Grundlagen der Politik in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR Ein Systemvergleich
Wolfgang Behr
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Zusammenfassung
Ausgehend von den jeweiligen Legitimitätsgrundlagen beider deutscher Staaten untersucht der Beitrag bestimmte Politikbereiche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Hierzu bedient er sich zunächst eines formalen Systemvergleichsmodeils. Die Legitimitätsgrundlagen beider Systeme werden im Rahmen dieses Systemvergleichsmodells einander gegenübergestellt, sodann einzeln wie im Vergleich analysiert. Hierbei werden sowohl Widersprüche in der Bundesrepublik und der DDR als auch gemeinsame wie unterschiedliche Interessen zwischen ihnen aufgezeigt. Vorrangig geht es in der Untersuchung darum, formal gleiche Legitimitätsgrundlagen in beiden Systemen (z. B. Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit u. a.) in den je unterschiedlichen Systemzusammenhängen darzustellen. Probleme bei der Umsetzung von Legitimitätsgrundlagen in praktische Politik werden dabei im Spannungsfeld von Integration und Konflikt ebenso aufgezeigt wie die Kooperationsmöglichkeiten und Grundkonflikte zwischen beiden Systemen. Beide Systeme stehen unter ökonomisch-technischen Sachzwängen, die den Handlungsspielraum politisch-gesellschaftlicher Gestaltung vermindern. Legitimitätsdefizite in der politischen Realität treten dabei in Erscheinung: In der Bundesrepublik versuchen außer-parlamentarische Kräfte (Verbände, Bürgerinitiativen) auf die Entscheidungen von Regierungen, Parlamenten und Parteien Einfluß zu nehmen, um dadurch ihre partikularen Interessen durchzusetzen. In der DDR verhindert die Führungsspitze der SED Demokratisierungsprozesse und verstärkt damit den bürokratischen Partei-und Staatsapparat. In der Bundesrepublik wie in der DDR ist die staatliche Politik maßgeblich darauf ausgerichtet, das bestehende System funktionsfähig zu halten. Die Priorität der Sicherung ökonomischer Leistungsfähigkeit gilt für beide Systeme, wobei allerdings die Bundesrepublik in erheblich höherem Umfang eine politische Gestaltung durch die Gesellschaft zuläßt als die DDR. Das Verhältnis von Bundesrepublik und DDR zueinander ist bestimmt durch das Postulat der Entspannung bzw.der „friedlichen Koexistenz". Ausgehend von den zuvor dargestellten Legitimitätsgrundlagen und der praktischen Politik beider Systeme werden Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation in der gegenwärtigen Phase der Deutschland-politik aufgezeigt.
I. Fragestellung, theoretische und methodische Grundlagen
Leitende Fragestellung für die folgende Untersuchung soll sein, wie das Verhältnis der beiden deutschen Staaten in der gegenwärtigen politischen Entwicklungsphase zu bestimmen ist, auf welcher Grundlage und mit welchen Ergebnissen.
Abbildung 4
Abbildung 4
Abbildung 4
Um diesen Fragenkomplex zu beantworten, ist es notwendig — entweder die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik in ihrer jeweiligen Komplexität möglichst vollkommen zu erfassen und zu vergleichen. Vergleichende Parameter können mit Hilfe von Kategorien ermittelt werden;
Abbildung 5
„Friedliche Koexistenz" (Darstellung der Interpretation durch die SED)
„Friedliche Koexistenz" (Darstellung der Interpretation durch die SED)
— oder beide Systeme auf einer exemplarischen Grundlage zu erfassen und zu vergleichen. In diesem Fall wird schwerpunktmäßig von einem Parameter ausgegangen, der ebenfalls in einem Bezug zu ausgewählten Kategorien steht.
In einer früheren Arbeit in dieser Zeitschrift wurde versucht, den ersten Weg zu gehen Hier wird dagegen eine der seinerzeit benutzten drei Kategorien (Okonomie/Gesell-schäft, Herrschaft/Macht, Ideologie/Legitimität), die Kategorie „Legitimität", herausgenommen, um auf ihrer Grundlage Selbstverständnis und Funktionen der Systeme Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik zu klären. Es bleibt hinzuzufügen, daß damit die anderen genannten Kategorien nicht wegfallen, sondern in diesem Zusammenhang lediglich nicht eigenständig berücksichtigt werden.
Bei der Bestimmung von Legitimität gehen wir davon aus, daß es im Interesse jedes Systems (Staat, Gesellschaft, Schule u. a.) liegt, sich in seiner Allgemeinheit (z. B.demokratischer Staat, sozialistische Gesellschaft) wie in seiner Besonderheit (z. B. parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, entwickelte sozialistische Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik) zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung bezieht sich auf die Erweckung und Pflege des Glaubens an die Richtigkeit der bestehenden Ordnung. Dies kann sehr unterschiedlich erfolgen. Insbesondere geht es dabei — um die Sicherung eines möglichst dauerhaften allgemeinen Grundkonsenses über Werte und Ziele; — um die Fähigkeit, bestehende Rechtfertigungen flexibel neuen Gegebenheiten anzupassen, ohne die bestehenden Rechtfertigungsgrundlagen aufzugeben.
Wesentlich ist Legitimität auf Herrschaft bezogen. Durch Herrschaftsausübung werden Systeme integriert und entwickelt, wobei es zu Konflikten zwischen Gruppen und deren unterschiedlichen Interessen kommt. Durch die Legitimität von Herrschaft soll deren Handeln unter den Bedingungen von Interessenkonflikten überzeugen und die bestehende Ordnung sichern. Die von den Regierten akzeptierten Legitimitätsgrundlagen eines Systems und die von den Regierenden getroffenen Entscheidungen zur Entwicklung dieses Systems sollen im Falle idealtypischer Legitimität vollständig übereinstimmen.
In der politischen Praxis wie in der politik-wissenschaftlichen Theorie und Analyse ist das Verhältnis von Legitimität und Realität eines Systems ständiger kritischer Über-prüfung zu unterwerfen, um Konfliktregelung und Systementwicklung nach bestimmten verbindlichen Wertprämissen und Zielen zu garantieren Zum Vergleich der Legitimitätsgrundlagen wird ein Systemvergleichsmodell benutzt, das in starker Vereinfachung lormal gleiche Grundstrukturen beider Systeme enthält, um davon ausgehend auf deren unterschiedliche Funktionen hinzuweisen, die anschließend in einer Tabelle aufgeführt werden. Unter „Funktionen" werden hierbei Problemlösungen verstanden, deren Spektrum durch den Rahmen des legitimatorischen Systems begrenzt wird. Jenseits dieses Rahmens schlagen Funktionen in „Dysfunktionen" um.
Wichtig ist der Hinweis, daß zunächst versucht wird, die formale Struktur beider Systeme aufzuzeigen, um überhaupt eine Vergleichsbasis zu finden. Damit verbunden ist die Absicht, das offizielle Wertesystem der Bundesrepublik nicht als ausschließlichen Maßstab an die Verhältnisse in der DDR anzulegen und sie damit einer Bewertung zu unterwerfen, der sie ihrem Selbstverständnis nach nicht entsprechen kann. Der andere methodische Weg wäre zwar wesentlich leichter begehbar, nähme jedoch in Kauf, daß gravierende Normenunterschiede und deren je eigenständige Funktionen in beiden Systemen nicht gebührend berücksichtigt werden. Eine systemvergleichende Analyse auf dieser methodischen Basis macht sich selbst unfähig zu ermitteln, was denn die tatsächliche Funktionsweise beider Systeme ist.
Der hier vorgeschlagene methodische Weg ist vielfältig dialektisch und stellt an den Analysierenden und Bewertenden wesentlich höhere Anforderungen; er erlaubt es allerdings auch, Bundesrepublik und DDR aus sich selbst heraus zu begreifen, auf immanente Widersprü-ehe zu untersuchen und Entwicklungstendenzen für beide Systeme nach systemeigenen Werteprämissen sowie systemübergreifenden Normen (wie etwa UNO-Menschenrechtscharta und KSZE-Schlußakte oder Ziele und Werte im Rahmen politischer Pädagogik) aufzuzeigen. Es sei hier der Vollständigkeit halber hinzugefügt, daß dabei die Einbindung der Systeme Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik in systemübergreifende Paktsysteme und internationale Organisationen zu berücksichtigen bleibt.
Das Systemvergleichsmodell geht von der Grundthese aus, daß unter den Bedingungen sich entwickelnder Gesellschaften bis hin zu hochentwickelten Industriesystemen ungeachtet unterschiedlicher Normen Ausdifferenzierungsprozesse zu konstatieren sind. Die wichtigsten Bereiche, die sich im Zuge dieser Gesellschaftsentwicklung ausdifferenziert haben, sind — das politische System, das — ungeachtet der jeweiligen politischen Grundnormen eines Systems, ob nun parlamentarisch-demokratisch oder sozialistisch-kommunistisch — eine Instanz darstellt, die in der Lage und berechtigt ist, alle für die Gesellschaft verbindlichen Werte autoritativ zuzuteilen — das ökonomische System, das häufig in der Lage ist, die Bedingungen gesellschaftlicher und staatlicher Entwicklung massiv zu beeinflussen. Diese Aussage gilt bei aller Unterschiedlichkeit der Zuordnung des ökonomischen Sektors in einem marktwirtschaftlichen wie in einem planwirtschaftlichen ökonomischen System. Eine andere Frage ist es, inwieweit ökonomische Prozesse selbst Politik gestalten oder umgekehrt im Rahmen von politischen Entscheidungen steuerbar und kontrollierbar bleiben.
Mit diesen letzten Bemerkungen wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Inhalte des aufzuzeigenden vergleichenden Systemmodells durch spezifische, inhaltlich bestimmte Strukturen und deren Funktionen zu belegen sind. Die Strukturen und Funktionen in Verbindung mit der formalen Systemanordnung bestimmen also maßgeblich das offizielle Selbstverständnis und Normensystem des jeweiligen Systems.
II. Legitimitätsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Abbildung 2
Legitimitätsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Legitimitätsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Wie bereits zuvor dargelegt, würde der Versuch eines ausschließlich formalen Vergleichs der Systeme Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik bei scheinbarer Wertabstinenz der Unterschiedlichkeit beider Systeme nicht gerecht werden. Dies ist durch die folgende Tabelle zu belegen, die versucht, über das formale Vergleichsmodell hinaus Legitimitätsgrundlagen in der Bundesrepublik und DDR aufzuzeigen, wobei deren Unvereinbarkeit deutlich wird. Absicht der anschließenden Tabelle ist es nicht, einer affirmativ-funktionalen Bewertung von Bundesrepublik und DDR das Wort zu reden. Hiermit soll lediglich dargestellt werden, nach welchen offiziell akzeptierten und praktizierten Normen und Begriffen die beiden Systeme funktionieren. Daß in der Bundesrepublik eine Reihe der anschließend aufgeführten Begriffe in der öffentlichen Diskussion umstritten ist, sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt. Gleiches gilt für legitimatorische Grund-positionen in der DDR, die allerdings offiziell ausschließlich durch die SED und ihr Sozialismusverständnis interpretiert werden 1. Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland a) Allgemeine Legitimitätsgrundlagen Das legitimatorische System der Bundesrepublik wird theoretisch im Rückgriff auf das Grundgesetz ermittelt, praktisch durch die tatsächliche Funktionsweise des Systems in bezug auf diese Legitimitätsgrundlage
Zentral sind hierbei die „Würde des Menschen" (Art. 1 GG) und daraus unmittelbar folgend das „Recht auf freie Entfaltung" der Persönlichkeit (Art. 1 [1]) und die „Gleichheit vor dem Gesetz" (Art. 3 [1] GG). Diese Passagen des Grundgesetzes verdeutlichen, daß die Verfassung der Bundesrepublik grundlegende Verhaltenserwartungen und Wertvorstellungen für das menschliche Zusammenleben und die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland angibt. Derartige Bestimmungen lassen keine Beliebigkeit ihrer Auslegung zu, wohl aber im Einzelfall Konflikte darüber, wie in concreto Menschenwürde, Menschenrechte, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Gleichberechtigung von (z. B. politischen) Anschauungen zu bewerten sind, inwieweit sie gewährleistet sind und wo ihre Grenzen liegen. Da-Ivon unberührt bleibt der generelle Schutz der Grundrechte, der nur zu garantieren ist durch die umfassende Einhaltung der Verfassung überhaupt durch parlamentarische Kontrolle, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gewaltenteilung, Widerstandsrecht u. a. Dies bedeutet die Bejahung von Pluralismus und Interessenkonflikt bei gleichzeitigem Zwang zu einem Minimalkonsensus, um den Zusammenhalt des gesamten Systems zu gewährleisten.
