Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft nach Süden Mehr Risiken als Chancen?
Christian Deubner, Heinz Kramer, Götz Roth, Reinhardt Rummel Reinhardt Götz Roth Heinz Kramer Christian Deubner Rummel
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Zusammenfassung
Ausgangspunkt ist die von vielen Fachleuten geteilte Befürchtung, daß die wirtschaftspolitischen Instrumente und ordnungspolitischen Strukturen der bestehenden EG nicht erwarten lassen, daß sie den Anforderungen, die mit der Süderweiterung an ihre Steuerungsund Kontrollfähigkeit gestellt werden, gerecht werden. Die ökonomischen Interessenstrukturen der alten Mitgliedsländer, denen das Instrumentarium und die Ordnungspolitik der EG primär Rechnung tragen, lassen vielmehr bezweifeln, daß die für die Verwirklichung der wirtschaftlichen Erwartungen der Beitrittsländer dringend erforderliche Verbesserung dieser Steuer-und Kontrollfähigkeit noch rechtzeitig gelingen wird. Damit besteht die Gefahr, daß der Beitritt zur Gemeinschaft in den Kandidatenländern Portugal, Spanien und Griechenland ernste ökonomische und soziale Schwierigkeiten mit sich bringt. Diese könnten wiederum den Konsens gefährden, der bisher die Integrationsbereitschaft in jenen Ländern trägt. Damit könnte aber auch die Entstehung bestimmter Regierungsformen, der die Eingliederung in die EG ja entgegenwirken soll, erneut akut werden. Ferner wird auf Fragen eingegangen, die sich der um die drei Mittelmeerländer erweiterten und dadurch in ihrem Charakter veränderten Zwölfer-Gemeinschaft im Bereich ihrer Außenbeziehungen stellen werden. Angesichts bereits erkennbarer Widersprüche wird auch hier auf die Erfordernisse einer verbesserten Handlungsfähigkeit der Zwölfer-Gemeinschaft aufmerksam gemacht. Die Aufgaben und Probleme, die sich für die Institutionen der erweiterten Gemeinschaft ergeben, können nicht mehr mit den traditionellen Vertragsvorschriften allein bewältigt werden.
I. Vorbemerkung
Die folgenden Beiträge zur öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages über Fragen der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft legen das Schwergewicht auf die Erörterung absehbarer Konsequenzen für die politische Wei-terentwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Sie behandeln daher im wesentlichen jene Punkte des Fragenkatalogs des Auswärtigen Ausschusses, die unter der Fragestellung »Wie hätte die Politik der Süderweiterung auszusehen, wenn den übergeordneten Zielen europäischer Politik nicht geschadet werden soll? ” Vorrang haben. Dabei werden die zentralen Anliegen, die die EG-Mitgliedstaaten und die Beitrittsländer mit der Erweiterung verfolgen, nicht aus dem Auge gelassen: In den Beitritts-ländern demokratische Strukturen zu sichern, den Mittelmeerraum außen-und sicherheitspolitisch zu stabilisieren und die Entwicklung der dafür erforderlichen gesellschaftlich-politischen und ökonomischen Basis zu fördern.
Mit der zu erwartenden Aufnahme von Griechenland, Portugal und Spanien in die Europäische Gemeinschaft gelangt die politische Entwicklung in Westeueropa an einen Scheideweg. Welche grundlegende Entwicklungsrichtung sich im Prozeß der zweiten Erweiterungsrunde herausbilden wird, ist vor allem von der Politischen Klärung dreier Fragenkomplexe abhängig: — von der Vereinbarkeit der Süderweiterung mit konkurrierenden, zum Teil übergeordneten politischen Prioritäten der Altmitgliedsländer, — von der Auswirkungen der Süderweiterung auf den europäischen Integrationsprozeß und auf die Chancen einer Vertiefung der institutioneilen und instrumentalen Handlungsfähigkeit der EG-Organe, die schon zur Erhaltung des Status quo der Gemeinschaft und insbesondere zur Regelung der Beitrittsprobleme gefordert ist, — vom Konfliktpotential, das aus der politisch-sozialen Dynamik resultiert, die durch das Zusammenführen der alten und neuen Mitgliedsländer unter dem Dach der Gemeinschaft ausgelöst werden wird.
Es ist zu fordern, daß der Prozeß der Süderweiterung mit den übergeordneten Zielen der europäischen Politik kompatibel verläuft. Die Dimensionen seiner politischen (Ordnungspolitik, Sicherheit), wirtschaftlichen (strukturelle Anpassungen in Landwirtschaft und Industrie, Finanztransfer, Haushaltsvolumen etc.) und institutioneilen Implikationen müssen mit vorgegebenen Politiken und Prioritäten übergeordneter konkurrierender Zielsetzungen der Gemeinschaft wie der nationalen Regierungen in Übereinstimmung gebracht werden. Zur Aufrechterhaltung der — trotz zentrifugaler Tendenzen — gewonnenen Handlungsfähigkeit Westeuropas im internationalen System oder zur Erarbeitung gemeinsamer Positionen in der internationalen Wirtschaftspolitik werden erhebliche zusätzliche Anstrengungen erforderlich sein.
Der mögliche politische Gewinn der Süderweiterung für die EG kann nicht in Richtung einer Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses zu einer europäischen Union gesehen werden. Sie enthält indessen zumindest die Chance einer längerfristigen innen-, außen-und ordnungspolitischen Umorientierung der drei Beitrittsländer zur EG als dem Kristallisationskern der westeuropäischen Bewegungsdynamik. Sie gibt — vice versa — Anlaß zu einer die Einbeziehung der Beitritts-länder in den europäischen Integrationsprozeß ermöglichenden Neuorientierung der Gemeinschaftspolitik. Ihr möglicher Gewinn liegt weiter in einer außen-und sicherheitspolitischen Konsolidierung der Mittelmeerregion, der Hebung des wirtschaftlichen und technisch-industriellen Niveaus der Mittelmeerländer und — längerfristig — im Heranwachsen eines europäischen politischen Bewußtseins als Bedingung künftiger politischer Strukturbildung. Voraussetzung für die Verwirklichung solcher Chancen wäre allerdings, daß synchron mit der Aufnahme der Beitrittskandidaten in die EG wenigstens ein Schritt zu einer höheren Stufe europäischer Handlungseinheit getan wird. Dieser Schritt kann aber auf Grund nationalstaatlicher Vorbehalte kaum erwartet werden. Somit ist durchaus fraglich, ob oder inwieweit sich die genannten Chancen der Süderweiterung tatsächlich realisieren lassen. Bürdet sich die Gemeinschaft aber die extreme Belastung der Süderweiterung auf, ohne auch nur die notwendigen Instrumente zu ihrer konstruktiven Bewältigung bereitzustellen, so könnten die zu erwartenden Spannungen und Konflikte in der erweiterten Gemeinschaft sogar die Aufrechterhaltung des bereits erreichten Integrationsniveaus gefährden.
