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Frankreich nach der Wahl Politische, wirtschaftliche und soziale Probleme | APuZ 26/1978 | bpb.de

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APuZ 26/1978 Die Bundesrepublik Deutschland -eine „economie dominante" in Westeuropa? Frankreich nach der Wahl Politische, wirtschaftliche und soziale Probleme Rousseau -Kulturphilosoph und Staatsdenker Zur 200. Wiederkehr des Todestages

Frankreich nach der Wahl Politische, wirtschaftliche und soziale Probleme

Udo Kempf

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Wahlentscheidung vom März 1978 ist zweifellos eine der interessantesten seit Bestehen der V. Republik gewesen. Sie hat nicht nur keinen Machtwechsel herbeigeführt, sondern auch folgende Änderungen im französischen Parteienspektrum bewirkt: Zunächst erzielte die seit über einem Jahr stark favorisierte Sozialistische Partei nicht den Erfolg, der ihr von den Meinungsforschern vorausgesagt worden war. Zwar wurde sie stärkste Linkspartei, aber aufgrund der seit Monaten andauernden heftigen Auseinandersetzung innerhalb des linken Lagers verfehlte die vereinigte Linke ihr Wahlziel, die bisherige Regierungsmehrheit abzulösen. Die Folge war der Bruch zwischen Sozialisten und Kommunisten, der von den letzteren seit Herbst 1977 systematisch provoziert worden war. Als Ursache für dieses Verhalten der PCF ist in erster Linie ihr Trauma anzusehen, innerhalb der Linksunion in eine Juniorrolle gedrängt zu werden, bzw. ihre Furcht, zahlreiche Wähler an die Sozialisten zu verlieren und damit ihre Rolle als Avantgarde der Arbeiterklasse einzubüßen. Deshalb war Marchais bereit, das Linksbündnis und damit die Regierungsübernahme einer Stabilisierung der kommunistischen Wählerstimmen zu opfern. Im Lager der Regierungsparteien gewannen zwar die Gaullisten die meisten Mandate; aber sie erhielten in der fast gleichstarken Sammlungsbewegung Union pour la Democratie Franaise, deren wichtigste Gruppierung die Republikanische Partei ist, ein Gegengewicht, das ihren Aktionspielraum in der Regierung und im Parlament einengen kann, zumal sich der Staatschef jetzt zum erstenmal seit 1974 auf eine „Präsidenten-Partei“ in der Nationalversammlung stützen kann. Andererseits sind Staatspräsident Giscard d'Estaing und sein Premierminister R. Barre nach wie vor auf J. Chiracs Partei angewiesen, da die von Giscard propagierte Öffnung nach links wegen der Weigerung der Sozialisten vorläufig illusorisch bleibt. Somit haben die Wahlen zwar den Regierungsparteien rechnerisch eine stabile Mehrheit an Mandaten beschert, aber nicht zur Lösung der sozialen Probleme beigetragen. Gerade die Frage nach einer gerechteren sozialen Ordnung hat im Wahlkampf eine besondere Rolle gespielt. Frankreich hat nämlich einem offiziösen Bericht zufolge mit die ungerechteste Einkommens-und Vermögensverteilung in Westeuropa sowie ein ebenso ungerechtes Steuersystem. Diese Probleme korrelieren mit einem grundlegenden Wandel der französischen Sozialstruktur seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Praktisch läßt sich die französische Gesellschaft in fünf ziemlich von einander abgegrenzte Gruppen unterteilen, zwischen denen eine Stufenverschiebung im Sinne von realen Aufstiegschancen fast ausgeschlossen ist.

I. Versuch einer knappen Wahlanalyse

Tabelle 1 Quelle: Menyesch, a. a. O., S. 38

Die Wahl vom 12. und 19. März 1978

Tabelle 3 Quelle: Thévénot, a. a. O., S. 4/5

Entgegen den Prognosen aller französischen Meinungsforschungsinstitute haben die französischen Linksparteien die Wahl vom März 1978 verloren. Zwar votierten im ersten Wahlgang bei einer für französische Verhältnisse extrem hohen Wahlbeteiligung von 82, 8 °/o eine knappe Mehrheit von 49, 67 % für die Parteien der Linksunion und nur 48, 36 % für die verschiedenen Gruppen des Regierungslagers, aber der entscheidende Durchbruch gelang nicht. Dies war um so erstaunlicher, als bei allen Nachwahlen zur Nationalversammlung seit Herbst 1974, besonders aber seit dem Erdrutsch der Kantonais-(1976) und Gemeindewahlen von 1977 die vereinigte Linke gewaltige Stimmgewinne verzeichnen konnte. Vor allem die Sozialistische Partei entwickelte sich während dieser Wahlen zur unbestritten stärksten Partei nicht nur im linken Lager, sondern im gesamten französischen Parteien-system. Die 22, 58 0/0 im ersten Wahlgang für die Parti Socialiste (zuzüglich 1, 1 0/0 „Verschiedene Linke") war deshalb für die Partei geradezu enttäuschend, vielleicht sogar für die Basis in einigen Wahlkreisen entmutigend, was sich im zweiten Wahlgang bei der Stimmübertragung auf den kommunistischen „Einheitskandidaten" der Linken zeigen sollte (s. u.). Sieht man einmal von der durch die Meinungsumfragen erzeugten Euphorie bei der Parti Socialiste ab, so ist folgendes festzuhalten-. Die Parti Socialiste ist nach .dem gaullistischen RPR (Rassemblement pour la Republique) die zweitstärkste Partei in Frankreich eine andere Rechnung läßt sie die Gaullisten sogar leicht überrunden. Im Vergleich zu den Wahlen von 1973 gibt es nur 18 Departements, in denen die Sozialisten zusammen mit dem verbündeten Mouvement des Radicaux de Gauche (Linksliberale unter Robert Fabre) nicht gewonnen haben. In alle Hochburgen der Regierungsparteien gelangen teilweise tiefe Einbrüche, so besonders in Elsaß-Lothringen, in der Normandie, in der Bretagne, im gesamten Westen und im Zentrum. Aber auch die Hochburgen der Kommunisten (besonders die an Paris angrenzenden Departements Seine-Saint-Denis und Val-de-Marne) mußten beachtliche Stimmen an die Sozialisten abgeben. Insofern ist das Wahlergebnis des ersten Wahlganges alles andere als enttäuschend: die Sozialistische Partei war erstmals wieder seit 1936 zur stärksten Partei der Linken geworden.