Diese wichtige Legitimitätsgrundlage des Systems Bundesrepublik, für die Artikulierung und Durchsetzung menschlicher Bedürfnisse und Nöte offen zu sein zeigt allerdings mindestens zwei Problemkreise in der Realität, die der umfassenden Umsetzung legitimatorischer Funktionen im Wege stehen: 1. Der durch Umfragen zu belegende Anteil nicht demokratisch engagierten politischen und sozialen Verhaltens in der Gesellschaft 2. Es bestehen in der Bundesrepublik Deutschland ungleiche Chancen bei der Verwirklichung von Menschenwürde, freier Entfaltung der Persönlichkeit und damit bei der Wahrnehmung von Lebenschancen, was sich mit der stärkeren Durchsetzbarkeit der Interessen von Mitgliedern der Ober-und Mittel-schicht im Vergleich zu Angehörigen der Unterschicht dokumentieren läßt. Dies ist nicht ausschließlich damit zu begründen, daß sich das Eigentum an Produktionsmitteln in der Bundesrepublik primär in privater Hand befindet. Auch bildet sich dadurch keine einheitliche Machtelite heraus
Im Rahmen unserer Begriffsbestimmung sind derartige Zustände und Entwicklungen allerdings solange als funktional in ihrem Verhältnis zu den Legitimitätsgrundlagen des Systems Bundesrepublik zu bezeichnen, als dadurch die allgemein legitimierten Zusammenhänge des Gesamtsystems und seiner Teilsysteme nicht gestört werden. Erst eine Unfähigkeit des . Systems Bundesrepublik', seine Legitimationsmuster funktional aufrechtzuerhalten, würde es zulassen, von einer dysfunktionalen Entwicklung zu sprechen, d. h. in diesem Falle würde sich die Bundesrepublik — entweder von ihren Legitimitätsgrundlagen entfernen, so daß ein funktionaler Zusammenhang nur noch begrenzt oder überhaupt nicht mehr vorhanden wäre, — oder die Legitimitätsgrundlagen würden nicht ausreichen, um neuen Herausforderungen an das System zu genügen.
In ihrer Wirkungsweise hängen beide Möglichkeiten eng miteinander zusammen. So entscheidet sich die Funktionalität des Systems Bundesrepublik in komplexen Entwicklungsprozessen primär durch die Rolle von Parlamenten und Parteien: bei der Sicherung von Arbeitsplätzen, in der Rentenversicherung, bei der Dämpfung der Kosten für das Gesundheitswesen, in der Familien-und Bil-dungspolitik, in der Energieversorgung, bei wirtschaftlichem Wachstum und Umweltschutz, in der politischen Praxis der inneren Sicherheit, im Verhältnis zwischen Industrie-und Entwicklungslärdern sowie in den vielfältigen Beziehungen zwischen West und Ost mit dem damit verknüpften Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR. Im weitesten Sinne geht es hierbei um die Zuordnung von Produktionsund Lebensbedingungen, also die Wechselwirkungen zwischen ökonomisch-technologisch-wissenschaftlichen Bedingungen und den Beziehungen der Menschen hierzu und untereinander. Aufgabe der Politik in der Bundesrepublik Deutschland ist es, diesen zentralen Problembereich — ausgehend von den gegebenen Legitimationsgrundlagen — funktional zu bewältigen. Praktisch geschieht dies durch das permanente Bemühen von Regierungen, Parlamenten und Parteien, die bestehende Ordnung zu stabilisieren und möglichst dauerhaft zu sichern.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes stellt in systemtheoretischer Sicht ein als Verfassung fixiertes , Sy-
stemüberlebensmodell’ (A. Etzioni, F. Naschold) dar, das bestimmte Werte und Normen setzt, ohne den Auftrag zu teilen, diese zu optimieren. Das Grundgesetz hat damit keinen Prozeßcharakter, sondern legt Bedingungen — im weitesten Sinne Maßstäbe — für das gesellschaftliche und politische Zusammenleben fest, wobei es von der gesellschaftlichen Entwicklung und den mit ihr verbundenen Konflikten abhängt, diese Rechtssätze in einer bestimmten Bandbreite zu interpretieren und zu gestalten. Damit überläßt das Grundgesetz es den gesellschaftlichen Gruppen, Einzel-und Systemziele auf der Grundlage von Partikular-und Mehrheitsinteressen zu formulieren. Es gibt ihnen damit die Möglichkeit, diese Interessen und Ziele im Rahmen der legalen Bestimmungen oder durch deren verfassungsmäßige Änderung durchzusetzen. Eine besondere Rolle fällt hierbei den politischen Parteien zu in ihrer Doppelfunktion — als vermittelnde Subsysteme zwischen dem politischen und den anderen Teilsystemen;
— als gesellschaftliche Gruppen, aus denen sich primär die politische Elite rekrutiert. b) Parlamentarische Demokratie und pluralistische Gesellschaft Der Typus der parlamentarischen Demokratie beinhaltet 1. Repräsentativverfassung in Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen mehrheitlichen Willen; 2. die staatlichen Organe müssen sich gegenseitig kontrollieren (System der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung); 3. mindestens Zwei-Parteien-System;
4. Kandidatenaufstellung für die Repräsentativorgane nach demokratischen Grundsätzen;
5. Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen;
6. verfassungsmäßig garantierte Rechte der Opposition; 7. größtmögliche Öffentlichkeit für alle politischen Entscheidungsprozesse und Entscheidungen.
Zwischen diesem Legitimitätsanspruch und der politisch-sozialen Wirklichkeit entsteht insofern ein Dilemma, als der mit dem Typus „parlamentarische Demokratie" bejahte gesellschaftliche Pluralismus und seine Umsetzung in das politische System notwendigerweise des permanenten Konsenses bedarf, um unüberbrückbare Entscheidungsblockaden in Gesellschaft und Staat möglichst nicht aufkommen zu lassen. Der Staat muß entscheidungsfähig sein und soll hierbei die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen so berücksichtigen, daß sie sich zu mehrheitlich getragenen repräsentativen Entscheidungen verdichten. Hierzu dient das dualistische Prinzip von Regierung und Opposition sowie das System der Gewaltenteilung. Das Funktionieren von Regierung, Opposition und Gewaltenteilung setzt allerdings voraus, daß keine gesellschaftliche und politische Gruppe die Alleinherrschaft anstrebt, sondern bereit ist, sich in den pluralistisch bestimmten Grundkonsensus — bei aller Wahrung und Durchsetzung eigener Interessen — einzuordnen.
Doch wie wird dieser pluralistische Grundkonsensus bestimmt? Auch ein eher konservativer Politologe wie Kurt Sontheimer, der keine überzeugende politische Alternative zur Theorie des Pluralismus sieht räumt ein, daß durch die Kritik „einer stärker marxistisch orientierten Sozialwissenschaft" „das Verständnis des Pluralismus als eines schlecht proportionierten gesellschaftlichen Machtsystems geweckt (wurde), in dem bestimmte Gruppen viel mächtiger sind als andere, obgleich deren Interessen ebenso legitim sind" Im einzelnen identifiziert sich Sontheimer mit folgenden Kritikpunkten am bestehenden Pluralismus in der Bundesrepublik:
1. Der etablierte Pluralismus ist ein festgefügtes, relativ starres Machtsystem, das gesellschaftlichen Veränderungen großen Widerstand entgegensetzt.
2. Die pluralistischen Interessen in der Gesellschaft haben unterschiedliche Chancen, sich politisch durchzusetzen (Beispiel: das Interesse der Unternehmer besitzt in dieser Gesellschaft in der Regel größere Durchschlagskraft als das der Arbeitnehmer).
3. Die Verbände stellen nur in sehr engen Grenzen Institutionen dar, in denen sich die Willensbildung demokratisch vollzieht und echte Partizipationschancen für die Mitglieder bestehen.
4. Es gibt wichtige allgemeine Interessen, wie z. B. das Interesse an der Volksgesundheit, die relativ unberücksichtigt bleiben, weil es keine machtvollen Interessenvertretungen dafür gibt.
5. Das öffentliche Interesse zieht wegen der Gesamtmacht der Verbände und deren Vielfalt und Stärke bei der Vertretung privater Interessen meist den kürzeren
Die wichtigste vermittelnde Rolle zwischen dem pluralistisch-gesellschaftlichen und parlamentarisch-politischen System unter den Bedingungen des Legitimitätsanspruchs des Grundgesetzes spielen in der Bundesrepublik die politischen Parteien
Die verstärkte Wirksamkeit von Bürgerinitiativen läßt aber die Vermutung aufkommen, daß es sich hierbei nicht mehr nur um ergänzende partizipatorische Maßnahmen zu parlamentarisch legitimierten Entscheidungsakten handelt, sondern um Versuche, politische Leerstellen aufgrund von Versäumnissen oder Fehleinschätzungen von Parteien und Parlamenten zu besetzen, um dadurch notwendige Bestimmungen und Überprüfungen von politischen Perspektiven und Handlungen zu erzwingen. Die dadurch hervorgerufenen Konflikte signalisieren „ungelöste und unreflektierte Probleme des politischen Systems und seiner Legitimierungsleistungen" Offensichtlich sind in dieser Situation weder das politische System der Bundesrepublik als ganzes noch einzelne Subsysteme wie Parlamente und Parteien in der Lage, von den gegebenen Legitimitätsgrundlagen her jene Funktionalität sicherzustellen, die erstens in einem konservativen Sinne bestandserhaltend in einer Weise wirkt, daß systemkonformen Erwartungen unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft der Bundesrepublik entsprochen wird;
zweitens in einem systementwickelnden Sinne entsprechende Erwartungen von unterschiedlichen Gruppen befriedigt, gegebenenfalls weckt und koordiniert Es ist zu betonen, daß direkte Formen von Demokratie in der Bundesrepublik legitim sind, solange sie nicht die zentrale politische Grundstruktur des parlamentarischen Systems mindern oder gar außer Kraft setzen. Immerhin zeigen aber Bürgerinitiativen unterschiedlicher Richtungen und Anliegen gestörte oder enttäuschte Erwartungshaltungen gesellschaftlicher Gruppen auf, die diese im allgemeinen mit Parlamenten und Parteien und nicht gegen sie durchsetzen möchten. Insoweit ist die Funktionalität parlamentarischer Demokratie in der Bundesrepublik zu erhöhen, um Gruppenkonflikte in der Gesellschaft sowie zwischen politischem, gesellschaftlichem und ökonomischem System abzubauen und zu regeln. Denn die in der Gegenwart der Bundesrepublik vorhandene legitime Funktionalität des Systems gerät dann an die Grenzen zu Dysfunktionalitäten, wenn gesellschaftlich-politische Gruppenkonflikte die parlamentarische Entscheidungskompetenz in Frage stellen oder — im Gegenzug — Gruppenkonflikte unterdrückt werden, um formal parlamentarisch, letzten Endes aber autoritär unter dem Deckmantel demokratischer Legitimation administrativ zu entscheiden. c) Technokratische Sachzwänge und demokratische Entscheidungskonflikte Gesellschaft und Wirtschaft in der Bundesrepublik versuchen, Prioritäten zu bestimmen; Entscheidungen fällt verbindlich der Staat. Die Dringlichkeit der zur Entscheidung für den Staat anstehenden Probleme wird durch einzelne gesellschaftliche bzw. ökonomische Gruppen mitbestimmt. Claus Offe stellt hierzu fest, es gebe ein „konzentrisches Prioritätenschema von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Problembereichen", wobei diejenigen in der Prioritätenskala oben stehen, die bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche am ehesten garantieren können, daß fundamentale Stabilitätsbedingungen des bestehenden Sy9 stems nicht gefährdet, sondern eher gefestigt werden
Die Festlegung und Wahrung von Positionen in der Prioritätenskala beinhaltet teilweise massive gesellschaftliche Konflikte. Der Prozeß der Ökonomisierung aller Lebensbereiche unter den Bedingungen des Wirtschaftssystems der Bundesrepublik zwang zu der Entwicklung des gegenwärtigen Sozial-, Interventions-und Wohlfahrtsstaates, um systemgefährdende Widersprüche infolge der Bildung von ökonomischer Konzentrationsmacht unter Kontrolle zu halten und zu regulieren. Dies führte und führt zu verstärkt verflochtenen Interdependenzen zwischen politischem, gesellschaftlichem und ökonomischem System, wobei kein Einzelsystem die anderen dominiert, wohl aber einzelne Subsysteme besser in der Lage sind, ihre Interessen gesamtgesellschaftlich durchzusetzen als andere. Ein gewisser Interessengegensatz besteht hierbei zwischen technischem und ökonomischem Fortschritt (verbunden mit privaten Gewinninteressen) auf der einen Seite und Verbesserungen der allgemeinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen, Abbau von Abhängigkeiten und Unterprivilegierung sowie Herstellung von Chancengleichheit auf der anderen Seite. Der Staat und die ihm zugeordneten politischen Organisationen und Institutionen übernehmen hierbei die Aufgabe, ökonomisch-technische Funktionstüchtigkeit und Massenloyalität zu garantieren, indem sie sowohl technologische Forschung und Entwicklung finanziell unterstützen als auch für die Qualifizierung von Arbeitskräften Sorge tragen.
