Politischer Geographieunterricht Eine Traditionsauslegung als Beitrag zur Geographiedidaktik
Karlheinz Filipp
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Zusammenfassung
Bisher Selbstverständliches ist fragwürdig geworden, es sollte auch forschungswürdig werden. Mit der Curriculumdiskussion ist freilich nicht neuer „Sinn" altem „Unsinn" entgegenzustellen. Man sollte sich vielmehr darauf besinnen, daß auch die traditionelle Geographie lernzielorientiert war. Dieser Lernzielorientierung geht diese Arbeit in einer erziehungswissenschaftlich interessierten Traditionsauslegung nach in der Absicht, für die gegenwärtige Diskussion um Curricula und Lernziele im Geographieunterricht neue Perspektiven zu ermitteln. Die Analyse von deutschen Geographielektionen erteilt also ihrerseits die Lektion, bestimmte Traditionsauslegungen zur Grundlage einer zu etablierenden Geographiedidaktik zu machen. In dieser Phase sollte man sich einerseits auf neue „fachfremde“ (vor allem erziehungsund sozialwissenschaftliche) Literatur stützen, andererseits aber auch auf traditionelle Literatur zurückgreifen: So werden die Namen Ratzel und Riehl mit moderner Sozialgeographie in einen Zusammenhang gebracht; sich bislang oft unpolitisch gebender Geographieunterricht wird im Rahmen der Gesellschaftslehre auf seinen politischen Stellenwert hin untersucht. Der Autor weist das Aufgabenfeld des Geographiedidaktikers als Ort aus, wo sowohl der Geograph wie der Erziehungswissenschaftler gefordert ist.
I. Geographie und Didaktik
Ein Hauptverdienst der Curriculumdiskussion ist es, scheinbar Selbstverständliches frag-und forschungswürdig gemacht zu haben. Dabei wurde die Didaktik nicht nur auf die Schule bezogen, sondern auch auf die Wissenschaft. „Denn Didaktik ist immer schon insofern am Werk, als kein Gegenstand von der Wissenschaft hervorgebracht wird, wie er , von sich aus" ist, sondern immer in einer bestimmten Auswahl und Ausblendung und Überhöhung aus einer bestimmten Lage heraus und im Hinblick auf einen bestimmten Zweck."
Für die Geographie wie wohl auch für andere Fächer war es sehr schwer, diesen neuen Fragehorizont, der durch die politische und sozio-ökonomische Lage am Ende der sechziger Jahre begünstigt und getragen wurde, zu akzeptieren. Geht es doch um Selbstverständliches, um das Selbst einer Wissenschaft. Diese hat ihre Abkunft aus dem Bürgertum zwar vorgeblich getilgt, in der Praxis des veröffentlichten Geographiebewußtseins kann sie ihren Hang zu innerer Gewaltsamkeit und sozialer Kontrolle jedoch nur schwerlich verbergen. Mit ihren Autoritäten wirkte und wirkt sie z. T. noch immer wie ein Verbot, über das Selbstverständnis der Zunft hinaus zu denken oder gar über es selbst öffentlich nachzudenken. Es zeigen sich hier die Auswirkungen des Zwangscharakters jenes geisteswissenschaftlichen Apriori, das als Landschaft und Mensch schlechthin (Anthropos) *) zwar fachlich bewältigt und überwunden zu sein scheint, vom zugehörigen Handlungszusam-menhang her aber noch wirksam ist. Bartels und Hard haben dies bei ihrer Pionierarbeit gegen die Bastionen der Anthropound Landschaftsgeographie besonders zu spüren bekommen. So wird etwa von Paffen in der Einleitung zu einem Sammelband über „Das Wesen der Landschaft" die Klage erhoben, „unter dem Schleier einer schwer verständlichen, fachfremden Sprache und Berufung auf überwiegend fachfremde Autoren werden überkommene Werte, Ideen und wesentliche Erkenntnisse dreier geographischer Forschergenerationen einfach vom Tisch gefegt"
Durch die Überwindung des innergeographischen . Zitierkartells und durch eindringliche Fragen nach Sinn und Wert wurde also ein Geographiebild kritisch betrachtet, das Normen und Werte der bürgerlichen Kultur-weit als geographische Objektivationen verabsolutierte („Kulturlandschaft als objektivierter Geist" Dabei ist man im Erziehungssektor von einer Sicht ausgegangen, deren soziales Engagement u. a. aus der Disparität zwischen hehrer Pädagogik (wie sie z. B. Lehrplan-Präambeln verkünden) und gesellschaftlicher Realität gespeist wird und die an der daran beteiligten Geographie Kritik übt im Namen von Maßstäben, die aus dem Prozeß zunehmender Demokratisierung resultieren.
Unterricht soll künftig insofern lernzielorientiert sein, als er sich bewußt weniger am zu vermittelnden Stoff und mehr an der Person des Schülers orientiert, weniger an fachlich-objektiver und mehr an lebensgeschichtlichsubjektiver (eben „curricularer") Erkenntnis-arbeit. Das aus dem eigenen Erfahrungszusammenhang resultierende Bewußtsein zumal der unteren Sozialschichten dürfte dann nicht mehr ausgeblendet und ausgetauscht werden gegen ein schulamtlich gefördertes, das sich übergesellschaftlich gibt, tatsächlich aber bürgerliche Normen verinnerlichen läßt. Gerade in diesem Punkt sollte man unter besonderer Beachtung der schulischen und außerschulischen Erziehung den Blick geschärft haben für mögliche Optionen, die im Sinne des Grundgesetzes auf die Verwirklichung von mehr Selbst-und Mitbestimmung abzielen.
So eindrucksvoll und wünschenswert die Curriculumentwicklung ist, sie soll und darf andererseits den Blick zurück nicht versperren. Die traditionelle Geographie, die über viele Jahrzehnte ihre Tauglichkeit bewiesen hat, kann nicht einfach als „Unsinn" einem neuen „Sinn“ entgegengestellt werden. Dieser erste* emotionsbelastete Schlagabtausch sollte mittlerweile überwunden sein. Man sollte sich jetzt darauf besinnen, daß die alte Geographie natürlich auch lernzielorientiert war. Nur brauchte dies nicht ausdrücklich gesagt zu werden, da die Ziele offenbar selbstverständlich waren. Die traditionelle Geographie und die Pädagogik Nohls, Sprangers und Flitners gehören zusammen. Ihre gemeinsame geisteswissenschaftliche Grundlage und soziale Verwurzelung waren so stark, daß Geographie „einfach" gelehrt und gelernt wurde. „Geographie und ihre Didaktik" war eine Einheit, ein Fach. Uber Lernziele braucht nicht gesprochen zu werden, nur über die unterrichtliche Aufbereitung, über die Methodik, was besonders die Pädagogischen Hochschulen übernahmen. So ist es nur konsequent, wenn Schnass ein Standardwerk über „Erprobte Wege" (also „Eine lehrpraktische Methodik“) schrieb und Wocke seiner vielgelesenen Darstellung über „Heimatkunde und Erdkunde" den Untertitel „Grundzüge einer Methodik" gab, und zwar mit dem ausdrücklichen „Bekenntnis zu einem natürlichen Unterricht, der von der erzieherischen Zucht der Sache geführt und von dem beschwingenden Interesse des Kindes genährt wird"
Die skizzierte neue Lage bedeutet für die Lehrerausbildung an den Hochschulen, daß von der Ein-Fachheit der Geographie Abschied genommen werden muß, was sicherlich der Erwartungshaltung vieler von einer „guten“ Ausbildung widerspricht und was gerade in der Infragestellung von Selbstverständlichem viel Konfliktpotential individueller und kollektiver Ebene enthält.