Tabelle 4 Quelle: Le Monde, Dossiers: La Langueuer, 1978, S. 54

Das im Vergleich zu den Prognosen mäßige Abschneiden der Parti Socialiste ermöglichte es unmittelbar nachdem ersten Wahlgang dem Generalsekretär der kommunistischen Partei, Georges Marchais, innerhalb weniger Stunden nach außen hin den Streit im Linksbündnis zu begraben und ein aktualisiertes Regierungsbündnis zu unterzeichnen, wobei er in fast allen Positionen den Forderungen Mitterrands und Fabres nachgab Dieser Positionswechsel, der in der französischen Wählerschaft eher Verwirrung als Befriedigung über die doch noch erfolgte Einigung im Linksbündnis erzeugte und darüber hinaus bei vielen Wählern Mißtrauen hinsichtlich der Seriosität des Generalsekretärs der PCF wachrief, war möglich geworden, weil die beiden großen Links-parteien annähernd gleichstark aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen waren. Marchais'Trauma, die Sozialisten könnten die Kommunisten vom ersten Platz innerhalb des Links-bündnis in. eine Juniorrolle abdrängen, war nicht eingetreten. Nun, nach dem 12. März, konnte Marchais gleichberechtigt mit einem Mitterrand verhandeln, dessen Partei durch das Wahlergebnis zwar leicht in Führung gegangen, aber nicht zum dominierenden Partner geworden war. Die Einigung, auf die fast alle Mitglieder und Sympathisanten beider Parteien seit über einem halben Jahr gehofft hatten, kam nun zu spät, um den Wahlausgang noch zugunsten der Linken korrigieren zu können. Ein-

Tabelle 5 Quelle: Le Monde, Dossiers: La Langueur, 1978, S. 55

nerseits begünstigt das französische absolute Mehrheitswahlsystem und die ungerechte Wahlkreiseinteilung, die aufgrund der Binnenwanderung Wahlkreise in Ballungsgebieten gegenüber ländlichen Wahlkreisen benachteiligt, die Regierungsparteien. Andererseits war die Stimmübertragung beim zweiten Wahlgang auf den jeweiligen Kandidaten der Linksunion unterschiedlich: Während im Lager der Regierungsparteien diese Stimmübertragung fast ausnahmslos funktionierte, weigerten sich zahlreiche sozialistische oder linksliberale Wähler, ihre Stimme den an der Spitze liegenden Kommunisten zu geben.

Das Beispiel von acht ausgewählten Wahlkreisen, in denen nach dem ersten Wahlgang der kommunistische Kandidat an der Spitze lag und eigentlich hätte siegen müssen, zeigt, daß ihm eine Woche später durchschnittlich gut 3 Prozent gegenüber den im ersten Urnengang für die gesamte Linke abgegebenen Stimmen fehlten Aber auch sozialistische und linksliberale Kandidaten konnten in zahlreichen Wahlkreisen, wo die Unterschiede zwischen beiden Blöcken äußerst gering waren, nicht alle im ersten Wahlgang abgegebenen „linken" Stimmen im zweiten entscheidenden 'Wahlgang auf sich vereinigen. Das krasse Abbröckeln von manchmal über 5 Prozent beweist, wie wenig die linke nicht-kommunistische Wählerschaft dem am 13. März nun endlich geschlossenen Bündnis traute. Der antikommunistische Affekt scheint in diesen Wahlkreisen manche Linkswähler bewogen zu haben, aus Enttäuschung über das Verhalten der Kommunisten vor den Wahlen doch noch ins Regierungslager überzuwechseln. Denn die heftigen Attacken der letzten Monate, die der Generalsekretär der PCF, Georges Marchais, gegen die Sozialisten geritten hatte, scheinen entgegen aller Prognosen doch wahlentscheidend gewesen zu sein. Vor allem im großen Lager der Unentschlossenen, aber auch bei den Okologisten haben diese permanenten Ausfälle zu einer Stimmentscheidung im zweiten Wahlgang zugunsten der Regierungsparteien geführt. Bei 13 878 573 Stimmen, die im ersten Wahlgang für die gesamte Linke einschließlich der ex-tremen Linken abgegeben worden waren, gegenüber 13 276 296 Stimmen für alle Formationen, die sich zur Majorite bekennen, wäre ein Machtwechsel möglich gewesen, wenn — eine strikte Wahldisziplin geübt, — die Unentschlossenen von einer vereinigten Linken überzeugt und — fast alle Okologisten zur Wahl eines Linkskandidaten bereit gewesen wären. Nichts davon ist eingetreten. Die Unsicherheit und das Mißtrauen gegenüber Marchais’ Taktieren haben die wahlentscheidenden Prozente gekostet; die Linke besaß am 19. März keine Reserven mehr 6a).

Niemand war deshalb über Franois Mitterrands scharfe Kritik an seinem kommunistischen Bündnispartner verwundert, als er in der Wahlnacht vom 19. 3. 1978 erklärte: „Es ist heute klar, daß die Hoffnung, die (die Linksunion) für viele besaß, am 22. September 1977 an der Uneinigkeit zerbrochen ist. Die Geschichte wird darüber urteilen, was mit denjenigen geschieht, die dafür die Verantwortung zu tragen haben, indem sie nicht zögerten, ihre heftigen und unaufhörlichen Attacken gegen die Sozialistische Partei mit denjenigen der Rechten zu verbinden." Robert Fabre, der Führer der linken Radikal-sozialisten, ergänzte: „Das am 13. März 1978 geschlossene Abkommen, das eigentlich schon am 22. September 1977 hätte unterzeichnet werden können, ist zu spät gekommen, um die Dynamik für die Linksunion wiederherzustellen. Können die Franzosen die Verantwortung vergessen, die die kommunistische Partei durch die erneute Machtübernahme der Rechten auf sich geladen hat? ... Ich betrachte mich heute als entbunden von allen Verpflichtungen, die ich 1972 unterschrieben habe, (d. h. das Gemeinsame Regierungsprogramm, U. K.)."

Bruch der Linksunion In diesem Zusammenhang ist hier kurz die Frage zu streifen, welche Gründe die kommunistische Partei im Herbst 1977 bewogen haben mögen, die Aktualisierungsdebatte über das Gemeinsame Regierungsprogramm als Anlaß für einen Bruch mit ihren Partnern zu nehmen. Vordergründig ging es bei den Verhandlungen auf höchster Ebene zwischen Mitterrand, Marchais und Fabre, nachdem die meisten Fragen schon im Laufe des Sommers von einer gemeinsamen Kommission befriedigend geklärt worden waren um die Erhöhung des Mindestlohns, die Frage der Verengung des sogenannten Einkommensfächers, die Beibehaltung oder Abschaffung der atomaren Force de Frappe und besonders um die Zahl der zu verstaatlichenden Betriebe. Dazu kam später die 'für die Sozialisten besonders delikate Frage der Verteilung der Ministerien, wobei Marchais schließlich die Aufteilung proportional zum Stimmenanteil der einzelnen Parteien innerhalb der Linken forderte.

