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Nationalismus, Marxismus und Tradition in Schwarzafrika | APuZ 16/1978 | bpb.de

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APuZ 16/1978 Artikel 1 Der Konflikt am Horn von Afrika Nationalismus, Marxismus und Tradition in Schwarzafrika

Nationalismus, Marxismus und Tradition in Schwarzafrika

Winfried Veit

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der zunehmenden militärischen und politischen Auseinandersetzungen in Afrika untersucht der Autor, welche ideologischen Strömungen die afrikanische Politik bestimmen. Der Nationalismus, dominierende Ideologie seit der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, hat aufgrund der unbefriedigenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seine Integrationsfähigkeit weitgehend eingebüßt und ist damit als Instrument der Herrschaftssicherung nur noch beschränkt wirksam. Die Suche nach einer erweiterten Legitimationsbasis ihrer politischen Herrschaft führt die bürokratische Elite der afrikanischen Länder zur Übernahme bestimmter marxistischer Kategorien. Diese werden, wie am Beispiel der Marx-Interpretation des senegalesischen Präsidenten Senghor deutlich wird, an die afrikanischen Verhältnisse angepaßt und zur Rechtfertigung politischer Herrschaft benutzt. Einen ähnlichen Zweck verfolgt die Einbeziehung „traditionalistischen" Gedankenguts, zum einen in Form einer Rückbesinnung auf „traditionelle Werte", zum anderen in Form einer politisch-sozialen Reformbewegung insbesondere in islamischen Ländern. Alle drei Geistesströmungen sind mehr oder weniger stark von außen beeinflußt: Die nationalistischen Regime hängen weitgehend von der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung des Westens ab, da sie kein eigenständiges Gesellschaftsmodell und eine darauf basierende Ideologie zu entwickeln vermochten. Die Akzeptierung des „wissenschaftlichen Sozialismus" ist in den meisten Fällen eine Folge der politisch-wirtschaftlich-militärischen Einflußnahme des Sowjetblocks und beruht weniger auf der Attraktivität des Marxismus als „Entwicklungsideologie". Die „traditionalistische" islamische Reformbewegung, ursprünglich weitgehend von den arabischen Olländern abhängig, sucht einen „dritten Weg" zwischen westlich beeinflußtem Nationalismus und sowjetisch inspiriertem Marxismus. Aufgrund des Scheiterns des westlichen Entwicklungmodells und des immer deutlicher werdenden realpolitischen Hegemoniestrebens des Sowjetblocks nimmt die Bedeutung „traditionalistischer" Bewegungen zu; das Ergebnis ist eine Rückbesinnung auf die eigene geistige Tradition, zunehmend gepaart mit dem Willen, die traditionellen Werte den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft anzupassen.

Die jüngsten politischen und militärischen Auseinandersetzungen in Afrika (Angola, Zaire, Somalia/Äthiopien usw.) werden von afrikanischen Politikern zunehmend als Vorboten eines umfassenden Konflikts zwischen Ost und West auf diesem Kontinent betrachtet; insbesondere ein nicht mehr auszuschließender Rassenkrieg um Südafrika könnte einen solchen Konflikt auslösen. Dieser Furcht gab der Präsident der Elfenbeinküste, Felix Houphouet-Boigny, in einem Interview Ausdruck: „Die Einmischung der Kommunisten in Afrika wird zu heftigen Reaktionen des Westens und damit zu Konfrontationen führen, deren Opfer unvermeidlich wir Afrikaner sein werden."

In der Tat hat mit der sich zuspitzenden Auseinandersetzung um die Restpositionen des weißen Rassismus im südlichen Afrika auch das Problem der ideologisch-politischen Einflußnahme im Afrika südlich der Sahara eine neue Dimension gewonnen. Lag Schwarzafrika bis zu Beginn der siebziger Jahre im Windschatten derjenigen Weltregionen, in denen sich seit dem Zweiten Weltkrieg die politischideologische und militärische Auseinandersetzung zwischen den bipolaren Machtblöcken vornehmlich vollzog (Ostasien und Mittlerer Osten), so veranlaßten die „Rohstoff-Krise“ der früheren siebziger Jahre, der gleichzeitige Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches und die in ihre letzte Phase eintretende Auseinandersetzung um das weiße südliche Afrika die beiden Weltmächte zur direkten Intervention.

Sicherlich hatte es auch im Verlauf der ersten Unabhängigkeitsdekade (1960— 1970) direkte Eingriffe in innerafrikanische Konflikte sowohl von Seiten der Vereinigten Staaten wie der Sowjetunion gegeben; illustriert wird dies durch das Verhalten beider Mächte etwa in den Kongo-Krisen von 1960/61 und 1964/65. Doch handelte es sich dabei um Aktivitäten, die im Rahmen der globalen — politischen, wirtschaftlichen, militärischen — Strategie beider Länder von sekundärer Bedeutung waren Schwarzafrika — insbesondere der frankophone Teil — blieb weitgehend eine Domäne der ehemaligen Kolonialmächte, deren wirtschaftliche Interessen in der Region — mit Ausnahme Südafrikas — viel bedeutender sind, als etwa die der Vereinigten Staaten.

Das Aufrücken Schwarzafrikas zu einem bevorzugten Schauplatz des west-östlichen Ringens um politischen Einfluß geht einher mit verschiedenen Formen der ideologischen Beeinflussung, die wechselseitig als „kommunistische Unterwanderung" bzw. „neokoloniale Infiltration" bezeichnet werden. Demgegenüber steht eine Strömung, die für sich beansprucht, „authentische" afrikanische Interessen zu vertreten und sich insbesondere auf die „afrikanische Tradition" beruft. Eine scharfe Trennung zwischen den Hauptströmungen des zeitgenössischen politischen Denkens in Afrika — Nationalismus, Marxismus, Traditionalismus — läßt sich allerdings nicht ziehen, da vielfach Anleihen bei der „Konkurrenz" -Ideologie gemacht werden bzw. eine Symbiose unterschiedlicher Geistesströmungen angestrebt wird. Im folgenden soll deshalb lediglich eine Skizze der ideologischen Auseinandersetzungen in Afrika und ihrer Auswirkungen auf die Politik gegeben werden.

I. Einleitung

II. Nationalismus: Ideologie der Befreiung und der Herrschaftssicherung

Der Nationalismus ist seit der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung gegen den Kolonialismus, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, die dominierende Ideologie in Afrika. Doch unterscheidet sich der Nationalismus der Kolonialzeit sowohl in seinen For-men wie in seiner Wirkung erheblich vom nachkolonialen Nationalismus der in ihrer Mehrzahl Anfang der sechziger Jahre unabhängig gewordenen Staaten Schwarzafrikas.

Der koloniale Nationalismus war in Schwarzafrika vor allem „nationalisme contraire"

(Senghor), Gegenbewegung gegen den expansiven Nationalismus der Kolonialmächte, und er nahm damit die Form einer Ideologie der politischen Befreiung von der Kolonialherrschaft an. Diese Ideologie bezog ihre Argumente, Instrumente und Organisationsformen aus eben den Ländern, die damit bekämpft wurden; ihr Wortführer war die schmale Schicht westlich gebildeter Intellektueller, die in den gleichen Kategorien dachten und nach ähnlichen Maximen handelten, wie ihre Gegner in der Kolonialverwaltung und Regierung des „Mutterlandes". Die afrikanischen Nationalisten knüpften im allgemeinen nicht an den traditionellen antikolonialen Widerstand der religiösen oder Stammesgemeinschaften an, sondern waren im Gegenteil bestrebt, ihre Forderungen nach zunächst politischer Gleichberechtigung, dann nach Unabhängigkeit, mit dem Bemühen um „Modernisierung" zu verbinden. „Modernisierung" bedeutete für die politischen Bewegungen des schwarzen Afrika die weitgehend unkritische Übernahme europäischer Normen, Technologien und Konsummuster, kurz: des westlichen Entwicklungsmodells schlechthin, dessen Etappen der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Walt W. Rostow für die Entwicklungsländer vorgezeichnet hat

Dennoch existierte im kolonialen Nationalismus eine gewisse Interessenidentität zwischen städtischen Intellektuellen und Verwaltungsfunktionären einerseits und den Bauern andererseits: Die nationalistischen Bewegungen forderten nicht nur politische Partizipation bzw. Unabhängigkeit sondern auch die Abschaffung von Zwangsarbeit und Kopfsteuer, mit deren Hilfe die Kolonialverwaltung die Bauern in die Geldwirtschaft kolonialen Typus („economie de traite") einzubeziehen versuchte.