So sollten die neu eingerichteten und noch einzurichtenden Planstellen für Geographiedidaktik nicht bzw. ausschließlich im universitären Mittelbau angesiedelt werden. Denn dadurch könnte wenigstens von der institutionellen und personellen Hierarchie her der jungen Wissenschaft ein Rahmen gegeben werden, der es ihr in der Organisation von Lehre und vor allem von Forschung erlaubt, nicht als unterrichtspraktischer Handlanger und Zuträger für eine nach wie vor didaktisch unangefochtene Fachwissenschaft ange’) sehen zu werden. Gerade diese Situation sollte ja überwunden sein; und sie sollte sich auch nicht dadurch wiederholen, daß sich die Didaktik freiwillig in die Mittlerrolle zugunsten einer Sozialgeographie begibt, die eher technologisch auf „Operationalisieren“ und „Funktionieren" ausgerichtet ist. Diese „moderne“ Geographie wird immer mehr zur Selbstbesinnung kommen müssen, je mehr sich eine neue Epoche zeigt, deren Fortschritt sich allenfalls als Erhaltung des Bestehenden erweisen kann und die so in gewisser Weise als „nachmodern" zu bezeichnen ist
Aufgabe der Geographiedidaktik ist es also, die Selbstbesinnung zu fördern und, getragen von einer allgemeinen Sinn-und Wertüberprüfung und von einer zugehörigen sozial engagierten Erziehungswissenschaft, für unsere demokratische Gesellschaft an der (jeweils) anstehenden Lernzielorientierung zu arbeiten. Dabei werden die Perspektivgebung und der Plausibilitätsrahmen in einer als nötig erkannten dauernden Curriculumrevision entscheidend mitgeschaffen von einer Traditionsauslegung, die der jungen Geographiedidaktik in der gegenwärtigen Phase einen ersten wichtigen Fundus gibt. Nur so läßt sich Cur-riculares und Vorcurriculares in einen wissenschaftlichen Deutungsund Verwendungszusammenhang bringen.
II. Anthropo-Geographie und ihr „pädagogischer Bezug"
1. Ratzels Grundlegung einer politisch-geographischen Heimatkunde Auf dem ersten Deutschen Geographentag in Berlin 1881 wurde beschlossen, daß die Geographie auf den höheren Schulen als selbständiges Unterrichtsfach zu behandeln sei und nicht als nebensächliches Anhängsel der Geschichte Diese Lehrplanforderung war für die Interessenvertreter der Geographie selbstverständlich, für die zuständigen staatlichen Stellen war sie weniger einleuchtend. Denn weshalb sollte es ein ordendliches Schulfach Geographie geben, das wesentlich physisch-geographisch orientiert war und für die vaterländische Erziehung in einem neu gegründeten und aufstrebenden deutschen Nationalstaat relativ wenig leisten konnte? Zu denjenigen, die sich — mit dem Staat — diese Bedeutungsfrage stellten und nicht staats-und bildungspolitisch blind einfach mehr Geographie forderten, gehörte Friedrich Ratzel, der fachlich selbstanklagend feststellte: „Die Schwierigkeiten des Unterrichtens in diesem Zweige kommen daher, daß die Tatsachen der politischen Geographie noch immer viel zu starr nebeneinander und neben denen der physischen Geographie liegen." Dies gilt um so mehr, als „für manche Staatswissenschaftler und Soziologen...der Staat gerade so in der Luft (steht) wie für viele Historiker, und der Boden des Staates ist ihnen nur eine größere Art von Grundbesitz. Die politische Geographie kann aber ihre Lehre vom Staat nur auf dem gegebenen Boden der Erde aufbauen."
Ratzel nahm also den Dualismus von Natur und Kultur, von physisch orientierter Geographie und Geschichts-und Staatswissenschaft nicht hin, sondern versuchte, seine „Anthropo-Geographie“ und später seine „Politische Geographie“ im Sinne einer Verbindung und Beziehung der Positionen zu konzipieren. Es war ein großartiger und epochaler Versuch, der die sog. beziehungswissenschaftliche Periode der Geographie begründete und der Natur-und Kulturgeographie einen Systemzusammenhang gab sowie dem politisch-länderkundlichen Gliederungsprinzip zur Anerkennung verhalf.
Was in den politisch-geographischen Kapiteln dokumentiert wird, ist allerdings eine positivistische und naturwissenschaftlich inspirierte Betrachtungsweise, die Geschichte ebenso einseitig interpretiert wie der historische Materialismus. Nur geht es hier nicht um die Legitimation für eine Revolution oder Diktatur des Proletariats, sondern um die Übertragung des biologischen Lebensraumes auf den historisch-politischen Bereich, was nicht weniger ideologisch ist. Nach der Lehre des früheren Zoologen und späteren sozialdarwinistisch beeinflußten Geographen können z. B. Kriege und Annexionen als triebhaft natürliche Lebensäußerungen gerechtfertigt werden. Begriffe wie „Organ“ oder „Organisation" haben eine imperiale Bedeutung erhalten. Es ist klar, daß eine derart „Politische Geographie" aus der expansiven Sicht des Bismarck-Reiches konzipiert ist, für das Ratzel gewissermaßen als politisch-geographischen Kommentar zum zweiten Flottengesetz von 1900 eine Darstellung über „Das Meer als Quelle der Völkergröße" schrieb
In Ergänzung zur außenpolitisch-expansiven Sicht hat Ratzel 1898 ein „Deutschland" -Buch veröffentlicht, das den Untertitel „Einführung in die Heimatkunde" trägt und das (nach Bobeks Begleitwort zur 7. Auflage 1943) „ins geistige Eigentum des deutschen Volkes eingegangen" ist Darin wird erneut aneinandergereihten Tatsachen alten Stils eine Absage erteilt. Aber auch eine womöglich richtige Aneinanderreihung tut es offenbar nicht ganz. Was letztlich dominiert, ist das Einfühlsame des gerade sich etablierenden Landschaftsbegriffs, das Erwandern von heimatlicher Anschauung und vaterländischer Zusammengehörigkeit. Die Vertiefung in das Seelische, das liebevolle Umfassen der nationalen Eigenart wird in Zusammenhang gesehen mit dem Zuwachs an politischer Macht.