Diese offenen Fragen hätten im Verlauf der Verhandlungen zur Zufriedenheit aller gelöst werden können, sofern eine gewisse Kompromißbereitschaft bei den Partnern des Gemeinsamen Regierungsprogrammes vorhanden gewesen wäre. Dies hätte u. a. auch für das heikle Thema der Nationalisierungen gegolten. Hier ging es scheinbar um die Zahl der zu verstaatlichenden Betriebe einschließlich der Filialen in Wirklichkeit aber ging es bei diesem Zahlenspiel um die Beherrschung der gesamten Wirtschaft. Denn in den nationalisierten Betrieben sollten die Führungsgremien je zu einem Drittel aus Regierungsvertretern, Verbrauchern und Arbeitern bestehen. Die Wahl der Vertreter der Arbeiterschaft sollte nach Meinung der PCF ausschließlich mit Hilfe von durch die Gewerkschaften aufgestellten Listen erfolgen. Dies hätte eindeutig die größte französische Gewerkschaft, die kommunistisch orientierte Confederation Generale du Travail, begünstigt. PS und MRG sprachen sich deshalb dagegen aus und empfahlen für die Kandidatur auch unorganisierte Arbeiter, wodurch der über die CGT indirekt ausgeübte Einfluß der PCF auf diese Betriebe reduziert worden wäre.

Am 4. Januar 1978 präsentierte Franois Mitterrand einen Vorschlag der PS, der den Forderungen der PCF auf den allermeisten Gebieten nachgab; dennoch lehnte Marchais ab und verlangte sogleich neue Zugeständnisse

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde klar, daß die bislang angeführten Gründe von Seiten der PCF, die übrigen Partner seien nicht kooperationsbereit und an einer wirklichen Aktualisierung interessiert, nur vorgeschoben waren.

Die wahren Gründe lassen sich wie folgt zusammenfassen Aufgrund der Prognosen konnte die Linke mit einem Sieg rechnen, so daß in einer Situation, in der sich die „Sandkastenspielerei" zweier nicht an der Macht befindlichen Parteien allmählich zumindest potentiell zu einer ganz Frankreich betreffenden Regierungspolitik wandelte, die machtpolitische Lage der beiden Parteien eine entscheidende Rolle zu spielen begann. Hier liegt — zumindest was die PCF betrifft — der Schlüssel zum Verständnis des Zerwürfnisses zwischen den beiden großen Linksparteien. Aus ihrem Selbstverständnis heraus glauben die französischen Kommunisten, daß sie allein die Interessen der Arbeiter am besten vertreten können. Sie befürchten, daß eine Linksregierung, in der sie nicht das Übergewicht hätten, zum Verrat an den Interessen der Arbeiter neigen würde und die PCF eventuell sogar ausgebootet werden könnte. Marchais'provozierter Bruch im September 1977, der wegen des umfangreichen Propagandaaufwandes von langer Hand vorbereitet gewesen sein muß, diente einzig und allein dem Zweck, eine Wiederherstellung des Machtgleichgewichts innerhalb der Linksunion bzw.der Vormachtstellung der Kommunisten zu erreichen. Das Gemeinsame Regierungsprogramm hatte nämlich nicht den Kommunisten, sondern den Sozialisten Erfolge gebracht. Mit anderen Worten:

die PCF lief Gefahr, zur Minderheit im Lager der Linken zu werden. Sie mußte befürchten, nicht einmal mehr 20 Prozent der Stimmen zu erhalten: Die Rolle der „Avantgarde" schien gefährdet zu sein. Zwischendurch, als sich bei Wahlumfragen herausstellte, daß die Konfrontationsstrategie der PCF keine neuen Wählerstimmen verschafft hatte, gab sich Marchais gegenüber seinen Partnern versöhnlicher. Dies verwirrte aber nur noch mehr die Wählerschaft der Linken und verunsicherte ebenfalls die Basis der kommunistischen Par-* tei. Insgesamt gesehen, erschien die Taktik der PCF zu fadenscheinig, um die notwendigen Wählerstimmen aus dem bürgerlichen Lager zu bringen, die die Linksunion für den Wahlsieg brauchte.

Das Abstimmungsergebnis des ersten Wahlgangs zeigt zweierlei: 1. die sich abzeichnende Niederlage der Linksunion und 2. einen Erfolg Marchais’, dem es mit Hilfe dieser ominösen Taktik gelungen war, entgegen den Voraussagen den Stimmenverlust der kommunistischen Partei zu stoppen. Das Gleichgewicht (reequilibrage) innerhalb der Linken war wiederhergestellt. Daß durch diese Taktik die Linke verlor und anschließend das Bündnis endgültig auseinanderbrach, nahm das Politbüro der PCF in Kauf.

Die Situation „danach"

Wagt man die Situation in den Parteien nach der Wahl zu analysieren, so lassen sich im linken Lager folgende Entwicklungstendenzen erkennen. Das Gemeinsame Regierungsprogramm hat nur noch historischen Wert. Pierre Mauroy, nach Mitterrand der führende Mann in der PS, erklärte sogar, seine Partei habe „das Halseisen abgestreift". Robert Fabres'Radikalsozialisten scheinen unter ihrem neuen Parteivorsitzenden Michel Crepeau — Fabre hatte sein Amt niedergelegt — nach einigem Schwanken am Bündnis mit den Sozialisten festhalten zu wollen Während die Sozialisten erstaunliche Geschlossenheit zeigen und jegliche Diskussion über die Zukunft ihres — nunmehr seit 1973 zum dritten Mal geschlagenen — Ersten Sekretärs vermeiden (sieht man von wenigen Äußerungen ihres linken Flügels, des CERES, einmal ab), erlebt die PCF praktisch eine vor der Öffentlichkeit nur mühsam vertuschte innerparteiliche Grundsatzkritik an Marchais'Taktik und am Führungsstil des Politbüros. Nach langem Zögern mußte Marchais vor der Presse zugeben, daß sich eine solche Kritik am Verhalten des Politbüros nicht nur an der Basis, sondern auch innerhalb des Apparates entwickelt habe. Für ihn sei diese Diskussion Ausdruck innerparteilicher Demokratie. Gleichzeitig aber wird der Versuch sichtbar, den linken Flügel dieser Kritiker, vor allem zahlreiche der PCF angehörige Intellektuelle 13a), zu isolieren; er wirft ihnen vor, schon gegen seine Politik auf dem 22. Parteitag, auf dem der Begriff der Diktatur des Proletariats fallengelassen wurde, Position bezogen zu haben Gleichzeitig verstärkt die Partei ihre Angriffe gegenüber den Sozialisten, um auf diese Weise von der innerparteilichen Kritik abzulenken, die sich nach außen besonders durch Leserbriefe in verschiedenen nichtkommunistischen Zeitungen artikuliert.

Ob durch solche Kritik Marchais’ Position ins Wanken gerät und ein sogenannter harter Flügel unter dem Chefredakteur der Partei-zeitung L’Humanite, Leroy, die Oberhand gewinnt, ist fraglich. Denn Marchais kann immerhin darauf verweisen, daß durch seine Taktik die kommunistische Wählerschaft stabilisiert wurde.