Diese Forderungen gaben dem antikolonialen Widerstand einen konkreten, auch dem analphabetischen Landbewohner vermittelbaren Sinn

Allerdings ließ sich damit der Widerspruch zwischen dem modernen Nationalismus der Eliten im Rahmen künstlich geschaffener territorialer Einheiten und dem „bodenständigen"

Antikolonialismus der in der traditionellen Dorf-oder Stammesgemeinschaft verankerten Landbevölkerung nur notdürftig überbrücken.

Die Kolonialmächte zerstörten nicht nur in weiten Teilen Afrikas die auf einem komplizierten ethnisch-regionalen Gleichgewichtssystem beruhenden vorkolonialen Staatsgebilde, sie förderten auch bewußt Rivalitäten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppierungen, um den Einfluß der nationalistischen Bewegung zu schwächen.

Der „Tribalismus", d. h.der Vorrang des Stammes-vor dem Nationalbewußtsein, wurde zu einem bestimmenden Element der afrikanischen Politik, da die politische und berufliche Karriere vielfach von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe abhing Diese Entwicklung setzte sich auch nach der Unabhängigkeit fort und trug wesentlich zur Schwächung der „staatsnationalistischen" Ideologie bei.

Entscheidender aber war, daß der nachkoloniale Nationalismus jene Interessenidentität einbüßte, die bis zur Erringung der politischen Unabhängigkeit eine wenn auch nur lockere Verbindung zur Mehrheit der Bevölkerung geschaffen hatte. Da das Feindbild des Kolonialismus entfiel, mußte ein Ersatz geschaffen werden, der es ermöglichte, eine andauernde Interessenidentität zumindest vorzutäuschen. In den „progressiven" Staaten geschah dies, indem an die Stelle des Kolonialismus „Neokolonialismus" und „Imperialismus" traten, denen die Verantwortung für Unterentwicklung und gleichbleibend schlechte oder sich gar verschlechternde Lebensbedingungen zugeschrieben wurde. In den Staaten mit „liberaler" (wirtschaftlicher) Ausrichtung setzte man an Stelle der negativen Begründung des Nationalismus ein positives Leitmodell: In Fortsetzung des „Modernisierungs" -Strebens sollte statt des antikolonialen Widerstandes der Kampf um wirtschaftliche und soziale Entwicklung zum Kern eines gemäßigten Nationalismus werden.

Beide Methoden erwiesen sich mit zunehmender Dauer als relativ wirkungslos: Für den Bauern im „progressiven" Guinea war nach zehn Jahren Unabhängigkeit kaum einzusehen, warum Neokolonialismus und Imperialismus für seine Misere verantwortlich sein sollten, da für ihn die Repräsentanten der Staatsgewalt immer stärker die Züge der ehemaligen Kolonialverwaltung annahmen und ihm gegenüber die gleichen — negativen — Funktionen ausübten (Steuereintreibung, zwangsweise Vermarktung der Agrarprodukte). Ebensowenig vermochte sich der kleine Kaffeepflanzer im „konservativen" Kenia mit der Entwicklungsstrategie seiner Regierung zu identifizieren, da die Früchte dieser Strategie offensichtlich weniger ihm als einer kleinen Minderheit zugute kamen.

Der nachkoloniale Nationalismus in Afrika, auf einem brüchigen Fundament stehend, von tribalistischer Solidarität gefährdet und nur von der schmalen Elite getragen, war spätestens ab Mitte der sechziger Jahre weitgehend zur Rechtfertigungs-Ideologie der Herrschaft einer kleinen privilegierten Schicht abgesunken. Er verlor deshalb zusehends seine ohnehin begrenzte Anziehungskraft auf die breiten Massen und wurde damit als Instrument der Herrschaftsstabilisierung zunehmend wirkungslos Diese Entwicklung äußerte sich in einer Vielzahl militärischer Staatsstreiche, die die nationalistischen Führungen der ersten Stunde beseitigten, ohne jedoch in der Mehrzahl der Fälle zu mehr als einem bloßen Wechsel von ziviler zu militärischer Machtausübung zu führen. Die Herrschaftslegitimation der auf diese Weise an die Macht gekommenen Regierungen war aber noch fragwürdiger als die der Führer des antikolonialen Widerstandes; sie versuchten deshalb in der Folge, ihre ideologische Basis durch die „Anreicherung" des Nationalismus mit anderen Ideologien zu erweitern. Dabei spielte der Einfluß des Marxismus eine bedeutende Rolle.

III. Die Anwendung des Marxismus in Afrika

Die zunehmende Beeinflussung des zeitgenössischen politischen Denkens in Afrika durch marxistische Ideen könnte auf die Geschlossenheit des marxistischen Theoriegebäudes zurückgeführt werden; der dialektische Materialismus als philosophische Basis und der historische Materialismus als historische Methode verleihen dem Marxismus als „wissenschaftliche Weltanschauung" eine stärkere intellektuelle Aussagekraft als die diffusen Strömungen des afrikanischen Nationalismus, überdies bietet der Marxismus in seinen unterschiedlichen Prägungen aus der Sicht der Dritten Welt erfolgversprechende Modelle und Zukunftsvorstellungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.

Paradoxerweise übernehmen jedoch nur wenige politische Bewegungen des schwarzen Afrika die marxistische Ideologie insgesamt als Grundlage ihres politischen Denkens und Handelns.

Vielmehr werden — im Widerspruch zur marxistischen Doktrin — zumeist nur einzelne Bestandteile des Marxismus übernommen, andere jedoch zurückgewiesen. Dies ist weniger darauf zurückzuführen, daß sich das „afrikanische Temperament" einer Disziplinierung durch den Marxismus widersetzt, wie der Journalist Peter Scholl-Latour meint sondern vielmehr auf ein weit verbreitetes und durch die politische Entwicklung bestätigtes Mißtrauen gegenüber jeglicher Form ausländischer Einmischung in innerafrikanische Angelegenheiten, auch in Form eines „IdeologieExports". Dieses Mißtrauen kommt in drei immer wiederkehrenden zentralen Vorwürfen afrikanischer Politiker und Theoretiker gegenüber dem Marxismus zum Ausdruck: Daß in der marxistischen Theorie die „Basis", d. h. die wirtschaftlichen Faktoren, einseitig den „überbau", d. h. die politische, kulturelle und juristische Struktur eines Staates, determinire; daß der Marxismus ein mechanistisches, für alle Gesellschaften gültiges Entwicklungsmodell postuliere, und daß ein Großteil der Aussagen des Marxismus nur für eine bestimmte Epoche der europäischen Geschichte gültig sei

Die Marx-Interpretation bei Senghor

Exemplarisch für diese Argumentation steht der senegalesische Staatspräsident und politische Philosoph Leopold Sedar Senghor. In seiner programmatischen Schrift „Pour une relecture africaine de Marx et d’ Engels" begründet Senghor die spezifische Form der Anwendung des Marxismus in Afrika. Unter Bezug auf einen Brief von Friedrich Engels, in dem dieser den Vorrang der Ökonomie in der historischen Entwicklung begründet, schreibt Senghor: „Was uns Afrikaner am meisten interessiert, ist weniger der philosophische Streit als die tatsächliche Debatte. Und diese ist in der Tat, zu wissen, ob in der Realität der , überbau', d. h. die kulturellen Faktoren, nicht ebenso wichtig sind — ich sage nicht wichtiger — als die wirtschaftlichen Faktoren" (S. 13).