Dabei war es für das junge deutsche Kaiserreich, das aus vielen Ländern und Ländchen bestand, zunächst besonders nötig, überhaupt einmal als ganzes national umfaßt zu werden. Die dazugehörige Machtfrage war zwar 1866 bzw. 1870/71 kleindeutsch mit Blut und Eisen entschieden worden, in Form der Vaterlandskunde mußte sie jedoch im Schulalltag immer wieder neu beantwortet werden. Ratzel wollte dazu einen Beitrag leisten und die Vaterlandskunde nicht nur der Geschichte überlassen. Dabei ergänzen sich in seinem „Deutsch-land" -Buch innen-und außenpolitische Aspekte, Geographisch-Strategisches und der Geist des Matrosenanzugs
Als Gegenposition zum „barbarischen Landkoloß" Rußland und zum Slawentum überhaupt sowie zum „welschen Erbfeind" wird ein Bild der Deutschen gezeichnet, bei denen wir „den Sinn für die Selbständigkeit der Einzelnen, Familien und Gemeinden vor allem betonen (müssen). Er tritt im Wohnen und Arbeiten, im geistigen und wirtschaftlichen Schaffen ebenso hervor wie in der Verfassung der Gemeinden und Staatswesen. Er fiel den Römern auf, als sie der Germanen zuerst ansichtig wurden, und wir erstaunten über die Lebenskraft, mit der er sich in einer von ausgleichenden und großräumigen Strömungen beherrschten Zeit behauptet. Er nennt sich Freiheit. Diese deutsche Freiheit ist etwas ganz anderes als die französische...“
Der deutsche Wald wird hier übersprungen. Ratzel geht gleich in den germanischen UrWald, wo die Freiheit lebt und die nationalen Eigenschaften verborgen sind, der Heimat-und Haussinn, die Tapferkeit und vor allem „Fleiß, Ordnung und Sauberkeit“
Wenn bisher auf von Ratzel Dargebotenes eingegangen wurde, dann sei zur Abrundung noch ein Punkt zu Nichtdargebotenem, ein argumentum ex silentio erwähnt. Gemeint ist die Art des Altmeisters der deutschen Geographie, die Wirtschaft und damit verbundene Sozialprobleme auszuklammern oder weitgehend zu verdrängen. Es ist eine Art bzw. Unart, wichtige Zusammenhänge zu verschweigen und dadurch eine Geographie zu etablieren, die mit gewissem Recht den Namen Anthropo-Geographie trägt. Denn solch etablierte Geographie, die die Geographie der Etablierten ist, hat den germanischen bzw.deutschen Gemeinschaftsmenschen zum Mittelpunkt, dessen „Kultur" räumlich aufgezeigt wird. Wie stark der Systemzwang ist, wird daran deutlich, daß selbst zu Politik Erklärtes, nämlich politische Geographie, nicht mit Wirtschaft, sondern mit Binnenexotik gekoppelt wird. Daß diese Einseitigkeit Ratzels und der Anthropo-Geographie zuerst außerhalb des Systems, von marxistischer Seite, analysiert und scharf kritisiert wurde, ist wohl kein Zufall. Karl August Wittfogel, ein Mitglied des berühmt gewordenen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, erklärte 1929 u. a.: „Ratzels Theorie ist eine Theorie der unbefleckten Empfängnis. Der Staat lebt vom Boden, ohne daß die . Eigenschaften des Bodens'das profane und politisch anstößige Reich der Arbeit passieren müssen. Hier liegt, um im Tone der Bibel zu bleiben, Ratzels methodologischer Sündenfall."
Friedrich Ratzels „Politische Geographie" hat Schule gemacht, nicht zuletzt bei Hitler. So wird berichtet, daß der Generalmajor a. D. Karl Haushofer bei seinen Besuchen in Landsberg seinem ehemaligen Ordonanzoffizier Rudolf Heß und Adolf Hitler ein Exemplar von Ratzels . Politischer Geographie'mitgebracht habe Haushofer war freilich selbst ein eifriger Leser von Ratzels Schriften und ein Anhänger von Ratzels Lehre, die er, an der Universität München lehrend, „angewandt“ auf die deutsche Nachkriegssituation nach 1918 als „Geopolitik“ vertrat. Er griff dabei auf einen Begriff des schwedischen Staatsrechtlers Kjellen zurück, der, ebenfalls von Ratzel inspiriert, den Staat u. a. als geographischen Organismus betrachtete. Haushofer wählte bewußt dieses neue Schlagwort, um von der „statischen" politischen Geographie zur „Dynamik" der Geopolitik übergehen zu können.
In der Tat könnte man Ratzels Betrachtung als statisch bezeichnen, denn er beschrieb und analysierte politisch-geographisch aus deutscher Großmachtsicht ja nur eine Welt, die er vorgefunden hatte. Haushofer dagegen mußte von einem Status quo minus, von einer Niederlage, ausgehen, die ihn als hohen Militär persönlich getroffen hat und die er in ih‘) ren territorialen Konsequenzen durch „dynamische" Geopolitik revidieren wollte. Dabei ging er vor allem von einer Politik aus, die dem wieder zur Großmacht erwachsenden und geistig-zivilisatorisch erwachsenen deutschen Volke den unentbehrlichen Boden für die Zukunft sichern sollte gegenüber Völkern, die nur Land besäßen ohne die Fähigkeit, es zu entwickeln. Unverdiente Raumnot wurde als Antrieb zur Ostexpansion betrachtet: „Die Vollendung der Einigung trat als Ziel immer mehr zurück hinter der Erkämpfung des nötigen wirtschaftlichen Lebensraums für die rasch zunehmende Reichsbevölkerung". So schrieb es Hans Bobek 1943 ins Begleitwort zur 7. Auflage von Ratzels „Deutsch-land" -Buch.
Nach dem Krieg erfuhr Ratzels „Deutsch-land“ -Buch keine Neuauflage mehr. Der germanische bzw.deutsche Gemeinschaftsmensch der Anthropo-Geographie ist indes nicht gestorben, sondern lebt, ein wenig geschminkt, in anderen Deutschland-Büchern fort, wie sie vor allem in der Schule benutzt werden. Darin wurde die Schminke vor allem auf die mißliebige politisch-geographische bzw. geopolitische Vergangenheit getupft. Zwar hat Deutschlands Lage in der Mitte Europas immer noch den Vorteil, „daß es leicht mit allen europäischen Staaten in Verbindung treten und Güter austauschen kann. Diese Lage hat aber auch bedeutende Nachteile. Deutschland hat die meisten Nachbarn in Europa und stand oft mit ihnen im Krieg. Diese Kriege haben unser Vaterland in solches Unglück gestürzt, daß die meisten Deutschen und viele unserer Nachbarn ein einheitliches Europa ersehnen, in dem alle Völker unseres Erdteils in friedlichem Zusammenleben vereinigt sind.“ 2. Vom Siedeln des deutschen Geineinschaftsmenschen Es ist das große Verdienst von August Meit-zen, mit seinem 1895 dreibändig erschienenen Monumentalwerk über „Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, Kelten, Römer, Finnen und Slawen" den Hauptanstoß zur ländlichen Siedlungsgeographie in Deutschland gegeben zu haben. Wie schon der Buchtitel sagt, geht Meitzen davon aus, daß „das eigentlich befriedigende Ziel dieser Untersuchungen nur in dem Gewinn des allgemeinen historischen und nationalen Zusammenhanges der verschiedenen agrarischen Erscheinungen gefunden werden kann" In diesem Sinne möchte er in die Tiefe blicken, das national Ursprüngliche schauen und entsprechend dokumentieren. Er glaubt feststellen zu können, daß die Hauptverschiedenheiten nicht auf unterschiedliche Naturvoraussetzungen verweisen, „also in keiner Weise auf der Örtlichkeit beruhen. Vielmehr erweist sich, daß die Unterschiede unmittelbar durch Gemütslage und Rechtsanschauungen bedingt wurden." Dabei wird slawischer und keltischer Unterdrückung freiheitlicher Germanengeist gegenübergestellt, der sich im Haufendorf mit Gewannflur widerspiegelt, wo jeder Volksgenosse seine Hufe als eine Art Volksaktie hat, und zwar in Gemengelage und in gerechter Verteilung über die gemeinschaftlich genutzten drei Großfelder der Mark.
