfüllten sich nicht, übrig geblieben ist das ungelöste Problem der nationalen Identität.
Im folgenden wird dem Vorhandensein der Wertfragen in den verschiedenen Richtungen politischer Didaktik nachgegangen. Aus Platzgründen kann jedoch nicht die vollständige didaktische Konzeption eines Autors vorgetragen werden. Die klassifikatorische Einteilung soll der Übersicht und Lesbarkeit dienen; der Umfang der Behandlung braucht nicht der sonstigen Bedeutung einer Konzeption innerhalb der politischen Bildung zu entsprechen 1. Normativ-ontologische versus liberal-individualistische Grundrechts-und Grundwertediskussion H. -G. Assel geht es in der Politik um die Grundfrage, „das Zusammenleben der Menschen vernünftig zu ordnen" „wie man eine menschenwürdige Ordnung, d. h. eine Ordnung, die auf Repression, Manipulation, Fremdtäuschung, auf Unfreiheit, Ungleichheit und Intoleranz weitgehend verzichtet, zum Wohle aller gestalten kann" Aus diesem inhaltlichen Ansatz entwickelt er die Kategorie der Ordnung als zentrale Kategorie für die politische Bildung. Sie impliziert die dialektische Spannung von Integration und Konflikt. Diese Ordnung wird vom ideologischen — im Gegensatz zum kritischen — Bewußtsein bedroht, weil es sich „auf Autorität und Parteilichkeit" beruft, sich „in einer intoleranten und fanatischen Überzeugungstreue" äußert, „jede Komp mißbereitschaft ablehnt und nicht gewillt ist, dem Andersdenkenden die gleiche Achtung zu erweisen"
Der von Assel in seiner positiven Funktion anerkannte Konflikt (Austragung von Macht-, Interessen-und Wertkonflikten in aller Of-* fentlichkeit) darf — systemtheoretisch — eine Grenze nicht überschreiten, nämlich wo der „Bestand einer freiheitlichen, humanen und sozialen Ordnung gefährdet wird" er ist also fest an das Gemeinwohl gebunden. Von daher stammt die Unterscheidung zwischen „destruktiven" und „konstruktiven" Konflikten. Für die Bewältigung von Konfliktsituationen werden von Assel — über Lingelbach hinausgehend — die Begriffe Konsens, Grund-einsicht, Gemeinwohl, Kooperation, Solidarität und Ordnungsnorm für wichtig gehalten. Aus diesen Konstanten setzt sich seine Ordnungstheorie zusammen.
In der politischen Bildungspraxis kommt es Assel darauf an, „das werterfüllte Leben kritisch zu analysieren, um die echten Werte von ideologischen Scheinwerten zu trennen . . . Der hierfür verbindliche Maßstab stellt die menschenwürdige Ordnung dar"
„Orientierungspunkt für das Politische ist die freiheitliche Grundordnung, welche menschenwürdige Existenz garantiert." „Gemeinwohl und Mündigkeit" haben als „regulative'Prinzipien die würdige menschliche Existenz im Blickpunkt." Die Begründungszusammenhänge für die genannten Prinzipien werden allerdings nicht nachgewiesen.
Die ontologisch-normative Konzeption von H. -G. Assel greift zu kurz und wird nicht im gesamten Bereich der politischen Bildung durchgehalten. Sie reflektiert nicht die Tragfähigkeit der von ihr postulierten Begriffe, sondern begnügt sich mit deren ausführlichen historischen Herleitungen und mit leerformelhaften Äußerungen für ihren gegenwartsbezogenen Gebrauch. In ihrer affirmativen Her-ausstellung eines einzigen Zentralbegriffs ist diese Konzeption nicht geeignet, ihrem Anspruch nach Wirklichkeitskritik selbst gerecht zu werden. Die von Assel bemühten Ordnungsvorstellungen werden nicht kritisiert — obwohl „kritisches Bewußtsein" für seine Auffassung konstitutiv sein soll —, die geschriebene Verfassung wird zum Wert an sich stilisiert
Offensichtlich hat Assel die angedeuteten materiellen Schwächen seiner Position erkannt und bald darauf eine Diskussion über den Stellenwert der Grundrechte eingeleitet Er verfolgt den anthropologisch-politischen Ansatz bei der Priorität um das Gemeinwohl. Nicht eine abstrakte Gesellschaft oder gar der Staat stehen danach im Vordergrund politischen Bemühens, sondern die Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Gerichtsschutz und soziale Gerechtigkeit als fundamentale Normen des Grundgesetzes. „Es kommt also auf das richtige Verhältnis von Mensch und Staat, von Wert und Macht an. Nicht umsonst haben die Väter des Grundgesetzes jene Wertpostulate an den Anfang der Verfassung — im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung — gestellt. Deswegen ist es angebracht, immer wieder die grundgesetzlichen Normen — sie sind formales wie materiales Recht — nach dem Grad ihrer Verwirklichung in unserer Gesellschaft zu befragen
Gerade weil sich unsere Demokratie als „streitbar" und „abwehrbereit" versteht, muß sie ihre zu verteidigenden Positionen transparent machen und kritisieren lassen; denn eine wertneutrale Haltung bzw.der totale Werte-relativismus werden als ein Negativum der Weimarer Staatskonstruktion verstanden. Absoluter Relativismus und Neutralismus ermöglichten es damals den Verfassungsfeinden, die Verfassung mit Hilfe der Verfassung außer Kraft zu setzen. Demgegenüber bestimmt das Grundgesetz im Artikel 79 Absatz 3 die Unveränderbarkeit der Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 20 (demokratischer, republikanischer, bundesstaatlicher Rechts-und Sozialstaat) sowie generell die Unabänderlichkeit der überpositiven (vor-staatlichen) Grundrechte in ihrem Wesensgehalt Daraus resultiert für die verfassungsrechtliche Konstruktion der Bundesrepublik die „wertbewußte" Demokratie. Allerdings streiten sich die Geister um die Verfassungsgeböte.Der politische Kampf der Neuen Linken geht um die extensive Auslegung und Instrumentalisierung der Verfassungsartikel Z. B. über die sozialgebundene Eigentumsgarantie, das Bodenrecht usw. Dem steht eine konservative Position gegenüber, die sich mit der affirmativen Hinnahme des Erreichten zufriedengibt. Die seitherige Urteilspraxis des Bundesverfassungsgerichts läuft auf eine Stabilisierung des bisher politisch Durchgesetzten hinaus und ist eher als konservativ zu bezeichnen. Diese Situation weist auf das von Leibholz formulierte Grundproblem einer demokratischen Verfassung hin: „Die bestehenden dialektischen Spannungen zwischen liberalen und sog. sozialen Grundrechten, zwischen Freiheit und Gleichheit enthebt uns nicht der Verpflichtung, in Freiheit einen Ausgleich zwischen den freiheitsbedrohenden sozialen Grundrechten und den liberalen Grundrechten zu suchen."
Assel betont die Notwendigkeit einer rationalen Normdiskussion im Unterricht, weil von ihrem Ergebnis die Glaubhaftigkeit unseres politischen Systems abhängig ist, insbesondere „weil vom politischen Wertbewußtsein die Einstellung zur Macht, zum Recht und zur sozialen Gerechtigkeit beeinflußt wird" Dabei sollen die Normen im obigen Sinne diskutiert und in ihrer derzeitigen Form in Frage gestellt werden. Dies muß — im Gegensatz zu Assels Auffassung — materiellrechtlich auch für die Menschenrechte gelten. Sie stehen nur formalrechtlich „außerhalb von Kontroverse und Ermessen und bilden den Minimalkonsensus der politischen Gemeinschaft" Es kann kein Zweifel bestehen, daß an ihrer inhaltlichen Fixierung immer wieder gearbeitet werden muß. Das gesteht auch Assel zu, indem er davon ausgeht, daß das Recht auf Leben, die Würde des Menschen, Freiheit und Gleichheit wie das gesamtdemokratische System stets der kritischen Analyse offen sein müssen:
„Nur in der offenen Auseinandersetzung lassen sich Wertentscheidungen für bestimmte Prinzipien gewinnen, denn in der rationalen Erörterung werden Kriterien ermittelt, welche für die Wertdifferenzen von Ordnungen entscheidend sind. Wer das Verbot infallibler Instanz nicht respektieren will, enthüllt sein Interesse für eine Ordnung, die sich nicht in Frage stellen läßt. Hinter jeder infalliblen Instanz steht der normative Dogmatismus und das Frageverbot."
Voraussetzung für den Minimalkonsens ist demnach die rationale, undogmatische Diskussion. Gerade hier ergeben sich z. T. unüberbrückbare Schwierigkeiten mit ideologisch fixierten Gruppen, deren Denk-und Sprachstrukturen sich gegenüber dem Normalmaß erheblich verschoben haben. Beispiele dafür sind Begriffe wie repressive Toleranz, repressive Gewalt, emanzipatorische Gewalt u. a. (Marcuse, Fanon). Demgegenüber läßt das Grundgesetz der Bundesrepublik eine öffentliche Diskussion seiner Wertgehalte nicht nur zu, sondern stellt sie unter seinen besonderen Schutz
Nach E. -A. Roloffs sozialwissenschaftlichem Ansatz muß jedes Ziel des politischen Unterrichts kritisch überprüft werden: „In dem im Grundgesetz fixierten Minimalkonsensus über Grundrechte , die Axiomatik heutiger Pädagogik'zu sehen — wie z. B. Heinrich Busshoff und andere —, bedeutet, auf eine kritische Befragung dieser Prinzipien zu verzichten. Denn die von den politischen Entscheidungsträgern gewünschte Entscheidung für die eigene Ordnung impliziert die entschiedene Ablehnung einer angenommenen oder tatsächlich vorhandenen Kontra-Ordnung, die aber politisch nicht überzeugen kann, wenn diese Alternative rational nicht diskutabel, weil von vornherein moralisch nicht akzeptabel erscheint."