„Kulturelle Faktoren" — das sind für Senghor vor allem die besondere historische Entwicklung eines Landes, seine rassischen, ethnischen und nationalen Eigenarten, die ein Produkt der Wechselwirkung von Vererbung und Umwelt sind. Die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften kann deshalb nur unter Rückgriff auf die „afrikanischen Tugenden" erfolgen, und auch der Sozialismus muß an die afrikanische Realität angepaßt werden (S. 14). Diese Realität äußert sich vor allem im unterschiedlichen Entwicklungsstand Afrikas gegenüber dem Europa des 19. Jahrhunderts und in den verschiedenen Gesellschaftsstrukturen. * In den Schriften der marxistischen Klassiker findet der „demokratische Sozialist" Senghor eine durchaus unterschiedliche Einschätzung der Rolle dieser „nationalen Realitäten". So habe Marx zugestanden, daß weniger entwikkelte Länder von der primitiven Dorfgemeinde als gesellschaftlicher Basis ausgehend zum Sozialismus gelangen könnten, ohne notwendigerweise das Stadium des entwickelten Kapitalismus und des Klassenkampfes durchlaufen zu müssen (S. 16— 17). Demgegenüber habe sich Engels in dieser Frage „einmal mehr" doktrinärer gezeigt als Marx, indem er die These einer einheitlichen Entwicklung aller Gesellschaften nach westeuropäischem Vorbild vertreten habe (S. 17). Dies führt Senghor zu dem — unter afrikanischen Intellektuellen weit verbreiteten — Vorwurf des „Eurozentrismus", d. h. zu dem Vorwurf, daß die Ideen europäischer Philosophen und Theoretiker — seien sie marxistisch oder „bürgerlich" — vom Zustand ihrer eigenen Gesellschaft geprägt und nur für diese vollständig anwendbar sind.

Die Werke von Marx und Engels, wie die anderer europäischer Denker, sind — so Senghor Produkte von Raum und Zeit, d. h. er ner bestimmten Geographie, Geschichte, Volkszugehörigkeit und Kultur. In anderen Worten: Sie enthalten neben allgemeinen — für alle Menschen aller Zeiten gültigen — Aussagen auch spezifische Aussagen, die der jeweiligen Nation sowie dem betreffenden Kontinent und Jahrhundert eigen sind"

(S. 41).

Folgerichtig wendet sich Senghor gegen den „Pillen-Marxismus" in Gestalt von in Europa vorfabrizierten Formeln zum Export in die Entwicklungsländer, und er begründet damit gleichzeitig die Zurückweisung zentraler Aussagen der marxistischen Theorie. An erster Stelle steht dabei die Ablehnung der marxistischen Klassentheorie, da in Afrika die Bauernschaft das „wahre Proletariat" darstelle und der Hauptwiderspruch nicht zwischen unterschiedlichen Klassen innerhalb einer Nation sondern zwischen reichen und „proletarischen" Ländern im Weltmaßstab zu suchen sei (S. 48/49). Daraus resultiert auch eine unterschiedliche Einschätzung der Rolle des Staates; in Afrika habe dieser nicht die Funktion, die Herrschaft einer Klasse über eine (oder mehrere) andere zu sichern sondern — da es sich um „proletarische" Nationen handelt — alle gesellschaftlichen Gruppen zum Zwecke der Nationsbildung sowie der Erringung von politischer, wirtschaftlicher und kultureller Unabhängigkeit zu organisieren und zusammenzuschließen (S. 50). Letztlich sei der Atheismus abzulehnen, da der Schwarzafrikaner (Negro-Africain) traditionell „religiös" eingestellt sei (S. 48).

„Afrikanisierung“ des Marxismus Marxistische Kategorien gehören zum selbstverständlichen Rüstzeug des politischen Denkers Senghor, auch wenn sie nur in abgewandelter Form auf die afrikanischen Verhältnisse angewendet werden. Diese Form der Akzeptierung des Marxismus findet sich in unterschiedlichen Variationen bei einer Vielzahl politischer Führer Afrikas, wenngleich in den meisten Fällen mit weitaus geringerer intellektueller Brillanz begründet. In der politischen Praxis bedeutete dies eine „Afrikanisierung" des Marxismus, die in dem Begriff „afrikanischer Sozialismus" zum Ausdruck kommt; die Inkorporierung gewisser marxistischer Kategorien verfolgte vor allem den Zweck, dem nachkolonialen Nationalismus eine neue und erweiterte Legitimationsbasis zu verschaffen

Diese Entwicklung zeigt die politische Bedeutung der theoretischen Debatte über den Marxismus in Afrika, die sich sowohl in den afrikanischen Staaten selbst wie in ihren Außenbeziehungen auswirkt. Die Ablehnung grundlegender Aussagen des Marxismus, vor allem des Klassenkampf-Postulats, erlaubt z. B. — bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines sozialistischen Anspruchs — die Rechtfertigung der Einparteienherrschaft, da Parteien Ausdruck unterschiedlicher Klasseninteressen sind, soziale Klassen aber in der Sicht des „afrikanischen Sozialismus" nicht existieren — ein Argument, das unter Verweis auf die spezifische Form der „traditionellen afrikanischen Demokratie" untermauert wird. Selbst sich zum Marxismus bekennende Politiker und Theoretiker wie der ehemalige Ministerpräsident von Kongo-Brazzaville, Pascal Lissouba, halten die marxistische Klassenanalyse für nur bedingt auf „vorkoloniale, feudale und koloniale Gesellschaften" anwendbar

Die Übernahme von ausgewählten Teilen der marxistischen Ideologie durch die politische Führung bewirkt andererseits, die aufkeimende Unzufriedenheit vor allem unter den Intellektuellen, aber auch Gewerkschaftern, zu dämpfen und der unkontrollierten Ausbreitung marxistischen Gedankenguts vorzubeugen. Die Betonung des Gegensatzes zwischen reichen und „proletarischen" Nationen und der damit einhergehende verbale „Antiimperialismus" vermitteln dieser Unzufriedenheit überdies ein Ventil und haben die Funktion, von inneren Schwierigkeiten abzulenken bzw. für diese die Industrieländer („Neokolonialismus", „Imperialismus" usw.) verantwortlich zu machen.

Der „afrikanische Sozialismus" sieht sich selbst in der Tradition des kolonialzeitlichen Nationalismus; da dessen Kampf sich gegen den Kolonialismus als Bestandteil des Weltkapitalismus richtete, nahm er damit zugleich auch „sozialistische Züge" an Der „afrikanische Sozialismus" ist in seiner Außenfunktion deshalb primär als „linke" Form des sog.

„Third Worldism" zu betrachten, d. h. als Ausdruck einer Bewegung, die unbeschadet der unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systeme in den Entwicklungsländern diese als Einheit mit gemeinsamen grundlegenden Interessen begreift und diese in der internationalen Diskussion um eine neue Weltwirtschaftsordnung gegenüber den Industrieländern durchzusetzen versucht. Die-se Außenfunktion wird auch an der gleichermaßen antikommunistischen Haltung des „afrikanischen Sozialismus" sichtbar; dem Marxismus wird „ideologischer Neokolonialismus" vorgeworfen, seine Anwendung geschieht unter Entkleidung seines „europäischen Szientismus und Technizismus" der — so der senegalesische Journalist Jean-Pierre Ndiaye — die Zugehörigkeit des Menschen zu einer bestimmten „ethnisch-kulturellen Struktur", d. h.seinem „Daseinszentrum", leugnet Die Betonung dieser Zugehörigkeit verweist auf den Einfluß der Tradition auf das politische Denken im unabhängigen Schwarzafrika.

IV. Tradition als Ideologie

Tradition in Afrika meint überwiegend religiöse Tradition, die verstanden werden soll „als die Einheit von theologischen Prämissen, der durch sie legitimierten Funktionen und der Organisationen, die diese Funktionen wahrnehmen" Auch wenn Religion im engeren Sinne nur einen Aspekt der gesamten sozio-kulturellen Struktur darstellt, so nimmt sie doch einen bedeutenden Platz in der Entwicklung gesellschaftlicher und politischer Organisationsformen in Afrika ein: Die animistischen „tribalen Kulte" sind nicht von der Struktur und Entwicklung des Stammessystems, die polytheistischen Religionen nicht von der Entstehung der . absoluten Monarchie"in den afrikanischen Großreichen zu trennen, und der Islam ist nicht nur religiöse Doktrin sondern zugleich selbständige Kulturform und gesellschaftliche Institution, die moralische und politische Werte vermittelt

Der Einfluß der Tradition auf das ideologische Denken im nachkolonialen Afrika vollzieht sich auf zwei Wegen: Einmal in einer unreflektierten Rückbesinnung auf „traditionelle Werte", deren Sinn und Funktion nicht in Frage gestellt und die nicht einmal in Bezug zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen gesetzt werden. Zum anderen in Gestalt einer „Emeuerungsbewegung", die unter Berufung auf „progressive" Elemente in der afrikanischen Tradition eine Reform der bestehenden nachkolonialen Wirtschafts-und Gesellschaftsstruktur anstrebt.