Ein Vergleich mit der ersten Erweiterungsrunde mag das unterstreichen: Konnte die erste Erweiterungsrunde im Blick auf die Kompatibilitätsfragen im ganzen positiv gewertet werden, so hat doch auch sie das Fortschreiben des Integrationsprozesses zur politischen Union in mittelfristiger Perspektive sicherlich stark gebremst. Von der zweiten Erweiterungsrunde sind zumindest keine den Integrationsprozeß stärkenden Effekte zu erwarten. Die erste Erweiterungsrunde konnte als Aktiva u. a.den Zuwachs an politischem Potential vor allem durch die Einbeziehung Großbritanniens buchen. Seine atlantische Orientierung stärkte die Verbindung und den Zusammenhalt zwischen Europa und den USA; seine Commonwealth-Beziehungen erweiterten und verstärkten den Einfluß der Europäischen Gemeinschaft in der Dritten Welt (Abkommen von Lome etc.). Auf der Passiva-Seite stehen die Robustheit Großbritanniens in der betonten Verfolgung seiner nationalen Interessen in verschiedenen Bereichen der Gemeinschaftspolitik, sein Nachholbedarf an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und seine entschiedene Präferenz für intergouvemementale Willensbildungs-und Entscheidungsmethoden. Und schließlich ist es als Preis des britischen Beitritts zu sehen, daß der europäische Integrationsprozeß auf dem politisch-institutionellen Niveau der Jahre 1973 bis 1978 verharrt und — im Verein mit der Politik des Gaullismus in Frankreich — eine Verschiebung der Politischen Union ad calendas graecas eingetreten ist
Demgegenüber ist im Fall der zweiten Eiweiterungsrunde kein Äquivalent zu erkennen, das etwa dem Zugewinn an politischem Potential im Fall der ersten Erweiterungsrunde vergleichbar wäre. Die innen-und außenpolitischen Orientierungen der drei Länder sowie ihr wirtschaftliches und militärisches Potential können nicht ohne weiteres auf der Aktiv-Seite einer zukünftigen Erfolgsbilanz genannt werden. Im Bereich der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und darüber hinaus für die europäische Sicherheitspolitik dürften die Beitrittsländer für die nächste Zeit eher als Handicap der europäischen Handlungsfähigkeit in Erscheinung treten.
Der dritte zentrale Fragenkomplex bezieht sich auf die Konfliktmöglichkeiten und Divergenzen, die sich als Folge der Süderweiterung sowohl für die künftige Politik der Gemeinschaft wie für die Politik einzelner Mitglieds-und Beitrittsländer ergeben. In diesem Zusammenhang verdienen insbesondere die Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Beachtung.
Die Erweiterung nach Süden bedeutet einen qualitativen Wandel im Grundcharakter der Gemeinschaft. Alle drei Länder liegen bei vielen Indikatoren erheblich unter dem gemeinschaftlichen Durchschnitt — sie werden alle ganz oder zum größten Teil zu den Entwicklungsgebieten der EG gehören. Damit geht jedoch der Charakter der EG als einer hoch-entwickelten Industriegemeinschaft verloren. Das . Nord-Süd-Problem’ wird wichtiger Bestandteil der gemeinschaftlichen Innenpolitik, ohne daß die EG bisher ein ausreichendes politisches Instrumentarium zu seiner Bewältigung entwickelt hätte. Die bisherigen bescheidenen Ansätze einer Regional-, Sozial-und Industriepolitik stehen zu eindeutig in der Perspektive der Korrektur marktwirtschaftlicher Fehlentwicklungen in den Industrienationen und kaum in der Perspektive entwicklungspolitischer Notwendigkeiten. Gerade auf diesem Gebiet aber liegen die hauptsächlichen Anforderungen der Süderweiterung.
Innerhalb der Neuner-Gemeinschaft sind bereits seit 1974/75 die Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Strukturentwicklung eindeutig in den Vordergrund gerückt. Seitdem treten die strukturellen Ungleichgewichte in der westeuropäischen Wirtschaft und deren Konsequenzen ungleich deutlicher hervor als früher. Krisenbewältigung und Strukturanpassung wurden damit zu primären Aufgaben der Gemeinschaftspolitik.
Sowohl in den alten Kernstaaten wie in den Kandidatenländern ist die Existenz politischer Kräfte, die den Integrationsprozeß tragen, Voraussetzung für den Erfolg der Erweiterung. Eine zentrale Frage ist daher: Welche politischen Kräfte (in den Kernländern wie vor allem auch in den Beitrittsländem) wollen beziehungsweise können dauerhaft eine Ein-gliederung in die Europäische Gemeinschaft politisch sicherstellen?
Die folgenden Kapitel gehen auf einige der angeschnittenen Fragen näher ein:
Ausgangspunkt des Kap. II ist die von vielen Fachleuten geteilte Befürchtung, daß die wirtschaftspolitischen Instrumente und ordnungspolitischen Strukturen der bestehenden EG nicht erwarten lassen, daß sie den Anforderungen, die mit der Süderweiterung an ihre Steuerungs-und Kontrollfähigkeit gestellt werden, gerecht werden. Die ökonomischen Interessen-strukturen der alten Mitgliedsländer, denen das Instrumentarium und die Ordnungspolitik der EG primär Rechnung tragen, lassen vielmehr bezweifeln, daß die für die Verwirklichung der wirtschaftlichen Erwartungen der Beitrittsländer dringend erforderliche Verbesserung dieser Steuer-und Kontrollfähigkeit noch rechtzeitig gelingen wird. Damit besteht die Gefahr, daß der Beitritt zur Gemeinschaft in den Kandidatenländern ernste ökonomische und soziale Schwierigkeiten mit sich bringt. Sie könnten wiederum den Konsens gefährden, der bisher die Integrationsbereitschaft dieser Länder trug. Damit könnte aber auch die Entstehung bestimmter Regierungsformen, der die Eingliederung in die EG ja entgegenwirken soll, erneut akut werden.
Kap. III geht auf Fragen ein, die sich der um die drei Mittelmeerländer erweiterten Gemeinschaft im Bereich ihrer Außenbeziehungen stellen werden. Angesichts erkennbarer Widersprüche und neu sich stellender Aufgaben wird auf die Erfordernisse einer verbesserten Handlungsfähigkeit der Zwölfer-Gemeinschaft aufmerksam gemacht.