Hier zeigt sich, wie sehr Ratzels politisch-geographische „Deutschland" -Sicht und Meit-zens siedlungsgeographische Sicht zusammengehören und ihre Basis in einer Anthropo-Geographie haben, die kulturräumliche Lebensäußerungen besonders der Menschen in der freiheitlichen Germanengemeinschaft verzeichnet. Durch das „schmucke" Sachsenhaus oder „saubere" fränkische Gehöft mit Gewann-flur werden Verhaltensdispositionen signalisiert, wodurch kleinbürgerliche Tugenden (Reinheit, Ordentlichkeit, Asexualität, ja Vereinsmeierei und Stammtisch) volkstümlich als altgermanische Eigenschaften „einsozialisiert" werden
Die Gewanneinteilung sowie das Rundlingsphänomen im slawischen bzw.deutsch-slawischen Raum wurden die wichtigsten Themenkreise der deutschen Siedlungsgeographie. Wenn 1974 in einem Sammelband der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft zur „Historisch-genetischen Siedlungsforschung" „keine Aufsätze ausländischer Forscher aufgenommen wurden, so erklärt sich dies daraus, daß die wissenschaftliche Diskussion in den drei Themenkreisen nahezu ausschließlich von der deutschen Siedlungsforschung getragen wurde und sich räumlich auf Mitteleuropa konzentrierte"
Mitteleuropa kann als Aufgabe und Problem also nicht zuletzt auch im Zeichen der deutschen Siedlungsforschung gesehen werden. Es ist dies eine Sicht, deren politische Virulenz keine römisch-germaniche Kontinuität, sondern nur eine germanische Siedlungskontinuität zuließ In programmatischen Aufsätzen betrachteten Müller-Wille und Niemeier 1944 die „Siedlungsgeographie Westgermaniens" bzw. Gesamtgermaniens Als Nie-meier seine Thesen 1961 auf dem Göttinger Kolloquium über Flurgenese vortrug, sprach er im Gegensatz zu 1944 bezeichnenderweise nur formbezogen Von einem streng formenbezogenen Fragehorizont ging man selbst in der Diskussion über Krenzlins Gewannflurthese nicht ab, derentwegen das Göttinger Kolloquium anberaumt wurde(!) Selbst in diesem Fall sprach und stritt man nur über Formen, verweigerte also eine Traditionsauslegung und die Frage nach der Frag-Würdig-keit der eigenen Aktivität So sehr dies generationsmäßig und lebensgeschichtlich verständlich sein mag, die Anthropo-Geogra-phie, der die Siedlungsgeographie zugerechnet wird, darf und kann — will sie den wissenschaftlichen Anspruch erhalten — sich nicht langer gesellschaftsflüchtig nur in Formen ergehen, sondern muß über eine ungeschminkte Traditionsauslegung und über wissenschaftsdidaktische Reflexionen zu einer sozio-ökonomisch erweiterten Sicht finden. 3. Landschaft als veranschaulichter „pädagogischer Bezug"
Lange hat sich das deutsche Bildungsbürgertum einer vom Westen vordringenden industriellen Revolution und technischen Welt widersetzt und mußte liberale, weltoffene Aktivität durch eine nach innen gewandte Wesensschau ersetzen. Dies war so nachhaltig, daß auch ein verspäteter und staatlich aufgesetzter Kolonialismus und eine in den Gründerjahren forcierte Industrialisierung die traditionelle Haltung, die mit einer ausgesprochen idealistischen Wissenschaftsbasis ein-herging, nicht verdrängen konnten. Diese Haltung der Verinnerlichung hat im Landschaftsbegriff ihren adäquaten Ausdruck gefunden. Es ist die bildungsbürgerliche Welt-perspektive, die im Kulturverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Grundlage hat.
Nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland die „Weltpolitik" -Ambitionen ausgetrieben worden waren und eine nationale Selbstbesinnung und Verinnerlichung einsetzte, erfuhr das Landschaftsdenken eine verstärkte Beachtung und Zuneigung. „Das harmonische Landschaftsbild", wie ein programmatischer Aufsatz von Robert Gradmann 1924 überschrieben war stand auf der Tagesordnung. Es ist eine sich bewußt von der sozial und national zerstrittenen Welt und von der Politik abgewandte und dem „Schönen", „Harmonischen“ und „Ganzen" zuwendende Verhaltensdisposition, die zu den Entstehungsbedin) gungen des deutschen Landschaftsdenkens gehört.
Der Landschaftsbegriff wurde, von politischen Wucherungen befreit, nach dem Zweiten Weltkrieg von der Gelehrtenstube und den Hinterzimmern der Geographischen Institute bereitwillig ins Licht der Öffentlichkeit gebracht und erlebte in der Schule und Hochschule einen neuen Höhepunkt. Die meisten Georgraphievertreter empfanden es als beruhigend, daß sie sich wieder im Bunde mit der ordnenden Macht wußten und sich „unpolitisch" verhalten durften. In schon traditioneller Verknüpfung mit der Landschaft ist die geisteswissenschaftliche Pädagogik zu sehen, die von Oetingers Partnerschaftslehre ergänzt und unterstützt wurde. Es sollte politisch risikolos vor allem auf jene einfachen Sozialgebilde wie Familie, Betrieb und Gemeinde eingegangen werden, die den Zusammenbruch als angeblich heile Welt überdauert hätten. „Miteinander — Füreinander" war die Parole. Und wo konnte man sie besser veranschaulichen als in der harmonischen Landschaft, wo die Ackerbauern, Viehzüchter und Handwerker der „pädagogischen Provinz" im klassisch-humanistischen Sinn „Umgang" mit der Natur trieben? Man konnte glauben, in Deutschland sei nicht der Marschall-, sondern der Morgenthau-Plan verwirklicht worden. Die Folge dieses Glücks im Winkel war z. B. die Trennung von „privat" und „öffentlich", von privaten und öffentlichen Tugenden.
Mit dem „natürlichen Umgang" propagierte man die „formierte Gesellschaft", wie die deutsche konservative Soziallehre von Ludwig Erhard und Rüdiger Altmann neu formuliert wurde. Diese sozialintegrative Volksperspektive ist mit Schlagzeilen verbunden wie „die Gruppen des Volkes formieren sich in der Gemeinschaft des Volkes“, „freies Zusammenwirken aller Gruppen und Interessen in Unterordnung unter gesamtgesellschaftliche Ziele", * „Gesellschaft nicht mehr aus Klassen und Gruppen“ Bei der Schaffung des gymnasialen Oberstufenfaches „Gemeinschaftskunde“ 1961 (aus den Fächern Geographie, Geschichte, Politik) hat von geographischer Seite an solchem apolitischen Harmonieglauben besonders Heinrich Newe, der damalige Vorsitzende des Schulgeographenverbandes mitgewirkt. Newe ist besonders auf die landschaftlich betonte Gemeinschaft eingegangen und stellte dabei etwa Feiern, Lied-und Brauchtum als mögliche Formen der politischen Gefühls-und Willensbildung heraus. Dies bezog er nicht nur auf die westdeutsche, sondern auch auf die ostdeutsche ehemalige Heimat (Ostkunde)
Heimatlichkeit wurde freilich nicht auf Deutschland beschränkt. Dadurch, daß die Geographie nämlich aus der heimatlichen Anschauung auch den Maßstab für die Ferne und das Fremde gewinnen sollte, war sie angeblich auch imstande, „den Weg zur Vereinbarung von Heimatliebe und Vaterlandsgesinnung mit weltumspannendem Menschheitsbewußtsein" zu zeigen. Bei derartigen „Empfehlungen für den Erdkundeunterricht an den allgemeinbildenden Schulen wurde der Harmoniebezug besonders betont. Denn „das Ganze einer Landschaft soll den Schüler auch nach der gefühlsmäßigen und sittlichen Seite ansprechen; und diese, aus der Heimatlandschaft zu entwickelnde, allseitige Ansprechbarkeit des Schülers soll in ähnlicher Weise auch für die Bereiche der geographischen Ferne erreicht werden". Die Ferne wird auf die begrenzten Maße der Heimat reduziert: ..... so entsteht auf Flaschen gezogener Urwald, mit Inhalten, die einer leeren Sehnsucht, ungeregelten Dichtung, vollen Philologie entstammen, jedoch keiner Intuition, die selber urgewachsen ist"
Die Geographie orientierte sich, auf Tönnies „Gemeinschaftsgeist aufbauend und natürliche Harmonie verheißend, an der Gemeinschaftsideologie als Modus deutscher Sozialisation. Die Exotik und Binnenexotik gehören zu den Zeugen für ein Menschenbild bzw. für eine familiäre und schulische Erziehungspraxis, die z. T. heute noch vorherrschend ist.