„Authentizitäts“ -Politik

Zur ersten Kategorie gehören Bestrebungen, die durch einen Rückgriff auf „traditionelle Werte" und „Authentizität", durch ein „Zurück zu den Ursprüngen" (Retour aux sources) der abnehmenden Wirksamkeit des nachkolonialen Nationalismus als Ideologie der politischen Integration und der Herrschaftsstabilisierung entgegenwirken wollen. Die „Authentizitäts" -Politik, wie sie von einigen afrikanischen Regierungen betrieben wird (z. B. Zaire, Rwanda, früher auch Tschad), beschränkt sich weitgehend auf Oberflächen-Phänomene: Verbot christlicher (d. h. europäischer) Vornamen, Umbenennung von Städten, Provinzen, Seen usw. oder gar — wie im Tschad unter dem gestürzten Präsidenten Tombalbaye geschehen — Verpflichtung der Verwaltungsbeamten, die traditionellen Initiationsriten einzuhalten.

Solche Maßnahmen mögen bis zu einem gewissen Grad eine positive psychologische Wirkung besitzen, wenn sie im Kontext einer alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Reformpolitik erfolgen, deren Ziel ein eigenständiges, eben „authentisches" ökonomisch-politisches und sozio-kulturelles System ist Als isolierte Maßnahmen ändern sie nichts an den bestehenden Verhältnissen und verfehlen damit auch das Ziel, die Kommunikationslücke zwischen der herrschenden bürokratischen Elite und den breiten Massen zu verringern; in einem solchen Fall sind sie nach den Worten des senegalesischen Soziologen Babakar Sine nichts weiter als eine „irrationale Mystifizierung" zur „Hypnotisierung der Massen" Diese Mystifizierung hat konkrete politische Auswirkungen: Der zairische Staatschef Mobutu begründete z. B. das Einparteiensystem in seinem Land damit, daß es „in keinem afrikanischen Dorf zwei Dorfchefs (gibt), von denen der eine die Mehrheit repräsentiert, während der andere die Minderheit, die Opposition vertritt"

„Ngritude“ und islamische Reformbewegung

Für den „fortschrittlichen" afrikanischen Traditionalismus stehen exemplarisch zwei Strömungen, von denen die eine vom westlichen Denken beeinflußt ist, während die andere eng mit der islamisch-arabischen Kultur verbunden ist. In der Negritude-Konzeption, deren Ursprünge auf eine Gruppe westindischer und afrikanischer Intellektueller im Paris der dreißiger Jahre zurückgehen, wird eine Symbiose zwischen traditionellen Werten der „negro-afrikanischen Zivilisation" und „modernen", den Erfordernissen sozio-ökonomischer Entwicklung entsprechenden Ideologien angestrebt; einbezogen werden insbesondere Elemente des marxistischen und des modernen christlich-humanistischen. Denkens, wie es etwa in den Schriften von Teilhard de Chardin zum Ausdruck kommt. Die Negritude, deren bekanntester Vertreter der senegalesische Staatspräsident Senghor ist, versucht, Bestandteile der vorkolonialen Kultur in das gegenwärtig existierende System zu integrieren und weiterzuentwickeln; ihre Wurzel ist das Gefühl von der Besonderheit der schwarzafrikanischen Kultur. Sie ist „kultureller Nationalismus" und damit — wie der koloniale Nationalismus — „Nationalismus der Befreiung", da in ihrer Sicht nach der politischen Unabhängigkeit die Erringung der kulturellen Unabhängigkeit die wichtigste Aufgabe ist. In der Negritude-Konzeption wird Ideologie lediglich als Instrument zur Schaffung wirkungsvollerer Regierungsformen angesehen; ideologische Bindungen sind aber immer der Zugehörigkeit des Menschen zu einer Nation bzw. zu einem Kulturkreis (im Falle der Negritude: „Negro-afrikanische Zivilisation") untergeordnet

Die Bedeutung, die in der Negritude-Konzeption den Begriffen „Kultur" und „Zivilisation" beigemessen wird, macht sie aber in den Augen ihrer Kritiker selbst „ideologieverdächtig"; so ist z. B. für B. Sine die Negritude „ideologischer Ausdruck der historischen und sozialen Position eines bestimmten Klein-bürgertums" und „Flucht in das Irrationale und in die metaphysische Spekulation" Manche Kritiker sehen in der spezifischen „negro-afrikanischen Identität" eine gefährliche Mystifizierung, die negative Auswirkungen auf das Streben nach der Einheit Afrikas haben kann, da in der Negritude-Konzeption gemeinsame historische Wurzeln und geistige Bindungen eher mit den Schwarzen Nordamerikas und der Karibik (oder gar mit den drawidischen Völkern Südindiens) gesucht werden, als mit der „arabo-berberischen Zivilisation“ Nordafrikas. Die Folge sind politische Spannungen, die etwa auf dem zweiten Festival der negro-afrikanischen Kunst im Frühjahr 1977 in Lagos zum Ausdruck kamen, als es um die Teilnahme der arabischen Staaten am Colloquium „Schwarze Zivilisation und Erziehung" ging, das nach Meinung der Negritude-Verfechter den Schwarzafrikanern (auch aus der „Diaspora") vorbehalten sein sollte.

Eine andere „traditionalistische" Strömung in Afrika steht dagegen in enger Verbindung mit ---------------21) der islamisch-arabischen Welt. Es geht dabei um das Bemühen, den reformerischen Salafiyya-Islam zum Ausgangspunkt einer nationalen und sozialen Erneuerungsbewegung zu machen, die an die antikoloniale Tradition des Islam anknüpft. Diese Bewegung läßt sich als Fortsetzung der historischen Rolle des Salafiyya-Islam begreifen, der „die historischen Lehrmeinungen immer dann als unverbindlich erklärt, wenn sie dem Interesse an politischen, rechtlichen und ökonomischen Formen entgegenstehen, die den neuen ökonomischen und sozialen Bedingungen besser angepaßt sind“

Diese Reformfähigkeit des Islam ist Voraussetzung für die angestrebte Rolle als dritte ideologische Kraft neben westlich beeinflußtem Nationalismus und sowjetisch inspiriertem Marxismus. Diese Reformfähigkeit wie auch die antikoloniale Tradition sind aber nur ein Aspekt der islamischen Geschichte; der andere ist die Rolle des Islam bei der Bewahrung feudaler und der Schaffung agrarkapitalistischer Verhältnisse, seine ökonomische Funktion bei der Durchsetzung der kolonialen „economie de traite" und schließlich seine politische Rolle als Verbündeter des Kolonialismus, wie dies vor allem — nach anfänglichem Widerstand — für den in Westafrika verbreiteten mystischen Islam der Brüderschaften und Sekten typisch ist.

Die retardierenden Elemente im Islam, vor allem sein Fatalismus und Mystizismus, lassen sich jedoch nach Ansicht der Reformer überwinden, wenn man nur zu den Quellen der Offenbarung, zu den reinen Lehren des Propheten zurückkehrt. Dann stellt sich der Islam — wie beim ehemaligen senegalesischen Ministerpräsidenten Mamadou Dia — als universalistische und humanistische Religion dar, die „aufgrund ihrer sozialen Doktrin, ihrer Institutionen und ihrer Praxis den natürlichen Rahmen für eine sozialistische Entwicklungspolitik bietet"

Da die Entstehung und Entwicklung des Islam aber untrennbar mit der arabischen Kultur und Zivilisation verbunden ist und das Arabische nach wie vor als islamische „Amtssprache" dient, stellt sich das Problem seiner Anpassung an die schwarzafrikanischen Gesellschaften, die von ganz anderen historischen, geographischen, klimatischen und sozio-öko-nomischen Verhältnissen, geprägt sind. Ein Phänomen dieser Problematik ist die vielfach nur oberflächliche Annahme des Islam in Schwarzafrika, die im Fehlen einer islamischen „Massenkultur" (Dia) und in der Dominanz tribaler Rechtsregelungen gegenüber dem islamischen Recht zum Ausdruck kommt.