Kap. IV schließlich spricht die institutionellen Probleme an und zieht aus dem Erfordernis einer verbesserten Handlungsfähigkeit Folgerungen für wünschenswerte oder auch notwendige Veränderungen.
II. Die demokratische Konzeption der Gemeinschaft und die Tragfähigkeit des Konsenses in der zweiten Erweiterungsrunde
Abbildung 2
August 1976 in Mrd S Wirtschaftsleistung geschätztes BruttosozialProdukt 1976 in MrdS GEWICHTE IN DER EG Nieder-Bundesrepublik Belgien lande England Deutschland 213 343 459 Frankreich 337 Italien 155 Däne-mark Irland 0, 8 Währungsreserven
August 1976 in Mrd S Wirtschaftsleistung geschätztes BruttosozialProdukt 1976 in MrdS GEWICHTE IN DER EG Nieder-Bundesrepublik Belgien lande England Deutschland 213 343 459 Frankreich 337 Italien 155 Däne-mark Irland 0, 8 Währungsreserven
Dieser Teil behandelt die Frage, ob die demokratie-und stabilitätsorientierte Finalität der EG-Erweiterung für die Beitrittsländer (und Westeuropa insgesamt) tatsächlich durch die Eingliederung in eine Gemeinschaft gefördert werden kann, deren zentrale Charaktermerkmale im wesentlichen unverändert bleiben. Um es vorwegzunehmen: die Antwort auf die so gestellte Frage ist negativ. Deshalb sollen im Anschluß an eine entsprechende Begründung auch Möglichkeiten diskutiert werden, die einen Ausweg aus dem Dilemma weisen könnten. Die zentrale Rolle der deutschen Politik und Ökonomie im Kontext der EG und ihrer Erweiterung ist bekannt. Durch ihr quantitatives und qualitatives Gewicht in den ökonomischen und finanziellen Außenbeziehungen aller EG-Mitgliedsländer übt sie de facto auch einen bestimmenden Einfluß auf Charakter und Folgewirkungen der Integrations-Beziehungen der Beitrittsländer aus. Somit besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Rolle der Bundesrepublik in der Integration und den Erfolgsaussichten der Erweiterung, der in der hiesigen politischen Diskussion eine größere Beachtung verdient. 1. Risiken der Integration für die Kandidaten-länder Fragt man nach den Kernelementen der Europäischen Gemeinschaft, in die die Kandidaten-länder eintreten wollen, so müssen die Zollunion mit dem Grundsatz eines gemeinsamen Liberalismus’, zunehmende Ansätze zu einer gemeinsamen Außenhandelspolitik und der gemeinsame Agrarmarkt genannt werden. Das Kennzeichen dieser Politik ist das fast völlige Fehlen wirksamer strukturverändernder und -ausgleichender Maßnahmen und die starke Konzentration auf die internationalen Austauschbedingungen. Der Kern der Veränderungen, die der Beitritt herbeiführen würde, wäre somit die weitgehende Einbeziehung der Wirtschaft der Beitrittsländer in die internationale oder zumindest in die westeuropäische Konkurrenz.
Man muß davon ausgehen, daß diese Übernahme in die bestehenden Integrationsstrukturen und -prozesse einen sehr großen Teil des Gewerbes in den Beitrittsländern überlegenem Konkurrenzdruck von außerhalb aussetzen und damit die Gewinne und Löhne in diesem großen Bereich aufs schärfste komprimieren würde. Das dürfte sowohl für einen Teil der Klein-und Mittelbauern, vor allem jedoch für das kleinere und mittlere Industriegewerbe gelten, das bisher hinter relativ hohen (an EG-Maßstäben gemessen) nationalen Zollmauern vor allem für den Binnen-und nur zu einem kleinen Teil mit Hilfe staatlicher Subventionen auch für den Exportmarkt produziert hatte. Hier gibt es eine gesellschaftliche Schicht, und zwar sowohl bei den kleinen Bauern wie bei Kapitaleignern und Arbeitern, die erhebliche Einbußen zu gewärtigen hat und die — wenn sie der Integrationspolitik nicht jetzt bereits reserviert oder ablehnend gegenübersteht — spätestens nach einigen Jahren ein anti-integrationistisches Potential bilden dürfte. Dieser großen Gruppe steht ein relativ kleiner Kreis gegenüber, auf den es bisher „angekommen” ist. Alle drei Beitrittskandidaten verfügen über große landwirtschaftliche Latifundien, auf denen zum Teil konkurrenzfähig produziert wird; sie verfügen über Industriezentren, in denen einige Produkte (z. T. mit erheblichen staatlichen Subventionen) konkurrenzfähig für Exportmärkte produziert werden und in denen vielfach erhebliche ausländische Kapitalbeteiligungen vorhanden sind. Die Regierungen der Kandidatenländer müßten versuchen, mit niedrigsten Löhnen einerseits und Investitionsanreizen andererseits eine exportorientierte Industrialisierung aufzuziehen. Sie hätten sich dabei in hohem Maße auf den Zufluß ausländischen Kapitals zu stützen.
Hier entsteht insofern ein Dilemma, als diese Strategie seit vielen Jahren und mit wachsendem Erfolg aufgrund besserer (Kosten-) Vor-
aussetzungen bereits in der Dritten Welt angewendet wird, daß aber hierfür das Lohn-niveau in den Beitrittsländern noch weitaus zu hoch ist. Seit dem Ende der sechziger Jahre wird deshalb die Auslandsproduktion deutscher und europäischer Unternehmen in den Kandidatenländern hauptsächlich deshalb betrieben, weil man sich angesichts hoher Zölle den Zugang zu diesen potentiell expansiven Märkten sichern wollte. Mit dem Beitritt dieser Länder zur Zollunion wird dieses Motiv jedoch wahrscheinlich wegfallen. Das westeuropäische Engagement in diesen Ländern würde somit andere Anstöße benötigen oder könnte stagnieren, wenn nicht sogar teilweise zurückgehen. Die einzige, aber wesentliche Abweichung von dieser Tendenz dürfte für Unternehmen aus USA und Japan gelten, die weiterhin das Motiv haben, die Zollmauern des Gemeinsamen Marktes durch Direktinvestitionen zu überspringen. Soweit sie nicht schon im Gemeinsamen Markt engagiert sind, wäre es möglich, daß sie sich künftig in einer Billiglohn-Region der EG niederlassen werden. Es spricht aber nicht sehr viel dafür, daß hier mittelfristig eine starke Bewegung entstehen wird, da die Direktinvestitionen in der EG nicht nur vom Billig-Lohn-Argument her bestimmt werden.