Auf der Sitzung des 120köpfigen Zentralkomitees Ende April 14a) wurde sein Rechenschaftsbericht, in dem er betonte: „wir haben keine Fehler gemacht" und gleichzeitig gegen die innerparteiliche Kritik erneut polemisierte, einstimmig gebilligt. Für ihn ist die Grundsatz-debatte über den Bruch mit den linken Partnern eine „unverantwortliche Diskussion um jeden Preis“. Zwar steht für ihn fest, daß die PCF „wieder einmal demonstriert hat, daß sie die demokratischste Partei Frankreichs ist"; aber: „Man kann dem demokratischen Leben der Partei größte Bedeutung schenken. Die Partei im Namen einer vagen kleinbürgerlichen Anarchie zu demontieren, ist aber etwas ganz anderes."

Die Frage, ob Marchais, der oft als Vertreter eines „weichen" Kurses innerhalb der PCF angesehen wurde, wieder ins Lager der „Falken“ übergewechselt (bzw. hart geblieben) ist, ist nach diesen Äußerungen nicht auszuschließen. Fest steht, daß eine innerparteiliche Öffnung, also eine Abkehr vom demokratischen Zentralismus, jetzt mehr denn je ausgeschlossen ist. Auch Entwicklungstendenzen, wie sie bei den übrigen Eurokommunisten, besonders bei der spanischen KP, eingesetzt haben, sind wenig wahrscheinlich. Zu erwarten ist vielmehr ein Abwürgen der nach der Wahlniederlage einsetzenden Diskussion sowie eine Verschärfung der Auseinandersetzung mit den Sozialisten. Erst der nächste Parteitag Anfang 1979 dürfte die Frage klären, ob Marchais'Position und damit die Politik der PCF in den letzten Jahren erschüttert ist. Auch im Regierungslager ist der alte Streit zwischen Chiracs Rassemblement pour la Republique, das zwar geschwächt, aber mit 154 Abgeordneten doch als stärkste Fraktion aus den Wahlen hervorgegangen ist, und der Staatspräsident Giscard d’Estaing weitgehend ergebenen Parlamentsfraktion Union pour la Democratie Franaise (UDF) erneut ausgebrochen.

So wollen Premierminister Raymond Barre und die UDF mit 134 Abgeordneten Giscards Ziel realisieren, die Polarisierung der französischen Wählerschaft zu überwinden und durch eine Öffnung nach links (zunächst mit Blick auf die linken Radikalsozialisten, aber auch auf Teile der Sozialisten) allmählich die Regierungsmehrheit zu erweitern.

Demgegenüber lehnt J. Chirac eine solche Politik strikt ab. Zum einen befürchtet er zu Recht, durch eine solche Vergrößerung der Regierungskoalition schließlich ausgebootet zu werden Zum anderen besitzt Raymond Barre ohne die Gaullisten keine reale Parlamentsmehrheit; Giscard d'Estaing und sein Premier sind also auch in Zukunft auf das RPR angewiesen. So drohte Chirac unverhüllt mit einem Scheitern jeglicher Regierungspolitik, sofern sie den grundsätzlichen Zielen der Gaullisten widerspricht. Für ihn kommt es nicht darauf an, „die Politik der Linken zu betreiben" oder „daß wir uns im Sieg beherrschen, sondern daß wir ihn ausnutzen" Mit anderen Worten: Chirac versucht schon jetzt die notwendige Ausgangsbasis für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1981 zu schaffen, wo er nach der momentanen Lage Giscards Hauptkonkurrent werden dürfte. Denn die Wähler seiner Sammlungsbewegung sind in ihrer soziologischen Zusammensetzung weitgehend identisch mit den Anhängern der wichtigsten Gruppierung der UDF, der Republikanischen Partei. Sie durch eine progressive Reformpolitik zu beunruhigen, liegt weder in Giscards, aber noch weniger in Chiracs Interesse. Daß seine Stellung innerhalb der Parlamentsfraktion des RPR nicht ganz unumstritten ist, zeigt die Wahl des Altgaullisten Jacques Chaban-Delmas zum Parlamentspräsidenten gegen den Willen Chiracs. Knapp 30 RPR-Abgeordnete haben bei der geheimen Wahl gegen Chiracs Favoriten, Edgar Faure, gestimmt und somit indirekt dem Präsident der gaullistischen Bewegung eine empfindliche Schlappe beigebracht

Abschließend ist festzuhalten, daß das Wahlergebnis zwar einen Machtwechsel zugunsten der Linken verhindert hat. Die Situation hat sich aber insofern verändert, als sich das bisher auf zwei fast gleichstarken Blöcken ruhende Parteiensystem eher zu einem Vierersystem gewandelt hat: Auf der Linken die mittlerweile verfeindeten Kommunisten und Sozialisten mit ihrem Partner MRG (Mouvement des Radicaux de Gauche), auf der Rechten die Gaullisten, die Staatspräsident Giscard d'Estaing vorwerfen, sie nicht als loyale Partner zu behandeln, und die sich zur Fraktionsgemeinschaft UDF zusammengeschlossenen Anhänger Giscards. Theoretisch wären andere Bündnisse als die bestehenden möglich; aber keine Partei ist geschlossen und somit stark genug, um das Lager zu wechseln und eine neue Regierungskoalition zu bilden. Somit verhindert ein fast täglicher Streit zwischen den Führern der Majorite das Inangriffnehmen längst überfälliger sozialer und wirtschaftlicher Reformen. Raymond Barres Regierungserklärung am 19. April 1978 war dafür ein typisches Beispiel. Andererseits dürfte auch Giscards Hoffnung, die Sozialisten für eine Koalition zu gewinnen, auf absehbare Zeit illusorisch bleiben, denn ein solcher Wechsel würde momentan zu einer starken Zerreißprobe in der PS werden, die ggf. zu ihrer Spaltung führen könnte — ein Risiko, das F. Mitterrand zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht einzugehen bereit ist.

II. Kurzporträt der französischen Gesellschaft

Tabelle 2 Quelle: Menyesch, a. a. O., S. 38

Zur Entwicklung der französischen Sozialstruktur Zentrales Thema des letzten Wahlkampfes war neben sozialen Fragen vor allem die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen.