Andererseits stehen aber der Expansion des Islam im schwarzen Afrika nur geringfügige Widerstände entgegen: die animistischen Religionen verfügen über kein dem Islam vergleichbares präzises und einheitliches Dogma, und sie sind überdies mit dem Stigma des Retardierenden, überkommenen behaftet, vor allem bei der wachsenden Schicht der Gebildeten. Dem Christentum gegenüber ist der Islam insofern im Vorteil, als er an seine antikoloniale Tradition anknüpfen kann, während die christlichen Religionen weithin mit dem Kolonialismus und dem europäischen Hegemonie-streben in Afrika identifiziert werden Dennoch liegt auch im nicht-islamischen Afrika die Anknüpfung an die Tradition religiös-politischer Erneuerungsbewegungen des afrikanischen Synkretismus im Bereich des Möglichen, wenn auch weniger in direkter Fortsetzung dieser national-christlichen Tradition als vielmehr in der Ausschöpfung der damals entstandenen (und bis heute nachwirkenden) „sozialreformerischen" Potentiale — ähnlich wie dies auch beim Islam der Fall ist

Der Islam findet aus den genannten Gründen relativ leicht Zutritt zu den schwarzafrikanischen Gesellschaften, wobei in diesem Prozeß weder der Islam seiner kulturhistorischen (arabischen) Wurzeln beraubt wird noch die afrikanischen Gesellschaften aufgrund der Annahme des Islam ihre Eigendynamik verlieren. Mamadou Dia, einer der einflußreichsten schwarzafrikanischen Theoretiker der islamischen Erneuerungsbewegung, sieht im nachkolonialen Islam die Möglichkeit einer Symbiose aus islamischer (spiritualistischer) und schwarzafrikanischer (kommunokratischer) Tradition angelegt. Auf die politische Ebene übertragen, mündet diese Symbiose ein in einen islamischen afrikanischen Sozialismus, der die Möglichkeit bietet, sich vom Kapitalismus zu befreien ohne sich mit dem Kommunismus zu liieren: „Es ist der einzige Weg, um eine sozialistische und gegenüber allen Machtblöcken unabhängige Industriegesellschaft aufzubauen."

Diese Industriegesellschaft würde vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt der Industrieländer profitieren, aber deren Wachstumsfetischismus und technischen Rationalismus ablehnen; Wissenschaft und Technik sollen in den Dienst des Menschen gestellt werden, und nicht umgekehrt. Die Attraktivität dieses Modells in Afrika wird angesichts der Auswirkungen des ungehinderten Wachstumsdenkens in den Industrieländern und der politischen Debatte darüber zunehmen, auch wenn in den afrikanischen Staaten gegenwärtig noch immer die ausschließlich wachstumsorientierten technokratischen Industrialisierungsmodelle dominieren.

V. Ideologische Penetration und politisches Hegemoniestreben

Wie wirken sich diese Geistesströmungen — Nationalismus, Marxismus, Traditionalismus — auf die reale Politik, auf Programmatik und Praxis der afrikanischen politischen Bewegungen und Parteien aus? Welche Rolle spielen dabei ideologische Verbindungen mit außer-afrikanischen politischen Organisationen und Mächten? Das eingangs erwähnte neuerwachte Interesse der Großmächte an Afrika bedeutet ja nicht, daß der afrikanische Kontinent bisher quasi „unberührt" von auswärtigen Interessen War; die ideologischen Auseinandersetzungen in Afrika und die politischen Konflikte in deren Gefolge sind vielmehr in engem Zusammenhang mit der während der Kolonialzeit massiv einsetzenden Beeinflussung und Durchdringung des afrikanischen politischen Denkens durch von außen kommende Ideologien zu sehen.

Das westliche Konsummodell

Der Westen hat dabei kein homogenes „ldeologiemodell" anzubieten, und Grundsätze der westlichen politischen Theorie (Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung usw.) werden von den meisten afrikanischen Politikern als auf die afrikanischen Verhältnisse nicht übertragbar abgelehnt. Der geistige Einfluß des Westens — neben der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Dominanz — vollzieht sich viel eher über eine Nachahmung des westlichen Kultur-und Konsummodells durch die schmale bürokratische Elite der afrikanischen Staaten und — in geringerem Maße — durch die urbanen Schichten. Die Folge ist eine Entfremdung dieser Schichten von der Mehrheit der Bevölkerung, den Bauern, die die Kosten für das importierte Konsummodell zu tragen haben. Die bürokratische Elite übernimmt also lediglich die bürgerlichen Konfsumgewohnheiten und kulturellen Leitbilder des Westens, ohne — wie das westliche Bürgertum — auch eine produktive Leistung zu erbringen. Da sie nicht in der Lage ist, eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung anzuregen bzw. zu tragen, vermag sie auch nicht eine eigene, auf einem bestimmten Gesellschaftsmodell basierende Ideologie zu entwikkeln, wie dies etwa dem europäischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts mit dem Liberalismus gelang.

So schwach wie die ökonomische Position der afrikanischen Führungsschichten ist denn auch die ideologische Legitimation ihrer Herrschaft, während zumindest im kolonialen Nationalismus noch eine breite Basis für ihren Führungsanspruch existierte. Die oben aufgezeigten Wandlungen des nachkolonialen Nationalismus, die Versuche, über „afrikanischen Sozialismus" oder „Authentizität" dieses ideologische Vakuum aufzufüllen, spiegeln die deformierte Wirtschafts-und Gesellschaftsstruktur der meisten afrikanischen Staaten wider. Die Mehrzahl dieser politischen Systeme unterschiedlicher ideologischer Prägung hängt weitgehend von der wirtschaftlichen und politischen (manchmal auch militärischen) Unterstützung des Westens ab; ohne diese Unterstützung wäre ihre Herrschaft und damit das importierte Konsummodell gefährdet

Dennoch bekennen sich nur wenige politische Bewegungen des schwarzen Afrika offen und programmatisch — also nicht nur aus taktischen, von wirtschaftlichen Interessen diktierten Gründen — zu einer engen Verbindung mit dem Westen oder zumindest zu geistigen Anleihen aus westlichen politischen Theorien und Bewegungen. So vertritt etwa die Einheitspartei der Elfenbeinküste (Parti Dmocratique de Cöte d’Ivoire — PDCI) einen dezidiert liberalen Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung nach westlichem Vorbild, wenngleich gemildert durch einen stärkeren Einfluß des Staates auf die Wirtschaft und geprägt von dem „Widerspruch zwischen dem wirtschaftlichen Liberalismus und einem ziemlich monolithischen institutionellen Rahmen" Die regierende „Sozialistische Partei" Senegals beruft sich in ihrer Programmatik ebenfalls of-fen auf eine der europäischen Ideengeschichte entstammende politische Strömung, den „demokratischen Sozialismus". Als erste afrikanische Partei — neben der „Arbeitspartei" des Inselstaates Mauritius — manifestierte sie ihre Zugehörigkeit zu dieser Bewegung durch den Beitritt zur zweiten Sozialistischen Internationale, die bisher von europäischen Parteien dominiert wird.

Aber im allgemeinen scheuen die afrikanischen politischen Parteien vor Bekenntnissen zu westlichen Ideologien zurück, da eine offen zur Schau getragene „antiimperialistische" oder „traditionalistische" Haltung noch immer ein größeres Maß an politischer Integration im Inneren bewirkt. Nur so ist es zu verstehen, daß die Staatspartei eines so vollständig vom Westen abhängigen Landes wie Zaire ihre geistigen Wurzeln ausschließlich in der „afrikanischen Tradition", in einem „Zurück zu den Ursprüngen" sieht, während die politische Elite tatsächlich vom westlichen Kultur-oder besser Konsummodell geprägt ist.

Marxismus und Nationalinteresse

Bedeutet aber diese ideologische Schwäche der politischen Führungen in den meisten afrikanischen Staaten, daß andere — kohärentere und deshalb attraktivere — Ideologien, wie etwa der Marxismus, ihre Herrschaft gefährden? Die politische Entwicklung des nachkolonialen Afrika scheint für diese These zu sprechen: die Akzeptierung des „wissen-schaftlichen Sozialismus" oder „MarxismusLeninismus" durch progressive Einparteien-Regime, eine zunehmende Zahl „fortschrittlicher" Militärdiktaturen sowie durch ehemalige Befreiungsbewegungen hat zumindest dem ideologischen Anspruch nach eine gegenüber den frühen sechziger Jahren veränderte Situation geschaffen, als die Anwendung des Marxismus vorwiegend in der Gestalt des „afrikanischen Sozialismus" erfolgte.