Damit werden zum erstenmal in der kritischen Didaktik der „Wesensgehalt", die „Prinzipien" des Grundgesetzes, die im konservativen Schrifttum als formell und materiell „unantastbar" bezeichnet werden, kritischer Prüfung unterzogen. Eille normative Ordnung muß sich stets an der mitgedachten Kontra-Ordnung messen lassen. Dadurch wird das Grundgesetz nicht ausgehöhlt, wie Roloffs Kritiker — besonders Andreae — vermerkt haben, sondern auf seine geistige und* gesellschaftliche Tragfähigkeit stets aufs neue untersucht und für fortschrittliches Denken offen gehalten.
Der politische Unterricht soll nach Roloff dazu beitragen, „z. B. nicht erfüllte Möglichkeiten von Grundgesetznonnen verwirklichen zu helfen, etwa den sozialen Rechtsstaat oder das Gleichheitsprinzip, sowie neuen politischen Entscheidungsraum und mehr Demokratie durch Übernahme selbst erkämpfter Verantwortung zu gewinnen. In dieser Weise orientiert sich eine politische Didaktik... — durchaus im Rahmen der Normen des Grundgesetzes — an einem Leitbild von Freiheit und Würde des Menschen, das zu erreichen nicht ohne Änderung bestehender Herrschaftsverhältnisse ... möglich ist."
Roloff geht in seiner didaktischen Verortung des Grundgesetzes von der ambivalenten, systemabhängigen Interpretationsmöglichkeit der Grundrechte aus. „Unter anderen Bedingungen, bei anderen historischen Erfahrungen und anderen Herrschaftsverhältnissen wären die Formulierungen der Artikel 2 bis 17 auch in anderer Weise denkbar und vermutlich auch anders ausgefallen."
Roloff will verhindern, daß die Grundrechte von einem bestimmten Staat gleichsam ex officio beansprucht und integriert, d. h. in ihrer politischen Aussage neutralisiert werden. Vielmehr sollen sie nach liberalem Staatsverständnis primär als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber einem Machtmißbrauch der Staatsgewalt verwendet werden. Roloff konkretisiert dies am Beispiel der Spiegel-Affäre, an der einer breiten Öffentlichkeit ein bis dahin verdrängter Vorgang schlagartig bewußt wurde, „daß die garantierten Grundrechte u. U. auch gegen die Inhaber der politischen Macht in unserem Staate zur Geltung gebracht werden müssen und daß sie nicht nur von außen gefährdet sind" (Hier lag auch der Ansatz zur kritischen Didaktik Gieseckes in der ersten Auflage von 1965.) Andere Beispiele betreffen die Notstandsverfassung, die Studentenunruhen, den Einmarsch der Sowjets in die CSSR usw.
Die „Würde des Menschen" wird bei Roloff zur „Fundamentalnorm der Didaktik" und damit zum allgemeinen Bezugsrahmen für die politische Bildung wie zum Minimalkonsens zur Erhaltung unserer bundesrepublikanischen Ordnung Entscheidend aber ist die Frage nach der praktischen Konkretisierung dieses Postulats. Es läßt sich positiv umschreiben als das Herstellen von Bedingungen, in denen sich der Mensch kraft unseres heutigen anthropologischen Verständnisses frei zur autonomen Persönlichkeit mit kollektiver Verantwortung entfalten kann; negativ geht es um den Abbau jeder Art überflüssiger, nicht legitimierter Herrschaft.
Der junge Mensch soll nach Roloff den Konfliktcharakter der Grundrechte exemplarisch erkennen „an dem fundamentalen und aporetischen Widerspruch, der der Institution Schule innewohnt: Als Teil der Herrschaftsordnung dient sie zu deren Stabilisierung und Erhaltung, als Mittel zur Verwirklichung der Würde des Menschen ist sie aber der Raum, in dem das Individuum Selbstbestimmung gewinnen soll; sie ist also Instrument von Herrschaft und des Abbaus von Herrschaft zugleich."
Emanzipatorischer Unterricht wird diesen Widerspruch thematisieren und mögliche Freiheitsräume aufzeigen. Roloff weist mit Recht darauf hin, daß der Umgang mit den Grundrechten weder einer Klasse/Schulstufe noch einer Unterrichtsreihe allein vorbehalten sein darf, sondern als ständiger Prozeß aufgefaßt werden muß. „Die . Betroffenheit'durch einzelne Grundrechte in relevanten Entscheidungssituationen als Prinzip zielt weiter auf die Überwindung der noch weithin vorherrschenden affirmativen Tendenzen." Vor allem muß in diesem Zusammenhang die der liberalen Staatslehre entstammende fiktive Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre aufgegeben werden.
Kritik gegen Roloff trägt B. Sutor vor Dieser wendet sich gegen die vermeintlich falsche Alternative, wonach sich Ziele und Inhalte der Erziehung nicht an zeitlos gültigen (absoluten) Werten, sondern an situationsbedingten gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen (Roloff) orien-tieren. Im Anschluß an Blankertz übernimmt er die Lehre der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, „daß die in ihrem Bildungsbegriff enthaltene normative Intention der Pädagogik es dem Erzieher verbietet, gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen unbesehen zu folgen“
In dieser einseitigen Form hat Roloff seine pädagogischen Ziele allerdings nicht formuliert. Er leugnet weder die Normativität des Grundgesetzes — er will lediglich die Legitimation dafür stets neu von der kritischen Vernunft bestätigt haben — noch hängt er sich unmittelbar an den gesellschaftlichen Alltag an. Es kommt ihm allein auf das Erkennen der geschichtlichen Vermitteltheit von gesellschaftlichen Normen an. Deswegen kann ihm auch nicht unterstellt werden, er wolle „unbesehen" „gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen" folgen. Dies gibt Sutor schließlich zu: „Ich pflichte Roloff voll bei in der Forderung, daß im politischen Unterricht auch der Inhalt des Minimalkonsensus', auf dem unsere heutige demokratische Ordnung aufbaut, Gegenstand des Zweifelns und Fragens sein muß. Der politische Unterricht darf keine unbefragte Axiomatik kennen, keine Indoktrination im Sinne etwa einer Ideologie der Demokratie zum Ziel haben.“
Mit den Beiträgen von H. -G. Assel und E. -A. Roloff setzt sich ebenfalls K. G. Fischer auseinander. Er hat elf Thesen über die Grundrechte vorgelegt, von denen die wesentlichen Gesichtspunkte im folgenden zitiert werden Grundrechte — als Manifestationen der Emanzipationsbewegungen — sind geschichtlich geworden und infolgedessen gibt es keine „ewigen Werte"; sie lassen sich auch nicht als Teile eines philosophischen Naturrechts deklarieren. Das Grundgesetz relativiert die Grundrechte selbst, indem es nur ihren Wesensgehalt für unantastbar erklärt. Diese Relativierung kommt nach Fischer „in der bisherigen . Fortschreibung'des Verfassungstextes zur Geltung, die als permanente Einengung der Geltungs-Bandbreite gerade der Grundrechte angesehen werden muß. ökonomischer Zusammenhang und geschichtliche Vermittlung können gar nicht besser belegt werden."
Daraus wird folgerichtig abgeleitet, „daß die politische und vertragsgeschichtliche Weiterentwicklung von Grundrechten nicht hinter den Stand der . bürgerlichen'Freiheitsrechte zurückfallen darf, sondern darüber hinausgehen muß"
Als Beispiel für die Implikate falschen Bewußtseins im Grundrechtskatalog wird der Eigentumsbegriff angeführt. Dabei handelt es sich um die „Stilisierung" eines wirtschaftsliberalen Begriffs zu einem Grundrecht, „die im Widerspruch zu den Grundgedanken des historischen Entfaltungsprozesses von Grundrechten steht und im wesentlichen der Erhaltung von Privilegien — und damit gesellschaftlicher Ungleichheit — dient. Am Beispiel des Eigentums an Grund und Boden wird diese Problematik in unseren Tagen jedermann sichtbar"; sie befindet sich „im Widerspruch zum prinzipiell unteilbaren Grundsatz der Gleichheit"
Deshalb muß nach Fischer die kritische Reflexion rechtlicher Setzungen auf zwei Bezüge hin erfolgen: 1. auf die gesellschaftliche Wirklichkeit (Verfassungsrecht — Verfassungswirklichkeit) und 2. auf eine konkrete Utopie (Gesellschaft von Gleichen und Freien) Den Begriff des Wertes verweist Fischer in den Bereich der Ökonomie: „ .. . jede der uns bekannten Fixierungen von Grundrechten stellt die vertragliche Festlegung von Beteiligung an ökonomischen Werten, durch Jahrhunderte primär an Grund und Boden, unter dem Prinzip , pacta sunt servanda’ dar"
Eine Kritik an Fischer muß bei seinem zu eng ökonomisch verstandenen Wertbegriff ansetzen. Eigentum wird nach wie vor von den meisten Menschen als wesentliche Komponente einer möglichst unabhängigen Existenz betrachtet, auch wenn die liberale These widerlegt ist, wonach es die unerläßliche Voraussetzung einer freien menschlichen Entfaltung sei. Eigentum kann also nicht schlechthin diskriminiert werden, sondern nur soweit, als es ungerechtfertigte Herrschaft von Menschen über Menschen zuläßt. Die von Fischer apodiktisch vorgetragene Gleichheitsforderung bedarf zumindest einer Abschwächung, verursacht durch ihr dialektisches Verhältnis zur Freiheit (was am Schluß seiner Ausführungen auch angedeutet wird).