Hinzu kommen politisch-ökonomische Strategien des Staates, die dazu beitragen, bestehende Strukturen abzusichern, zu steuern und systemkonform zu entwickeln. Weite Sektoren des ökonomischen Bereichs unterliegen unmittelbarer staatlicher Nachfrage oder werden zur Steuerung von Konjunkturen oder wirtschaftlichen Strukturschwächen mittels staatlicher Wirtschafts-und Finanzpolitik genutzt. Hierzu gehören die Erhaltung und Entwicklung von Straßenbau und Verkehr, die Bildungsplanung, die Stadtsanierung, die Erschließung von Gewerbegebieten, die Landes-, Regional-, Stadt-und Gemeindeplanung u. a. Dies alles führt zu jenem Sozial-oder Interventionsstaat, der im Auftrag und mit Zustimmung der demokratisch-pluralistischen
Seilschaft seine Verwaltungsund Daseinsvorsorgefunktionen ständig erweitert, sich zum Planungsstaat entwickelt und somit eine Rolle als permanenter Krisenregulator gegenüber Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt spielt.
Die Legitimitätsgrundlagen des Systems Bundesrepublik werden dabei solange nicht außer Kraft gesetzt, als die staatlichen Entscheidungen demokratisch-parlamentarisch bestimmt und kontrolliert werden. Gesehen werden muß in diesem Zusammenhang allerdings die Tendenz sich stets weiter ausbreitender Bürokratisierung, die demokratische Entscheidungsprozesse behindert, wenn nicht sogar verhindert. Das komplexe System der Bundesrepublik verlangt — vergleichbar dem entsprechenden Entwicklungsstadium anderer Industriegesellschaften — sicherlich einen funktionsfähigen Verwaltungsapparat. Die Problematik des Wirkens demokratischer Repräsentativorgane — wie etwa der Parlamente — wird dabei allerdings offenkundig, da die staatliche Bürokratie verstärkt Planungs-, Lenkungs-und Kontrollaufgaben wahrnimmt.
Bürokratisierung in Verbindung mit ökonomisch-sachzwangartigen Entscheidungen führen zu jenem technokratischen Syndrom, das — wie im Falle der Diskussion um die weitere Errichtung von Kernkraftwerken — über seine systemstabilitätsgarantierenden Funktionen hinaus erhebliche dysfunktionale Nebenfolgen offenbart. Solange bei diesen oder vergleichbaren Problemstellungen (z. B. Bildungspolitik) die Parlamente die ihnen zustehenden Entscheidungs-und Kontrollkompetenzen nicht voll wahrnehmen, weist das System Legitimitätsdefizite auf. Die Tendenz zu einem technokratischen Staat wird sichtbar, der zwar formal demokratischer Legitimation durch Wahlen, Wechsel von Regierung und Opposition und der Kontrolle durch Rechtsprechung genügt, der sich jedoch material zu einem bürokratisch-ökonomisch bestimmten Planungsstaat fortentwickelt, der außer Kontrolle der demokratisch verfaßten Gesellschaft geraten kann.
Solche Entwicklung führt zu jenem „effizienten Staat", zu „Sachzwang" und einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft", von denen vor Jahren Helmut Schelsky schrieb. Diese Begriffe meinen einen technokratischen Staat, der unter den Bedingungen des „*Sachzwangs versucht, sog. „Sachentscheidungen" demokratschen Entscheidungen vorzuordnen, wobei ökonomische Interessen gegebenenfalls den Vorrang vor gesellschaftlichen Bedürfnissen erhalten. Eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" kommt unter diesen Bedingungen nur insofern zustande, als sich die Mehrzahl der Menschen in einem derartigen System den technokratischen Sachzwängen beugt und damit eine Nivellierung auf Kosten ihrer autonomen Interessen-und Bedürfnisartikulationen hinnimmt.
Hier sind wir auch am Kern der Überlegungen zu den Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik: Wenn sich diese Legitimität nur im Sinne der Rechtfertigung eines technokratisch-bürokratischen Staates und dessen Zusammenwirken mit ökonomischen Sachzwanginteressen realisiert — wobei die demokratische Legitimitätsgrundiage der Bundesrepublik formal nicht aufgegeben wird —, so haben wir es mit der „routinierte(n) Pflege ideologischer Orientierungen“ zu tun. Solche Entwicklung ist nicht zwangsläufig und alternativlos, sie verlangt zu ihrer Änderung allerdings die Praktizierung der parlamentarisch-demokratischen und gesellschaftlich-pluralistischen Legitimitätserfordernisse der Bundesrepublik. Dadurch entstehen Konflikte zwischen sachzwanghafter und demokratischer Rationalität von Entscheidungsprozessen. d) Soziale Marktwirtschaft und gesellschaftliche Disparitäten Das politische System der Bundesrepublik hat die mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft grundlegend verbundenen Problembereiche zu bewältigen, und zwar auch unter erschwerten Bedingungen, wie den konjunkturellen und strukturellen ökonomischen Krisensituationen mit ihren Höhepunkten 1966/67 und in den siebziger Jahren bis zur Gegenwart. Zu berücksichtigen ist, daß es sich hierbei jeweils um systemimmanente Probleme handelt, die — solange die Effektivität des Gesamtsystems Bundesrepublik auf seinen Legitimitätsgrundlagen gesichert ist — als funktional zu bezeichnen sind. Ein Über-gang zu Dysfunktionalitäten ist dann zu konstatieren, wenn — die legitimen Grundlagen des Gesamtsystems Bundesrepublik oder seiner einzelnen
Systeme nicht ausreichen, um Funktionalität dauerhaft zu sichern; — durch Interessen und Aktionen gesellschaftlicher, politischer und/oder ökonomischer Gruppen politische Veränderungen eintreten, die sich nicht mehr auf die bestehenden Legitimitätsgrundlagen berufen können oder dies vielleicht auch gar nicht wollen
Im Rahmen der bestehenden legitimen Ordnung in der Bundesrepublik und in bezug auf die Interessenkonflikte zwischen technisch-ökonomischem Fortschritt und humanen Verbesserungen („Lebensqualität") wird die Funktionalität, d. h. die systemadäquate Pro-
blembewältigung, im Bereich der Arbeitsplatz-sicherung, der allgemeinen und beruflichen Bildung, des Umweltschutzes, der Energieversorgung, der Sicherung von Absatzmärkten, der Schaffung von günstigen Infrastrukturbedingungen u. a. auf die Probe gestellt.
Die legitime Funktionalität der Bundesrepublik ist dabei zu bemessen nach den Fähigkeiten: — normale Alltagssituationen erfolgreich zu bewältigen;
— mit den Herausforderungen neuer Problemstellungen und Krisen fertig zu werden.
Problemstellungen und Krisen vermögen zu belegen, daß die bestehenden ökonomischen Machtstrukturen politisch-gesellschaftliche Konflikte und auch deren Regelung maßgeblich bestimmen. Es ist eine starke Koppelung von Interessen des technisch-ökonomischen Fortschritts mit Kapitalinteressen festzustellen, wobei sich die Arbeitnehmer im allgemeinen mit tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherung und mehr Sozialleistungen zufrieden geben und mehr an Stabilität und Wachstum des bestehenden (primär ökonomischen) Systems als an der Durchsetzung spezifischer gesellschaftlicher Interessen gegen die Kapitaleigner interessiert sind. Staatliche Entscheidungen und Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern sichern in der Bundesrepublik den je neu festzulegenden Interessenausgleich zwischen mächtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Neue Problemstellungen der Gegenwart bedeuten zugleich neue Herausforderungen an das System Bundesrepublik und seine Legitimitätserfordernisse. Hierfür sind die Beispiele Arbeitslosigkeit und Kernkraftwerke heranzuziehen. Die Diskussionsfronten verlaufen in diesen Fällen quer durch Regierungen, Parlamente, Parteien, Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften. Relevant sind bei den vielfältigen Ansätzen zur Lösung dieser Probleme weniger klassenspezifische Standpunkte, als vielmehr Status-und standortbezogene Interessen. Die „Disparität zwischen den verschiedenen Problembereichen und Bedürfnis-sphären des gesellschaftlichen Lebens“ in der Bundesrepublik ist ein Faktum. Versuche, diese Disparitäten zu ändern, sind — solange sie sich im Rahmen des Grundgesetzes halten — legitim. Diese Änderungsund Einwirkungsmöglichkeiten auf pluralistisch-demokratischer Grundlage unterscheiden die Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik sowohl von der Ideologie des Klassenkampfes wie der Technokratie des Sachzwanges. Entscheidend bleibt die legitime Entscheidungs-und Kontrollkompetenz der Parlamente, deren dysfunktionale Veränderung tendenziell autoritären, bürokratisch-technokratischen Interessen Vorschub leistet. 2. Legitimitätsgrundlagen der Deutschen Demokratischen Republik a) Allgemeine Legitimitätsgrundlagen « Im Unterschied zu dem legitimatorischen System der Bundesrepublik stellt das der DDR ein Systemzielmodell dar, d. h., nach eigener Interpretation ist die Systementwicklung darauf ausgerichtet, über einzelne Entwicklungsstufen den Übergang von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen und schließlich einer kommunistischen Gesellschaftsordnung zu leisten. Diese Entwicklung begann mit der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" 1945— 1949, die verbunden war mit der Enteignung der Großindustrie und der Bodenreform. Zwar war die Politik der KPD in den Besatzungszonen der ersten Nachkriegszeit gesamtdeutsch orientiert; dies änderte sich jedoch rasch in dem Maße, in dem erkennbar wurde, daß eine antifaschistisch-demokratische Politik im Sinne der KPD für alle Besatzungszonen nicht verbindlich gemacht werden konnte. In der sowjetisch besetzten Zone bildete sich am 14. Juli 1945 die von der KPD initiierte Einheitsfront antifaschistisch-demokratischer Parteien, der je fünf Vertreter der KPD, der SPD, der CDU und der LDPD angehörten
Systemziel der KPD und — nach der Vereinigung von KPD und SPD — der SED war und ist es, die welthistorische Gesetzmäßigkeit des historischen Materialismus zu realisieren, an deren Ende die kommunistische Gesellschaftsordnung stehen soll. Grundlage für die Bestimmung einer je bestehenden Gesellschaftsformation ist demnach die jeweils praktizierte Produktionsweise. Entscheidende normative Prämisse für die Zuordnung von Produktionsweise und Gesellschaftsformation ist der Charakter der Arbeit. Durch die Machtergreifung der Arbeiterklasse soll deren Abhängigkeit von kapitalistischer Ausbeutung überwunden werden. Durch die Ablösung der antagonistischen Klassengesellschaft soll die Arbeiterklasse in die Lage versetzt werden, den Sozialismus und später den Kommunismus als eine Gesellschaftsformation aufzubauen, „die mit dem größten Aufschwung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit die allseitigste Entwicklung des Menschen sichert"
In diesem Sinne werden die den Grundrechten in der Bundesrepublik Deutschland iormal entsprechenden Begriffe der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit in der Verfassung der DDR vom 7. 10. 1974 bestimmt. So sind „Achtung und der Würde und Freiheit Schutz der Persönlichkeit ... Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger" (Art. 19 (2)).
„Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt" (Art. 19 [3]). Der Gleichheitsgrundsatz soll in der DDR verwirklicht werden durch das sozialistische Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" (Art. 2 [3]). Darüber hinaus hat „jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik .. . das Recht, das politische, wirtschaftli-ehe, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz . Arbeite mit, plane mit, regiere mit!" (Art. 21 [1]). Erich Honecker geht über die Verfassungsbestimmung sogar noch hinaus, wenn er betont, daß „in unserer sozialistischen Gesellschaft . . . die Achtung der Würde des Menschen oberstes Gebot (ist)"
Das neue Programm der SED verdeutlicht hingegen die Einbindung von Menschenrechten, Freiheit und Gleichheit in den genannten ideologischen Zusammenhang. Der entsprechende Abschnitt „Die sozialistische Lebensweise" findet sich erst zu Beginn des letzten Drittels der SED-Programms. Zuvor werden der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und im Rahmen der Ausführungen über die Gestaltung der . entwickelten sozialistischen Gesellschaft'in der Deutschen Demokratischen Republik die ökonomische Politik, die Sozialstruktur, die politische Organisation der . entwickelten sozialistischen Gesellschaft'sowie Wissenschaft, Bildungswesen und Kultur behandelt. Nach dem Hinweis darauf, daß die sozialistische Lebensweise in der sozialistischen Produktionsweise begründet sei, wird die Arbeiterklasse unter Führung der SED als die entscheidende politische Kraft hervorgehoben. die den sozialen, politischen und ideologischen Inhalt der sozialistischen Lebensweise entsprechend ihren Klasseninteressen bestimme, im Maßstab der ganzen sozialistischen Gesellschaft durchsetze und ständig vertiefe. Durch die Beseitigung aller Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gebe es in der sozialistischen Gesellschaft Beziehungen zwischen den Menschen, die „Beziehungen wahrer Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Sicherheit“ seien. Voraussetzung hierfür sei allerdings, „daß jedes Mitglied der Gesellschaft aktiv am sozialistischen Aufbau mitwirke und dabei bewußt Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft übernimmt". Die so zu entwickelnde sozialistische Persönlichkeit sei in ihrem Denken und Handeln gleichzeitig vom sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus gekennzeichnet, verbunden mit dem „Eintreten für die revolutionäre Sache der Arbeiterklasse, Treue zum Sozialismus und (der) Bereitschaft, seine Errungen-schäften zu schützen und zu verteidigen"
In ausdrücklichem Bezug auf das Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wird in SED-Publikationen nach dem IX. Parteitag betont, daß „die Freiheit im Sozialismus ... keine quantitative Ausdehnung oder Erweiterung bürgerlicher Freiheiten (ist)" Die „neue und höhere Qualität der Freiheit im Sozialismus" wird vielmehr an „die revolutionäre Beseitigung der ökonomischen und politischen Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisie auf dem Wege des Klassenkampfes" gebunden. Freiheit, Menschenwürde und Gleichheit kommen im Sinne eines „sozialistischen Humanismus" in dem Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit, Freizeit und Erholung, Gesundheitsfürsorge, Hilfe und Unterstützung bei Krankheit und Alter, im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem, der wachsenden Befriedigung kultureller Bedürfnisse und der Gleichberechtigung der Frau zum Ausdruck
Diesen in der Verfassung der DDR fixierten Rechten entspricht ideologisch das Klassen-recht der Diktatur des Proletariats Damit soll die überwiegende Mehrzahl der Menschen in der DDR entsprechend der Leninschen „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" im Besitz der Produktionsmittel sein Sie sind jedoch als Produzenten insofern nicht frei, als ihr sozialistisches Klassenrecht — entgegen entsprechenden Bestimmungen der Verfassung — nicht durch sie, sondern durch die Parteiherrschaft der SED und die staatliche Planungsbürokratie wahrgenommen werden. Die SED nutzt ihre Legitimitätsgrundlage dazu, in der DDR einen repressiv-zentralisierten bürokratischen Staatssozialismus unter ihrer Führung zu praktizieren. Sie benutzt den Marxismus-Leninismus als Legitimationsgrundlage und interpretiert ihn im Sinne einer Herrschaftsideologie. Sie ist dadurch die wahre Besitzerin der Produktionsmittel, die verstaatlicht sind und durch die Rolle des Staates als Instrument der Partei tatsächlich deren Verfügungsgewalt unterliegen. Dies ist im folgenden zu belegen. b) Parteielite und Arbeiterklasse Die Regelung und Lösung von Interessenkonflikten in der DDR läßt sich unter Rückgriff auf Lenin scheinbar mühelos vollziehen: „Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats.“ Als Legitimitätsgrundlage für das Wirken der SED reicht dies zunächst aus. Der Grundwiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und der privaten Aneignung ihrer Produkte ist insofern aufgehoben, als die SED in der Definition ihrer Rolle als Avantgarde der Arbeiterklasse die sozialistisch legitime Diktatur des Proletariats ausübt und sich hierzu des Staates bedient. Die Partei zeigt allerdings bisher keine Bereitschaft, dieses nur vorübergehend wahrzunehmende Mandat der Arbeiterklasse wieder an diese zurückzugeben, d. h. die politische Macht nicht parteiautoritär zu nutzen und einzusetzen, sondern für eine Vergesellschaftung des Staates durch die Arbeiterklasse und im Interesse der Arbeiterklasse Sorge zu tragen. Zu beachten ist hierbei, daß die Änderung des ökonomischen Planungssystems in der DDR 1963 (Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft = NÖSPL) auf Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz durch Verbesserung der einzelwirtschaitlichen Rentabilität ausgerichtet war, was erweiterte Entscheidungsspielräume und verbesserte materielle Anreize für die einzelnen Betriebe beinhaltete. Die zu leistende Koordinationsaufgabe zwischen zentral festgelegten gesamtgesellschaftlichen (sozialistischen) und einzelbetrieblichen (betriebswirtschaftlichen) Erfordernissen würde an sich eine stärkere direkte Beteiligung der Produzenten, d. h.der Arbeiterschaft, an den betrieblichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungen ermöglichen. Dies scheiterte allerdings an massiven Interessen-gegensätzen zwischen den einzelnen Betrie-ben. So kann auch dies — zusätzlich zu der Sicherung der Parteiherrschaft — als Indiz dafür genommen werden, daß die Aufgabe der zentralen Globalplanung und -leitung durch die SED niemals zur Disposition stand. Wirksame Bemühungen oder Ansätze für eine Vergesellschaftung in der DDR sind nicht feststellbar Es dominiert die Herrschafts-und Machtelite der SED.
Der Wechsel der politisch-ökonomischen Organisationsformen in der DDR von 1961 bis heute (NÖSPL, ökonomisches System des Sozialismus = ÖSS und darauf aufbauend eine erneute Rezentralisierungsperiode seit 1971)
hat „wenig mit einer tendenziellen Vergesellschaftung der Planungsund Leitungsprozesse, soweit diese auf dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik, ihrer Anwendung im Produktionsprozeß und des gesellschaftlichen Bewußtseins möglich erscheint, zu tun" Auch sozialistische Kritiker dieser durch Parteiherrschaftsansprüche hervorgerufenen Stagnation sozialistischer Entwicklungsmöglichkeiten in der DDR und anderen sozialistischen Systemen stellen eher resignierend als strategisch planend fest, daß eine Veränderung der erzwungenen gesellschaftlichen Verhältnisse nur durch „ein Zerschlagen der gesamten politischen Strukturen" möglich sei, da die „bürokratische Herrschaftselite" nicht freiwillig auf ihr Machtmonopol verzichte Diesen hier kritisch vorgetragenen Sachverhalt versucht Stefan Doemberg, stellvertretender Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft in Berlin (Ost), am Beispiel internationaler Konflikte — allerdings übertragbar auf jeden anderen Bereich, wie er sinngemäß sagt — in sozialistischen Staaten ideologisch zu legitimieren: Da in sozialistischen Systemen ohnehin die Arbeiterklasse die herrschende Klasse sei, sei ein Begriff wie „Machtelite" hier nicht an-wendbar So ist an dieser Stelle die Frage zu klären, ob die Arbeiterklasse in der DDR tatsächlich die herrschende Klasse ist und wie sich dies gesellschaftlich und politisch nachweisen läßt.
Eine Fülle von Gesellschaftsanalysen der DDR von unterschiedlichsten theoretischen Grundpositionen her vermag nachzuweisen, daß die Arbeiterklasse in der DDR entgegen ideologischen und legitimatorischen Ansprüchen nicht als die herrschende Klasse bezeichnet werden kann. Die tatsächliche Herrschaft und Macht ausübende Führungsgruppe in der DDR wird auch von marxistischen Kritikern mit unterschiedlichen Kennzeichnungen, jedoch in der Sache gleich beschrieben als „Gruppe der Bürokratie", „bürokratische Monopolbourgeoisie neuen Typs", „Staatsbourgeoisie", „privilegierte Schicht", „neue bürgerliche Klasse" Zwar hatte Kurt Hager 1971 erneut die Arbeiterklasse zur Hauptproduktivkraft erklärt jedoch wurde und wird der ideologische Gehalt dieses Anspruchs durch eine kaum verhüllte Kritik auf der Grundlage von soziologischen Forschungsergebnissen in der DDR deutlich
So begreifen sich etwa die Arbeiter in der DDR nicht als Eigentümer der Produktionsmittel und treten nicht als primär mobilisierende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung in Erscheinung. Die Werktätigen drängen weder auf Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, noch werden sie dadurch von seifen der SED, des Staates oder der Massenorganisationen ermutigt.
Zugrunde liegt dem allen die in der bisherigen Entwicklung sowjetisch-sozialistischer Staaten fragwürdig gewordene Konzeption Lenins von der beschränkten Einsichtsfähigkeit der Arbeiterklasse, die es nötig mache, daß eine Avantgarde stellvertretend ihre Ansprüche wahrnimmt und sich aus den historischen Gesetzmäßigkeiten legitimiert Zwar fordert Lenin von dieser Avantgarde, daß sie den Produzenten, d. i. die Arbeiterklasse, durch Erziehungsund Qualifikationsprozesse das Bewußtsein zur Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaft vermittelt er nimmt damit jedoch bewußt in Kauf, daß durch die unterstellte Trennung von Klassenbewußtsein und Arbeiterklasse die Avantgarde sich als diktatorisch regierende Gruppe nicht nur gegen die Bourgeoisie, sondern im Sinne einer Erziehungsdiktatur mit entsprechender Legitimation auch gegen die Arbeiterklasse richtet. Dies ist die Situation, in der sich SED und Arbeiterklasse in der DDR befinden. Gleichzeitig wird damit die Kapital-herrschaft auf die SED verlagert, die den Kapitaleinsatz als ausschließlich am Wohle der Arbeiter und Bauern und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR orientiert zu legitimieren versucht. c) Ideologie und Systemfunktionalität Durch diese Legitimation unterwirft sich die SED bestimmten ideologischen Zwängen, die ihre und die gesamten Funktionen des DDR-Systems beeinflussen, um Selbstverständnis und Stabilität des Systems in diesem Sinne garantieren zu können. Das Verhältnis von SED und Arbeiterklasse ist somit theoretisch nicht antagonistisch. Die SED räumt aber selbst ein, daß es Widersprüche in der Gesellschaft der DDR und auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und der Partei gibt. Die soziologische Forschung in der DDR hat ermittelt, daß es nicht nur nach wie vor soziale Ungleichheit in der DDR gibt, sondern daß sie sich auch ständig reproduziert. Ein Abbau von Ungleichheiten in manchen gesellschaftlichen Bereichen wird durch die Herausbildung neuer sozialer Unterschiede in anderen Bereichen wieder ausgeglichen, was auf die dynamische Strukturentwicklung der DDR als Industriegesellschaft zurückzuführen ist. Soziologisch einleuchtend erklärt dies Hansgünter Meyer: „Eine be-stimmte Differenzierung ist heute ein notwendiges Korrelat zum Entwicklungsniveau der materiellen Produktivkräfte." Wenn wir davon ausgehen, daß gesellschaftliche Differenzierung und Komplexität sich in einer entsprechenden Komplexität differenzierter Interessen niederschlägt, die ihre Ursachen nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen Bereich, d. i.dem Zugang zu Macht und Herrschaft, haben, so ist die DDR von der durch die SED beanspruchten Zielerreichung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft so weit entfernt wie eh und je ja, es bestehen Anzeichen dafür, daß sie sich in ihrem Kurs davon wegentwickelt.