Doch ideologischer Anspruch und politische Wirklichkeit klaffen auch in vielen „marxistischen" Staaten Afrikas weit auseinander. Dort, wo sich an der Grobstruktur von Wirtschaft und Gesellschaft und der Abhängigkeit von westlicher Entwicklungshilfe und Privatinvestitionen kaum etwas geändert hat, wie in Kongo-Brazzaville, Benin oder auch Guinea, erweist sich der „wissenschaftliche Sozialismus" als wohltönende Worthülse und Integrationsideologie im linken Gewände.

Andere Länder betonen — unter Anwendung marxistischer Prinzipien — stärker den Aspekt der „seif reliance", der „Entwicklung aus eigener Kraft", auch in ideologischer Hinsicht.

So stützt die tansanische Einheitspartei CCM (Cham cha Mapinduzi-Revolutionäre Partei)

ihr Sozialismus-Konzept vorrangig auf die traditionelle afrikanische Dorfgemeinschaft, die „Ujamaa". Ähnlich die von den herrschenden Militärs in Madagaskar gegründete Regierungspartei AREMA, (Avantgarde de la Revolution Malgache) die das ländliche Selbstverwaltungs-System der „Fokonolona" zum Leitbild der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erhebt, daneben aber auch Anleihen beim nordkoreanischen Sozialismus-Modell macht.

In den Ländern, in denen der Marxismus als „Entwicklungsideologie" scheinbar festen Fuß gefaßt hat, wie vor allem in den ehemaligen portugiesischen Kolonien, ist dies primär Folge der politisch-ökonomisch-militärischen Unterstützung und Einflußnahme durch die sozialistischen Staaten, insbesondere die Sowjetunion, und nicht etwa deren Ursache. Mit anderen Worten: Die Akzeptierung der marxistisch-leninistischen Ideologie entspringt nicht nur der Einsicht, daß gerade diese Ideologie zur Lösung der Entwicklungsprobleme Afrikas geeignet ist, sondern vor allem auch dem politischen Kalkül, die Unterstützung des Sowjetblocks insbesondere in Form von Waffenlieferungen zu erhalten. Deutlich wird dies in vie-len Ländern in einem „Bruch" zwischen Ideologie und Politik: Obgleich das chinesische Entwicklungsmodell wesentlich attraktiver, weil eher nachvollziehbar ist, genießt die Annäherung an die Sowjetunion aus materiellen Gründen Vorrang.

Dies gilt ganz offensichtlich für die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, denen aufgrund der Weigerung des Westens, (militärische) Hilfe zu leisten und angesichts der begrenzten chinesischen Ressourcen gar keine andere Alternative als das Bündnis mit dem sozialistischen Lager sowjetischer Prägung blieb. Am Beispiel der unterschiedlichen Entwicklung in Angola und in Guinea-Bissao/Kapverdische Inseln läßt sich die These bestätigen, wonach Ideologie-Importe in Afrika primär im Gefolge enger wirtschaftlicher und militärischer Bindungen zu verzeichnen sind, eine Lockerung dieser Bindungen aber zu einem überwiegen „nationaler Interessen" mit einer entsprechenden Schwächung der ideologischen Beeinflussung führt. Zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes gegen die portugiesische Kolonialherrschaft wurden die dominierenden Befreiungsorganisationen dieser Länder — die MPLA (Movimento Populär de Libertacao de Angola) in Angola, die PAIGC (Partido Africano da Independencia da Guine e Cabo Verde) in Guinea-Bissao und den Kapverdischen Inseln — hauptsächlich von der Sowjetunion unterstützt und bekannten sich zum „wissenschaftlichen Sozialismus". Nach der Unabhängigkeit konnte die MPLA nur mit Hilfe eines kubanischen Expeditionskorps im Kampf gegen andere, vom Westen unterstützte Befreiungsbewegungen die Alleinherrschaft erringen und mußte dies in der Folge mit einer andauernd engen Anlehnung an den Osten bezahlen. Guinea-Bissao und die Kapverdischen Inseln erweiterten hingegen das Spektrum ihrer außenpolitischen Partner und nahmen Entwicklungshilfe von westlichen Ländern an. Die wachsende politisch-wirtschaftliche Distanz führte zu einer zunehmend auch ideologischen Entfremdung von der Sowjetunion, die in den Worten des kapverdischen PAIGC-Theoretikers Olivio Pires zum Ausdruck kommt: „Wir sind weder sozialistisch, noch kommunistisch, noch bürgerlich."

Eine ähnliche Abschwächung ideologischer Bindungen infolge zunehmender politischer Differenzen läßt sich im Falle Somalias beobachten. Nach der Akzeptierung des „wissenschaftlichen Sozialismus" durch die 1969 in-stallierte Militärregierung hatte die schon zuvor gewährte sowjetische Hilfe an Umfang und Qualität zugenommen und 1974 zum Abschluß des ersten Freundschaftsvertrages eines afrikanischen Staates mit der Sowjetunion geführt. Auf beiden Seiten waren primär politisch-strategische Motive ausschlaggebend für dieses Bündnis: für Somalia die Notwendigkeit von Militärhilfe zur Untermauerung der Gebietsansprüche an die westlich orientierten Nachbarländer Kenia und Äthiopien, für die Sowjetunion die strategische Lage Somalias am Horn von Afrika, an dem die Erdölversorgungslinien Westeuropas vorbeiführen.

Diese Interessenidentität geriet aus dem Gleichgewicht, als mit der Radikalisierung des äthiopischen Militärregimes insbesondere seit Anfang 1977 die Sowjetunion zum wichtigsten Bündnispartner Äthiopiens wurde. In den darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Somalia und Äthiopien wurde deutlich, daß der groß-somalische Nationalismus in Verbindung mit der Tradition des islamischen Kampfes gegen das christliche Äthiopien gegenüber der sozialistischen Ideologie dominiert Der somalische Präsident Siad Barre bestätigte dies indirekt, als er von der notwendigen Unterscheidung zwischen „Ideologie" und „nationalem Interesse" sprach das Überwiegen des „Nationalinteresses" führte denn auch zum Bruch mit der Sowjetunion, die im Konflikt um die Ogaden-Region Äthiopien unterstützte.

Islam und „Petrodollar"

Diesem Bruch ging eine schrittweise Annäherung Somalias an das islamisch-arabische Lager voraus, das immer mehr an Eigengewicht in der Weltpolitik gewinnt und für eine zunehmende Zahl schwarzafrikanischer Staaten, zur zumindest potentiellen Alternative zur Bindung an den Osten oder Westen wird. Zwar weist dieses Lager bisher nur unscharfe Konturen auf, muß aber insbesondere seit der „Ölkrise" der frühen siebziger Jahre als ideologischer und politischer Machtfaktor im schwarzen Afrika in Rechnung gestellt werden.

Allerdings bildet der Islam im politischen Bereich ebensowenig eine Einheit wie im ideologisch-religiösen Bereich. Die oben aufgezeigten Differenzen zwischen den historisch nachvollziehbaren reformerischen und bewahrenden Tendenzen im islamischen Dogma zeigen sich auch auf der Ebene praktischer Politik. Formal existieren zwar einheitliche Organisationsformen der islamischen Länder mit dem übergeordneten Ziel der Ausbreitung des Islam und der Verteidigung islamischer Interessen sowie der Durchsetzung der arabischen Position im Nahost-Konflikt. Diese Ziele werden — mit Schwerpunkt auf Schwarzafrika — vor allem über die finanzielle Unterstützung afrikanischer Staaten mit Hilfe eigens dafür geschaffener Institutionen durchzusetzen versucht. Ob dabei die „Bekehrung" afrikanischer Staatsoberhäupter zum Islam und die u. a. durch den Bau von Moscheen geförderte Ausbreitung des Islam sich politisch auszahlen werden, läßt sich nicht voraussagen. Ein Indiz dafür ist aber die seit 1972 nahezu vollständige Unterstützung der arabischen Position im Nahost-Konflikt durch die schwarz-afrikanischen Staaten, die einen unzweideutigen Erfolg der islamisch-arabischen Strategie südlich der Sahara darstellt.