Was kann eine Verwirklichung dieser Perspektive politisch und im Zusammenhang mit der Integrationszielsetzung bedeuten? Wahrscheinlich wird in den Beitrittsländern eine große Mehrheit kurz-und mittelfristig erhebliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, während nur eine kleine Minderheit von Hochqualifizierten — Technikern und mittlerem bis oberem Management — sowie von Kapital-eignern und Großbauern in der Lage sein wird, die Vorteile zu nutzen, die die Öffnung der Grenzen brächte. Die internen Einkommens-unterschiede, die sozialen und politischen Spannungen in diesen Ländern würden sich somit verschärfen. Ob oder inwieweit eine Übergangszeit diese Probleme tatsächlich neutralisieren kann, soll hier nicht eingehend geprüft werden. Die Erfahrungen mit über 20 Jahren EG jedoch, in der die strukturellen Differenzen sehr viel geringer waren als zwischen den EG-Kernländern und den Kandidatenländern heute, lassen die Chancen dafür jedenfalls gering erscheinen. „In der EG hat sich das internationale und interregionale Ent-wicklungsgefälle ständig vergrößert. Insbesondere in den 70er Jahren ... verschlechterten die ohnehin relativ schlechter entwickelten Länder ihre Position, etwa beim BSP/Kopf." Die schon bei der Gründung der EWG befürchteten zentripetalen Kräfte der Integration sind nicht überwunden worden, und es gibt wenig Anlaß zu der Annahme, daß das bei der neuerlichen Erweiterung anders sein wird.
Früher bestanden in allen drei Kandidaten-ländern Diktaturen, die die schon vorhandenen oder sich bereits abzeichnenden Disparitäten sowie die daraus resultierende Spannungen durch Repressionen unter Kontrolle hielten. Was immer in den Kandidatenländern wie in den alten Mitgliedsländern darüber gedacht werden mag, daß solche Diktaturen unter Umständen eher befähigt sind, die vom EG-Beitritt zu erwartenden Spannungen aufzufangen: Die Aufgabe für die Süderweiterung besteht ja gerade darin, künftig ohne autoritäre Lösungen demokratische Mehrheiten für eine demokratische Regierungsform und für die Eingliederung in die EG zu erhalten. Die kritische Frage ist indessen, inwieweit demokratische Mehrheiten in den drei mittelmeerischen Ländern mittelfristig für eine Politik zu gewinnen sind, die Lohndruck, eine anhaltende hohe Arbeitslosigkeit, Reduzierung der Massenkaufkraft und Erhöhung der Einkommens-disparitäten, Vernichtung des mittelständischen Gewerbes und Konzentrationsprozesse in Industrie und Landwirtschaft in Kauf nehmen muß. Die Sorge liegt deshalb nahe, daß sich unter demokratischen Rahmenbedingungen wieder autoritäre Regierungsformen konsolidieren könnten — die ja bisher keineswegs völlig überwunden wurden. Eine solche Entwicklung würde sich auf eine kleine ökonomische und soziale Minderheit stützen und die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft, der in diesen Ländern die Demokratisierung wesentlich zu verdanken ist, rückgängig zu machen suchen. Bis dato sind als Alternative allenfalls Wahlerfolge sozialistischer oder kommunistischer Initiativen zu sehen, die gegen und nicht mit der EG versuchen würden, durch ein binnenmarktorientiertes Entwicklungsmodell auf der Grundlage stabilisierter oder ausgeweiteter Massenkaufkraft und/oder reduzierter Einkommensdisparitäten die ökonomischen und sozialen Grundlagen für eine industrielle und mehrheitlich getragene Entwicklung zu legen. 2. Die Parteien unter dem Anspruch der Integration Im folgenden sollen die eben unterstellten Zusammenhänge zwischen ökonomischen Prozessen und politischen Folgen auf der Ebene der politischen Parteien verdeutlicht werden. Auch hierbei werden die Gemeinsamkeiten der Probleme in den drei Kandidatenländern im Vordergrund stehen.
Bei einem Blick auf das Spektrum der Partei-meinungen zur Beitrittsfrage könnte man zunächst versucht sein, den prognostizierten Destabilisierungserscheinungen die offensichtliche Befürwortung des Beitritts durch die große Mehrzahl der Parteien entgegenzuhalten — dies trotz einer wirtschaftlichen Lage, in der sich bereits jetzt ökonomische Folgeprobleme deutlich abzeichnen. Zwar stehen heute mit Ausnahme der Kommunistischen Partei Portugals und einer der Kommunistischen Parteien (Panhellenische Sozialistische Bewegung) alle großen Parteien in den Kandidatenländern Griechenlands sowie der griechischen PASOK alle großen Parteien in den Kandidatenländern hinter den Beitrittsanträgen ihrer Regierungen. Das gilt auch für die sozialistischen Parteien, die KP Spaniens und die andere griechische KP. Dieser Hinweis schlägt aber kaum gegenüber der hier angezeigten Skepsis durch und läßt die Dynamik unterschätzen, die dem Problem innewohnt. Dazu werden einige Punkte zur Erwägung gegeben, die sich aus der Analyse der Parteien-Positionen in den Beitritts-ländern ergeben:
— die relativ starke Konzentration der politischen Meinungsbildung auf die Parteiführungen; — die noch relativ wenig entwickelte Politisierung der lohnabhängigen Bevölkerung; — die Widersprüchlichkeiten der Befürwortung der Beitrittspolitik durch die Parteien.
Mit Bezug auf alle Beitrittsländer weisen einschlägige Untersuchungen darauf hin, daß bisher eine politisch-ökonomische Diskussion auf der mittleren oder gar auf der Basis-Ebene der Parteien völlig unterentwickelt ist. Die Argumentation der Parteiführungen nutze demnach einen Vorschußkredit an Glaubwürdigkeit, so daß die von ihnen skizzierten Aussichten bislang nicht in Frage gestellt würden. Bei allen drei Kandidatenländern ist hierin wohl zum Teil eine Auswirkung der langjährigen Diktaturen und einer entsprechenden Unterentwicklung in der politischen Willensbildung der Arbeiterbewegung zu sehen. Man wird aber kaum davon ausgehen können, daß dieser Zustand anhalten und die Arbeitnehmerschaft die Diskrepanz zwischen den Versprechungen der EG-Beitrittskampagne und dem, was vorhersehbar an Belastung auf sie zukommt, auf Dauer hinnehmen wird.