Nach einer Studie des CERC (Centre d'etude des revenus et des coüts), die von Premierminister Barre in Auftrag gegeben worden war, sind solche Ungleichheiten in Frankreich im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn extrem groß (s. u.). Zweifelsohne haben die Franzosen im ersten Wahlgang deutlich gemacht, daß sie die Versprechungen ihres Staatspräsidenten nach mehr sozialer Gerechtigkeit, die dieser schon vor seiner Wahl 1974 gegeben hatte, nun verwirklicht sehen wollen. Aus diesem Grund gaben sie der Linksunion zunächst einen knappen Vorsprung. Das gemeinsame Programm der Linken hat Erwartungen freigesetzt, die bei breiten Schichten die Hoffnung auf soziale Veränderungen weckten und die von den Regierungsparteien nicht übergangen werden können. So finden sich in allen Parteiprogrammen Aussagen über die Verbesserung der sozialen Lage bisher unterprivilegierter Schich-ten. Am weitesten ging — nach dem Bruch der Linksunion — die PCF, die u. a. die Anhebung des Mindestlohnes SMIC um 37 Prozent auf 2 400 F forderte. Dem schlossen sich die Sozialisten erst nach einigem Zögern an. Andererseits befürchteten die Regierungsparteien in einer solchen Erhöhung des SMIC den Bankrott zahlreicher Klein-und Mittelbetriebe sowie weiter Teile des Handels. Sie schlugen statt dessen — so Raymond Barre im Programm von Blois — eine allmähliche Anhebung dieses gesetzlich garantierten Mindestlohns vor. Gerade die Auseinandersetzung um den SMIC ist mit wahlentscheidend gewesen, weil nach dem Einschwenken der Sozialisten auf die Linie der PCF zahlreiche, durch Anhebung in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohte kleine Selbständige wieder ins Regierungslager übergewechselt sind.

Somit sind die sogenannten „Smicards“, d. h. jene nach dem Mindestlohn Bezahlten, die eigentlichen Verlierer der Wahl. Denn diese ca. anderthalb Millionen Beschäftigten müssen mit monatlich 1 743 Francs ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wie sie dies schaffen (außer durch zusätzliche Nebentätigkeit), ist ein Rätsel. Dabei sind ihre Löhne seit der Mai-Krise 1968 schon überproportional angestiegen. Die damalige Lohnerhöhung von 35 Prozent, die von der Wirtschaft relativ gut verkraftet wurde, sowie die folgenden sind aber mittlerweile durch die steigenden Lebenshaltungskosten aufgezehrt, so daß die „Smicards" am Rande des Existenzminimums leben. Raymond Barres Regierungserklärung, den SMIC überproportional anzuheben (auf 1811 F ab 1. Mai), brachte für diese Gruppe, die neben den Rentnern zur ärmsten Bevölkerungsgruppe zählt, nur bescheidene Hoffnung. Der von den Kommunisten provozierte Bruch war für sie — folgt man den zahlreichen Äußerungen von „Smicards" in der Presse — eine so tiefgehende Enttäuschung, daß sie aus Verbitterung den Linksparteien teilweise ihre Stimmen verweigerten.

Somit haben die Wahlen zwar den Regierungsparteien (rechnerisch) eine stabile Mehrheit beschert, aber nicht zur Lösung der sozialen Probleme beigetragen.

Wenden wir uns nun der Entwicklung der französischen Sozialstruktur zu.

Nicht nur die französische Wirtschaft, sondern auch die französische Sozialstruktur hat in den vergangenen Jahren einen grundlegenden Wandel durchlaufen War Frankreichs Sozialstruktur vor dem Zweiten Weltkrieg durch ein ausgeglichenes Vorhandensein von Bauern, Kleinhändlern, Gewerbetreibenden und Handwerkern gekennzeichnet, änderte sich dies schlagartig Ende der fünfziger Jahre: Der schon nach dem Krieg einsetzende wirtschaftliche Aufschwung setzte sich nach dem Eintritt Frankreichs in die EWG verstärkt fort. So stieg das Bruttosozialprodukt in dem Zeitraum 1960 bis 1972 um durchschnittlich 5, 8 Prozent; 1973, vor Ausbruch der weltweiten Rezession, betrug es 6, 3 Prozent und lag neben Japan an der Spitze der westlichen Industrieländer. Trotz der Wirtschaftskrise erzielte Frankreich 1977 mit 3 Prozent ein höheres BSP als die Bundesrepublik Deutschland. Stellt man eine Rangliste der reichsten Länder auf, so liegt Frankreich 1976, gemessen am BSP vor Großbritannien auf dem fünften Platz.

Wird diese Summe aber auf die Bevölkerung umgerechnet, so rutscht Frankreich mit 6 547 Dollar auf den zehnten Rang (den ersten Platz hält die Schweiz, die Bundesrepublik Deutschland mit 7 254 Dollar den siebten). Parallel dazu erfolgte ein starker Konzentrationsprozeß der französischen Wirtschaft, der vom Staat durch großzügige Kredite gefördert wurde, um die einzelnen Branchen für den Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen. So erzielten 1970 z. B. 0, 86 Prozent aller Industriefirmen 62 Prozent (!) des gesamten Umsatzes aller Betriebe. Dies zeigt ebenfalls, daß ein wesentlicher Strukturdefekt der französischen Wirtschaft nach wie vor besteht: die partiell noch dem Ideal sich selbst genügender Mini-Familienbetriebe anhängenden Unternehmer. Mangelnde Kapitalausstattung, patriarchalischer Führungsstil und unzureichende Technologie hat sie oft als erste während der Krise in den Konkurs getrieben.

Ein weiteres Element, das den Wandel der französischen Sozialstruktur kennzeichnet, ist die Verstädterung, die ihrerseits stark mit dem Rückgang der Bevölkerung in der Landwirtschaft verknüpft ist. So leben Mitte der siebziger Jahre 70 Prozent aller Franzosen in Städten; 1958 waren es erst 58 Prozent. Der Staat versucht durch den Bau von neuen Städten und durch den Ausbau bestehender regionaler Metropolen (sogenannte „Metropoles d'Equilibre") dieser Verstädterung mit all ihren sozialen, wirtschaftlichen und infrastruktureilen Problemen Rechnung zu tragen. Dennoch leben ca. 20 Prozent aller Franzosen in der Pariser Region.

Somit hat sich ein neuer Gesellschaftstyp in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet: Eine „vorwiegend städtische Gesellschaft hat die traditionelle ländliche Gesellschaftsordnung verdrängt"

Innerhalb der Landwirtschaft ist der Umbruch verhältnismäßig reibungslos vonstatten gegangen. Waren noch 1954 20, 7 Prozent aller Beschäftigten (einschließlich der Landarbeiter sogar 26, 7 %) in der Landwirtschaft tätig, so sind es 1975 nur noch 7, 6 Prozent (zuzüglich 1, 7 °/o Landarbeiter) 7 %) in der Landwirtschaft tätig, so sind es 1975 nur noch 7, 6 Prozent (zuzüglich 1, 7 °/o Landarbeiter) 25). Durchschnittlich 150 000 Personen wandern jährlich vom Land in die Stadt; es sind vor allem junge Menschen, denen die elterlichen Äcker kein gesichertes Auskommen garantieren und die deshalb einen Arbeitsplatz in der Industrie suchen. Die Folge ist — neben den Problemen eines Bruches sozialer Bindungen — eine Vergreisung zahlloser Dörfer, eine Verödung zahlreicher Landstriche und eine Überalterung der Landwirte. Schon heute sind 43 Prozent aller Bauern älter als 50 Jahre .