Die entscheidende Frage hierbei ist, wieweit die SED ihre Legitimitätsgrundlage im Sinne ihrer Herrschaftsund Machtansprüche interpretieren kann, wie lange und unter welchen Bedingungen sie ihre „führende Rolle" einseitig beibehalten oder gar erweitern kann. Sie stößt zunehmend auf komplexe Interessen in der DDR-Bevölkerung, die zeigen, daß die praktizierte permanente Einschränkung von Menschen-und Grundrechten nicht dauerhaft unter Hinweis auf die marxistisch-leninistische Legitimitätsgrundlage konfliktfrei oder konfliktkontrollierend gehandhabt werden kann. Die SED ist bis heute den Beweis schuldig geblieben, daß sie in der Lage ist, auch von den Menschen in der DDR als wesentlich erkannte gesellschaftliche Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen, z. B. Freizügigkeit, Koalitionsfreiheit, Meinungsfreiheit u. a. Von der Legitimitätsgrundlage der DDR her wird zwar verständlich, daß sich diese Freiheiten auf andere Systembedingungen und -ziele beziehen als etwa in der Bundesrepublik. Es wird aber nicht verständlich und kann von den Legitimitätsgrundlagen auch auf Dauer nicht belegt werden, warum in der DDR diese im mühsamen Prozeß der Aufklärung, durch Revolutionen und Systemverän-derungen erkämpften Grundrechte derart rigoros durch eine bürokratische Parteidiktatur beschnitten werden, die zudem keinen Weg aufzuzeigen vermag, wie und unter welchen Bedingungen sich dieser Zustand in der DDR in absehbarer Zukunft ändern ließe.
Es ist die Angst einer Parteielite, die keinen Ausweg aus ihrer Situation im Sinne von mehr Offenheit des Systems weiß und die sich hinter einer Ideologie als herrschaftslegitimierendem Instrument, massiven innenpolitischen Sanktionen zum Zwecke der Herrschaftssicherung und dem außenpolitischen, außenwirtschaftlichen und militärischen Bündnis mit der Sowjetunion versteckt. In diesem Sinne geht es der SED — und primär ihren Führungskadern — um Sicherung und Erhaltung der eigenen Herrschaft und Macht.
Eine Politik zugunsten der Arbeiterklasse dient ihr zur Legitimation; sie geht in dieser . proletarischen'Politik allerdings nur so weit, wie es die Sicherung der bestehenden Herrschaftspositionen nach innen erlaubt. Ein Abbau von gesellschaftlichen Disparitäten wird zwar in diesem Rahmen versucht, er dient jedoch nicht — wie es die marxistischleninistische Ideologie fordert — als System-zwischenziel zur Erreichung einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft, sondern erneut in erster Linie der Legitimierung und Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsordnung und ihrer Funktionsfähigkeit. Hierbei rangiert die politisch-administrative und ökonomische Funktionsfähigkeit vor komplexen gesellschaftlichen Interessen und wichtigen humanen Grundrechten. d) Parteiherrschaft und System des Sozialismus Die autoritäre Parteiherrschaft der SED in der DDR geht so weit, daß sie es sich vorbehält, „die Aufmerksamkeit auf die große Bedeutung einer unvoreingenommenen, sachlichen Kritik und Selbstkritik in den Kollektiven, auf die verstärkte Auseinandersetzung mit Fehlverhalten und Mängeln wie der Vergeudung von Arbeitskraft, Material und Zeit, nachlässigem und verantwortungslosem Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum" zu lenken. Zugrunde liegt dem allen eine bewußt dialektisch konzipierte Legitimität, die es in der politischen und gesellschaftlichen Praxis — hier allerdings bisher ausschließlich undialektisch — zuläßt, daß die SED kraft ihrer Führerrolle als Avantgarde der Arbeiterklasse in der DDR sich als von der Gesellschaft im Außenverhältnis nicht kontrollierte, initiierende, überwachende und sanktionierende Zentralinstanz betätigt. Lediglich im Innenverhältnis der SED wäre ein dialektischer Prozeß von Herrschaftsausübung und Herrschaftskontrolle möglich, wenn nicht die praktizierten Prinzipien des demokratischen Zentralismus und der Parteilichkeit dazu führen würden, daß Initiativen auf mittlerer und unterer Parteiebene kanalisiert und gegebenenfalls blockiert werden, sobald sie den Vorstellungen der Parteiführungsgremien hinsichtlich der Leitung und Planung des Systems des Sozialismus in der DDR nicht entsprechen.
Sicherheit im Sinne der Erhaltung des bestehenden Systems des Sozialismus in der DDR und dessen Weiterentwicklung auf dieser Grundlage wird damit zum entscheidenden Legitimitätserfordernis der SED-Parteiherrschaft, die dies wiederum für das gesamte System verbindlich zu machen sucht. SED, Staat und Arbeiterklasse in der DDR bilden nach der Legitimitätsihterpretation der SED eine wesentlich stärkere Einheit, als dies unter den Bedingungen von Legitimitätserfordernissen wie Gewaltenteilung und pluralistischer Gesellschaft in der Bundesrepublik erforderlich ist. Die SED bestimmt ausschließlich, was als „Diversion", „Subversion" und „Abweichung" zu gelten hat und befindet sich damit im Einklang mit der KPdSU Was hierbei auffällt, ist der in erheblichem Umfang defensive Charakter, der für die Darstellung der ideologischen Positionen durch die SED kennzeichnend ist, seit die Regierung Brandt/Scheel die neue Ost-und Deutschlandpolitik einleitete
Gegenwärtig und auf absehbare Zeit sind weder KPdSU noch SED bereit oder in der Lage, Auswirkungen der Menschenrechtsdiskussion in ihren Systemen zuzulassen, da dadurch diese Systeme — die DDR weit mehr als die Sowjetunion — offensichtlich elementar in ihrem Bestand bedroht wären. Die DDR-Führung, die ohnehin seit dem Beginn der neuen Deutschlandpolitik verstärkt das Prinzip der* „Abgrenzung" vertritt, nimmt eher jede Art von Stagnation oder auch auf anderen Gebieten Rückschläge hin, als daß sie die durch sie interpretierte Souveränität und Sicherheit der DDR durch Abbau repressiver Herrschaftsmethoden gefährden ließe. Gerade in der Menschenrechtsdiskussion zeigen sich in naher Zukunft nicht überschreitbare Grenzen deutsch-deutscher Annäherung und Normalisierung.
Diese Fähigkeit der SED, in engem Einvernehmen mit den anderen kommunistischen Parteien des sowjetisch-osteuropäischen Bereichs durch Krisenmanagement manifest werdende Konflikte in der eigenen Gesellschaft zu bekämpfen, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die sowjetische Interpretation und Praxis des Marxismus-Leninismus in der DDR und mehreren sozialistischen Systemen Osteuropas in einer Anpassungskrise befindet. Es spricht jedoch nichts dafür, daß sich dadurch die Herrschaftsstruktur der SED in der DDR ändert. Wohl aber lassen sich Belege dafür benennen, daß auch der Flerrschaftsapparat der SED nicht auf Dauer unkritisiert versuchen kann, die eigene Politik durch eine Ideologie zu legitimieren, die behauptet, die DDR sei der Bundesrepublik um eine historische Epoche voraus, während gleichzeitig in der Bundesrepublik selbstverständlich gewährte Menschenrechte für die DDR nicht gelten und — da die SED keine entscheidende qualitative Verbesserung ihres Systems im Vergleich zur Bundesrepublik garantieren kann — noch für lange Zeit nicht gelten sollen. Krisenerscheinungen können nicht dauerhaft mit ideologisch begründeten Slogans verschleiert werden, wie: „Das Vertrauensverhältnis zwischen Partei und dem ganzen Volkes wird immer enger" und „Wir alle gemeinsam werden, fest verbunden mit unserem sozialistischen Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik, planmäßig vorwärtsgehen, und niemand kann uns aufhalten."
Herrschaftsstruktur und System des Sozialismus in der DDR sind mögliche, aber nicht ausschließliche Bedingungen und Auswirkungen der Legitimitätsgrundlagen und Funktionalität des Systems der DDR. Es zeigt sich vielmehr ein Legitimitätskonflikt, der zwar durchaus in der sozialistischen Ideologie dialektisch begründet ist, der jedoch von der SED undialektisch-einseitig entschieden wird.
In dem Konflikt: gleiche und gerechte Freiheit versus technisch-ökonomischer Fortschritt sieht die SED die Sicherheit von Partei, System und Sozialismus durch die Repression von Freiheit und durch Förderung des technisch-ökonomischen Fortschritts am ehesten garantiert.
Die Spitze der SED ist derzeit offensichtlich der einzige Ort in der DDR, wo systementscheidende gesellschaftliche, ökonomische, politische und ideologische Konflikte ausgetragen werden können. Ohne auf Spekulationen zurückzugreifen und in Ermangelung ausreichenden empirischen Materials ist dies theoretisch folgendermaßen zu begründen: Die Praktizierung des Sozialismus in der DDR hat ein in vieler Hinsicht geschlossenes System hervorgebracht, das, von Ausnahmen abgesehen, in sich selbst unfähig geworden ist, Konflikte aufzugreifen, zu regeln und damit das System — durchaus im Sinne seiner sozialistischen Legitimation — weiterzuentwik-kein. Die für eine komplexe Industriegesellschaft typischen Konflikte sind damit allerdings für die DDR — trotz ihrer im Vergleich zur Bundesrepublik andersartigen Gesellschafts-, Staats-und Wirtschaftsordnung — nicht verschwunden. Sie müssen also ausgetragen werden. In Ermangelung gesellschaftlicher Orte des Konfliktaustrags wird dies in die Partei und gemäß den Prinzipien des demokratischen Zentralismus und der Parteilichkeit in die Spitze der Partei verlagert.
Es ist auf die Rolle einer kommunistischen Partei und ihren Anspruch, Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein, zurückzuführen, daß Konflikte in der Parteiführung nach Möglichkeit nicht nach außen dringen, da die Parteilinie die optimale Ausführung historischer Gesetzmäßigkeit sein soll. Offene Konflikte in der Parteiführung bergen die Gefahr des Aufbrechens von Konfliktpotentialen in der Gesellschaft in sich, die wiederum dem Herrschaftsanspruch der Partei zuwiderlaufen.
Das Herrschaftsmodell des Sozialismus in der DDR bringt es mit sich, daß die Form des Konfliktaustrags in der Parteispitze analog für die anderen Führungsgremien gilt: für die Spitzen des Staates und der Massenorganisationen. Das Prinzip der Parteilichkeit und die radikale Ablehnung des Prinzips der Gewaltenteilung bewirken zum einen die führende Rolle der SED (und auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus hier der Partei-spitze) gegenüber Staat und Massenorganisationen, zum anderen die Entlastung des unmittelbaren Parteiapparates auch in bezug auf Legitimationsaufgaben gegenüber der Gesellschaft. Somit ist die SED zwar der unbestrittene Entscheidungs-, Führungs-und tatsächliche Herrschaftsapparat in der DDR, nach außen treten jedoch für verschiedene Kompetenzen die Massenorganisationen (z. B. FDGB, FDJ u. a.) und der Staat auf.