Die Parteien, auch die sozialistischen und kommunistischen Parteien, werden von der breiten Bevölkerung erst mehr oder weniger schwach repräsentiert. Von der spanischen KP wird behauptet, ihr Mitgliederbestand sei noch heute in den Mittel-und Oberschichten ebenso stark oder gar stärker als in der Arbeiterschaft. Auch dies könnte sich — wenn man einmal die italienische oder die französische KP zum Vergleich nimmt — ändern und die Willensbildung der sozialistischen und kommunistischen Parteien unmittelbarer auf Interessen der Arbeiterschaft Bezug nehmen lassen.
Wenn man die Zustimmung der Parteien zur Beitrittspolitik der Regierungen überprüft, wird man feststellen müssen, daß sie aus ganz unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Gründen erfolgt. Diese Widersprüche stehen zur Zeit noch im Hintergrund, dürften sich aber bei der Verwirklichung des Beitritts unter Umständen in brisanter Weise entfalten. In dieser Hinsicht ist signifikant, daß die sozialistischen Parteien (bis auf die PASOK) und die kommunistischen Parteien (bis auf die Mos-kau-orientierte griechische „Auslands-KP" und die portugiesische KP) den EG-Beitritt vor allem deshalb befürworten, weil er nach der Auffassung ihrer Führer Aussichten bietet, für die Beitrittsländer die sozial-und arbeitsrechtlichen Normen der industriellen Kernländer zu übernehmen und zumindest auch eine Annäherung an das Lebenshaltungsniveau der Arbeitnehmer dieser Länder zu erreichen.
Auf Seiten der konservativen und liberalen Parteien geht es eher um andere Möglichkeiten. Sie erwarten vom Beitritt zum einen politische Unterstützung gegen das Vordringen sozialistischer und kommunistischer Ideen in der Politik ihrer Länder. Zum anderen ziehen sie in Betracht, daß die Öffnung der Märkte zur verbesserten internationalen Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen führen sollte. Diese verbesserte Konkurrenzfähigkeit stellt man sich in einer europäischen Arbeitsteilung vor, die den mediterranen Ökonomien die mittleren, konsumnahen oder auf Zwischenprodukte orientierten Technologien zuweist. Dieses ökonomische Modell hat eine starke Exportorientierung. Es wurde aber schon darauf hingewiesen, daß bei der gegenwärtigen Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung eine solche Konkurrenzfähigkeit wahrscheinlich nur unter Beibehaltung oder gar Senkung der ohnehin niedrigen Arbeitskosten in den mediterranen Ländern zu realisieren wäre.
Die Parteien werden sich im Zuge der Entwicklung den genannten Widersprüchen kaum entziehen können. Die Mitgliedschaft in der EG kann schwerlich beiden Seiten zugleich zur Verwirklichung ihrer eigenen Zielsetzungen dienen. Man muß also in Rechnung stellen, daß zumindest eine — wahrscheinlich die sozialistisch-kommunistische — Seite der Mitgliedschaft in der EG zunehmend widersprechen und zur Durchsetzung ihrer Zielvorstellungen eher für autonome Wege der betreffenden Länder votieren wird. 3. Konsequenzen der Erweiterungspolitik in den Mittelmeerländern und für die Bundesrepublik Es gibt inzwischen eine breite behördeninterne und wissenschaftliche Diskussion über die Möglichkeiten, den angesprochenen Risiken durch eine Aussetzung der vollen Anwendung der bestehenden Strukturelemente der EG auf die Kandidatenländer oder aber durch qualitative Veränderung der EG-Strukturen selbst zu begegnen. Die allgemeine Zielsetzung solcher Erwägungen ist meist, die Nachteile der EG-Mitgliedschaft — d. h. vor allem die erheblichen ökonomischen destabilisierenden Effekte — zu reduzieren und die Vorteile, die sich aus der Anbindung an demokratische und hoch-entwickelte Industriestaaten ergeben (und das ist die Möglichkeit massiver Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung sowie des Einflusses von außen zugunsten der Konsolidierung demokratischer Formen), zu erweitern.
Aus den Ergebnissen dieser Diskussion, in die vielfach auch die allgemeineren Erwägungen zur Nord-Süd-Problematik eingehen, sei hier auf einige weitgehende Forderungen hingewiesen, die diesen Zielsetzungen — unter vorläufiger Außerachtlassung anderer konkurrierender Politikbereiche — Rechnung tragen sollen. Sie ziehen einen zweiteiligen Prozeß in Betracht, der sowohl die Strukturen der Gemeinschaft wie die politisch-ökonomischen Interessen und Strukturen der Mitglieds-und der Beitrittsländer tangiert und verändert. Danach müßte auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft die Rolle der politischen Institutionen, die Bedeutung demokratischer Prozesse etc. wesentlich erweitert werden; die Gemeinschaft müßte ihr hier bestehendes politisches Defizit endlich ausgleichen (vgl. hierzu Kap. IV). Die Direktwahl zum Europäischen Parlament wäre an dieser Stelle als ein wichtiger Schritt zu nennen.
In den Beitrittsländern müßte die ökonomische Durchschlagskraft der Marktöffnung mittelfristig — länger als die viel diskutierten zehn Jahre — durch die Erhaltung wirksamer Schutzmechanismen blockiert werden. Es müßten erhebliche Anstrengungen gemacht werden, gleichzeitig mit dem für die weitere Industrialisierung erforderlichen Kapitalfonds eine Erhöhung der Massenkaufkraft und damit eine Vergrößerung des Binnenmarktes für einfache Industriewaren herbeizuführen. Für eine solche Strategie kann man sich in den Beitrittsländern politisch nicht allein auf den immer noch führenden Mittelstand und die Kapitaleigner sowie die „autonomen Marktkräfte" stützen. Eine Mitwirkung der Gewerkschaften und unter Umständen auch der Kommunisten wäre möglicherweise unerläßlich. Starke Elemente einer dirigistischen, planerischen Wirtschaftspolitik wären in dieser Strategie impliziert. Ein zweiter Strang einer solchen Strategie wäre in massiven Kapitaltransfers aus den Kernländern zu sehen: einer Art Marshall-Plan für Südeuropa.