Doch die Oleinnahmen, die diese finanziell vorbereitete und untermauerte ideologische Offensive des Islam in Afrika ermöglichen, haben auch einen negativen Effekt: Da der größte Teil der am stärksten unterentwickelten Länder der Welt sich in Afrika befindet, war der schwarze Kontinent von den Olpreissteigerungen mit am stärksten betroffen. Die Weigerung der Ölländer, den afrikanischen Staaten im Gegenzug für deren Unterstützung im Nahost-Konflikt einen „politischen Rabatt" zu gewähren, nährte das in vielen Ländern südlich der Sahara auch historisch begründete Mißtrauen gegenüber arabischen Hegemonie-absichten. Die erste afro-arabische Gipfelkonferenz im März 1977 in Kairo wurde deshalb nur ein halber Erfolg, auch wenn in der Konferenz-Deklaration der gemeinsame Kampf gegen „Imperialismus, Kolonialismus und Zio-nismus", die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika und der Palästinensischen Befreiungsorganisation sowie die wirtschaftliche und finanzielle Kooperation zwischen Arabern und Afrikanern beschworen wurden Dies lag nicht nur an den unterschiedlichen Interessen von ölreichen arabischen und rohstoffarmen afrikanischen Ländern sondern auch an den politischen Differenzen innerhalb des islamisch-arabischen Lagers selbst, die in unterschiedlichen Strategien fortschrittlicher und konservativer arabischer Staaten gegenüber Schwarzafrika zum Ausdruck kommen.

Das konservative Lager, repräsentiert vor allem durch Saudi-Arabien, ist von einem profunden Antikommunismus und dem Bestreben gekennzeichnet, sozialrevolutionäre Bewegungen im Innern der afro-arabischen Länder sowie den politisch-ideologischen Einfluß der kommunistischen Staaten in diesem Raum einzudämmen. Exemplarisch für diese Politik kann das Verhalten Saudi-Arabiens gegenüber Äthiopien bezeichnet werden, seitdem die Militärregierung in Addis Abeba immer stärker in das „progressive" Lager abdriftete; der Versuch, über eine „Petrodollar" -Diplomatie eine Allianz der „gemäßigten" Anliegerstaaten des Roten Meeres mit Ägypten, Sudan und (Nord-) Jemen aufzubauen, geht einher mit dem Bestreben, die prosowjetischen Länder Somalia und (Süd-) Jemen aus ihren politisch-ideologischen Bindungen zu lösen bis hin zur aktiven Unterstützung separatistischer und konservativer Untergrundbewegungen in Äthiopien Diese Auseinandersetzung gewinnt ihre besondere Schärfe dadurch, daß sie von beiden Seiten in der historischen Kontinuität des jahrhundertelangen Konflikts zwischen dem christlichen Äthiopien und seinen islamischen Nachbarn gesehen wird. Während das konservative islamische Lager als Hüter bestehender wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse sowie des politischen Status quo in der Region eine eher defensive Strategie vertritt, verkörpert der „islamische Sozialismus" das erneuernde, gleichwohl in der Tradition wurzelnde Element des islamisehen Wiederaufstiegs zu zumindest regionalpolitischer Bedeutung. Dieser politische Islam, als dessen Inkarnation das Libyen Khaddafis, in geringerem Maße auch das Algerien Boumediennes erscheinen, sucht in der politischen Praxis den „dritten Weg" zwischen westlichem Kapitalismus und sowjetisch geprägtem Kommunismus auf der Basis der Lehren des Propheten, wie ihn der Theoretiker Mamadou Dia vorgezeichnet hat. Diese Praxis ist freilich höchst widersprüchlich und scheint — zumindest im Falle Libyens — einer undifferenzierten Unterstützung alles Islamischen, gleich welcher Provenienz, eher zuzuneigen als der gezielten Förderung „progressiver"

Tendenzen im Islam. Beispiele dafür sind die zeitweilige Unterstützung der Staatschefs Amin von Uganda und Bokassa von Zentral-afrika nach deren „Bekehrung" zum Islam, insbesondere aber das Bündnis mit der reaktionären Ansar-Sekte des Mahdi im Sudan beim Staatsstreichversuch vom Juli 1976.

Für das islamisch-arabische Lager insgesamt als dritter Machtblock, der ideologisch und politisch auf das schwarze Afrika einwirkt, gilt in zunehmenden Maße ebenfalls die These, daß der ideologischen die wirtschaftlich-finanzielle Annäherung vorausgeht. Mit anderen Worten: Die Anziehungskraft der „PetroDollars" ist zumindest so groß wie der Einfluß religiös-ideologischer Gemeinsamkeiten. So ist die Mitgliedschaft in der Arabischen Liga für nicht-arabische Staaten Schwarzafrikas (Somalia, Djibouti, Komoren) primär ein Mittel, in den Genuß umfangreicher Wirtschaftshilfe zu kommen; ähnliche Motive dürften auch beim Übertritt afrikanischer Staatsoberhäupter zum Islam eine Rolle gespielt haben.

Und so ist es auch zu erklären, daß die marxistische „Volksfront für die Befreiung Erythreas" nicht nur den Kampf gegen die sozialistische Militärregierung Äthiopiens mit Hilfe der konservativen Scheichtümer des Arabischen Golfs führt sondern in öffentlichen Erklärungen ihrer Führer sogar auf ihren marxistischen Anspruch verzichtet hat, um die Unterstützung Saudi-Arabiens zu erhalten

Wie das Streben nach „Authentizität" im Verhältnis zum Westen, die Suche nach eigenen sozialistischen Traditionen im Verhältnis zum Osten, so zeichnet sich auch im schwarzafrikanischen Reform-Islam bereits die Tendenz zur Verselbständigung gegenüber den ideolo-gischen „Mutterländern" des arabischen Raums ab. Diese Tendenz hat ihre historischen Wurzeln in der jahrhundertelangen arabischen Expansion im schwarzen Afrika, die im Bewußtsein vieler Afrikaner den gleichen Stellenwert besitzt, wie die europäische koloniale Penetration, und sie wird erleichtert durch die eher pragmatische als dogmatische Anpassung des Islam an die sozio-kulturelle Realität der schwarzafrikanischen Gesellschaften. Zwar beschränkt sich in Schwarzafrika der Einfluß des „progressiven" Islam vorerst noch weitgehend auf die Intellektuellen, während die Mehrheit der Bevölkerung — insbesondere auf dem Lande — nach wie vor von den konservativen religiösen Führern beeinflußt wird Wo aber Ansätze einer Verbindung zwischen fortschrittlichen Intellektuellen und Bauern auf der Grundlage des Islam vorhanden sind, wie in Teilen Ostafrikas, vor allem aber in der Sahel-Region Westafrikas, zeigt sich die Sprengkraft einer solchen Verbindung für die bestehenden politischen Systeme

VI. Ausblick

Die Bedeutung „traditionalistischer" Bewegungen in Afrika — gleich welcher Tendenz — wird in dem Maße zunehmen, wie das Scheitern des westlichen Entwicklungsmodells im Rostow'schen Sinne und das realpolitische Hegemoniestreben der sowjetischen Außenpolitik in Afrika immer offensichtlicher werden. Die Enttäuschung über das Versagen der sozio-ökonomischen Entwicklung nach westlichem Vorbild führt nach fast zwei Jahrzehnten Unabhängigkeit nicht nur Intellektuelle sondern auch politische Führer Afrikas zur Ablehnung westlicher Ideologien. Der Marxismus, bis vor kurzem noch als Alternative hoch im Kurs stehend, verliert als „importierte" Ideologie ebenfalls zusehends an Attraktivität, seit die Sowjetunion direkt und massiv in die afrikanische Politik eingegriffen hat und sich nicht mehr nur als Sachwalter legitimer Interessen von Befreiungsbewegungen gegen Kolonialismus und Rassismus darstellen kann.