Blickt man von der Pädagogik ausgehend auf dieses „Anthropologikum", dann wird eine Tradition lebendig, die auf Diltheys Lebens-philosophie zurückgeht. Aus ihr wollte die geisteswissenschaftliche Pädagogik die Struktur des Lebens erfassen, und zwar so, wie vor aller Theorie der Prozeß der Erziehung angeblich schon immer geschieht. Der Verzicht auf die Vorgabe jeglicher Normen im erzieherischen Handeln ist aus der Situation der Weimarer Republik zu verstehen. Waren die Lehrer, besonders die Volksschullehrer, vor dem Ersten Weltkrieg noch unterprivilegierte Erfüllungsgehilfen der Behörden und Kirchen mit nur geringem eigenen Handlungsspielraum, so sollte mit dem weltanschaulichen Pluralismus nach 1918 bewußt die „Autonomie der Erziehung" an die Stelle der wilhelminischen Erziehungsmächte treten.
Dieselbe Erziehungsautonomie wurde nach 1945 auch gegenüber den nationalsozialistischen Mächten bemüht. Im Mittelpunkt der so traditionell gewordenen Bemühungen stand Nohls „pädagogischer Bezug", dessen politisch ungetrübtes Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling auf Seiten des Erziehers durch „pädagogische Liebe" und auf Seiten des Zöglings durch „Vertrauen" und „Bildung“ bestimmt sein sollte Tönnies'
„Hauptgesetze der Gemeinschaft" klingen darin deutlich an und verkünden mit der Verabsolutierung der personalen Beziehung das Leitbild der Familie, die gegen die „bösen“ Mächte den Krieg angeblich heil überstanden habe, im Sinne des exemplarischen Unterrichts als „Anthropologikum ersten Ranges" und als Zelle für einen aufzubauenden Staat galt. Aus der Sicht dieser Zelle, des Wohnzimmers mit seinen Bildern landschaftlicher Andacht und den Karl May-Bänden unterm Weihnachtsbaum, entstanden 1949 etwa die Lehrbeispiele Emil Hinrichs’ über den „Heidebauer", „Dorfleben in Hessen" oder „Mit den Störchen nach Afrika" Aus derselben Sicht entstand auch die von Hans Riediger herausgegebene „Handbücherei des exemplarischen Lehrens", die „Die Halligen und ihre Bewohner", „Das Alpwesen" oder „Mammut-und Renjäger" als Modellthemen für das 5. und 6. Schuljahr bzw. zur Einführung in die Geschichte empfiehlt
III. Sozialgeographie und Sozialisation
Während die „Gemeinschaftskunde" für die Oberstufe der Gymnasien bundesweit konzipiert wurde, hat demgegenüber Robert Geipel in seinem Buch „Erdkunde, Sozialgeographie, Sozialkunde" sozialgeographisches Denken in den Mittelpunkt gestellt. Bereits 1957 hatte er in einem programmatischen Aufsatz über „Heimatkunde in der Großstadt" von der ländlich-idyllischen Heimat Abschied genommen. In seinem Buch von 1960, das „Ein Beitrag zur Überwindung der Fächertrennung“ sein sollte, vermittelt er der Geographie eine sozialkundliche Perspektivgebung im Sinne der social studies. Nicht mehr das Weltbild, „das jeder Gebildete haben muß, um sich in der Welt zurechtzufinden" steht im Vordergrund, sondern der Lernbereich Sozialkunde, in dem Geographie als Sozialgeographie erneut den Rang eines Kernfaches erhalten soll. Damit wurde die deutschkundliche Perspektive vor 1945 in eine sozialkundliche der neueren Geographie verändert. 1. Sozialgeographie und Daseinsgrundfunktionen
Während Geipel 1960 seine sozialgeographische Perspektive noch mit einem gewissen Landschaftsbezug schreiben mußte, um nicht ins geographische Abseits zu geraten, konnte gegen Ende der sechziger Jahre dieser Bezug allmählich aufgehoben werden. Entscheidend war der Kieler Geographentag 1969, als das Landschaftsdenken im großen Rahmen unter Ideologieverdacht gestellt wurde Angesichts der abgeschlossenen Wiederaufbau-phase und der ernsten sozialen Verteilungskonflikte über den Ertrag des Wirtschaftswunders war die Disparität von traditionellen Begriffsmustern und gesellschaftlicher Realität nicht zu leugnen. Es galt einzusehen, daß es mit einer hohen Produktionszuwachsrate allein nicht getan ist, sondern Fragen des Umweltschutzes und der Landesplanung immer mehr in den Vordergrund rücken, was besonders in und nach der Zeit der ersten Wirtschaftsrezession 1966/67 natürlich eher Konfliktmodelle als die partnerschaftliche Harmonie begünstigte. Es ging und geht also um Fragen, die die Geographie vom Elfenbeinturm einer Bildungsdisziplin in jene praxisorientierten „Niederungen" brachten, die schon lange zur Domäne angelsächsischer Geographie gehören. Von ihr wurden auch entsprechende raum-theoretische Modelle, vor allem quantifizierender Art, übernommen so daß der u. a. mit Computerkartographie und empirischer Sozialforschung ausgestattete Studiengang des Diplom-Geographen entstand, der neben dem Diplom-Volkswirt oder Architekten zu einem Markenartikel der Raumplanung werden sollte. Bartels spricht von „Instrumentalrationalismus" und bringt ihn auf die Formel eines „empirisch-operablen Ermittlungszusammenhangs mit expliziter hypothetischer Basis und 'Voraussage-Eignung“
Es ist dies eine bemerkenswerte und zugleich sprachlich bezeichnende Formel der Operations-und Funktionsgeographie.