Fischers Kontroverse mit seinen Kritikern Roloff, Sutor und Andreae kann hier übergangen werden, da die angegriffenen Punkte bereits kritisiert wurden. Interessant für den Zusammenhang ist jedoch Fischers Auseinandersetzung mit Busshoff um die Grundrechte als Fundament der politischen Bildung. Fischer wendet sich u. a. gegen Busshoffs apodiktisches Postulat: „Die Grundrechte und die damit korrespondierenden Grundpflichten bilden nicht nur die Axiomatik der politischen Ordnung, sondern sollten auch die Axiomatik der heutigen Pädagogik sein." Allerdings wird konzediert, daß der Grundrechtsteil „nicht vollständig und in allen Punkten deutlich genug und in der sprachlichen Formulierung ergänzungsbedürftig" ist.
Kritik richtet sich gegen diese Konzeption insgesamt, weil sie auf eine affirmative politische Bildung hinausläuft, offensichtlich den Grundrechten nur eine sprachliche Korrektur zugesteht, die Grundrechte allein in Korrespondenz mit den Grundpflichten sieht und schließlich von der Dynamik eines den Status quo weiterentwickelnden Demokratiebegriffs absieht. Dies wird besonders in dem Satz deutlich: „Nur von den Grund-und Menschenrechten her ist es möglich, eine prinzipielle Einsicht in die Struktur unserer politischen Ordnung zu gewinnen. Denn diese Grundrechte sind die Bedingungs-, Funktionsund Ordnungselemente der politischen Ordnung. Sie sind gleichzeitig die Grundkategorien politischer Bildung, aber auch ihre Inhalte". Die Menschenrechte sind nach Busshoff „gültige und nicht den Zeitverhältnissen unterworfene Kategorien" Hieraus geht die unhistorische Festschreibung des Wertsystems hervor, ferner die der politischen Didaktik zugedachte Begrenztheit.
Im Gegensatz zu Busshoffs Kritik an der Rezension Fischers muß angemerkt werden, daß Fischer in seinen Arbeiten nicht die Leugnung der Grundrechte als konstitutive Momente unserer politischen Ordnung betreibt, sondern um ihre (nicht normative) Verwirklichung im Sinne eines vom Grundgesetz zugelassenen emanzipatorischen Demokratieverständnisses wirbt. Danach verhindert erst die kritische Diskussion des in einer Gesellschaft vorhandenen Werterepertoires, seine Behandlung als soziales Faktum die Affirmation wie Indoktrination. Nur so — nicht im Stile einer emotionalen Übernahme — kann es, ja muß es zum Gegenstand politischen Unterrichts werden. Erst wenn Werte und Normen objektiviert werden, sind sie rationaler Kritik zugängig und erhalten ihren Ort im sozialen System. Dadurch werden sie transparent und können vom einzelnen akzeptiert oder negiert werden. Fischer sieht in diesem Moment des „zur Wahl stellen", im Gegensatz zum Oktroi, eine wesentliche Aufgabe politischer Bildung 2. Dialektisch-kritische und linksliberale Wertakzentuierungen Politische Bildung ist nach R. Schmiederer „ihrer gesellschaftlichen Funktion nach primär eine Veranstaltung zur Absicherung der in der jeweiligen Gesellschaft bestehenden Herrschaftsstrukturen, Besitzverhältnisse, Privilegien, Autoritätsverhältnisse usw." Dies gilt für jedes gesellschaftliche System; deswegen kommt es auf emanzipatorische Bildung an, deren Chancen dort zu suchen sind, „wo durch Konflikte und Widersprüche die immanente Rationalität des gesellschaftlichen Systems gestört ist, und wo durch sie die Verschleierung von Tatbeständen und die reibungslose Anpassung an das Bestehende erschwert oder auch partiell verhindert wird" Ergänzend dazu soll der Erzieher sich „in den Dienst der unterprivilegierten, der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen und Gruppen des Volkes" stellen Schmiederer hält die Gesellschaft der Bundesrepublik im Grunde für eine sich demokratisch gerierende Klassengesellschaft, auf die die Analyse verschleierter Herrschaftsstrukturen zutrifft. Sein Interpretationsansatz folgt dem neomarxistischen Modell der ökonomischen Bedingtheit der Gesellschafts-und Herrschaftsverhältnisse. Deshalb sind für ihn die Stichwörter „Demokratisierung" und „Emanzipation" Schlüsselbegriffe für die Beseitigung überflüssiger Abhängigkeit, herbeizuführen durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Basis. Das Endziel besteht in der „Transformation der bestehenden Gesellschaftsordnung" „daß schließlich Herrschaft über Menschen transformiert wird in die , Verwaltung von Sachen
Diese Position erfordert einen neuen Unterricht: „das Wecken neuer Bedürfnisse, die Sensibilisierung gegen Unterdrückung, Not und Elend, die Einübung von Solidarität und Kollektivbewußtsein verlangen nicht nur neue kognitive, sondern insbesondere auch neue psychische und soziale Voraussetzungen, wie z. B. die Überwindung von Vorurteilen und autoritären Strukturen, von Leistungszwang und Konkurrenzdenken sowie die Stärkung des Selbstbewußtseins." Mittel dazu sind kritische Gesellschaftsanalyse — bei Schmiederer orientiert an Marcuse, W. Hofmann, Jaeggi und Gottschalch — sowie Artikulation und Durchsetzung von Interessen, ferner kritische Aufklärung, Herr-Schafts- und Ideologiekritik.
Die politische Wertorientierung Schmiederers erfolgt am neomarxistischen Modell einer herrschaftsfreien Gesellschaft, konkret (unausgesprochen) am demokratischen Sozialismus Gegen seine konsequente Vertretung der Kritischen Theorie ist nichts einzuwenden, solange sie sich als eine Methode unter anderen versteht. Sie wird aber in dem Maße ideologisch, als sie mit Hilfe des Unterrichts versucht, ein bestimmtes Gesellschaftsmodell exklusiv zu realisieren. Dafür reicht ihre Legitimationsbasis nicht aus. Der Schulunter-richt sollte für persönliche (Wert-) Entscheidungen offen bleiben.
Dies müßte gerade für Schmiederer unverzichtbar sein, da er — im Gegensatz zu anderen Didaktikern — explizit die Werturteils-problematik angeht Allerdings setzt er hier seine eindimensional-klassenspezifische Herrschaftsanalyse fort. Danach ist „das geltende gesellschaftliche Wertsystem ... immer zugleich Bestandteil und Basis des bestehenden Herrschaftssystems. Die Vermittlung und die Internalisierung der tradierten gesellschaftlichen Normen und Werte dienen somit der Aufrechterhaltung von Herrschaft und Vormachtstellung der privilegierten Klassen in der Gesellschaft." Dabei ist es wiederum klar, daß Werte kritisch untersucht werden müssen; jedoch gerät man in eine aporetische Situation, wenn man fragt, was an Stelle der vermeintlich oder tatsächlich als interessen-geleitet dekouvrierten Werte gesetzt werden soll. Die positive Funktion von Werten kann nicht einfach konflikttheoretisch aufgehoben werden. An anderer Stelle traut Schmiederer der bundesdeutschen Verfassung tendentiell kaum noch eine emanzipatorische Wirkung zu: „Da ein Curriculum selbstverständlich den Rahmen der jeweiligen Verfassung einhalten muß, liegen die notwendigen curricularen Entscheidungen gerade in dem Raum, der durch eine bürgerlich-demokratische Verfassung nicht inhaltlich bestimmt, sondern formal für die inhaltliche Ausfüllung offen ist, der real aber durch außerhalb des Verfassungsrechts liegende sozio-ökonomische Herrschaftsstrukturen bestimmt wird ... Die Verfassungsentwicklung seit 1949 und die gängige Auslegung des Grundgesetzes zeigen, daß dieses in aller Regel primär der Absicherung überkommener politisch-ökonomischer Privilegien und Machtpositionen sowie der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheit dient."
Die Behauptung Schmiederers (ähnlich Abendroth und J. Seifert), die Nachkriegsentwicklung sei vorwiegend in Richtung einer Absicherung politisch-ökonomischer Privilegien einzelner Gruppen gelaufen, geht an der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik vorbei. Die Erfolge von Gewerkschaften, Parteien und Verbänden, z. B. in der Liberalisierung des Strafrechts, bei der sozialen Sicherung, der hohen Lohnquote, in dem hohen Maß an Rechts-und Sozialstaatlichkeit, in der Verwirklichung von realer Freiheit und Menschenwürde, werden — auch in der historischen Perspektive — ignoriert zugunsten der Herauskehrung zweifellos auch vorhandener Defizite.