Entscheidender Dreh-und Angelpunkt dieser Herrschaftsstruktur ist das Zentralkomitee der SED, in dem sich in Personalunionen die Führungsspitzen von Partei, Staat und Massenorganisationen vereinen. Praktisch bringen es die Prinzipien des demokratischen Zentralismus und der Parteilichkeit mit sich, daß das Zentralkomitee erheblich unter dem Einfluß der Führungsspitze der SED steht. Der Führungsblock der SED ist allerdings keineswegs monolithisch, sondern einziger maßgeblicher Konfliktaustragungsort im gesamten DDR-System. Die Grundstruktur von Konflikten bewegt sich hier in dem Spannungsverhältnis von rational-planerischen Anforderungen eines hochindustrialisierten Systems, ideologisch legitimierten Herrschaftsansprüchen des bürokratischen Parteiapparats und gesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen. Die Ablösung von Ideologie und Herrschaft der SED durch pragmatisch-sachrationale Planung ist dabei nicht erkennbar 3. Legitimität und politische Realität in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Die Analyse der Legitimitätsgrundlagen in der Bundesrepublik und der DDR und ihr Vergleich mit der politischen Realität in beiden Systemen ergibt ein Bild, das sich tabellarisch anhand exemplarischer Beispiele folgendermaßen darstellen läßt: Legitimität und politische Realität von Bundesrepublik und DDR im politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bereich verdeutlichen, daß beide Systeme zum einen unter den Gesichtspunkten ihrer jeweiligen normativen Ansprüche, zum anderen ihrer politischen Praxis zu bestimmen sind. Als system-theoretischer Bezug kann für beide Systeme das Modell einer Industriegesellschaft mit ihren spezifischen Problemstellungen dienen.
Die Entwicklung der Bundesrepublik in den letzten Jahren läßt erkennen, daß eine Politik der Problemlösung von Fall zu Fall unter den Bedingungen von Energieverknappung, Grenzen des Sozialstaats, Wirtschaftskonzentration, Ausweitung bürokratischer Apparate, Arbeitslosigkeit, Bildungsproblem, Umweltschutz und entsprechend artikulierter Unzufriedenheit gesellschaftlicher Gruppen zunehmend neue Probleme aufwirft. Der Versuch, Systemlegitimität und Planung unter Einbeziehung Betroffener miteinander zu verbinden, ist nicht weit gediehen.
Für die DDR besteht das Dilemma zwischen der Systemzielperspektive der SED und der Wirklichkeit. So versucht die DDR-Führung zwar immer wieder, Fortschritte des Systems im Rahmen der angegebenen Systemziele nachzuweisen, gerät dabei jedoch in einen permanenten Konflikt zwischen politischen Herrschaftsansprüchen und ökonomischen Zwängen auf der einen Seite, gesellschaftlicher Entwicklung und Entfaltung kreativer sozialistischer Persönlichkeiten auf der anderen Seite. Der ideologische Rahmen bindet das legitimatorische System, das es der politischen Elite erlaubt, die Entwicklung als gesetzmäßig zu deklarieren, wobei die enormen Defizite in der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft als einer Gesellschaft, die zunehmend Mitbestimmung und Dezentralisierung zulassen sollte, verschwiegen werden.
Für beide Systeme läßt sich nachweisen, daß sie erheblich unter dem Druck ökonomischer und technologischer Zwänge stehen, die sich aus der weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenz und der Notwendigkeit einer extrem hohen Leistungsfähigkeit für Arbeitsplatzsicherung, hohes Einkommen und Befriedigung der Konsumbedürfnisse in der Gesellschaft ergeben. Zweifellos ist im ökonomischen Sektor eine Übereinstimmung zwischen beiden Systemen insofern zu sehen, als beide nach einer Maximierung von Effektivität, Rationalität und Produktivität verbunden mit den politisch anvisierten Systemzielen Stabilität, Sicherheit und Wachstum streben. Untersu-chungen der offiziellen Verlautbarungen in beiden Systemen zur Wirtschaftspolitik vermögen zu zeigen, daß tatsächlich ökonomische Fragen den höchsten Stellenwert in der praktischen Politik des Alltags haben; dies allerdings nie losgelöst von bestimmten Legitimitätsstandpunkten, die weniger mit den Grundrechten und mehr mit der Gesamtstabilisierung der beiden Systeme zu tun haben. So ist in der Bundesrepublik die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte weder bei der Bundesregierung noch bei der Mehrzahl der Arbeitnehmer ein Thema mit hoher Priorität. In der DDR murren die Werktätigen ebenfalls nicht, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Mitbestimmungsmöglichkeiten in Betrieben dahingehend praktiziert werden, daß sich Betriebsleitungen und staatliche Planungsbürokratie durch Mitbestimmung die Zusage zu Planungsvorhaben holen, die sie bereits vor Ingangsetzung der Mitbestimmungsprozedur so durchzuführen planten.
Was für beide Systeme primär wichtig erscheint, ist die Absicherung des erreichten Standes ökonomisch-technischer Leistungsfähigkeit und deren Weiterentwicklung bei gleichzeitiger Garantie, daß „die normativ festgeschriebene Verteilung der Chancen legitimer Bedürnisbefriedigung auf einem tatsächlichen Konsensus der Beteiligten ruht. Sobald darüber Dissens entsteht, kann in den Kategorien des jeweils geltenden Deutungssystems die Ungerechtigkeit’ der Repression verallgemeinerungsfähiger Interessen zu Bewußtsein kommen. Das Bewußtsein von Interessenkonflikten ist in der Regel ein hinreichendes Motiv, wertorientiertes Handeln durch ein interessengeleitetes Handeln zu ersetzen." In mehrfacher dialektischer Verschränkung weisen in dieser Hinsicht die Systeme Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik teils gleiche, teils unterschiedliche manifeste und latente Legitimationsprobleme und Legitimitätskonflikte auf, wobei hier deren Außenwirkung von dem einen System auf das jeweils andere interessiert.
In der Bundesrepublik ist die manifeste Wahrnehmung von Interessen in erheblich weiterem Umfange legitimiert als in der DDR, wo durch die SED-Interpretation und -Handhabung des Sozialismus gravierende Ein-Schränkungen von Interessen erfolgen. In der DDR werden Menschenrechte als abhängig von Klassenrechten definiert. Die Legitimität des DDR-Systems wird durch Versuche der Anwendung der Menschenrechtsbestimmungen in der KSZE-Schlußakte von Helsinki im Innenverhältnis und nach außen problematisiert. Zum Zwecke ihrer Bestandserhaltung reagieren SED und Staat in der DDR verschärft repressiv nach innen und außen: Biermann-Ausbürgerung, Loewe-Ausweisung, Kontrollen vor der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Verhaftungen und Hausarrest für sozialistische Systemkritiker (Havemann u. a.), Visazwang für Ausländer, Straßengebühren für Pkw-Fahrten von West-nach Ost-Berlin, im Einvernehmen mit der UdSSR Auslegung des Berlin-Abkommens der Vier Mächte als ausschließlich auf West-Berlin bezogen, Zurückweisung von Reisenden aus der Bundesrepublik, Ausweisungen und Ausreisegenehmigungen für Systemkritiker (ohne Rückreisegenehmigung), Schließung der Redaktionsvertretung des „Spiegel" in Ost-Berlin u. a.
Die Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik erlauben ein offeneres Gesellschaftssystem, das im Verhältnis zur DDR auf vergleichbare Repressionsmaßnahmen verzichten kan«. Offensichtlich besteht in der Bundesrepublik ein stärkerer Konsens über die Chancen legitimer Bedürfnisbefriedigung als in der DDR.
III. Koexistenz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
Abbildung 3
Exemplarische Vergleiche von Legitimität und politischer Realität in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik
Exemplarische Vergleiche von Legitimität und politischer Realität in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik
1. Das Prinzip der „friedlichen Koexistenz"
Die Bedeutung der Legitimitätsgrundlagen der Systeme Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik sowie deren je System-und herrschaftssichernde Funktion wird für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander zusätzlich erkennbar, wenn wir sie mit einer grundlegenden Aussage des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, konfrontieren, die dieser auf dem IX. Parteitag der SED im Mai 1976 machte: „Unsere Haltung ist klar und wird von prinzipiellen Positionen bestimmt: Weil wir uns von den Grundinteressen des Sozialismus und Kommunismus leiten lassen, ist unser konsequentes Eintreten für die Politik der friedlichen Koexistenz nicht taktischer Natur. Die Menschheit braucht den Frieden. Darum setzen wir uns mit aller Energie für die Festigung des Friedens ein ... Die Verwirklichung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz ist notwendig für alle Völker. Wir bekunden nachdrücklich, daß sie von Vorteil ist für die Entfaltung des Kampfes der antiimperialistischen Kräfte gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für die sozialen und nationalen Interessen der Völker in den Ländern des Kapitals und der Dritten Welt ... Für uns Kommunisten bedeutet friedliche Koexistenz Frieden zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Staaten und die Entwicklung einer gleichberechtigten und gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit. Friedliche Koexistenz bedeutet aber niemals Klassenfrieden zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Friedliche Koexistenz bedeutet weder die Aufrechterhaltung des sozialökonomischen Status quo noch eine ideologische Koexistenz." Diese wichtige Aussage über den Inhalt von friedlicher Koexistenz, wie er von allen sozialistischen Staaten Osteuropas seit der Ära Chruschtschow und unter Rückgriff auf Lenin vertreten wird, läßt sich auf der Grundlage des obigen vergleichenden Systemmodells wie folgt darstellen:
Da die SED unter friedlicher Koexistenz keine ideologische Koexistenz versteht, sondern im Gegenteil unter den Bedingungen vertraglicher Regelungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu verstärkter ideologischer Wachsamkeit und Kampfbereitschaft aufruft, ist keine normative Änderung durch Einwirkungen von Seiten der Bundesrepublik zu erwarten. Das gleiche gilt umgekehrt für die Bundesrepublik, die zwar seit Ende der sechziger Jahre in intellektuellen Teilen ihrer Gesellschaft eine Krise ihres Selbstverständnisses durchmacht, diese jedoch durch eine „Tendenzwende", verbunden mit der ohnehin vorhandenen Stabilität des bestehenden Systems, so in den Griff bekam, daß von dieser Seite Änderungen im Inneren des Systems ebenfalls nicht zu erwarten sind. Das bedeutet für den ideologisch-normativen Vergleich der beiden Systeme, daß ihr Verhältnis zwar von unterschiedlichen Prämissen ausgeht und entsprechend anders geartete politische Strategien und taktische Verhaltensweisen nach sich zieht, es bedeutet aber für beide Systeme gleichermaßen, daß sie sich auf je eigene Art normativ gegen das andere absichern und gleichzeitig versuchen, ihre eigenen Normen in den Bereich des anderen hineinzutragen. 2. Menschenrechte und proletarischer Internationalismus Die Dialektik im Verhältnis der beiden Systeme zueinander wird verdeutlicht, wenn die Bundesrepublik die Menschenrechte der UNO-Menschenrechtscharta und der KSZE-Schlußakte von Helsinki im Sinne ihrer Legitimierung von Freiheit auf das System der DDR anwendet. Die DDR weist diese Betrachtungsweise zurück und verweist auf die Priorität von Klassenrecht gegenüber Menschenrecht, wie es in der DDR mit dem Sieg der Arbeiterklasse verwirklicht sei. Gleichzeitig betont die DDR ihr Recht, sozialistische Gedanken in der Bundesrepublik zu propagieren und ihnen nach Möglichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Offizielle DDR-Auffassung: „So kann man zwischen imperialistischer Hetze und Wühltätigkeit und der Verbreitung der fortschrittlichen humanistischen Ideen des Sozialismus kein Gleichheitszeichen setzen."