Nicht die Welt des Gebildeten und die staatlich behütete Harmonie wie ihre landschaftliche Widerspiegelung, sondern die Umwelt des „Berufsgeographen" und das soziale und räumliche Konfliktfeld, nicht also die Anthropo-Geographie und die Gemeinschaft, sondern die Sozialgeographie und die Gesellschaft gewinnen an Bedeutung. Was während der ersten — im Zeichen des Nationalstolzes staat-lieh dirigierten — Industrialisierung der Gründerjahre noch unterhalb der geographischen Würde und kulturlandschaftlichen Wesensschau stand, wird durch die zweite — liberalkapitalistische — Industrialisierung der Nachkriegszeit hochschulfähig. Aus der Anthropo-Geographie ist die Geographie des Alltags geworden, etwa des Konsumierens, des sich Erholens oder Versorgens. Partzsch spricht hier von sogenannten kategorialen GrunddaseinsfunktionenM). Raumprägung in dieser neuen Sicht bedeutet also ein komplexes Gefüge von Grunddaseinsfunktionen bzw. Daseinsgrundfunktionen(wie die heutige und sprachlich wohl geschicktere Bezeichnung lautet
Für Karl Ruppert und Franz Schaffer, die diese Geographiesicht maßgeblich beeinflußten, stellt sich die Sozialgeographie somit als die Wissenschaft „von den raumbildenden Prozessen der Grunddaseinsfunktionen menschlicher Gruppen und Gesellschaften“ dar. Sie verhilft dazu, „unser Leben räumlich sinnvoll zu organisieren" Die Anwendbarkeit gehört also essentiell zum sozialgeographischen Selbstverständnis: Nicht mehr idyllische Heimat-und Länderkunde konnten die Parolen der Geographie sein, sondern Operationalisierung, die Bewerkstelligung einer intakten und funktionstüchtigen Umwelt angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Raumansprüche. Und wie könnte man besser operationalisieren als mit der Sozialgeographie und ihren Daseinsgrundfunktionen? Derart begriffene Curriculum-Elemente entsprechen auch Robinsohns Auswahlkriterien, zumindest was die Bedeutung im Gefüge der Wissenschaft und die Funktion in spezifischen Verwendungssituationen betrifft Das Weltverständnis muß mit der Veränderung der Länderkunde zugunsten von Umwelt zurücktreten.
Wie wenig die raumplanerisch angewandte und die schulisch vermittelte Sozialgeographie in ihrer Operationalisierungstendenz voneinander entfernt sind, zeigt sich u. a. am Selbstverständnis des noch jungen „Hochschulverbandes für Geographie und ihre Didaktik", der den ersten Band seiner Publikationsreihe dem Thema „Quantitative Didaktik der Geographie" widmete. Zudem dokumentiert sich die gemeinsame Basis im Raum wie im Curriculum in einem Vergleich von Themen, deren Stellenwert bezeichnend ist: Wie schon mehrmals zuvor wurden auch im April 1975 über eine öffentliche Ausschreibung (Die Zeit vom 4. 4. 1975) vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Forschungsprojekte vergeben, die u. a. folgende Aufgabenstellungen beinhalten: — „Erarbeitung von Indikatoren und Bewertung von Siedlungsstrukturen unter dem besonderen Aspekt von monozentrischen und polyzentrischen Siedlungsstrukturen “.
— „Auswirkungen der abnehmenden Bevölkerung und der stagnierenden Arbeitsplätze auf die Siedlungsstruktur".
— „Auswirkungen von Entwicklungen im Energiesektor auf die Raum-und Siedlungsstruktur".
— „Falluntersuchungen über die bisherigen Erfahrungen mit der Beteiligung von Bürgern/Betroffenen bei der Verbreitung und Durchführung städtebaulicher Sanierungsund Entwicklungsmaßnahmen nach dem Städtebauförderungsgesetz". 1974 bewilligte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Finanzmittel für ein Raumwissenschaftliches Curriculum-Forschungsprojekt (RCFP), das u. a. folgende Themen umfaßt:
— „Standorte und Gebietsneuordnung für politisch-administrative und öffentlich-rechtliche Einrichtungen".
— „Innerstädtische Mobilität als Thema eines geographischen Unterrichtsmodells“.
— „Dorfsanierung''.
Vorbild für das Raumwissenschaftliche Curriculum-Forschungsprojekt ist das US-amerikanische High School Geography Project das auf der Rollentheorie Talcott Parsons'basiert und für die Gestaltung einer intakten und funktionstüchtigen Umwelt auf der Grundlage von Mitentscheidungen der Planungsbetroffenen plädiert 2. Wilhelm Heinrich Riehl oder: Von der Sozialisation der klassischen Geographie Wenn Marx festgestellt hatte, daß sich die Beherrschung der Massen nur selten der physischen, sondern vielmehr der ideologischen Gewalt bedient, dann hätte er an seinem Zeitgenossen und politischen Gegenspieler Wilhelm Heinrich Riehl studieren können, wie es den Herrschenden gelang, ihre Ideologie in der psychischen Struktur der Untertanen zu verankern.
Indem Riehl in seiner letztlich kosmologischen Perspektive die Versöhnung der individuellen Existenz mit den ewigen, göttlichen Naturgesetzen herbeisehnte und dadurch Ordnungskategorien der Natur auch für die menschliche Gesellschaft beschwor, indem er ferner die Familie zum Synonym eines harmonischen Geselischaftszustandes erhob und das vermeintliche Selbstverständnis des Bauern-standes als Versittlichungstendenz des gesamten Volkes förderte, wirkte er eminent gesellschaftspolitisch. Sein Blick richtete sich auf den „Weg zur Macht durch das liebevolle Umfassen unserer nationalen Eigenart"
In der Aufgabe engagiert, der Reaktion nach den Ereignissen von 1848 zu einer Systemstabilisierung zu verhelfen, wollte Riehl die Masse der armen Landbevölkerung vor und beim Übergang in die Frühindustrialisierung vom Gespenst des Sozialismus abhalten und dem national-konservativen Staat zuführen. Dabei entwickelte er aus der Volkskunde heraus nationale Erziehungsleitlinien als Teil einer „Social-Politik", die die zum gesellschaftlichen überleben nötige Integration und Identifikation bereithält. „Das ganze kirchliche, religiöse, künstlerische, wissenschaftliche, politische Leben der Nation erschauen wir aus dem Mittelpunkte der Volkskunde in einem neuen Lichte, dessen Reflex auf das Volkstum selber wieder zurückfällt". Die Staatswissen-schäft... verjüngt sich durch diese Tatsache.“
Ganz im Gegensatz zur späteren, sich unpolitisch gebenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird hier Erziehung bewußt im Zusammenhang gesehen mit Gesellschaftspolitik — was ganz im Sinne unseres modernen Curriculumbegriffs ist. Es ist klar, daß von diesem Standpunkt aus der Geographie keine autonome Stellung eingeräumt werden kann; Riehl betrachtet sie jedenfalls von der staats-wissenschaftlichen Fakultät aus.
Wenn Bobek 1948 in einem Aufsatz zur „Stellung und Bedeutung der Sozialgeographie" über Riehl sagte, daß „die deutsche Geographie, fortgerissen vom naturwissenschaftlichen Strome der Zeit, nicht in der Lage (war), die Goldkörner dieser Anregungen zu bergen und auszumünzen" dann ist dies insofern zu unterstreichen, als Riehls geographisch-soziologische Phantasie bei weitem nicht erreicht wurde. Anregungen müßten vor allem der heutigen Sozialgeographie gegeben werden. Denn hier könnte eine Tendenz überhandnehmen, „welche die Mehrung des materiellen Nationalwohlstandes als einziges Ziel des Volks-und Staatslebens setzt. Man verwechselt eben hier die Wirtschaftspolitik mit der socialen... (es) muß sich zu der wirtschaftlichen Zahlenstatistik eine geistige Statistik“
gesellen, eine Sichtweise also, die über den Tellerrand der Wirtschaftsbedürfnisse und über die technologische Umweltbewältigung hinausreicht.