Generell besteht bei Schmiederer nach W. Behr „die Gefahr der einseitigen Behandlung von Themen, die die Bedingungen des Status quo vernachlässigen und sich auf eindimensionale Herrschafts-und Ideologiekritik im Blick auf Demokratisierung und Emanzipation im Sinne eines einfachen Zielmodells beschränken, d. h. die Zielvariablen . Demokratisierung'und . Emanzipation'werden unter ungenügender Berücksichtigung anderer Systemfaktoren (z. B. konservatives, politisch-desinteressiertes Bewußtsein der Mehrheit der Gesellschaft, determinierende Wirkung der bestehenden Produktionsverhältnisse, Ausdifferenzierung des Systems, wichtige Interdependenzrelationen auf der Basis bestehender politisch-ökonomischer Bedingungen) maximiert und als kritische Normen dem bestehenden Normensystem unvermittelt gegenübergestellt, wobei Ziel-und Istwert nicht miteinander verglichen und weder theoretisch noch pragmatisch mit Aussicht auf die Realisierbarkeit ein Weg der Annäherung von Soll-und Istwert aufgezeigt wird."
Ziel und Voraussetzung jeder Erziehung sind nach E. -A. Roloff die für ein gesellschaftliches und politisches System konstitutiven Verhaltensnormen und Werte: „In unserem Staate sind diese Normen als unveränderlich im Grundrechtsteil der Verfassung festgelegt. Das heißt: Die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ... bilden wie für jedes politische Handeln auch für die politische Didaktik in der Bundesrepublik den vorgegebenen Bezugsrahmen. Sie sind folglich auch konstitutives Prinzip für den politischen Unterricht in der Schule und dessen oberster Zielwert." „Jeder Lernprozeß ist durchgängig wertbezogen, weil er sowohl von Wertprämissen ausgeht als auch Zielwerte anstrebt."
Damit ist nicht gesagt, es gehe in der politischen Didaktik um die Rechtfertigung der bestehenden staatlichen Ordnung, vielmehr kommt es Roloff auf Ideologiekritik an, deren Aufgabe darin besteht, „Normen und Verhaltenserwartungen in ihrer Funktion als Sicherung von Herrschaft erkennbar zu machen" Die Frage nach den jeweils zugrunde liegenden Interessen vervollständigt die politikwissenschaftlichen Grundlagen der Politischen Pädagogik, nämlich Herrschaftsanalyse, Entscheidungslehre und Ideologiekritik. Die didaktischen Prinzipien eines solchen Unterrichts sind „Betroffenheit, Sachlichkeit und Verhaltensrelevanz" Von der angewandten Herrschaftsanalyse darf die Schule als der primäre Bereich von „Betroffenheit" des Schülers („Betroffenheit meint nicht das momentane subjektive Interesse und Angerührtsein, sondern die vorgegebene Situation, in der der einzelne zur Entscheidung gezwungen ist" nicht ausgenommen werden. Sie enthält als staatliche Institution einen fundamentalen Widerspruch in sich, denn sie ist einerseits ein Teil der systemstabilisierenden Herr-Schaftsordnung und soll andererseits in ihrem Raum die „Würde des Menschen" realisieren, d. h. qua Anleitung zur Selbsbestimmung des jungen Staatsbürgers zum Abbau eben dieser Herrschaft beitragen. Die Konsequenz bestünde darin, die Schule als Herrschaftsinstrument müßte auf ihre eigene Aufhebung hinarbeiten
In Roloffs kritischer Didaktik spielen allgemeine Werte und Grundwerte der Verfassung eine erhebliche Rolle unter ideologiekritischem, herrschaftsrelevantem Aspekt. Dabei wird jedoch auf ihre positiven Seiten zu wenig eingegangen. Im Gegenteil: Der Zweifel ist in ihm stark, „daß die Verfassung nicht in erster Linie als Chance für demokratische Selbstregierung, sondern als Garantie für die Sicherung der Grundrechte in das Bewußtsein der Menschen eindringen sollte"
Die Verfassung werde bei uns weitgehend im altliberalen Sinne der Abwehrrechte gegen den Staat, nicht modern als Aufforderung zur Selbst-und Mitgestaltung empfunden. Roloff tritt daher für eine extensiv-dynamische Verfassungsinterpretation ein, wobei er dem Prinzip der Volkssouveränität — das im Grundgesetz jedoch nur in fundamentaler und repräsentativer, nicht in direkter Form angesprochen wird — stärkere Geltung verschaffen möchte. Er beruft sich u. a. auf die Verantwortlichen für die nordrhein-westfälische Curriculumrevision, Schörken und Gagel, die eine Deduktion von Lernzielen aus Verfassungsnormen ablehnten, „weil diese auslegungsbedürftig (wie Art. 1 GG) oder auslegbar (wie die übrigen) sind, soweit es sich um Verhaltensnormen handelt, die für den Staatsbürger relevant sind. Ein aus dem Grundgesetz zu deduzierendes Curriculum würde die Entscheidungen über Lehrinhalte an das Bundesverfassungsgericht delegieren" Diese Auffassung darf nicht mißverstanden werden, als wollten die nordrhein-westfälischen Didaktiker sich über das Grundgesetz hinwegsetzen — die Verfassungskonformität zumindest der 2. Auflage der „Richtlinien für den Politik-Unterricht" von 1974 kann nicht bestritten werden —, sondern es geht ihnen um die Offenhaltung der Wertfragen, darum, „daß — nach Roloff — auch das Bundesverfassungsgericht die letzten Wertkonflikte nicht lösen kann"
überzogen und dem repräsentativen Verfasfungssystem der Bundesrepublik angemessen und über seine eigenen Darlegungen zum Grundgesetz weit hinausgehend ist allerdings Roloffs Konsequenz einer totalen Relativierung der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und seines vermeintlich wörtliehen Grundgesetzverständnisses: . vielmehr verstehe ich unter . Demokratisierung’ hier und heute, dem Prinzip der Volks-souveränität gegenüber dem bislang vorherrschenden Prinzip der Grundrechtssicherung (Rechtsstaatlichkeit) gleiche Geltung zu verschaffen. Radikale Inanspruchnahme der Grundrechte durch jeden einzelnen Staatsbürger und durch betroffene Gruppen und organisierte Interessen hat nach meinem Verständnis auch die institutioneile Ausweitung der Mitentscheidung des Volkes zur Folge, von dem dann alle Staatsgewalt nicht nur ausgeht, sondern mehr und mehr selbst ausgeübt wird. Je mündiger die Bürger werden, desto weniger Vormundschaft braucht die Staatsgewalt auszuüben. Eine akademische Lehrerschaft, die die Freiheit von Forschung und Lehre für sich beansprucht, ohne damit gegen die , Treue zur Verfassung’ zu verstoßen, braucht ihre Entscheidungen über Inhalte und Ziele des Unterrichts nicht durch das Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. M. a. W.: . Curriculum'sollte nicht von . oben’, d. h. von Kultusministern verordnet und verantwortet, sondern durch die Zustimmung der Lehrer, die den Unterricht konkret organisieren, der Schüler und ihrer Eltern von . unten'legitimiert werden. Indem Lehrer, Schüler und Eltern in der unmittelbaren Schulsituation Inhalte und Ziele am Verfassungsauftrag orientieren und . operationalisieren', leistet die Schule einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft."
Wie Roloff diese radikaldemokratischen Vorstellungen in einer nach Chancen-und Rechtsgleichheit strebenden demokratischen Massengesellschaft realisieren will, bleibt unklar. Dagegen ist ihm zuzustimmen, daß wesentliche Bestandteile unseres Grundgesetzes — generell der Konfliktpotential enthaltende Widerspruch zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit — noch der Verwirklichung bedürfen bzw. unter diesem Aspekt von ihrem gesellschaftspolitischen Hintergrund her in Frage gestellt werden müssen (z. B. die Diskrepanz zwischen Artikel 6 und 7, 14 und 15 GG)
Die neubearbeitete Ausgabe von H. Giesekkes „Didaktik der politischen Bildung" basiert auf „dem . erkenntnisleitenden Interesse'an zunehmender Emanzipation und Demokratisierung" Sie nimmt eindeutig Stellung für die Erweiterung demokratischer Strukturen in Staat und Gesellschaft, bei dezidiertem Eintreten für die Verbesserung der Lage der Unterprivilegierten (z. B.der Arbeiter, Lehrlinge, Jugendlichen) durch „Parteilichkeit" für diese Gruppen. Dadurch erfolgt eine enge Bindung einer für alle Gültigkeit beanspruchenden didaktischen Konzeption an ein bestimmtes Gesellschaftsmodell der Kritischen Theorie. Bei aller Würdigung der „Parteinahme" — was nicht mit „Parteilichkeit" zu verwechseln ist (vgl. die Kontroverse zwischen Sutor und Giesecke — für eine bestimmte Bevölkerungsschicht, kann sie nicht zum durchgängigen Prinzip einer Theorie gemacht werden, weil sie diese ihrer wissenschaftlichen Stringenz beraubt und sie letztlich ideologisiert. Die favorisierte Theorie wird so zu einem unkontrollierten politischen Herrschaftsinstrument hochstilisiert. Selbst wenn Giesecke die politische Folgerung aus der Kritischen Theorie, den demokratischen Sozialismus, nicht direkt nachvollzieht, kann bei seinem expliziten Eintreten für die Frankfurter Schule kaum daran gezweifelt werden. An dieser politischen Konsequenz wird spätestens klar, daß eine solche Theorie für den Schulunterricht fragwürdig erscheint. Dagegen wäre es durchaus möglich, Elemente der Kritischen Theorie als methodologisches Instrumentarium in die Gesellschaftsanalyse einzubringen (wie z. B. Hilligen). „Parteilichkeit" wird von Giesecke für die Realisierung der von ihm vermuteten Ansprüche des Grundgesetzes verwendet: für die Einlösung des Versprechens auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit" (Art. 2), für Gleichheit (Art. 3), Volkssouveränität (Art. 20), für das Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 14, 15), für Informations-und Meinungsfreiheit (Art. 5), Rechtsstaatlichkeit (Art. 20), für die Verpflichtung auf Friedenspolitik, Völkerrecht und Überwindung nationalstaatlicher Beschränktheiten (Art. 24, 25, 26).