Von dieser Grundlage her bestimmen sich auch die Interpretationen der DDR hinsichtlich der internationalen Verträge, die sie eingegangen ist. Verträge sind Teile der Reali-sierung objektiver Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses. Sie dienen dazu, revolutionäre Prozesse in kapitalistischen Ländern im Sinne der Steigerung der antagonistischen Widersprüche zwischen Kapitaleignern und Arbeiterklasse zu vertiefen, um diese letztlich durch die Machtergreifung der Arbeiterklasse zu überwinden. Da diese Prozesse nach der ideologischen Auffassung der DDR-Führung gesetzmäßig ablaufen, sind entsprechend tief-greifende Konflikte in kapitalistischen Ländern unvermeidbar. „Dieser Kampf wird weder von außen gesteuert, noch kann er von außen verboten werden."
Die SED interpretiert aus dieser dialektischen Betrachtungsweise ihre Doppelstrategie, die unter den Bedingungen der friedlichen Koexistenz die Weltoffenheit und Kooperationsbereitschaft des sozialistischen Staates der DDR betont, was unter Berücksichtigung der ideologischen Prämissen allerdings heißt, daß sich Offenheit und Kooperation lediglich auf gesetzmäßig verlaufende sozialistische Prozesse in anderen Systemen beziehen, während gegenüber andersartigen ideologischen Entwicklungen Abschließung und „Abgrenzung" des DDR-Systems erfolgen. Umgekehrt stellt nach dieser Legitimitätsauffassung jede offizielle Kritik an den Verhältnissen in der DDR von außen eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR dar, da es sich hierbei nach DDR-Auffassung um Versuche handelt, die Objektivität des historischen Prozesses zu negieren und rückständiges Denken herrschender Klassen von kapitalistischen Systemen auf die sozialistische Ordnung der DDR zu übertragen.
Die DDR integriert diese innere Legitimitätsgrundlage in ihr immer wiederkehrendes Bekenntnis zum proletarischen Internationalismus, gewissermaßen als äußere Legitimationsgrundlage. Diese Verbindung von innerer und äußerer Legitimität auf der Grundlage objektiver historischer Gesetzmäßigkeiten bewirkt hinsichtlich des Verhältnisses zur Bundesrepublik eine scharfe Absage an den Fortbestand der Einheit der deutschen Nation: „Der sozialistische Patriotismus und proletarische Internationalismus verlangen zugleich den Kampf gegen den bürgerlichen Nationalismus .. Dem gemeinsamen Feindbild nach außen entspricht die Identifizierung der Interessen von DDR und Sowjetunion im Rahmen der „sozialistischen Staatengemeinschäft". Das neue Programm der SED führt hierzu aus: „In ihrer gesamten außenpolitischen Tätigkeit läßt sich die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands von der historischen Wahrheit leiten, daß die Lebensinteressen der Deutschen Demokratischen Republik als sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern mit den Interessen der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft übereinstimmen. Sie geht davon aus, daß die Deutsche Demokratische Republik ihre historischen Aufgaben nur im Zusammenwirken mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Bruderländern lösen kann. Die all-
seitige Festigung der sozialistischen Staatengemeinschaft, die eng um die Sowjetunion zusammengeschlossen ist, nimmt in den außen-politischen Zielsetzungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands den Vorrang ein.
Sie sieht ihre wichtigste Aufgabe in der Entwicklung der allseitigen brüderlichen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, deren feste und dauerhafte Grundlage der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 7. Oktober 1975 bildet. Gleichzeitig erstrebt die Partei die Erweiterung und Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit mit allen anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft."
Diese äußere Legitimitätsleitlinie verdeutlicht die Funktionsweise des proletarischen Internationalismus im Rahmen der sozialistischen Staatengemeinschaft. Betont wird hierbei die unauflösliche Bindung der DDR an die UdSSR und die allgemeinverbindliche ideologische Perspektive der KPdSU. Der Begriff des „proletarischen Internationalismus" stellt eine Chiffre dar, die „einen qualitativ neuen Typus zwischenstaatlicher Beziehungen" zum Ausdruck bringen soll. Diese Beziehungen „beruhen auf den sozialökonomischen, politischen und ideologischen Gemeinsamkeiten und auf den Gesetzmäßigkeiten des Aufblühens und der Annäherung sozialistischer Nationen"
Prinzipiell bedeutet dies kein Novum in der Außenlegitimierung der DDR. Die Verfassung der DDR in der neuesten Fassung vom 7. 10. 1974 bestimmt in Art. 6: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet ... Die Deutsche Demokratische Republik ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft" (Art. 6 [2]). Inhaltlich bringt damit die Verfassung der DDR in diesen beiden Passagen genau zum Ausdruck, was der Begriff des „proletarischen Internationalismus" meint. Dieser Begriff ist von seiner taktischen Funktion her zu verstehen. Er soll dazu dienen, die seit Jahren auseinandertreibenden sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im Weltmaßstab unter der Führung der Sowjetunion zu einen, ohne durch zu starke Hervorhebung dieser sowjetischen Strategie kommunistischen Parteien in westlichen Systemen ihre politische Arbeit zu erschweren.
Nach dem Bruch mit der Volksrepublik China versuchte die Sowjetunion — und in ihrer Gefolgschaft die DDR —, wenigstens den bestimmenden Einfluß auf maßgebliche kommunistische Parteien in Westeuropa nicht zu verlieren. Im Rahmen des sogenannten Euro-kommunismus kamen allerdings Tendenzen zum Vorschein, die die Führungsrolle der Sowjetunion ablehnen und entsprechend dem Begriff des „proletarischen Internationalismus" als Kennzeichnung einer derartigen Zusammenarbeit sozialistischer und kommunistischer Parteien auf der KP-Konferenz in OstBerlin 1976 nicht zustimmten. Auf ihrem Treffen in Madrid Anfang März 1977 verabschiedeten die KP-Chefs von Spanien, Frankreich und Italien ein Kommunique, in dem sie vereinbarten, „für den Aufbau einer neuen Gesellschaft in der Pluralität der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, in der Achtung, Gewährleistung und Entwicklung aller kollektiven und persönlichen Freiheiten (zu) wirken: der Gedanken-und Redefreiheit, der Presse-und Versammlungsfreiheit, der Freiheit, Vereinigungen beizutreten, der Demonstrationsfreiheit, der Bewegungsfreiheit der Menschen in ihren eigenen Ländern und im Ausland, der gewerkschaftlichen Freiheit, der Unabhängigkeit der Gewerkschaften und des Streikrechts, der Unverletzbarkeit des Privatlebens, der Respektierung des allgemeinen Wahlrechts und der Möglichkeit des demokratischen Wechsels der Mehrheiten, der religiösen Freiheiten, der kulturellen Freiheit und der Freiheit der verschiedenen Strömungen und Meinungen auf philosophischer, kultureller und künstlerischer Ebene" 59
Diese neuen Rollen kommunistischer Parteien unter den Bedingungen westlicher Industrie-systeme bleiben als mögliche Alternativen zu der Legitimierung und Funktionsweise kommunistischer Parteien in Osteuropa zu beachten, was in der DDR-Bevölkerung offensichtlich geschieht Zumindest vermögen sie zu verdeutlichen, daß die Entwicklung des Sozialismus und Kommunismus nicht ausschließlich den Methoden der KPdSU folgen müssen, sondern daß sich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen unterschiedliche Wege herausbilden. Dies bedeutet weltweit keine Absage an die Verwirklichung von Sozialismus und Kommunismus durch diese Parteien, wohl aber die Absage an eine imperialistische Großmacht-rolle der Sowjetunion. Die angeblich universell und objektiv gültigen gesetzmäßigen Perspektiven und Programme der KPdSU und der SED werden damit fragwürdig. Je länger und erfolgreicher andere kommunistische Parteien ihre Auffassungen durchzusetzen vermögen (Beispiel: Volksrepublik China) und damit ihre Systeme in der Art ihres spezifischen Sozialismus und Kommunismus prägen, während die Sowjetunion, die DDR und die anderen sozialistischen Staaten Osteuropas ihren eigenen ideologischen Ansprüchen nicht genügen, um so deutlicher werden diese als verbindlich gültigen, angeblich universellen und objektiven Gesetzmäßigkeiten in der Realität widerlegt. Was dann noch bleibt, ist die Legitimierung der Führungen der KPdSU und der SED als politische Herrschaftseliten, die den Marxismus-Leninismus, den sozialistischen Internationalismus, die sozialistische Staatengemeinschaft und den proletarischen Internationalismus dazu benutzen, ihre Legitimitätsgrundlage weltweit abzusichern und offensiv zu vertreten. Für das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR würde dies heißen, daß es der SED zunächst defensiv um die Erhaltung und Sicherung ihres Bestandes in der DDR geht, darüber hinaus — zu gegebener Zeit — um die Übertragung ihrer Ordnung auf die Bundesrepublik, wobei weniger „die Überwindung der antagonistischen Klassengesellschaft in der Bundesrepublik“ entscheidende Motivation des politischen Handelns ist als vielmehr das Bemühen, den eigenen Herrschaftsbereich zu erweitern. 3. Legitimitätskonflikte und Koexistenz Die Bedeutung des Bezugs von Legitimität und Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten wird auf unterschiedliche Weise in.
ihren gegenseitigen Ansprüchen deutlich. Die offizielle Deutschlandpolitik der Bundesrepublik argumentiert mit dem Begriff der deutschen Nation und behält sich damit — vor allem vor dem Hintergrund des entsprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts — die Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsangehörigkeit und einer Staatsgrenze zwischen beiden deutschen Staaten vor. Die DDR-Führung wendet sich gegen diese Bestimmung der deutschen Nation, die in erster Linie von subjektiven, gefühlsmäßigen und psychologi-
schen Momenten ausgehe, während doch eine Nation von objektiv-materiellen, ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren bestimmt werde. Demgegenüber habe sich in der DDR eine sozialistische deutsche Nation herausgebildet, die fest und unwiderruflich in der Gemeinschaft sozialistischer Nationen verankert sei Die SED beruft sich dabei auf die völkerrechtsverbindliche Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, die in der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hervorgehoben wird Umgekehrt beansprucht die DDR das Recht, . fortschrittliche und sozialistische Kräfte'in nichtsozialistischen Ländern zu unterstützen und begründet dies mit den „objektiven Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Prozesse" auf der Grundlage des historischen Materialismus. Die Bundesrepublik Deutschland begegnet damit einer dialektisch bestimmten Doppelstrategie in der Außen-und Innenpolitik der DDR: Einerseits keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR und damit Beanspruchung der ungehinderten Funktionsweise der Legitimität der DDR. Andererseits Anspruch der SED auf Klassenkampf nach außen gegenüber kapitalistischen und imperialistischen Staaten, um dort die Verhältnisse zugunsten des Sozialismus zu verändern. Diese innenaußenpolitische Doppelstrategie kombiniert die DDR-Führung mit vertraglichen Regelungen in jenen Sektoren, in denen Abkommen im beiderseitigen Vorteil möglich sind. Dies betrifft insbesondere den politischen und ökonomischen Bereich, wie dies aus dem Grundlagenvertrag und einigen Folgeverträgen (z. B. Transitabkommen) hervorgeht.
Wichtig ist, daß in beiden Systemen die Legitimitätsgrundlagen zur Rechtfertigung staatlichen und ökonomischen Handelns herangezogen werden. Unter den gegebenen Bedingun-gen findet das Klassen-und Klassenkampf-konzept der SED in der Bundesrepublik keine nennenswerte gesellschaftliche Basis. Umgekehrt werden Normen der Bundesrepublik in der DDR nicht politisch wirksam, solange der Herrschaftsapparat von SED und Staat dies einerseits zu verhindern vermag, andererseits sich durch spezifische Sozialisationsbedingungen ein DDR-Selbstverständnis im Bewußtsein der DDR-Gesellschaft entwickelt, das bei aller kritischen Einstellung gegenüber der Herrschaft der SED doch nicht generell die Übertragung der Verhältnisse in der Bundesrepublik auf die DDR wünscht
Beide Systeme sind in der Realität als so stabil zu bezeichnen, daß Änderungen des einen Systems durch das andere auf absehbare Zeit als ausgeschlossen gelten können. Die unterschiedliche Legitimität und die reale Stabilität beider Systeme schließen allerdings vertragliche Regelungen von Angelegenheiten, an denen gemeinsame Interessen bestehen, nicht aus.