Diese Tendenz trifft in ähnlicher Form auch für die Selbständigen in Industrie, Handwerk und Handel zu. So hat sich ihr Anteil an den Erwerbstätigen von 12 Prozent (1954) auf 7, 8 Prozent im Jahre 1975 verringert. Auf die Folgen des Verlustes der Selbständigkeit kann hier nicht näher eingegangen werden. Jedoch hat ein solcher Verlust, der den bisher Selbständigen oft zur Aufnahme von Fließbandarbeit in der Fabrik zwang, eine soziale Deklassierung gebracht, die erheblichen sozialen Zündstoff birgt.

Neben diesem Rückgang der traditionellen Mittelschicht stellt man eine rasche Zunahme von abhängig Beschäftigten fest. So sind heute 83 Prozent aller Beschäftigten Lohn-und Gehaltsempfänger. Am stärksten ist die Zahl der Angestellten, der mittleren Kader (also Grundschullehrer, medizinisches und soziales Pflegepersonal, Techniker und mittlere Verwaltungsbeamte) sowie der höheren Kader (Professoren und Gymnasiallehrer, Ingenieure und leitende Verwaltungsbeamte sowie zahl-25 reiche freie Berufe) um durchschnittlich 4, 5 Prozent im Zeitraum von 1968 bis 1975 angestiegen. Dies hängt vor allem mit der Entwicklung des tertiären Sektors zusammen, der wiederum eng mit der Industrieentwicklung verbunden ist. So hat sich die Zahl der mittleren Angestellten zwischen 1958 und 1975 mehr als verdoppelt (5, 8 °/o : 12, 7 °/o), die der einfachen Angestellten hat um 75 Prozent zugenommen (10, 8 0/0: 17, 7 0/0) und die Zahl der höheren Kader hat um das Zweieinhalb-fache zugenommen (2, 9 °/o : 6, 7 ®/o). Diese Bevölkerungsgruppe stellt heute 37 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung dar und ist damit fast ebenso stark wie die Arbeiterschaft (s. u.). Somit hat sich das Zahlenverhältnis zwischen traditionellem Mittelstand und dem „neuen", unselbständigen Mittelstand zwischen 1954 und 1975 umgedreht.

Demgegenüber stagniert der Anteil der Arbeiter mit 37, 7 Prozent der Beschäftigten. Zwar haben auch sie zwischen 1954 und 1968 um 5 Prozent zugenommen; gegenüber 1968 ist aber ihr heutiger Anteil um 0, 1 Prozent geschrumpft. Dennoch bleiben sie mit 8, 2 Millionen die größte soziale Gruppe in der französischen Gesellschaft.

Dieser hier in Zahlen ausgedrückte Wandel hat sich auch auf die Struktur der einzelnen Schichten in der Bevölkerung ausgewirkt. Folgt man Rene Lasserre so hat sich in der „herrschenden Schicht" (Industrielle, leitende Beamte, Freiberufliche und höhere Kader) neben der traditionellen Vermögensbourgeoisie eine „neue Bourgeoisie" etabliert, deren Status und Reichtum auf intellektuellem Kapital und Ausübung der Macht in Industrie und Staat beruhen. Sie unterscheidet sich darüber hinaus von der „ideologisch konservati-ven früheren Bourgeoisie durch eine eher modernistische Orientierung"; sie stellt, mit anderen Worten, den industriellen Fortschritt Frankreichs in den letzten 20 Jahren dar.

Gegenpol dieser herrschenden Schicht ist die Arbeiterklasse, deren Zahl sich zwar am Gesamtanteil der Erwerbstätigen in den vergangenen Jahren verringert hat, die aber trotzdem noch die stärkste soziale Gruppe bildet, obgleich ihr Anteil innerhalb der abhängig Beschäftigten von 49 Prozent auf 46 Prozent gefallen ist.

Innerhalb dieser Schicht hat sich eine zunehmende Differenzierung ergeben: So ist der Anteil der Meister und Facharbeiter kontinuierlich gestiegen, während die Zahl der Fließ-bandarbeiter (sogenannte „Ouvriers spcialises“ oder auch O. S.) stagniert; die ungelernten Arbeiter haben sogar abgenommen. Sie setzen sich besonders aus Frauen zusammen, deren Anteil an diesen Berufszweigen der Arbeiterschaft mit 28 Prozent besonders hoch ist. Ihr früherer Tätigkeitsbereich wurde in den letzten Jahren zunehmend wegrationalisiert, so daß sie häufig von Fachkräften zu Hilfsarbeiterinnen wurden. Vermögens-und Einkommensdisparitäten Zweifelsohne steht trotz der erheblichen allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards diese Bevölkerungsschicht, die durch die Erhöhung des SMIC im Mai 1968 anschließend etwas höhere Lohnsteigerungen erhielt als andere Arbeitnehmer, immer noch auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie. Dies soll u. a. durch die Darstellung der Entwicklung der Einkommens-und Vermögensunterschiede in der französischen Gesellschaft dargelegt werden.

Zunächst ist von zwei Feststellungen auszugehen:

— Die oben aufgezeigte wirtschaftliche Expansion bedingte eine gleichzeitige, nicht unbeträchtliche Erhöhung aller Einkommen.

So hat sich das Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung seit 1949 verdreifacht.

Aber:

— Eine Umverteilung des gemeinsam erwirtschafteten Bruttosozialprodukts im Sinne von mehr Chancengleichheit, von einer Verengung der Einkommensschere, von mehr sozialer Gerechtigkeit mit Hilfe diverser Sozialbudgets hat kaum stattgefunden.

Im Gegenteil: Zwar wurden die Armen nicht ärmer und konnten ihren Lebensstandard bescheiden erhöhen, aber die Reichen wurden nicht nur reicher, sondern um ein Vielfaches reicher. So kommt ein Bericht des staatlichen statistischen Instituts INSEE zu dem Ergebnis, daß „der Vermögensabstand zwischen dem reichsten und ärmsten Zehntel der Bevölkerung sich fast verdopelt hat".

In Zahlen ausgedrückt heißt das, daß sich die Kluft zwischen Arm und Reich bei den Vermögen von 1 zu 15, 7 (1949) auf 1 zu 28, 3 Prozent erweitert hat. Ein Drittel aller Haushalte besitzt zusammen lediglich 0, 5 Prozent des gesamten privaten Vermögens; mit anderen Worten: maximal 10 000 Francs pro Haushalt. Am oberen Ende der Wohlstandstabelle teilen sich dagegen zehn Prozent aller Haushalte 50 Prozent des Reichtums: sie verfügen jeweils über 500 000 Francs oder mehr.

Insgesamt, so urteilt ein Bericht des CREP muß festgestellt werden, daß in Frankreich die Vermögensungleichheit zweimal größer ist als bei den Einkommen, und ebenfalls bedeutend größer als in den übrigen westeuropäischen Industriestaaten.