Dieser Katalog repräsentiert die Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit. Das Grundgesetz der Bundesrepublik versteht sich jedoch nicht als partikular-parteilich, sondern als eine permanente Aufgabe für alle gesellschaftlichen Gruppen. Es eröffnet die Möglichkeit zu einem breiten Spektrum differierender Positionen, die ständig miteinander im (Wett-) Streit liegen. Seine alleinige Inanspruchnahme für die „Herrschenden" ist ebenso abwegig wie für die „Unterprivilegierten" (deren Besserstellung eine ernste Aufgabe der Rechts-und Sozialpolitik ist).
Aus dem Grundgesetz deduziert Giesecke die „Mitbestimmung" (im Gegensatz zur „Menschenwürde" anderer Didaktikter) als oberstes Lernziel im Sinne des Teilhaberechts an Demokratisierung (Welcher? Sie ist im Grundgesetz nicht ausformuliert). Eine totale Mitbestimmung bietet aber zu wenig Raum für Selbstbestimmung, verleiht der Kollektivität Vorrang gegenüber der Individualität. Dies ist weder mit dem Grundgesetz noch mit seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht vereinbar (vgl. Sutor). Giesecke stellt die These auf, daß es — als wesentliches Teilziel von Mitbestimmung — „beim politischen Unterricht im Kern auf die Bearbeitung des politischen Bewußtseins als eines gesamtgesellschaftlich-historischen ankommt und darauf, dieses Bewußtsein für politisches Handeln in konkreten Situationen nutzbar zu machen" Giesecke nennt aufgrund bestimmter Fragestellungen elf Kategorien, die das Kernstück seiner didaktischen Konzeption darstellen: Konflikt, Konkretheit, Macht, Recht, Interesse, Solidarität, Mitbestimmung, Funktionszusammenhang, Ideologie, Geschichtlichkeit, Menschenwürde
Die Evidenz dieser Kategorien ist umstritten, ebenfalls Gieseckes Forderung, sie müßten in jeder Konfliktsituation alle verifizierbar sein. Warum nicht auch andere Kategorien (wie bei Mollenhauer, Assel, Hilligen, Sutor) bedeutsam sein sollen, ist nicht einzusehen. Das gleiche gilt für die „Umwandlung der Kategorien in Grundeinsichten"
Nach der Überzeugung von W. Billigen kommt es primär auf „überleben" und „gutes Leben" an, zwei Begriffe, die er aus den Analysen der empirisch-analytischen und kritischen Richtungen der Sozialwissenschaften herausgearbeitet hat. In einem weiteren Schritt fragt er nach den „Chancen" und „Gefahren" sowie nach den „Herausforderungen" und „Folgen" der gesellschaftlichen Charakteristika unserer Situation.
Der von Billigen erstrebte Minimalkonsens politischer Bildung läßt sich nach seiner Auffassung in drei . Optionen'zusammenfassen; Optionen werden als Schlüsselbegriffe für Wertentscheidungen und „erkenntnisleitende Interessen" verstanden. Ihre geringe Anzahl und ihr dialektisches Verhältnis zueinander erleichtern — im Gegensatz zu vielen ausformulierten, als „Ist" -Aussagen mißzuverstehenden „Einsichten" (Fischer) — lernpsychologisch den Aufbau einer emotionalen und kognitiven Struktur:
„— für Sicherung der personalen Grundrechte (liberal-konservative Komponente der Menschenwürde) ;
— für Berstellung der politischen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit aller und für die Überwindung sozialer Ungleichheiten, für Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung (Emanzipation) (soziale Komponente der Menschenwürde) ;
— für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu erhalten, zu verbessern, neu zu schaffen"
Diese zunächst vorwissenschaftlich gesetzten Optionen werden von Billigen historisch-politisch, didaktisch, pragmatisch und wissenschaftstheoretisch begründet Nach seiner Ansicht sind sie „der Versuch, Normentscheidungen konsensfähig zu machen" und „definieren einen am Grundgesetz orientierten formalen und materialen Minimalkonsensus, als politische Entscheidung für den politischen Unterricht" Billigen versteht seine Konzeption als linksliberal. Das will heißen, er versucht, unter seine drei Optionen die unterschiedlichen Theorieansätze zu subsumieren, nicht im Sinne ihrer Vereinnahmung in einer eklektischen Metadidaktik, sondern in Gestalt einer konsensualen Zusammenführung unbestrittener Elemente. Dabei bleibt die Frage offen, inwieweit sie ausreichen, um zentrale politische Kategorien wie Macht, Konflikt, Herr-schaff, Recht, Interesse, Geschichtlichkeit, Gemeinwohl u. a. abzudecken. Zusammenfassend liegt der didaktischen Konzeption Billigens das Betroffensein (vgl. Roloff) als eine Schlüsselkategorie zugrunde: „Von zentraler Betroffenheit wird gesprochen, wenn es geht um basale Bedürfnisse (Wohnung, Kleidung, Nahrung), um Wohlergehen, Selbstverwirklichung, Lebenssinn, Daseinserkenntnis — um Bedingungen für überleben und menschenwürdiges Leben, die durch sozialen Wandel gefährdet oder verbessert werden können."
K. G. Fischer orientiert sich wissenschaftstheoretisch am Kritischen Rationalismus Bieraus folgt sein Insistieren auf Kritik wie auf Einsichten, auf „kontroversem Denken" (weniger auf Konflikt Die unserem Verfassungsrecht immanenten „Einsichten" sollen bewußtgemacht werden: „Das bedeutet eben gerade nicht . Affirmation'von Werten in Form von Gesinnungsbildung, das bedeutet eben gerade nicht Sanktionierung von geltenden normativen Systemen und Identifizierung der Verfassungswirklichkeit mit wertbesetzten Deklamationen, vielmehr: unsere Schüler sollen erkennen, daß menschliches Denken ohne Denkevidenzen nicht auskommt ..." Menschliches Denken beruht auf Denkvoraussetzungen (Einsichten), die — wie jede Gesellschaftsanalyse — Wertvorstellungen implizieren
Fischer geht es darüber hinaus um die Begründung „eines Minimums gemeinsamer Grundüberzeugungen", um einen „rationalen, immer wieder zu überprüfenden Minimum-Consensus" Dieser wird im Sinne eines liberalen Grundrechts-und Staatsverständnisses am Grundrechtskatalog der Verfassung gewonnen. Dazu gehören u. a. die folgenden Einsichten:
Der Mensch als ein von Natur aus freies und gleiches Wesen;
Politik als Versuch der Durchsetzung von Interessen; demokratische Politik sorgt sich um die Ordnung des Daseins in der Gesellschaft, um den Abbau von Fremdbestimmung und Herrschaft zugunsten von Selbstbestimmung
Selbst wenn man nicht bereit ist, der Schlußfolgerung einer tendentiellen Abschaffung des Staates zuzustimmen, bleiben die von Fischer postulierten wertmäßigen Minima konsensfähig. Ein häufiger Vorwurf gegen seinen Einsichtenkatalog richtet sich einmal gegen seine (notwendige) Unvollständigkeit und zum andern gegen Fischers inzwischen etwas zurückgenommene Auffassung, wonach die Inhalte (der politischen Bildung), an denen die Einsichten gewonnen werden, austauschbar seien. Ein solches Verfahren läuft auf die Beliebigkeit der Inhalte hinaus.
Aus dem Rahmen der besprochenen Arbeiten fällt Fischers Beitrag zur Gewissensbildung heraus Gewissensbildung wird im allgemeinen als eine spezifisch pädagogisch-ethische Angelegenheit betrachtet. Daher spielt sie in erster Linie bei bildungstheoretisch orientierten Pädagogen und Politologen um die sechziger Jahre — z. B. bei Newe, Nachtwey, Petzelt, H. Schneider, v. d. Gablentz (in den siebziger Jahren bei Sutor eine herausragende Rolle. Infolge der Ambivalenz des Gewissensbegriffs (entweder: so viele Menschen, so viele Gewissen, oder: ein Volk, ein Gewissen) kommt man zwar moralisch-wertmäßig ohne ihn nicht aus, ist sich jedoch seiner ideologischen Anfälligkeit bewußt. Deshalb hat z. B. die lerntheoretisch begründete politische Bildung auf das Gewissen zugunsten von rationalen Strukturen und Herrschaftsanalysen verzichtet.