Für die alten Gemeinschaftsmitglieder würde dies bedeuten, daß sie auf der politischen Ebene ihre Haltung zu der Frage zu klären hätten, wie in den Beitrittsländern eine mehrheitliche Abstützung der Regierungen — mit oder ohne kommunistische und likssozialistische Beteiligung — in einer mit den EG-Zielsetzungen konformen Weise sicherzustellen wäre. Auf der Ebene der wirtschaftlichen Interessen, die sich für die Gemeinschaftsländer an die Mitgliedschaft knüpfen (in der Bundesrepublik vor allem die Sicherung eines großen stabilen und offenen Marktes für die Industrieproduktion der deutschen Wirtschaft) dürften zumindest Modifizierungen in Betracht zu ziehen sein. Eine stärkere binnenmarktorientierte, von der Weltmarktkonkurrenz unabhängigere Produktion mit einem größeren Anteil von Dienstleistungen wird in diesem Zusammenhang für die Bundesrepublik als Weg zur Erzielung größerer Flexibilität empfohlen (so etwa von Wilhelm Hankel).
Solche Vorstellungen für die Weiterentwicklung der EG, und insbesondere eine weniger konflikthafte Rolle der Bundesrepublik in der Gemeinschaft, dürften indessen kaum weniger schwer für eine deutsche Regierung durchzusetzen sein als die erforderlichen Wandlungen für die Regierungen der Beitrittsländer. Gegenüber der ökonomischen Krisenentwicklung westlicher Industrieländer ist es die offizielle Politik der Bundesregierung und beinahe aller relevanter gesellschaftlicher Kräfte gewesen, den Ausweg in der Nutzung der Vorteile internationaler Konkurrenzüberlegenheit zu suchen, also im Bereich modernster Technologie und komplexer „engineering" -Leistungen. Der Ausweg aus dem eigenen strukturellen und konjunkturellen Dilemma wird primär auf den Auslandsmärkten oder zumindest in den Bereichen, die der Auslandskonkurrenz ausgesetzt sind, gesucht. Eine stark auf den Binnenmarkt bezogene Orientierung, die etwa im Bereich der Dienstleistungen einen Ausgleich für die überstarke Angewiesenheit auf den international abhängigen Wirtschaftssektor anstreben würde, hat bisher nicht stattgefunden, ist aber in einer Diskussion über die Aussichten der Süderweiterung nicht auszuklammern. Es bleibt indessen festzustellen, daß es aufgrund des relativen Erfolgs des bisherigen Konzepts in der Bundesrepublik derzeit keine gesellschaftliche oder politische Kraft gibt (einschließlich der Gewerkschaften), auf die man als Träger für eine bewußte Politik innereuropäischer Arbeitsteilung zugunsten der Beitrittsländer zählen könnte.
Es stellt sich also die Frage, ob und inwieweit unterhalb der Ebene grundsätzlicher politisch-ökonomischer Umorientierungen Maßnahmen denkbar sind, die die potentiell disruptiven Effekte der Integration der Kandidatenländer in die EG zu neutralisieren vermögen, bestehende Ungleichheiten in Westeuropa verringern und so die Einbettung der mediterranen Ökonomien in die Ordnung der EG gewährleisten könnten. In den Untersuchungen, die bis jetzt vorliegen, ist der tiefe Pessimismus bezüglich dieser Möglichkeiten nicht zu übersehen.
Abschließend sei hier noch einmal auf eine Gefahr hingewiesen, die insbesondere für die Bundesrepublik akut werden könnte: In einer Politik, die die bestehende EG-Struktur aufrecht erhält und nur leichte übergangsmäßige Modifikationen für die Beitrittsphase sowie Finanztransfers vorsieht, läuft die Bundesrepublik als größte Industrie-und Finanzmacht des Kontinents Gefahr, bei gegebener Grund-orientierung ihrer Wirtschaftspolitik über kurz oder lang gegen die politischen Zielsetzungen der Süderweiterung zu wirken. Zum Beispiel über politische Instrumente wie die IWF — Stabilisierungs-Rezepte, die unter maßgeblicher deutscher Beteiligung für Portugal und Italien entworfen wurden. Da sie primär auf den Ausgleich der Handelsbilanz zielen, um die Kreditwürdigkeit zu sichern, gleichzeitig jedoch Offenheit der Grenzen und freien Markt fordern, wird eine solche Politik kaum den eingangs bezeichneten Folgen entgehen, die den Konsens für den Prozeß der Süderweiterung unterminieren würden. Die übergeordneten Ziele deutscher Europapolitik blieben aufs stärkste gefährdet.
III. Auswirkungen der Süderweiterung auf die Außenbeziehungen der Gemeinschaft
Abbildung 3
Von der „EG der Neun”
Von der „EG der Neun”
Die Süderweiterung wird für die Außenbeziehungen der EG eine Reihe neuer Aufgaben und Probleme bringen und die Strukturen in einigen Feldern der bisherigen Politik z. T. grundlegend ändern. So wird die Gemeinschaft z. B. zur größten Macht am Mittelmeer. Ganz allgemein wird ihre Größe als Akteur in der Weltpolitik zunehmen, ihre Position als Handelsweltmacht wachsen. Damit werden wahrscheinlich auch die Ansprüche und Forderungen wachsen, die von Drittländern an sie gestellt werden. Insbesondere wird es darum gehen, daß die EG eine verstärkte politische Rolle bei der Neuordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu spielen hat. Wieweit sie diesem Anspruch gerecht zu werden vermag, hängt nicht zuletzt davon ab, wieweit sie ihre interne Stabilität und Handlungsfähigkeit sichern und ausbauen kann. 1. Auswirkungen auf die Stellung der Europäischen Gemeinschaft im internationalen System Die seit einigen Jahren verstärkt zum Ausdruck kommenden Bemühungen, das Gewicht der EG und ihrer Mitgliedsstaaten im internationalen Kräftespiel deutlicher zum Tragen zu bringen, indem man eine „europäische Identität" zu entwickeln versucht, werden durch die bevorstehende Erweiterung wahrscheinlich nicht negativ beeinflußt. Allenfalls könnten diese Bemühungen — etwa mit Bezug auf die Folgeprobleme der KSZE, Stellungnahmen in den VN und zum südlichen Afrika, die Beziehungen zur arabischen Welt und das atlantische Verhältnis — Akzentverschiebungen oder neue Nuancierungen mit Rücksicht auf die Probleme der Süderweiterung erfahren. Unvermeidbar dürfte sein, daß in der vergrößerten Gemeinschaft das Bemühen um eine Identität nach außen mehr als bisher Anstrengungen erfordert, die außenwirtschaftliche Komponente der EG mit der eher im Bereich „klassischer" Diplomatie liegenden Dimension der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und den sicherheitspolitischen Aspekten des Bündnisses zu einer komplementären wirksamen Einheit zu verbinden, übereilte Anläufe zu institutioneilen Neugestaltungen wären indessen zu vermeiden und die Konzentration eher darauf zu richten, das Kooperationspotential der bestehenden Institutionen auszubauen und auszuschöpfen (vgl. dazu Kap. IV). Zu denken wäre etwa an eine regelmäßigere Abstimmung und Information zwischen dem Politischen Komitee der EPZ und dem COREPER *) der Gemeinschaft sowie an eine Intensivierung von informellen Kontakten.