Diese Notwendigkeit besteht auch bei der Geographiedidaktik, die sich zunehmend an ebendieser utilitaristischen Sozialgeographie orientiert. Als ein an Volkserziehung interessierter Gesellschaftspolitiker, der die Dienstbarkeit zwischen Geographie und Volkskunde umgedreht, also die Geographie der Volkskunde untergeordnet hat, könnte Riehl nur empfehlen, die Geographiedidaktik an der Sozial-
und Erziehungswissenschaft bzw. Gesellschaftslehre zu orientieren. Wenn die Geographie dabei als „Steinbruch" erscheint, bräuchte Riehl nur auf sich selbst zu verweisen und seinen großen Erfolg in der Geographie, den er trotzdem bzw. gerade deswegen erfahren hat. Dabei ist freilich nicht nur auf den großen Kulturgeographen einzugehen, der das „Wanderbuch“ schrieb und liebevoll über „Land und Leute“ berichtete, es ist auch und vor allem der königlich-bayerische Chefideologe zu sehen, der sich im Rahmen seiner „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik" über „Die bürgerliche Gesellschaft" und „Die Familie" als „Sozialisationsagenturen“ ausließ und so mittels eines volkstümlichen Curriculum bewußt den „Weg zur Macht“ verfolgte. Daß dieser andere Riehl bisher im Dunkeln blieb und nicht (etwa angelockt durch den strahlenden Namen des Klassikers) im geographischen Zitierkartell auftaucht, signalisiert das wissenschaftliche Selbstverständnis der Geographie in besonderer Weise. Der alte Riehl ist neu zu entdecken und ganz zu lesen, nicht zuletzt zur Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen Curricularem und Vorcurricularem sowie als Studie für die Notwendigkeit eines heuen Geographiecurriculum im Rahmen der Selbst-und Mitbestimmung und eines demokratischen Wegs zur Macht. 3. Geographie und Gesellschaftslehre Zum grundlegenden Interesse Riehls gehörte die Versittlichung der sozialen Zustände, jener Weg zur Macht, den er durch „Einfühlen in die Volksseele" und „liebevolles Umfassen“ verfolgte. Ihm ging es besonders um permanente Lektionen des Liebenlernens. „Und dieser Unterricht muß so nachdrücklich, so sicheren Erfolges sein, daß ein ganzes Leben, in Not und Sklaverei verbracht, nicht hinreicht, diese Liebe zu verlöschen. Was in Wahrheit gewaltsam erzwungene Ausbeutung ist, wir wissen es, soll ihnen als freiwillig dargebotenes Opfer der Liebe erscheinen." Daß diese Sätze Bernfelds unter dem Titel „Sisiphos oder Die Grenzen der Erziehung" zu finden sind ist sicherlich kein Zufall. Zeigen sie doch in direkter Fortführung Riehlscher Gedanken die Internationalisierung und affektive Absicherung dieses Fundaments der Erziehung. Wollte man es ändern, würde man in der Tat auf Sysiphos-Arbeit stoßen und die Grenzen der Beeinflussungsmöglichkeiten erfahren. Was über viele Jahrzehnte als der „höchste Triumph der inneren Verwaltungs6) kunst" angesehen wurde, nämlich „jeden polizeilichen Akt so sicher der Natur des Volkes anzupassen, daß es auch bei den lästigen Dingen glaubte, die Polizei habe doch eigentlich nur ihm aus der Seele heraus verfügt und gehandelt“ was also in selbstverständlichen Verhaltensmustern verinnerlicht wurde, kann eben nicht durch die Gesellschaftslehre und die darin enthaltenen Mit-und Selbstbestimmungsposition einfach geändert werden.
Andererseits stellen etwa die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre (1973) einen wichtigen Schritt in die Richtung dar, wo „die Aufhebung ungleicher Lebenschancen"
angestrebt und konkret gefragt wird, „wo und wie Schüler Gesellschaft erfahren und welche Auswirkungen solche Erfahrungen auf ihre Fähigkeit und Möglichkeit zur Selbst-und Mitbestimmung haben" Unter Bezugnahme auf den „Arbeitsschwerpunkt Geographie" wird in den Rahmenrichtlinien als Lernziel formuliert: „Der Schüler soll befähigt werden, das Gefüge der raumbedingenden Naturfaktoren im Zusammenhang mit den Sozialfaktoren zu erkennen und die strukturverändernden Prozesse rational zu beurteilen mit dem Ziel, seine Möglichkeiten an der Gestaltung des Raumes zum Zwecke der Optimierung der Lebenschancen und der Umweltsicherung einzuschätzen und seine Bereitschaft zur Mitwirkung daran zu fördern.“ „Umwelt" steht also im Vordergrund, ferner eine räumliche Emanzipations-und Mitbestimmungsdidaktik, die u. a. aus Planungsbetroffenen Planungsbeteiligte machen möchte
Auf „Welt" wird im zitierten Lernziel nicht und auch sonst in den Rahmenrichtlinien wenig eingegangen, obwohl ein Lernfeld „Inter-gesellschaftliche Konflikte“ anderes erwarten läßt und obwohl z. B. in den schulisch noch benutzten Länderkunden und erdkundlichen Quellenheften sowie z. T. auch in den neueren Schulbüchern (z. B. „Geographie 5/6") etwa der Sozialisationsbezug von Heimat und weiter Welt relativ leicht zu erarbeiten wäre, von der Exotikverwertung in Tourismus und Werbung ganz zu schweigen.
Das gegen die Rahmenrichtlinien von geographischer Seite weniger Kritik und Ablehnung eingebracht wurden als von historischer liegt wohl daran, daß zwischen dem gesell-schaftskundlichen Umweltaspekt und dem sozialgeographischen Ansatz mittels der Daseins-grundfunktionen eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Gleichwohl ging ein kritisches Raunen und Fragen durch die Geographen-und Schulgeographentage: Welchen Stellenwert nimmt die Geographie in den Rahmenrichtlinien ein? Kann der Geograph damit überhaupt etwas anfangen? „Welche Möglichkeiten geben sie ihm, die Aspekte des Räumlichen in die Gesellschaftslehre einzubringen? Eine Prüfung der Rahmenrichtlinien auf solche Verwendbarkeit muß von geographischen Lernzielen ausgehen." Jonas, der solche Fragen im Namen vieler Kollegen stellte kam bei einer derart fachlich orientierten Prüfung natürlich zu einem negativen Ergebnis und verneinte überhaupt einen Stellenwert der Geographie in der Gesellschaftslehre, weil „eben solche räumlichen Sachzusammenhänge oder räumliche Strukturen jungen Menschen gar nicht mehr vermittelt werden, wenn sich das Fach Geographie in der Sekundarstufe I zur Sozialkunde macht oder machen läßt"
Der Hinweis auf die Sozialkunde, auf die man mißtrauisch als Konkurrentin bei der schulischen Fächer-und Stundenverteilung fixiert ist, zeigt, daß der traditionelle Kampf zur Behauptung der Schulgeographie fortgesetzt wird. Es ist jedoch eine Fortsetzung mit Argumenten, die allenfalls in die Nachkriegszeit paßten, als tatsächlich sich neutral und unpolitisch gebende, also „nur" geographische Lernziele gefragt waren. Sie werden auch jetzt noch als Suchund Prüfungsinstrumente eingesetzt und erwecken damit den Eindruck, als sei ein wertfreies Erkennen und Beurteilen von räumlichen Sachzusammenhängen und Strukturen noch möglich.