Fischer weist auf eine verfassungsrechtliche Dimension des Gewissens (Art. 4 GG) hin: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." Und: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Aus diesem Kontext schließt er, daß politische Bildung auch Gewissensbildung sein muß, wenn sie — was sie tatsächlich nachdrücklich tut — Grundrechtsfähigkeit als ein Ziel postuliert Damit auch hier das Gewissen nicht im Unverbindlichen bleibt, zitiert Fischer ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 1960, wonach Gewissen „als ein ... real erfahrbares Phänomen zu verstehen (ist), dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind"
Auch jetzt läßt sich allerdings nicht sagen, wie das Gewissen strukturiert sein muß, damit eine von allen anerkannte Evidenz entsteht. Was ist im Fall des abweichenden oder irrenden, des gar nicht oder fehlausgebildeten Gewissens? Aut dieser Grundlage wäre auch ein gegen die Verfassung gerichtetes Gewissen vertretbar. Im konkreten Fall wäre es Aufgabe der politischen Bildung, das singuläre Gewissen im Sinne des allgemeinen Verfassungsverständnisses zu überzeugen. Fischer stellt kritisch-rational fest: „Erst die Reduktion von Wertvorstellungen auf nicht weiter auflösbare evidente Grundwerturteile dürfte dem Anspruch von gewissenhafter Gewissensbildung entsprechen." Dies ist jedoch in einer pluralen, objektive Evidenz von Wertvorstellungen ausschließenden Gesellschaft nicht vorstellbar. 3. Gegentendenz seit 1975: Die Restauration der konservativen Wertordnung Nachdem die curriculare Legitimationsfrage insbesondere durch F. Minssen gründlich problematisiert wurde, kritisiert H. Boven-ter den Zentralbegriff moderner Curricula politischer Bildung, die Emanzipation. Von seinem christlich-pädagogischen Ansatz her vermißt er den Transzendenzbezug in der lerntheoretischen Didaktik schlechthin. Damit rekurriert Boventer auf den Standpunkt einer ideologisch-weltanschaulichen (Gruppen-) Pädagogik, die eine gesinnungsmäßige Orientierung des jungen Menschen zum Ziel hat. Was er der auf sachlichen Informationszuwachs bedachten Didaktik zu Unrecht vorwirft (sie erziehe mit Hilfe ihrer Lernziele zum „Gesinnungs-und Richtungsstaat" und das Ergebnis des Lernprozesses werde vorprogrammiert — eine Gefahr, die bei keinem Curriculum ganz auszuschließen ist), trifft jedoch eher auf eine Pädagogik zu, die ihre Ziele aus nicht überprüfbaren transzendenten (Glaubens-) Werten ableitet. Nach Boventer ist „das curriculare Verfahren kein freies, freiheitlich-offenes Verfahren" obwohl es doch seine Lernziele für jedermann transparent und nachvollziehbar macht — im Gegensatz zu der normativen Festschreibung transzendental deduzierter Wertvorstellungen. Zwei Alternativen des Emanzipationsbegriffs gibt es nach Boventer: Von den einen wird er zur marxistisch-sozialistischen Welt-und Gesellschaftserklärung benutzt und als Kampf-begriff verwendet (Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, Gamm), den andern dient der kritische Ansatz als Methode, um bestehende soziale Ungerechtigkeiten auf reformerischem Wege abzubauen (Giesecke) Die von Habermas diagnostizierte „Legitimationskrise" spätkapitalistischer Gesellschaften sei das Indiz für die Relativierung aller Werte. Diese Situation, in der sich nach Boventer die „selbstverschuldete Unmündigkeit" (Kant) des Menschen offenbart, könne nur durch Mündigkeit bewältigt werden.
Damit wird die vermeintliche Schuld der Menschen (soziologisch-politisch gesehen) auf den Kopf gestellt: Nicht die Verhältnisse sind schuld an der Unmündigkeit des einzelnen, sondern er selbst. Die Konsequenz besteht im Grunde in einer elitären Pädagogik, die den wenigen ein qualifiziertes Angebot macht, die von sich aus (d. h. von ihren arrivierten Eltern aus) davon Gebrauch machen wollen und können. Von da ist es nicht weit zur Wieder-herstellung der jahrhundertelang im Sinne einer „natürlichen Ordnung" transzendental begründeten Ständegesellschaft.
Aus solcher Position resultiert die Ablehnung von Emanzipation und das Plädoyer für Freiheit. Beide Begriffe sollten sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Emanzipation wird von Boventer deswegen abgelehnt, weil sie u. a. auf gesellschaftliche Veränderungen abzielt, um die Bedingungen und den Raum für die Entfaltung von Freiheit zu schaffen. Der von Boventer verwendete Freiheitsbegriff bewegt sich dagegen in einem transzendental-wertmäßig vorgegebenen Rahmen, unter Ausklammerung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er möchte ihn auf „Transzendenzbezug" und „Unbedingtheit der Normen" festlegen Hier wird Freiheit zur religiösen Glaubensangelegenheit. Sie existiert zwar nicht im luftleeren Raum, aber nach liberalem Verständnis überläßt sie dem einzelnen die Sache nach ihren Inhalten und nach der rechten Weise ihrer Verwirklichung. Sie enthält kein absolutes Wertapriori, wie Boventer fordert.
Emanzipationspädagogik fragt — im Gegensatz zu Boventers Meinung — ebenfalls nach dem werthaften Sinn des Lebens, verlangt allerdings dafür rational einsehbare Gründe. Dagegen kommt Boventers Eintreten für eine transzendental-bildungstheoretische Pädagogik und Didaktik einem Glaubensbekenntnis nahe, das zwar für eine begrenzte Population, z. B. für Angehörige von Konfessionsschulen, legitim ist, aber keine Allgemeinheit im Schulwesen des weltanschaulich neutralen Staates beanspruchen kann.
Die Auffassungen Boventers wenden sich im Grunde — wie die Brüder Castner dargelegt haben — gegen die Demokratisierung unserer Gesellschaft qua curricularer Vorschriften, gegen die Kritische Theorie und gegen ein fortschrittliches Politikverständnis. Ferner wird von ihm die sachliche Ebene des Unterrichts mit der erzieherischen in unzulässiger Weise vermischt, z. B. sind die Weckung von Vertrauen, die Reduzierung von Angst, der Aufbau von Selbstvertrauen erziehungspsychologische Forderungen, die zwar im Kontext des (Sach-) Unterrichts eingeübt werden müssen, aber diesen nicht primär kon-stituieren. Ebenso sind die personale Zuwendung des Lehrers und das Bestehen einer Schulgemeinschaft begrüßenswerte menschlich-pädagogische Erscheinungen, jedoch keine Widersprüche zur Emanzipation
In seiner neueren Arbeit insistiert B.. Sutor auf dem „Versuch normativer Legitimierung politischer Bildung vom Grundgesetz her" angesichts des mangelnden Konsenses der unterschiedlichen Ansätze politischer Didaktik (des empirisch-analytischen, historisch-dialektischen, normativ-institutionellen, funktional-theoretischen). Er möchte die Umrisse einer politischen Anthropologie — als Basis praktischen politischen Handelns — aus der Grundgesetzinterpretation entlang der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und unter Zuhilfenahme der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ableiten. Dabei geht er von der „Bindung an einen obersten vorstaatlichen Wert" — der „Würde des Menschen" (Art. 1 [1] GG) —, der zugleich die konsensfähige Gemeinsamkeit unter den Demokraten herstellen soll, aus. Inhaltlich-politisch lehnt er sich an die bekannten Aussagen zur bundesstaatlichen Ordnung im KPD-Urteil von 1956 an. Als Fazit einer aus dem Grundgesetz deduzierten politischen Anthropologie stellt Sutor fest:
„Der . Inbegriff dieses Menschenbildes heißt Person-, als konstitutiv für Person ergeben sich Individualität, Sozialität und Geschichtlichkeit. Der konkrete Vollzug menschlichen Daseins in Gesellschaft und Geschichte bewegt sich in unaufhebbaren Spannungen, in einer Dialektik sich gegenseitig bedingender und begrenzender Prinzipien."
Die Herausbildung der Personalität entspricht dem scholastisch-sozialphilosophischem Ansatz Sutors. Es bleibt unbestritten, daß auch eine stärker kollektivistische Interpretation vom Grundgesetz zugelassen wird, je nachdem, wie man die Dialektik von Freiheit und Gleichheit, Freiheit und Ordnung, Kommunikation und Normen/Institutionen, Pluralität und Integration, partikulare Interessen und Allgemeininteressen (Gemeinwohl), Konflikt und Konsens, Partizipation und Repräsentation, Moralität und Erfolg (Gesinnungs-und Verantwortungsethik) einschätzt
Die eindeutige Position Sutors setzt sich in seinem Politikverständnis fort: „Im Sinne der freiheitlich-demokratischen Ordnung ist die Aufgabe, reale Freiheit der Individuen mit gesellschaftlichem Frieden und sozialer Gerechtigkeit zugleich zu verwirklichen, nicht ein für allemal zu lösen, sondern sie stellt sich immer neu in Form konkreter Probleme. Das Grundgesetz geht davon aus, daß Ordnungen der Freiheit verbindlich gesetzt werden müssen; so sehr, daß es die Fundamentalnorm dieser freiheitlichen Ordnung und ihre tragenden Strukturprinzipien (Art. 1 und 20 GG) sogar der Kompetenz der verfassungsändernden Mehrheit entzieht (Art. 79 [3] GG). Menschenbild und Politikverständnis des Grundgesetzes bewegen sich in einer unaufhebbaren Dialektik von Prinzipien, deren sich auch politische Bildung vergewissern muß." Sutor interpretiert das Grundgesetz streng ordnungspolitisch, wobei er der Gefahr anheimfällt, seine Exegese für verbindlich zu halten. Demgegenüber besteht die permanente Aufgabe für die Weiterentwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik darin, den im Grundgesetz zugelassenen normativen Rahmen je neu auszuschöpfen. Dies dokumentiert sich u. a. in der Kontroverse verschiedener verfassungsrechtlicher Lehrmeinungen (z. B. Abendroth, Kriele, Seifert, W. Weber, Forsthoff).