Das Ergebnis ist eine verstärkte Rückbesinnung auf die eigene geistige Tradition, zunehmend gepaart mit dem Willen, die traditionellen Werte den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft anzupassen. Diese Entwicklung ist noch nicht so weit gediehen, wie etwa in Ostasien, wo moderner Nationalismus und Marxismus in die nationale Kultur inkorporiert wurden. Dies liegt daran, daß der Kolonialismus in Schwarzafrika stärker als in Asien die Wurzeln der gesellschaftlichen und gei-stigen Traditionen zerstört hat. Ermöglicht wurde dies durch die im Vergleich zu den jahrtausendealten Zivilisationen Asiens noch wenig gefestigte staatliche Entwicklung im schwarzen Afrika zum Zeitpunkt der kolonialen Penetration

Die Wiederentdeckung der eigenen geistigen Werte und ihre gleichzeitige Weiterentwicklung, die Aufhebung der vom Kolonialismus verursachten kulturellen Entfremdung nicht nur der Eliten, ist ein langwieriger Prozeß, an dessen Ende ein tatsächlich „authentisches" Modell der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung stehen mag. Auf dem Weg dahin wird die Alternative „Nationalinteresse" oder „ideologische Penetration" an Schärfe verlieren; zunehmen werden dagegen die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Definition der „nationalen Interessen", die heute noch weitgehend mit den Interessen einer kleinen — vom Ausland gestützten und abhängigen — Minderheit identisch sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Le Monde v. 8. Oktober 1977.

  2. Ausführliche Darstellungen zur Afrika-Politik der Großmächte in den sechziger Jahren vermitteln u. a. W. Nielsen, The great powers and Africa, London 1969; R. Emerson, Africa and United States Policy, Englewood Cliffs 1967 u. R. Legvold, Soviet Policy in West Africa, Cambridge/Mass. 1970.

  3. W. W. Rostow, The stages of economic growth, Cambridge 1960.

  4. Zur Entwicklung des kolonialen Nationalismus in Afrika s. u. a. T. Hodgkin, Nationalism in Colonial Africa, London 1956.

  5. Der „Tribalismus" wird vielfach als Mittel im politischen Machtkampf eingesetzt; dabei werden auch ursprünglich soziale Konflikte zu ethnischen Konflikten „verfälscht“. Beispiele dafür gibt A. O. Sanda, Ethnie Pluralism and Intra-Class Conflicts in four West African Societies, in: Civilisations, Vol. XXVII, Nr. 1/2, 1977, S. 76 ff.

  6. Vgl. G. Arrighi/J. S. Saul, Nationalism and Revolution in Sub-Saharan Africa, in: dies., Essays on the Political Economy of Africa, New York/London 1973, S. 86 ff.

  7. Vgl. I. G. Shivji, Class Struggles in Tanzania, Dar es Salaam 1975, S. 13.

  8. P. Scholl-Latour, Vor den Trümmern einer Utopie. Die Völker der Dritten Welt und die Ratlosigkeit des Abendlandes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. Januar 1977.

  9. Zur Diskussion dieser Fragen vom marxistischen (afrikanischen) Standpunkt s. K. Botchwey, Marxism and the Analysis of the African Reality, in: Africa Development, Vol. II, Nr. 1, Februar 1977, S. 9 ff. u. Shivji, a. a. O., insb. Kap. 2: The Applicability of the Marxist Theory in Africa.

  10. Dakar/Abidjan 1976.

  11. Es kann an dieser Stelle keine Analyse des „afrikanischen Sozialismus" geleistet werden; im folgenden sollen nur einige politische Implikationen dieser spezifischen Form der Anwendung des Marxismus in Afrika aufgezeigt werden, ohne dabei auf die anderen ideologischen Komponenten des „afrikanischen Sozialismus" einzugehen.

  12. P. Lissouba, Conscience du developpement et democratie, Dakar/Abidjan 1975, S. 49.

  13. So die Argumentation bei Y. Person, Reflexions sur Marx et le socialisme africain, in: Ethiopiques, No. special (70e anniversaire du President Leopold Sedar Senghor), 1976, S. 191.

  14. Ebenda.

  15. J. -P. Ndiaye, Monde noir et destin politique, Paris/Dakar 1976, S. 46.

  16. B. Johansen, Religiöse Traditionen und koloniale Struktur in Marokko, in: Das Argument 79, Juli 1973, S. 309.

  17. Vgl. B. I. Sharevskaja, The Religious Traditions of Tropical Africa in Contemporary Focus, Budapest 1973, S. 78.

  18. In diesem Sinne z. B. A. Gaudio, Le , Livre verf de Mobutu, in: Africa, Nr. 94, Oktober 1977, S. 25.

  19. B. Sine, Imperialisme et theories sociologiques du developpement, Paris 1975, S. 271 ff.

  20. Zit. nach Sine, a. a. O., S. 275.

  21. Vgl. Ndiaye, a. a. O., S. 102.

  22. Sine, a. a. O., S. 250. f.

  23. Johansen, a. a. O., S. 328.

  24. M. Dia, Islam, socits africaines et culture industrielle, Dakar/Abidjan 1975, S. 111.

  25. Allerdings spielten die afrikanischen christlichen Kirchen Anfang dieses Jahrhunderts insbesondere in Zentral-und Südafrika eine bedeutende Rolle in der Autonomie-bzw. Unabhängigkeitsbewegung; vgl. Sharevskaja, a. a. O., S. 70 ff.

  26. Siehe dazu T. Hodgkin, Mahdisme, Messianisme et Marxisme dans le context africain, in: Presence Africaine, Nr. 74, 1970, S. 128 ff.

  27. Dia, a. a. O., S. 106.

  28. Vgl. C. Ake, The Congruence of Political Economies and Ideologies in Africa, in: P. C. W. Gutkind/I. Wallerstein (Hrg.), The Political Economy of Contemporary Africa, Beverly Hills/London 1976, S. 206 ff.

  29. J. -B. Grodji, Parti unique et democratique, in: Jeune Afrique, Nr. 875 v. 14. Oktober 1977, S. 71.

  30. Zit. nach Jeune Afrique, Nr. 874 v. 7. Oktober 1977, S. 33.

  31. Zur Ideologie der somalischen „Revolution" vgl. D. L. Laitin, The Political Economy of Military Rule in Somalia, in: The Journal of Modern African Studies, Nr. 3, September 1976, S. 455 ff.

  32. Zit. nach Neue Zürcher Zeitung v. 21. April 1977.

  33. Auf staatlicher Ebene z. B. die Konferenz der islamischen Staaten, auf nichtstaatlicher Ebene der „Islamische Weltrat" mit seiner Sektion „Islamischer Rat Afrikas“ (Sitz: Dakar).

  34. U. a. Islamische Entwicklungsbank, Arabische Bank für die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas, Arabischer Spezialfonds für die Hilfe an Afrika, Arabischer Technischer Fonds für die afrikanischen und arabischen Länder.

  35. Z. B. Amin in Uganda, Bokassa in Zentralafrika, Bongo in Gabun.

  36. S.den Text der Deklaration, des Aktionsprogramms und der verschiedenen Abkommen in: Le Soleil (Dakar) v. 12. März 1977 (Beilage). Vgl. auch Süddeutsche Zeitung v. 10. März 1977.

  37. Dies scheint im Falle Somalias gelungen zu sein, auch wenn die somalische Regierung im Inneren weiterhin eine „sozialistische" Politik vertritt.

  38. S. Neue Zürcher Zeitung v. 21. April 1977.

  39. Vgl. Jeune Afrique, Nr. 876 v. 21. Oktober 1977, S. 29.

  40. Exemplarisch dazu L. Creevey Behrman, Muslim Politics and Development in Senegal, in: The Journal of Modern African Studies, Vol. 15, Nr. 2, Juni 1977, S. 261 ff.

  41. Beispiele dafür sind die Befreiungsbewegungen im Tschad und in Eritrea sowie politische Oppositionsgruppen in Senegal.

  42. Vgl. F. Stambouli/A. Zghal, Nation, Nationalisme et Etat National, Mise au point theorique, Centre d’Etudes et de Recherches Economiques et Sociales. Tunis, Februar 1977, S. 23 (unveröff. Manuskript).

Weitere Inhalte

Winfried Veit, Dr. rer. pol., Dipl. -Politologe, geb. 1946 in Horgen/Rottweil (Bad. -Württ.); Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte; publizistische und Forschungstätigkeit über Fragen der Entwicklungsländer; gegenwärtig im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung Wissenschaftlicher Berater beim „Council for the Development of Economic and Social Research in Africa" (CODESRIA) in Dakar/Senegal. Veröffentlichungen u. a.: Entwicklungsstrategie und Außenpolitik in Tropisch-Afrika. Die Beispiele Elfenbeinkünste und Guinea, München 1978; Guinea, in: D. Nohlen/F. Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 2, Hamburg 1976; 10 Jahre unabhängiges Algerien. Der Versuch eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nov. 1972.