Das Verhältnis zu den USA dürfte von einer Erweiterung in seinen grundsätzlichen Dimensionen kaum verändert werden, denn von keinem der Kandidatenländer wird die Notwendigkeit einer mehr oder weniger engen Zusammenarbeit im atlantischen Rahmen grundsätzlich verneint. Doch können die bisherigen französischen Bestrebungen, die außenpolitische Position Westeuropas stärker als „europäische" Politik zu entwickeln, durch Portugal und Griechenland unterstützt werden, deren Beziehungen zu den USA merklich kühler geworden sind. Dieser Trend könnte sich kurzfristig verstärken, wenn die im handelspolitischen Sektor für einige landwirtschaftliche US-Produkte im Zuge der Erweiterung zu erwartenden Schwierigkeiten zu einer generellen klimatischen Verschlechterung im atlantischen Verhältnis führen sollten. Sollte ferner —. womit allerdings die Erweiterung direkt wenig zu tun hat — der gewisse europäisch-amerikanische Gegensatz in den Fragen des Managements der schwierigen weltwirtschaftlichen Situation anhalten oder sich verschärfen, indem etwa die protektionistischen Stimmen in den USA ein stärkeres Gewicht erhalten, so könnten auch derartige untergeordnete Probleme größeres Gewicht bekommen. Diese mehr spekulativen Überlegungen lassen es immerhin als angezeigt erscheinen, den Prozeß der Süderweiterung rechtzeitig im transatlantischen Konsultationsprozeß (d. h. sowohl im EG-als auch im EPZ-Konsultations-system) anzusprechen, um Fehlreaktionen aus mangelhafter Information vorzubeugen. Hierbei wäre dann seitens der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedsstaaten auf den beabsichtigten stabilisierenden Effekt der Erweiterung für den Mittelmeerraum zu verweisen, der zur Entlastung der USA in dieser Region beitragen könnte.
Im Verhältnis der Gemeinschaft zur Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Staaten dürften ebenfalls keine gravierenden Ver-änderungen eintreten. Der innereuropäische Entspannungsprozeß wird von allen Beitritts-kandidaten grundsätzlich befürwortet, und ihre bilateralen Beziehungen zur UdSSR unterscheiden sich in Intensität und Inhalt nicht grundlegend von denen der Altmitglieder. Eine Anpassung ihrer Osthandelsbeziehungen an ein etwaiges Rahmenabkommen zwischen der EG und dem RGW dürfte keine unlösbaren Probleme aufwerfen.
Inwieweit das Anwachsen der kommunistischen Kräfte in der EG/12 infolge der Erweiterung die Beziehungen zur UdSSR und den anderen Ländern des RGW beeinflußt, ist schwer abzusehen, zumal dieser Zuwachs sich auf mehrere „Fraktionen" des europäischen Kommunismus verteilt, deren Positionen nicht einheitlich sind. Sicher wird das EG-interne Gewicht der „euro-kommunistischen" Position mit dem Beitritt Spaniens zunehmen. Ob von daher oder wegen möglicher Veränderungen im innenpolitischen Spektrum der Beitritts-länder infolge von Integrationskonsequenzen auf die sozialdemokratischen Parteien in der Kern-EG Probleme zukommen, die diese vor neue Akzentsetzungen hinsichtlich der gesamteuropäischen Entspannungspolitik stellen, hängt von heute noch nicht überschaubaren Entwicklungen ab. Diese Möglichkeit ist jedoch nicht außer Betracht zu lassen.
Ferner darf nicht übersehen werden, daß durch eine griechische Mitgliedschaft die Gemeinschaft auch auf dem Balkan präsent wird. Damit könnten heute noch nicht vorhersehbare Probleme auf die EG zukommen, wenn in dieser Region die gegenwärtige Kräftebalance stärker gestört würde. Das wäre insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zu Jugoslawien nicht auszuschließen, für dessen Politik zwischen den Lagern die EG ein wesentlicher Faktor ist. Die jugoslawische Position im Rahmen des nichtpräferentiellen Handelsabkommens *) könnte durch die Erweiterung negativ beeinträchtigt werden, da hiervon seine Handelsbeziehungen zum Nachbarn Griechenland betroffen wären. 2. Auswirkungen auf die Gemeinschaftspolitik im Mittelmeerraum Die stärksten Veränderungen im außenpolitischen Sektor wird die Erweiterung für die Beziehungen zu den Ländern der Mittelmeerregion mit sich bringen. Hiervon sind'die einzelnen Südanrainer unterschiedlich stark betroffen; die Türkei bildet ein Problem eigener Art wegen ihrer besonderen Beziehungen zur Gemeinschaft.
Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, lassen sich für Israel, Tunesien und Marokko erhebliche Probleme beim Export ihrer wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse in die EG/12 voraussagen, weil der Selbstversorgungsgrad der Gemeinschaft nach dem Beitritt z. B. bei Südfrüchten, Frischobst, Frischgemüse, Olivenöl und Wein erheblich steigen wird. Dabei bleiben die möglichen Produktionsanreize in den neuen Mitgliedstaaten infolge der Anwendung der gemeinsamen Agrarpolitik unberücksichtigt, weil hier Prognosen außerordentlich schwierig sind. Für die anderen Mittelmeeranrainer dürften die Konsequenzen nicht so gravierend sein, doch auch sie werden die Erweiterung in ihrem Agrarexport negativ spüren. Die insgesamt ziemlich verfahrene Situation der EG-Agrarpolitik und die bisherigen Erfahrungen mit den Versuchen, hier zu einer grundlegenden Problemlösung zu kommen, lassen erwarten, daß die entstehenden Schwierigkeiten eher zu Lasten der Südanrainer gelöst werden als im Sinne einer wirklich gleichgewichtigen Lösung unter Partnern. Der Versuchung, aus der Position des Mächtigeren heraus die Mittelmeerpolitik im Agrarbereich neu zu organisieren, dürfte in der EG/12 nur schwer zu begegnen sein, zumal der landwirtschaftliche Sektor in den Beitrittsländern im innenpolitischen Kräftefeld — und damit auch für den Ministerrat — eine besonders wichtige Größe darstellt.