In seiner „Didaktik des politischen Unterrichts" hält Sutor den „Begriff der politischen Ordnung (für) den didaktischen Schlüsselbegriff politischen Unterrichts" Dieser impliziert durchaus auch den begrenzten Konflikt als treibendes Element für neue Ordnungsaufgaben. Im Zusammenhang mit der auf das Gemeinwohl gerichteten politischen Ordnung sind weitere Grundbegriffe erforderlich: „Herrschaft, Legitimität, Recht, Gesellschaft und Staat, Konflikt und Pluralität, Konsens und Solidarität, Geschichtlichkeit der Gemeinwohlfindung und der politischen Ordnung, Demokratie als Versuch konstitutioneller und institutioneller Sicherung des Gemeinwohls und als Möglichkeit der Mitbeteiligung vieler an seiner konkreten Bestimmung, Idee als geistige Begründung politischer Ordnungen und Ziele, Ideologie als interessengelenkte Verschleierung. Die Erörte-rung dieser Grundbegriffe, die zwar kein vollständiges und geschlossenes System darstellen, aber alle in einer systematischen Verbindung zum Gemeinwohlbegriff stehen, soll zentrale Aufgaben des politischen Unterrichts aufzeigen und zugleich ein kategoriales Instrumentarium zum Begreifen des Politischen liefern.“
Aus der Bedeutung von Sozialisation und Individuation für die personale Entfaltung leitet Sutor die Dialektik von Anpassung und Widerstand, Affirmation und Emanzipation als konstitutive Momente für Bildung ab. Im Gegensatz zum marxistischen Emanzipationsverständnis — „als eine unzulängliche Vorstufe eigentlich menschlicher Emanzipation von Staat und Politik" — meint Sutor Emanzipation durch Politik, d. h. die Mehrung von Freiheitschancen, die Veränderung sozialer Strukturen usw.
Unter dem neomarxistischen Emanzipationsaspekt im Sinne des Klassenkampfes ist die Forderung nach Parteilichkeit der politischen Bildung zugunsten der Unterprivilegierten nur folgerichtig. Setzt man dagegen — wie Sutor in seiner Kontroverse mit Giesecke — als Grundbedingung die Rechtsgleichheit (wobei das historische Zustandekommen von [privilegierten] Rechten und Unrecht nicht reflektiert und der Status quo als naturgesetzlich angenommen wird), dann verbieten sich extrem einseitige politische oder soziale Privilegierungen. Dagegen tritt Sutor für „verantwortliche Parteinahme" ein. Die formal-ordnungspolitische Interpretation des Grundgesetzes — unter Einbeziehung der Pluralität der Auffassungen — wird von ihm aufrechterhalten. Parteilichkeit gibt es für Sutor nur im Eintreten für die „Sinn-und Wertorientierung aus den Grundnormen der Verfassung" wobei er sich der oben angedeuteten politischen Anthropologie bemerkenswert sicher ist. Er bleibt aber insofern offen, als „auch die Grundnormen unserer Verfassung nicht als unbefragbare Axiomatik, als anzunehmende Dogmatik" vorgestellt werden dürfen, „sondern (man) muß sie im Dialog interpretierend dem Verstehen des Schülers zugänglich machen". Nach Anerkennung der „Fundamental-norm des Grundgesetzes'— der Menschenwürde — und der „aus ihr abgeleiteten Grundrechte" wie der „politischen Ordnungsprinzipien" bleibt nach Sutors Auffassung genügend Spielraum für die Kontroversen der politischen Praxis.
Insgesamt vertritt Sutor eine normativ-ontologische Position, die sich aus der scholastischen Sozialphilosophie und den Repräsentanten der Freiburger und Mainzer Politologenschule (z. B. Bergsträsser, Hättich, Maier, Oberndorfer, Möbus, Buchheim) herleitet.
Die theoretische (und praktische) Ausformung einer extrem konservativen Konzeption stellen die Äußerungen (und Arbeitsmaterialien) der „arbeitsgruppe freie gesellschaft" dar. Die Freiheit verwirkliche sich vor allem in der Ordnung: „Der Lehrer wird aber nicht umhin können, den jungen Menschen in die Prinzipien des Ordnungsdenkens einzuführen, das einem allgemein menschlichen Wertkodex entspricht. Im übrigen sind im Grundgesetz solche Werte in ausreichendem Maße ausgesprochen."
In der praktischen Politik muß die Regierung „nach Werten suchen, die sie als allen vorgegebenen Werte rechtlich durchsetzen muß. Das heißt, man muß Anleihen bei einer Begründungsphilosophie machen" Wie das in einer pluralen Gesellschaft geschehen soll, welche Philosophie als Begründungsphilosophie geeignet erscheint, wie die Werte des Grundgesetzes zu begründen sind, wird nicht gesagt. Der Leerformelcharakter solcher unverbindlichen Aussagen ist evident. So fällt es auch leicht, Kulturkritik mit Wertkritik zu verbinden. Danach hängt „die Wertschwäche unserer Gesellschaft" „mit dem fortschreitenden Prozeß der . Privatisierung der Werte'zusammen. Darunter versteht man den in allen modernen Industriestaaten zu beobachtenden Vorgang, daß das gesellschaftliche, das öffentliche Leben immer weniger von einem allgemein verbindlichen Wertkodex getragen und bestimmt wird, der von allen Mitbürgern, unabhängig von ihren religiös-weltanschaulichen und politischen Überzeugungen sowie ihren sittlichen Bindungen, anerkannt ist." Falls es jemals in der Geschichte — außer in geschlossenen Gesellschaften — einen allgemeingültigen Wertkodex als tägliche Richtschnur gegeben hat, wer hat die Werte gesetzt? Wo bleibt die sonst postulierte Freiheit des einzelnen?
Dort, wo von den Vätern des Grundgesetzes vermeintlich „eine klare Wertentscheidung getroffen" wurde, nämlich die Fundamentalentscheidung für Demokratie, wird diese vom selben Autor denunziert: „Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß Demokratisierung keine positive Wertorientierung meint, sondern den Abbau von Autorität bezweckt, und die Gestaltung der Gesellschaft einem fundamentaldemokratischen Prozeß überantwortet." Es erhebt sich die Frage, wie frei die freie Gesellschaft sein darf. In Wirklichkeit wird eine formierte Gesellschaft anvisiert, ein obrigkeitsstaatliches, im Grunde antidemokratisches Konstrukt.
Das Problem liegt hier nicht in der pointierten Akzentuierung des Wertaspekts für die politische Bildung. Im Gegenteil: Sozialisationsforschung, Politische Psychologie, Politische Philosophie, Politische Pädagogik, praktische Politik und alle Humanwissenschaften sind sich über die Notwendigkeit eines minimalen Konsenses über das Wertsystem als Stabilisationsfaktor einer jeden Gesellschaft und eines Staates einig. Entscheidend ist die Begründung von Menschenwürde und Freiheit als den Fundamentalwerten westlicher Gesellschaften. Es gilt ein Wertsystem zu verhindern, das unter seinem ideologischen Schleier das erreichte Maß an Aufklärung rückgängig machen möchte.
Es ist ungewöhnlich, daß sämtliche CDU-Kultusminister die Herausgeberschaft für eine Grundsatzschrift zur politischen Bildung übernehmen. Dies ist im Falle der sog. Gelben Bibel über die „Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen" von Großer, Hättich, Oberreuter und Sutor geschehen Damit haben sie dieser Schrift für den gesamten süd-und norddeutschen Raum, mit Ausnahme der Stadtstaaten, einen offiziösen Charakter verliehen mit dem Ziel, einen (Minimal-) Konsens herzustellen, vor allem als Kontrast zu den politischen Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Der Verdacht einer kultusministeriell (nicht parlamentarisch) verordneten politischen Bildung mit der Konsequenz der Ablehnung bzw. Einschränkung anderer Meinungen liegt auf der Hand, trotz der Versicherung im Vorwort, man wolle bloß eine Gegenposition — orientiert an den Wertnormen der Verfassung — zur Kritischen Theorie aufbauen.
Die Frage ist, ob das Postulat der „kritikfähige(n) Identifikation mit den Werten und Normen der Verfassung" eingelöst werden kann. Ausgehend von der Bindung unserer politischen Ordnung „an die Menschenwürde als obersten vorstaatlichen Wert" wird das Menschenbild des Grundgesetzes im Sinne von Sutor (s. o.) herausgearbeitet. Der (repräsentative) Demokratiebegriff wird „als politisches Prinzip staatlicher Ordnung" interpretiert, seine Anwendung auf die Sozial-bereiche allerdings in Frage gestellt. Demokratie wird als plurale Demokratie verstanden, die sich in einer Spannung von Konkurrenz und Konflikt, Konsens und Integration bewegt und am Gemeinwohl orientiert ist. Im Auftrag der Verwirklichung von Freiheit — bei „dem Vorrang individueller Freiheit" („Das Prinzip der Gleichheit kann sinnvollerweise nur auf Bereiche angewendet, werden, in denen prinzipiell Gleichheit der Individuen angenommen werden muß" — ist dieses Demokratiemodell normativ.