Vertragliche Vereinbarungen dienen im Gegenteil dazu, potentielle oder tatsächliche Probleme oder Krisenerscheinungen in beiden Systemen abzuschwächen oder zu verhindern.
Diese beziehen sich einerseits auf den Wirtschaftsverkehr, andererseits auf den Reiseverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Hierbei vertreten beide Seiten unterschiedliche Interessen. Die Bundesregierung wünscht die Verbesserung der Reisebedingungen zwischen der Bundesrepublik, Berlin (West und Ost) und der DDR. SED-Führung und DDR-Regierung sind an einer Verstärkung menschlicher Kontakte über ein notwendiges Mindestmaß an Zugeständnissen gegenüber der Bundesrepublik und der eigenen Bevölkerung hinaus nicht interessiert. Andererseits weiß die SED die Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik zu schätzen und stößt dabei auf wirtschaftliche Absatzinteressen in der Bundesrepublik. Vor allem im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen erscheinen Legitimitätskonflikte zwischen der Bundesrepublik und der DDR trotz der unterschiedlichen ökonomischen Systeme und teilweise unterschiedlichen Vorstellungen über ökonomische Beziehungen regelbar. Für den gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereich gilt dies nur mit Einschränkungen. Eine grundlegende Änderung der teilweise gemeinsamen wirtschaftlichen, jedoch unterschiedlichen gesellschaftlich/zwischen- menschlichen Interessenlage zwischen beiden deutschen Staaten ist nicht abzusehen.
Gefährdet werden kann die gegenwärtig praktizierte Politik der vertraglichen Regelungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Bereichen gemeinsamen Interesses und gemeinsamer Vorteile, wenn zu Interpretationsschwierigkeiten von Vertragstexten bereits während der Verhandlungen und stärker noch danach (was ursächlich mit zentralen Legitimitätskonflikten zwischen beiden Systemen zu tun hat) Grundeinstellungen eines der beiden Vertragspartner oder beider Vertragspartner hinzukommen sollten, wie sie etwa Kurt Hager, Mitglied des SED-Politbüros und einer der einflußreichsten Männer in der SED, zum Grundlagenvertrag artikulierte. Ausgehend von den unterschiedlichen Auffassungen zur Einheit der deutschen Nation in der Bundesrepublik und der DDR unterstellte er den Verfechtern der „, These vom Offenhalten der deutschen Frage'. . ., daß (sie) die Hoffnung nicht aufgegeben haben, eine Wiedervereinigung Deutschlands in ihrem Sinne herbeizuführen — d. h. nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland — oder anders gesagt, mit dem Ziel der Wiederherstellung des imperialistischen deutschen Staates in den Grenzen von 1937. Sie bedeutet ferner, daß der Grundlagenvertrag und andere Verträge, in denen die BRD die Souveränität und territoriale Integrität der DDR anerkannte, für die Verfechter dieser These nur Papier sind, das bei erster bester Gelegenheit zerrissen wird. Das ist reinster Revanchismus." Falls derartige Äußerungen und entsprechende Einstellungen politikbestimmend sein oder werden sollten, würden die tiefgreifenden ideologischen Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und der DDR die gesamten System-beziehungen überlagern. Ein Rückfall in Verhältnisse des Kalten Krieges mit friedensgefährdenden Konsquenzen wäre die mögliche Folge. Es gibt allerdings trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten zwischen der Bundesrepublik und der DDR keine Hinweise dahingehend, daß grundlegende Positionen der seit 1969 eingeleiteten Deutschlandpolitik verlassen werden. Indizien hierfür sind im Vergleich zu der Hager-Rede gewichtigere Äußerungen von SED-Chef Honecker und entsprechende Stellungnahmen der Bundesregierung.
Die Bundesregierung und die DDR haben seit 1969 eine Politik der Verträge und Abkommen eingeleitet, deren Auswirkungen für die Bundesrepublik und ihre Legitimitätsgrundlagen unproblematisch sind, für die DDR und das Legitimitätsverständnis der SED dagegen mehr und mehr dysfunktional wurden. Nicht die Legitimitätsgrundlagen haben sich deswegen in den beiden deutschen Systemen geändert, sondern die Art und Weise ihrer Handhabung. Die Bundesrepublik konnte auf der Basis des Grundlagenvertrags und der KSZE-Schlußakte ihr Legitimitätsprinzip menschlicher Freiheit gegenüber der DDR offensiv vertreten und fand in der Gesellschaft der DDR mehr Resonanz, als es der praktizierten Herrschaftsideologie der SED und ihrer Legitimation entsprach. Die Konsequenz ist eine Politik der DDR, die darauf ausgerichtet ist, defensiv die Legitimitätspositionen des Status quo ante wiederzugewinnen.
Daß auf der Grundlage gemeinsamer Interessen eine Politik der Außenwirkung der Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik gegenüber der DDR stärker vertreten werden kann als umgekehrt von seifen der DDR gegenüber der Bundesrepublik, haben die vergangenen Jahre gezeigt. Das Problem für die DDR und damit für das Verhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik besteht darin, daß eine über gewisse Minima hinausgehende Einwirkung von Legitimitätsprinzipien der Bundesrepublik für die DDR-Führung zu einem un-kalkulierbaren Risiko wird. Es bleibt deswegen iestzuhalten, daß sich die Grundlagen der Politik zwischen der Bundesrepublik und der DDR in den letzten Jahren nicht geändert haben. SED und Staatsapparat der DDR ziehen sich allerdings immer wieder auf restriktive politische Auslegungen vertraglicher Vereinbarungen —-insbesondere im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen — zurück. Ausgehend von dieser Situation ist das Verhältnis von Bundesrepublik und DDR auf der Grundlage unvermindert fortbestehender Legitimitätskonflikte nicht neu, sondern zeitgemäß zu bestimmen.
Signale von Seiten des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, liegen vor. So hat Honecker etwa gegenüber dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und Ost-Berlin, Günter Gaus, anläßlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1977 die Auffassung vertreten, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten sollten sich unbeeinflußt von den politischen Schwierigkeiten gestalten. Auch die politischen Beziehungen seien »verbesserungsmöglich" Gleichzeitig betont Honecker immer wieder, die Hauptsache sei, von der völkerrechtlich bereits verankerten Existenz zweier souveräner, voneinander unabhängiger deutscher Staaten auszugehen und die reale Wirklichkeit in Rechnung zu stellen, statt illusionären Wunschträumen nachzuhängen
Grenzen für die Fortsetzung einer Deutschlandpolitik der gemeinsamen Interessen werden für die Bundesrepublik allerdings dort sichtbar, wo ihre eigenen Legitimitätsgrundlagen im Verhältnis zur DDR beschnitten werden, beispielsweise durch massive Beeinträchtigungen des Reiseverkehrs, die willkürliche Zurückweisung von Reisenden sowie die Beeinträchtigung journalistischer Berichterstattung trotz Grundlagenvertrag, Folgeverträgen und KSZE-Schlußakte. Hierdurch wird das legitime Selbstverständnis der Bundesrepublik derart tangiert, da es sich keine Bundesregierung oder Partei erlauben kann, dies auf Dauer ausschließlich protestierend hinzunehmen.
Zu berücksichtigen bleiben ferner die internationalen Einbindungen beider Systeme: Europäische Gemeinschaft und atlantische Beziehungen verbunden mit der Verflechtung und Zusammenarbeit westlicher Demokratien für die Bundesrepublik; Anerkennung und Praktizierung des proletarischen Internationalismus mit engster Zuordnung zur Sowjetunion für die DDR. Es sind nicht zuletzt diese internationalen Einbindungen beider deutscher Systeme, die einer Änderung ihrer Legitimitätsgrundlagen Grenzen setzen und damit zur Aufrechterhaltung der bestehenden Legitimitätskonflikte beitragen. Alternativen zur internationalen Einordnung von Bundesrepublik und DDR sind nicht sichtbar. Die deutsche Frage ist nicht so offen, wie dies eine neuere These — ausgehend von der internationalen Politik, letztlich aber unter Hinweis auf innere Entwicklungsmöglichkeiten der beiden deutschen Staaten — vorgibt
Eine grundlegende Änderung der Verhältnisse des jeweils anderen Systems kann kein realistisches Nahziel der Deutschlandpolitik beider Staaten deutschen sein. Arrangements im politischen und ökonomischen Sektor werden ungeachtet gravierender Unvereinbarkeiten getroffen, um überhaupt ein geregeltes Nebeneinander zu sichern. Die Legitimitätsgrundlagen beider Systeme sind allgemeine Maßstäbe ihres politischen Handelns, die für einzelne Maßnahmen Rechtfertigungen liefern sollen. Gleichartige Problemstellungen vermögen im Rahmen der jeweiligen System-legitimität durchaus normative Prioritätenverschiebungen zu bewirken, die sich etwa in beiden Systemen stärker an gesellschaftlichen und menschlich-individuellen Bedürfnissen und Interessen orientieren als an technokratisch orientierter Stabilität. Durch die mit der von beiden Seiten anerkannten Koexistenz zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Rahmen entsprechender Ost-West-Beziehungen (z. B. durch effektive und kontrollierte Abrüstungsmaßnahmen) zu erreichende Friedenssicherung rücken wichtige gesellschaftspolitische Problemstellungen in den Vordergrund, deren Regelung unaufschiebbar notwendig erscheint. Die aktuellen Problemstellungen für die Bundesrepublik und die DDR sind vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Legitimität unterschiedlich: In der Bundesrepublik stehen die Probleme der Arbeitslosigkeit, des Baus von Kernkraftwerken und sozialstaatlicher Maßnahmen wie der Rentenversicherung und der Eindämmung der Kosten im Gesundheitswesen gegenwärtig im Vordergrund. Sie weisen auf Konflikte im Bereich gesellschaftlich-ökonomischer Planung und Steuerung hin. Für die DDR ergeben sich neben allgemein-wiederkehrenden Schwierigkeiten bei der effizienten Planung ökonomischer Prozesse durch die zentrale Planungsbürokratie Grundprobleme bei der Realisierung jener gesellschaftlichen und menschlichen Errungenschaften, die den Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus auszeichnen sollen. Die Bundesrepublik und die DDR stehen trotz aller Unterschiedlichkeiten gegenwärtiger und allgemein-grundlegender Problemstellungen insofern vor einem vergleichbaren Dilemma, als sie unter Bezug auf ihre Legitimitätsgrundlagen entscheiden müssen, wie sie jenes Maß an freiheitlicher Demokratie (Bundesrepublik) bzw. sozialistischer Demokratie (DDR) gewährleisten und dauerhaft sichern können, das ihrer jeweiligen Legitimität entspricht und gleichzeitig ihre Stabilität und Entwicklungsfähigkeit garantiert. Ein gemeinsames Interesse beider Staaten an der Sicherung friedlicher Beziehungen im Sinne der Politik der Entspannung bzw.des Prinzips der „friedlichen Koexistenz" kann dabei vorausgesetzt werden.
Wolfgang Behr, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; geb. 1940; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Anglistik, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Heidelberg, London und Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Sozialdemokratie und Konservatismus, Hannover 1969; Politikwissenschaftliche und politisch-didaktische Grundkategorien, in: Gesellschaft—Staat—Erziehung 17/1972; Strukturprobleme der politischen Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/73; BRD — DDR. Elemente eines politischen Systemvergleichs, Politik und Soziologie, Villingen 1973; Bundesrepublik Deutschland — Deutsche Demokratische Republik. Grundkonflikte und Konvergenz-erscheinungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36— 37/74; Vermittlungsprobleme der Politikwissenschaft, in: Materialien zur Politischen Bildung, Heft 3, 2/1974; Dimensionen in Politikwissenschaft und politischer Pädagogik, in: H. -J. Winkler (zusammen mit G. Wüthe und Gerd Stein, Hrsg.), Politikwissenschaft als Erziehungswissenschaft?, Köln und Opladen 1974; Staatliche Bildungspolitik und gesellschaftliche Mitbestimmung, in: Siegfried Jenkner/Gerd Stein (Hrsg.), Zur Legitimationsproblematik bildungspolitischer Entscheidungen, Saarbrücken 1976.
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