Aus dieser Geographie-Haltung heraus ist es dann nur konsequent, wenn Jonas in der Geographischen Rundschau ausdrücklich erklärt: „Auch in dieser Stellungnahme geht es um den . Stellenwert der Geographie'. Es geht nicht um eine Auseinandersetzung mit dem politischen Anspruch der Rahmenrichtlinien, die an vielen Stellen wie ein Instrument der Gesellschaftspolitik im Bereich der Bildung wirken." Um eben diese Auseinandersetzung muß es aber gerade gehen! Der Politik bzw. Gesellschaftspolitik muß endlich das bildungsbürgerliche Etikett des Schmutzigen genommen werden, das in Jonas'Äußerung immer noch anklingt. Hier könnte die Geographiedidaktik in der Tat von Riehl wichtige Lernimpulse erhalten, Impulse auf dem Weg zur Erlangung und Akzeptierung eines erziehungs-und sozialwissenschaftlichen Fragehorizonts, der bei redlichem Bemühen und Argumentieren die Selbst-und Mitbestimmungspositionen der besprochenen Rahmenrichtlinien nicht einfach übergehen kann. Wie dann ein so gesuchter Lernstoff im einzelnen aussieht und ob er in einem Fach Geographie oder im äußeren Rahmen eines Lernbereichs Gesellschaftslehre unterrichtsmäßig organisiert ist, ist sekundär.
IV. Geographie zwischen curricularem Reformanspruch und operativer Beanspruchung
Eine Traditionsauslegung von Geographie im erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang kann zeigen, daß die Tendenz der Anthropo-und Landschaftsgeographie in der schulischen und außerschulischen Vermittlung sehr eng mit den geisteswissenschaftlichen Grundströmungen in Deutschland verbunden ist. Eine Flucht der Geisteswissenschaft in die Sphäre der vermeintlich geschützten und deshalb emotionsgeladenen Innerlichkeit ist unverkennbar. Dies charakterisiert die ideologischen Implikationen eines Denkens, in dem sich die Angst des mittelständischen Bildungsbürgertums vor gesellschaftlichen Konflikten und politischen Krisen des Kapitalismus reprodu7) ziert. Ein enger Zusammenhang zwischen Zivilisationskritik und Volkstumssehnsucht ist nicht zu leugnen. Am Ende der sechziger Jahre entwickelte sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine breite Opposition, die sich gegen das individuell und kollektiv spürbare Establishment richtete. Die Wiederentdeckung von marxistischen Positionen erschloß ein kritisches und utopisches Potential, das nicht zuletzt durch Riehls Aktivitäten über viele Jahrzehnte in Schach gehalten werden konnte, was die deutsche Sozial-und Geistesgeschichte entscheidend geprägt hat. So hat es die Pädagogik auch nur allmählich geschafft, sich aus der Umklammerung durch Theologie und Philosophie zu lösen, sich „auf ihre einheimischen Begriffe" (Herbart) zu besinnen und von der Geisteswissenschaft durch eine „realistische Wendung" zur Erziehungswissenschaft aufzusteigen. Im Zeichen der Emanzipation und der engagierten Sozialisationsstudien wird erziehungswissenschaftliches Bemühen nur akzeptiert, „wenn gesichert ist, daß alle relevanten sozialwissenschaftlichen Implikationen von Erziehung mit reflektiert werden"
Als Riehl in der Pfalz ermittelte, wie gearbeitet, gegessen, gewohnt, geschlafen wurde, unter welchen Bedingungen dies alles geschah, wollte und sollte er der Obrigkeit helfen, sich beim Regieren besser des Volksgemüts zu bedienen. Wenn über ein Jahrhundert später immer noch bzw. erneut derartige Daten ermittelt werden, dann geschieht dies mit einer gegenteiligen Zielsetzung.
Es ist eine Richtung, die von den einschlägigen Daten (Daseinsgrundfunktionen) her auch die curriculare Geographie beeinflußt hat und in dem emanzipatorisch-sozialgeographischen Akzent der hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre besonderen Niederschlag gefunden hat. Darin sind Themen wie „Schule als Institution aus sozialgeographischer Sicht" und „Wohnverhältnisse in ihren Auswirkungen auf die Sozialisation" anzugehen; und es ist z. B. zu „erkennen, welche räumlichen Gegebenheiten als naturbedingte und sozioökonomische Faktoren auf Sozialisationsprozesse einwirken und welche Möglichkeiten ihrer Veränderung sich ergeben" Idyllische Siedlungsgeographie soll also durch das Hinführen etwa zu der Einsicht überwunden werden, „daß das unterschiedliche Milieu von Wohnvierteln eine wesentliche Sozialisationswirkung ausübt" und „verschiedene Siedlungstypen unterschiedliche Sozialisationswirkungen haben (z. B. Einzel-hof, Dorf, Weiler, Stadt)"
Heute stehen jedoch nicht mehr die angeprangerten und zu beseitigenden Mängel einer Uberflußgesellschaft und der Ausbau der Demokratie in der Bundesrepublik im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Verwaltung des Mangels an Rohstoffen, an Energie, an Arbeitsund Studienplätzen. Die Wirtschaftskrise rief die „Macher". Angst, Konformitätsdruck und Denunziationsstimmung wurden vielerorts zum Bildungserlebnis und erzeugten erneut ein Stück Untertanengesinnung. Max Frisch sprach als Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1976 in der Frankfurter Paulskirche von einem Schwund an spiritueller Substanz in der Politik. „Es bleibt: Politik als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln, ein gewisser Wohlstand für die meisten als Köder zum Verzicht auf Selbstbestimmung... Daß es gelungen ist, sogar die Jugend in die Resignation zu zwingen, ist kein Triumph der Demokratie."
Schrader, der als Geograph an den Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre mitarbeitete, und Ernst haben sich in ihrer Erwartung, daß es eine gesellschaftskundlich orientierte Geographie „sicher bald auch in anderen Bundesländern" geben werde getäuscht. Der sozialgeographische Ansatz ist in einer Geographie verebbt, die ängstlich auf Anpassung bedacht ist, um sich als Schulfach zu behaupten bzw. überhaupt zu überleben. So ist es gewiß kein Zufall, wenn eine neue Zeitschrift „Geographie im Unterricht" gefragt ist, die sich im ersten Heft (März 1976) wie folgt vorstellt und empfiehlt: „Sie will nicht die Zahl der theoretisch-didaktischen geographischen Zeitschriften vermehren, sondern handfeste Hilfen für die unmittelbare Praxis des Geographieunterrichts der Sekundar-stufe I bieten... es wird das . Machbare'berücksichtigt, das Experiment wird gefördert, Entwicklungen werden angeregt, aber für Utopien ist kein Platz!"
Um in solcher „Konsolidierungsphase" gegenüber einer sozial engagierten Erziehungs-Wissenschaft seine Privilegien zu verteidigen, hält man sich in einer vermeintlichen Stabilisierung und Flucht nach rückwärts an „Grundwerten" fest, am Menschen schlechthin und an einem Gemeinschaftsbegriff, der in Deutschland bereits Geschichte ist und gemacht hat. Wer so sich in das geisteswissenschaftliche Refugium zurückzieht, sollte sich freilich nicht wundern, wenn die dann doch ausbrechenden Konflikte um so fatalere Folgen annehmen.
Karlheinz Filipp, Dr. phil., geb. 1941 in Weißkirchlitz/Böhmen; Studium der Geographie, Geschichte, Politik und Pädagogik; nach der Tätigkeit als wiss. Assistent am Geographischen Institut der Universität Frankfurt, als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie als Lehrer im hessischen Schuldienst seit 1975 Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Geographiedidaktik an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen zur Siedlungs-und Sozialgeographie, zur deutschen Landes-kunde sowie über das Verhältnis von politischer Bildung und Geographie-didaktik; letzte Buchtitel: Geographie im historisch-politischen Zusammenhang. Aspekte und Materialien zum geographischen Gesellschaftsbezug, Neuwied und Berlin 1975; Geographie und Erziehung. Zur erziehungswissenschaftlichen Grundlegung der Geographiedidaktik, München 1978.
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