Zur normativen These und allgemeinem Ziel der politischen Bildung gehört es, „den Menschen zur Rationalität des Urteilens über soziale und politische Sachverhalte zu befähigen" Inhaltlich basiert das Ziel politischer Bildung „auf der Option für die plurale, repräsentative, rechtsstaatliche und sozial-staatliche Demokratie, wie sie von der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich festgelegt ist“ Die Zentral-kategorie der Rationalität (weitere Zielkategorien sind Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden wird in Zweckrationalität (Zweck-Mittel-Relation von Urteilen) und Wertratio-nalität (das Messen von Sachverhalten an akzeptierten Werten, z. B. an Menschenwürde, Gerechtigkeit, Freiheit) aufgeteilt. Die Normen werden ständig an der Rationalität überprüft. Rationalität schließt nach Auffassung der Autoren die politische Aktion aus dem Bereich der Schule aus-, denn „Bildung setzt Distanz zur Lebenspraxis voraus" und „schulische Bildung besitzt zudem in besonderem Maße vorbereitenden Charakter" Hier wird die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Schonraumideologie restauriert. Die „kritische Distanz" zum Staat, mit dem andererseits eine Identifizierung des Menschen durch politische Bildung ermöglicht und gefördert werden soll wird wieder zurückgenommen, indem die Schule versuchen soll, „gefühlsmäßige Bindungen an den Staat und an die politische Ordnung zu pflegen"
Diese (halbamtliche) Konzeption politischer Bildung rekurriert auf das Diskussionsniveau zu Beginn der sechziger Jahre. In ihm kündigt sich der Versuch einer „konservativen Tendenzwende" an. Sie favorisiert ein stark konsensual-ordnungspolitisches Modell, eine Erziehung zur Systemkonformität und Einschränkung von Kritik. Problembereiche wie Emanzipation, Solidarität, Interessen und Aktion werden zurückgedrängt, Gesellschafts-und Herrschaftsanalysen spielen keine herausragende Rolle mehr. Selbst die stark akzentuierte Rationalität ist normativer Art. Die Bindung an das formal-statisch interpretierte Grundgesetz — die Verfassung soll andererseits nicht normativ-ontologisch im Sinne der Verkündigung (wie im Religionsunterricht) vorgeführt werden, sondern die Offenheit der Werthaltung gewährleisten — wird inhaltlich nicht erläutert. Die intendierte — und begrüßenswerte — Balance zwischen Freiheit und Gleichheit, Konflikt und Konsens, Individuum und Gemeinschaft, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Distanz und Identifikation mit gesellschaftlichen Normen ist nicht gelungen.
III. Zusammenfassung und Ausblick: Die Kontroverse um den Wertkonsens
Diese kritische Übersicht über die (terminologisch großzügig interpretierte) Repräsentanz des Normen-und Wertproblems in der Didaktik politischer Bildung der letzten zehn Jahre hat erhebliche Defizite und Diskrepanzen aufgedeckt. Die allseitige formale Akzeptierung des Grundgesetzes als Wertgrundlage darf nicht über die realen Differenzen hinwegtäuschen. Diese bewegen sich auf einer Skala zwischen streng ordnungspolitisch-gemeinwohlorientierten bis zu extrem konflikt-theoretisch-emanzipatorischen Positionen. Sie zeigen in dieser Reihenfolge so etwas wie ein geographisches Süd-Nord-Gefälle an und können mit den politischen Mehrheitsverhältnissen in den jeweiligen Ländern korreliert werden. Ferner spiegeln sie die zeitgeschichtlichen Veränderungen in der Gesamtgesellschaft der Bundesrepublik. Während um die Wende des letzten Jahrzehnts noch konservative und fortschrittliche Positionen nebenein-anderstanden — die einen als Reaktion gegen die progressiven Tendenzen in Gesellschaft und Politik, die andern zu deren Unterstützung —, kann man seit dem Ende der Reform-politik (etwa seit 1974) eine konservative Gegenbewegung konstatieren, die z. Z. auf keinen expliziten Gegenpart trifft. Sie beruft sich — angesichts knapper werdender finanzieller Ressourcen und ihrem hierarchischen Staats-verständnis — besonders auf immaterielle Werte und auf die Durchsetzung einer Ordnungspolitik.
Eine ernst zu nehmende Kontroverse um die Wertordnung des Grundgesetzes — formale versus materiale Exegese — hat es nur für eine kurze Zeit zu Beginn der siebziger Jahre gegeben. In eine umfassende Auseinandersetzung über das Wertsystem der Bundesrepublik Deutschland ist die politische Didaktik noch gar nicht eingetreten. Andererseits ist jedoch die Konsensfrage fundamental für das überleben, wobei in einer offenen, pluralen Gesellschaft die Einigung auf einen tragfähigen Minimalkonsens ein unverzichtbares Desiderat darstellt Dazu reicht das unterschiedliche Auffassungen zulassende Grundgesetz allein nicht aus, auch nicht die zusätzlichen Erläuterungen durch das Bundesverfassungsgericht, ebensowenig der rationale, herrschaftsfreie Diskurs. Vielmehr muß eine zu entwickelnde soziale Werttheorie mit einbezogen werden, die konsensuale und dissensuale Momente im gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Kontext gegeneinander abzuwägen weiß. So wäre eine Verständigungsbasis zwischen Politikern und Didaktikern herzustellen, ferner eine Legitimationsbasis z. B. für Lehrpläne/Curricula in unserem quasi-staatsmonopolistischen Schulsystem.
Andererseits ist nicht zu übersehen, daß fundamentale Wertfestlegungen bereits durch die Anlehnung an bestimmte Wissenschaftstheorien — eine Problematik, der sich besonders Antonius Holtmann in den letzten Jahren gewidmet hat — erfolgen, sich ferner legitimieren durch die divergierenden Interessen in einer jeden Gesellschaft und durch die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Positionen. Die vieldiskutierten modernen Politikrichtlinien (und Lehrbücher) verstehen sich als ein Teil der Tradition der Aufklärung:
„Sie gehen nicht von vorgegebenen ontologischen Wertsetzungen aus, die ein für allemal das festlegen, was den Menschen ausmacht; sie sehen die Gesellschaft und ihre Geschichte als grundsätzlich offen an ..."
Am ehesten ist ein (unzulänglicher) formaler Konsens möglich. Es besteht z. B. allgemeine Übereinstimmung über das Erfordernis eines Minimalkonsens', das Überwältigungsverbot gegenüber Andersdenkenden, die Zurücknahme überhöhter Zielsetzungen (z. B. Weltverbesserung), die Offenheit (umfassende Information), die Freiheit der Urteilsbildung, die Zulässigkeit des Dissens', die Unzulänglichkeit ideologischer Zielprojektionen usw. Eindeutig sind auch die negativen (jedoch weiterhin diskutierbaren) Abgrenzungen des Grundgesetzes, nämlich seine strikte Ablehnung des Antiparlamentarismus, der Rätedemokratie, des Kollektivismus und Doktrinarismus, des kommunistischen Systems usw. Positiv gewendet geht es um die Konkretisierung von Normen und Werten, z. B. was heißt Emanzipation, Menschenrechte, Würde des Menschen (im eigenen Land, in Entwicklungsländern)? Ein bloßer Verfahrenskonsens anstelle eines inhaltlichen Konsenses reicht jedoch nicht aus. Er würde das politische Gemeinwesen lediglich über anerkannte „demokratische" und „rechtsstaatliche" Verfahren zu begründen suchen und politische Streitfragen, z. B. das Maß an Sozialstaatlichkeit, nach diesem Verfahren entscheiden Demgegenüber kommt es auf eine werterfüllte, keine (vermeintlich) neutrale Demokratie an, in der die Grundwerte der Verfassung die Grundlagen des staatlichen Zusammenlebens statuieren und für alle Bürger verbindlich machen.
Wolfgang W. Mickel, Dr. phil., geb. 1929; von 1953 bis 1972 im höheren Schuldienst des Landes Hessen, Studiendirektor a. D.; von 1963 bis 1965 wiss. Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internat. Päd. Forschung in Frankfurt/M.; 1972 Habilitation und Privatdozent in Köln, derzeit Professor für Wiss. Politik in Karlsruhe. Veröffentlichungen u. a.: Politische Bildung an Gymnasien 1945 bis 19& 5, Stuttgart 1967 (Bildungssoziologische Forschungen Bd. 2); Methodik des politischen Unterrichts, Frankfurt/M. 19743; Lehrpläne und politische Bildung. Ein Beitrag zur Curriculumforschung und Didaktik, Neuwied 1971; Europäische Einigungspolitik, 2 Bde., Neuwied 1974; Konfliktfeld: Internationale Politik, Neuwied 1974; Politik und Gesellschaft. Lehr-und Arbeitsbuch für den historisch-politischen Lernbereich (S II), Bd. 1, Frankfurt/M. 19778, Mitherausgeber von Bd. 2, Frankfurt/M. 19778; Arbeitsbuch: Politik (S I), Düsseldorf 19773. — Mitherausgeber der Luchterhand Arbeitsmittel für Studium und Unterricht.
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