Auch bei den Einkommen bestehen ähnliche Disparitäten. So verdienten im Januar 1978 80 °/o aller französischen Arbeitnehmer und 95 °/o aller Frauen weniger als 4 400 Francs (= DM 2 000, —) im Monat. Dabei erhielten 51 °/o aller Männer und 78 % aller Frauen sogar weniger als 2 935 Francs (= DM 1 400, —) im Monat; der französische Durchschnittslohn lag bei 2 900 Francs bei den Männern und bei 2 100 Franc bei den weiblichen Arbeitnehmern. Vergleicht man solche Einkommen mit höheren, so ergibt sich ein „Einkommensfächer" von 1 zu 13 zwischen Hilfsarbeiterinnen und leitenden Verwaltungsangestellten in der Industrie.

Die beiden folgenden Tabellen sollen solche Disparitäten erläutern helfen: Betrachtet man nicht nur die hier aufgeführten Einkommen, sondern bezieht in einen Vergleich auch extreme Einkommenspole mit ein, wie z. B. Rentner, die Anfang 1978 ganze 16 F pro Tag (= ca. 915 F pro Monat) erhielten, und die Generaldirektoren großer Industriekonzerne, ergibt sich ein Einkommens-unterschied von 1 zu 48. Das Bestürzende an soldien Unterschieden ist nicht die Höhe, sondern die Tatsache, daß Rentner und die untersten Lohngruppen am Rande des Existenzminimums (wenn nicht oft sogar darunter) leben müssen.

Auf die Ungleichheit im Gesundheitswesen, im Wohn-und Freizeitbereich kann hier nicht eingegangen werden. Sie korrelieren aber mit den oben aufgezeigten Einkommensdisparitäten. Neben diese Faktoren tritt ein weiterer, der ganz besonders die unteren Einkommens-schichten trifft: die Höhe der Mehrwertsteuer (T. V. A.). Frankreich kennt im Gegensatz zu seinen Nachbarn nicht nur keine Vermögenssteuer sowie nur eine äußerst bescheidene Erbschaftssteuer, sondern auch nur eine relativ geringe Einkommenssteuer, deren Progressionssätze erst bei hohen Einkommen ansetzen, so daß diese Steuer nur 20 Prozent aller Steuereinkünfte des Staates ausmacht. Das Gros aller Steuereinnahmen bringt die soge-nannte T. V. A., die vor allem kinderreiche Familien besonders hart trifft, da — abgesehen von wenigen Grundnahrungsmitteln — auf Lebensmittel und Gebrauchsgütern ein Steuersatz von durchschnittlich 16— 33 Prozent liegt. Am Beispiel einer sechsköpfigen Familie mit ca. 4 500 Franc Einkommen (einschließlich Kindergeld, Wohngeld und Hausfrauengeld für die nichtberufstätige Mutter) bedeutet dies, daß eine solche Familie monatlich etwa 800 Francs bzw. knapp 20 Prozent ihres Einkommens als indirekte Steuer an den Staat abführt 30).

Die Diskussion über eine gerechtere Steuer-verteilung nahm deshalb im Wahlkampf einen ebenso großen Stellenwert ein wie die Erhöhung des Mindestlohns. Alle Parteien versprachen eine gerechtere Belastung, wie dies schon Staatspräsident Giscard d’Estaing bei seinem Amtsantritt 1974 getan hatte, ohne jedoch dieses Versprechen verwirklicht zu haben. Auch nach der Wahl scheint sich in diesem Bereich fast nichts zu ändern, da die Vorstellungen der Regierungsparteien zu heterogen sind. Die Gaullisten erklärten klipp und klar, daß sie eine ihre Wählerschaft belastende Vermögensteuer ablehnen; auch eine Änderung der T. V. A. wird zurückgewiesen. Damit müssen zunächst Hoffnungen auf eine Korrektur dieses ungerechten Steuersystem begraben werden.

Eine zergliederte Gesellschaft Summiert man die hier aufgeführten wichtigsten Faktoren der französischen Sozialstruktur, so läßt sich abschließend die französische Gesellschaft mit Rene Lasserre in fünf ziemlich voneinander abgegrenzte Gruppen unterteilen:

Auf der untersten Stufe dieser Gesellschaftspyramide steht mit etwa 50 Prozent der Bevölkerung die „Gruppe der Benachteiligten und der Beherrschten", zu der Lasserre die Landarbeiter, das Dienstpersonal und die Arbeiter rechnet. Diese Gruppe ist gekennzeichnet durch die niedrigsten Einkommen sowie die härtesten Lebensbedingungen.

Die zweite Gruppe besteht aus den „kleinen Kapitalisten", also aus Handwerkern, Kleinhändlern und Kleinagrariern. Zwar haben sie gegenüber der ersten Gruppe den Vorteil, selbständig bzw. relativ unabhängig zu sein, doch verfügen sie trotz harter Arbeit nur über ein bescheidenes Einkommen und sind wirtschaftlich durch Strukturveränderungen in ihrem Tätigkeitsbereich bedroht.

Darüber befinden sich die „White Collar" -Angestellten, eine expandierende Gruppe mit relativ guten Arbeits-und Verdienstmöglichkeiten. Zwar muß dies für die kleinen Angestellten eingeschränkt werden, doch gibt es für diejenigen mit guter Berufs-und Schulbzw. Hochschulausbildung interessante soziale Aufstiegsmöglichkeiten.

An der Spitze dieser Pyramide stehen nach Lasserre zwei „Minderheitengruppen, die die herrschende Klasse bilden":

— Den einen Teil stellt die traditionelle Bourgeoisie mit Industriellen, Großhändlern, gut verdienenden Freiberuflichen und großen Landwirten. Obwohl nur 2 Prozent der Bevölkerung, stehen sie aufgrund ihrer Privilegien und des durch Erbschaft angehäuften Vermögens an der Spitze aller Einkommen und Vermögen.

— Den anderen Teil bildet die aus höheren Beamten, leitenden Angestellten und Ingenieuren bestehende Technokratie. Wesentlicher Bestandteil ihres Einflusses und ihres hohen Einkommens ist ihre intellektuelle Kompetenz, die sie sich in zahlreichen Fällen auf den „Grandes Ecoles" angeeignet haben. Das Besondere dieser Schicht liegt in ihrer Selbstrekrutierung, indem ihre Mitglieder nicht nur Absolventen derselben „Hohen Schulen" sind und damit die gleiche „Sprache" sprechen, sondern in der Regel aus dem gleichen sozialen Milieu stammen

Nach Lasserre finden innerhalb der Pyramide keine wirklich gründlichen Durchdringungen statt, sondern allenfalls schwache Stufenverschiebungen zwischen nahe beieinander liegenden Schichten. Aufstiegsmöglichkeiten sind somit weitgehend ausgeschlossen.

Ob es der alten bzw. neuen Regierung unter Raymond Barre gelingen wird, die notwendigen und längst überfälligen Reformen im Bereich der Sozial-und Fiskalpolitik durchzu-führen und damit ein sich erneut abzeichnendes Konfliktpotential innerhalb der unteren Schichten, gekoppelt mit starker Arbeitslosigkeit, weiteren Entlassungen sowie einer akademischen Jugend mit zunehmend geringer werdenden angemessenen Berufsaussichten, zu neutralisieren, scheint fraglich. Die Regierungserklärung vom 19. April 1978 mit ihrem Hinweis auf „die im Oktober 1976 begonnene Sanierungspolitik" (mit anderen Worten: das Beibehalten des Austeritykurses) sowie auf eine Reihe wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen schließt durchgreifende strukturelle Sozialreformen aus.

Andererseits ist ihr Spielraum zur Beibehaltung des sozialen Status quo wegen der im Wahlkampf geweckten sozialen Hoffnungen in breiten Schichten der Gesellschaft relativ schmal. Die Regierung wird somit allein aufgrund der Tatsache, daß sich fast 50 Prozent der Bevölkerung im Umfeld des Existenzminimums befinden, nicht umhin können, im Sozialsektor aktiver zu werden als bisher. Denn „die Not und die Privilegien zu beseitigen, die Diskriminierung zu bekämpfen — das fordert die Gerechtigkeit", so Staatspräsident Giscard d’Estaing in seinem Buch „Französische Demokratie"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe die Aufstellung in Le Monde vom 3. 3. 1978.

  2. Vgl. die Statistik gemäß den Angaben des Innenministeriums, s. Le Monde, Dossiers et Documents, Les Elections Legislatives de Mars 1978.

  3. Nach den Angaben des Innenministeriums.

  4. Vgl.den Wortlaut der Erklärung in: Le Monde, Dossiers et Documents, a. a. O., S. 86.

  5. Vgl. Le Monde, Dossiers et Documents, a. a. O., S. 93.

  6. Vgl. ebd. S. 93.

  7. Ebd. S. 96.

  8. Ebd.

  9. Vgl. hierzu Le Programme Commun de Gouvernement de la Gauche, Propositions socialistes pour l’actüalisation, Paris 1978, S. 5 ff. und aus kommunistischer Sicht: Pierre Juquin, Programme Commun. L'Actualisation ä dossiers ouverts, Paris 1977.

  10. Während die PCF die Verstaatlichung auch jener Filialen forderte, in denen die Muttergesellschaft eine 50%ige Beteiligung besaß (ca. 1 450), wollten die PS und das MRG nur diejenigen mit 98 °/o Beteiligung verstaatlicht wissen (ca. 200).

  11. Vgl. hierzu: Udo Kempf, Der Bruch der französischen Linksunion. Masch. Manuskript für die Tagung der Arbeitsgruppe „Parteien, Wahlen, Parlamente" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Darmstadt 17. /18. Juni 1978.

  12. Vgl. Kempf a. a. O.

  13. Vgl. Frankiurter Allgemeine Zeitung vom 28. 3. 1978 und Le Monde vom 23. 5. 1978.

  14. Vgl. Le Monde vom 5. 4. 1978.

  15. Die UDF bildete sich am 1. Februar 1978 und setzt sich aus folgenden Parteien zusammen: Republikaner, Radikalsozialisten (rechter Flügel), Zentrum.

  16. Vgl.seine Äußerungen auf dem außerordent-lichen Parteitag 1978, abgedr. in F. A. Z. vom 15. 4. 1978.

  17. Ebd.

  18. Die Folge war eine Änderung der Parteistatuten, die nun die Abgeordneten automatisch zu Mitgliedern des Zentralkomitees macht, andererseits aber gaullistische Regierungsmitglieder und die Vorsitzenden des Verfassungsrates, des Senats und der Nationalversammlung für die Dauer ihrer Amtszeit aus den Führungsgremien des RPR ausschließt.

  19. CERC, Rapport sur les revenus, Editions Albatros, Paris 1977.

  20. Vgl. die Synopse in Le Monde, Dossiers et Documents, a. a. O., S. 41 f.

  21. Salaire minimum interprofessionel de croissance.

  22. Vgl. Udo Kempt, Das politische System Frankreichs, Opladen 1975, S. 219 ff.; Dieter Menyesch, Das alte und neue Frankreich, in: Der Bürger im Staat, Heft 1, März 1978, S. 33 ff.; Oscar-Erich Kuntze, Wirtschaftsmacht, in: Der Bürger im Staat, a. a. O., S. 39 ff.

  23. Vgl. OCDE: Etudes Economiques. France, Februar 1977.

  24. Rene Lasserre, Entwicklung der französischen Sozialstruktur, in: Sozialstruktur und Politik in Frankreich, Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Instituts 1976, S. 3.

  25. Laurent Thevenot, Les Categories sociales en 1975: l'extension du salariat, in: Economie et Statistique 91 (juillet-aout 1977), S. 4 f.

  26. Thevenot, a. a. O., S. 12.

  27. Vgl. Lasserre, a. a. O., S. 4 ff.

  28. INSEE, Die Entwicklung des Vermögens der Franzosen zwischen 1949 und 1975, vgl. dazu: Le Monde vom 11. und 18. 4. 1978 sowie Jean-Claude Colli, L’Inegalite par l'argent Paris 1975, und INSEE, Donnees Sociales, 3eme edition 1978, siehe auch: Klaus-Peter Schmid, Wie reich sind die Franzosen, in: Die ZEIT vom 31. 3. 1978.

  29. Vgl. dazu: Le Monde, L'Annee Economique et Sociale, 1977: La Langueur, Dossiers et Documents Januar 1978, S. 123, und Robert Lattes, La Fortune des Frangais, Editions J. -C. Lattes, Paris 1977.

  30. Vgl.den Fernsehfilm: Klassenkampf auf Französisch, zitiert bei: Jürgen Nebel, Frankreich hat gewählt — Aktuelle Unterrichtsmaterialien 5, Beihefter zu Geographische Rundschau 30 (1978) H. 3,

  31. Lasserre, a. a. O., S. 9 ff.

  32. Vgl. dazu: Hans M. Bock, Neo-Poujadismus als Symptom, in: Lendemains Nr. 2/1975.

  33. Vgl. dazu: MicheJ Crozier, La Socit bloquee, Paris 1970, S. 157 ff.

  34. Valery Giscard d’Estaing, Französische Demokratie, Frankfurt 1977.

Weitere Inhalte

Udo Kempf, Dr. phil., geb. 1943 in Remscheid; Dozent für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. und Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg. Veröffentlichungen: Zur Kandidatenaufstellung in Frankreich, Berlin 1973; Bürgerbeauftragte — Eine vergleichende Studie, Mainz 1975; Das politische System Frankreichs — Eine Einführung, Opladen 1975; Amerika heute — Aktuelle politische, soziale und wirtschaftliche Probleme der USA (zus. m. G. Schlott), Frankfurt 19783; Einführung in die Politische Wissenschaft — Beispiele, Gegenstandsbereiche, Definitionen (zus. m. H. -G. Merz und P. -L. Weinacht [Hrsg. ]), Freiburg 1977; Bürgerinitiativen und repräsentatives System (zus. m. B. Guggenberger [Hrsg]), Opladen 1978.