Hinzu treten die Schwierigkeiten im industriellen Sektor. Auch hier kann sich infolge der Erweiterung die Konkurrenzsituation für einige Südanrainer bei einigen wichtigen Produkten verschlechtern (z. B. Textilien, petrochemische Produkte, chemische Produkte und" Fabrikdünger). Das trifft vor allem im Verhältnis zur spanischen Industrie zu. Dem steht andererseits die Öffnung der Märkte der Beitrittskandidaten für die Südanrainer gegenüber. Inwieweit hiervon kompensatorische Effekte ausgehen können, läßt sich jedoch schwer beurteilen. Angesichts der gegebenen Konkurrenzsituation bei einer Reihe von Industriewaren dürfte die Bereitschaft der ohnehin nicht kräftigen Industrien in den Kandidatenländern, sich dem vollen Wettbewerb mit den Südanrainern zu öffnen, nicht sehr groß sein. Viel eher kann man wohl damit rechnen, daß sich die protektionistischen Kräfte in der EG/12 zum Nachteil der anderen Mittelmeerländer auch im industriellen Warenverkehr durchsetzen werden. Die bisherigen Erfahrungen in der EG/9 sprechen jedenfalls dafür. Dabei könnte eine Strategie zur Entwicklung der Binnenmärkte in den Beitrittsländern zu zusätzlichen Problemen führen, wenn man einen verlängerten Schutz-zeitraum nicht nur gegenüber der Konkurrenz aus der Kem-EG für notwendig erklärt, sondern unter Umständen auch gegenüber der günstiger produzierenden Drittlandkonkurrenz. Wie dieser nicht ganz unwahrscheinliche Konflikt zu lösen wäre, kann z. Z. noch nicht gesehen werden. In jedem Fall wäre aber das Gleichgewicht im handelspolitischen Teil der Kooperationsabkommen mit den Südanrainern infrage gestellt, da ja die Gemeinschaft gegenüber diesen Ländern immer darauf beharrt hat, der Entwicklung des industriellen Sektors vor einem Wachstum der landwirtschaftlichen . Produktion den Vorzug zu geben. Das gilt um so mehr, als der industrielle Sektor in der Wirtschaft dieser Länder bereits einen wichtigen Platz einnimmt und für ihre weitere Entwicklung der Faktor mit der relativ größten Dynamik ist.
Von einer für beide Seiten befriedigenden Lösung der hier skizzierten Probleme im landwirtschaftlichen und industriellen Sektor wird die Zukunft der Mittelmeerpolitik einer EG/12 abhängen und damit auch das Maß, in dem die erweiterte Gemeinschaft in dieser Region eine ordnungspolitische Stabilisierungsrolle spielen kann. Es dürfte einleuchtend sein, daß die aufgezeigten wirtschaftlichen Probleme erhebliche politische Implikationen haben. So dürfte z. B.der generelle Kurs der nordafrikanischen und übrigen arabischen Staaten (zwischen einer mehr radikalen politischen Grund-position in der internationalen Politik und einer mehr auf Ausgleich und Kooperation bedachten Haltung) von den Erfahrungen dieser Länder mit der „Großmacht" EG nicht ganz unbeeinflußt bleiben. Deswegen könnte das allgemeine Klima des ohnehin stagnierenden europäisch-arabischen Dialogs (EAD) davon berührt werden, zumal in ihm zunächst die Fragen der wirtschaftlichen Kooperation in den Vordergrund gerückt werden. Es ist zwar bekannt, daß das Klima im EAD primär von den Entwicklungen im Nahost-Konflikt beeinflußt wird, doch dürfte das Schicksal der Mittelmeer-Abkommen in diesem Kontext eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung haben. Eine möglichst enge Abstimmung der Politik der EG und ihrer Mitglieder im Rahmen der Gemeinschaft und der EPZ sollte bei der Erarbeitung von Lösungsansätzen daher beachtet werden.
Das gilt auch für die Behandlung der besonderen Problematik, die sich infolge der Erweiterung im östlichen Mittelmeer stellt. Hier vermischen sich wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Aspekte im Dreieck Griechenland-Türkei-Zypern zu einem vielschichtigen Komplex, der seitens der Gemeinschaft eine entsprechende Berücksichtigung erfordert. Der grundlegende politische Wandel für die EG nach einer Erweiterung besteht darin, daß die Gemeinschaft dann in einem Konflikt „Partei” wird, in den sie bisher aufgrund ihrer Verbindungen mit allen Konfliktparteien „von außen” einzuwirken versuchte. Damit erfährt das ohnehin problematische Verhältnis zur Türkei eine neue Belastung. Die EG sollte daran interessiert sein, eine zwischen den Beteiligten selbst ausgehandelte Lösung sowohl im Ägäis-Streit als auch in der Zypern-Frage möglichst noch vor dem griechischen Beitritt herbeizuführen. Dabei müßte gleichzeitig auch sichergestellt werden, daß das künftige Mitglied Griechenland der positiven Entwicklung der Beziehungen zwischen der EG und der Türkei keine Hindernisse in den Weg stellt.
Auch ohne diese politischen Aspekte dürfte die Erweiterung für die Türkei größere Probleme mit sich bringen. Ihre durch die Mittelmeerpolitik und das System der Allgemeinen Präferenzen schon negativ beeinflußten wirtschaftlichen Beziehungen zur EG im Rahmen des Assoziationsvertrages von 1963 dürften sich weiter verschlechtern. Das gilt vor allem für den Handel mit Agrarerzeugnissen, aber auch für den industriellen Bereich. Damit verschlechtern sich jedoch auch die Chancen für die Türkei, die Voraussetzungen für die Verwirklichung der im Assoziationsvertrag vorgesehenen Zollunion als Vorstadium einer Mitgliedschaft zu erfüllen. Für die EG kommt es deshalb darauf an, der geänderten Situation insofern Rechnung zu tragen, als in Abstimmung mit der Türkei das Schwergewicht der künftigen Beziehungen stärker in den Bereich der industriellen Entwicklung des Landes zu verlegen wäre. Auf türkischer Seite erfordert das allerdings ein grundsätzliches überdenken der bisherigen Entwicklungsstrategie, die ausländischen Direktinvestitionen größeren Ausmaßes bisher recht zurückhaltend gegenüberstand. Die EG müßte aber auch ihrerseits Anstrengungen unternehmen, für die Ausgestaltung des Vertrages und des Zusatzprotokolls von 1973 konkrete Konzepte zu entwickeln.
Sie sollte sich dabei jedoch nicht von einer möglichen stärkeren Diversifizierung der türkischen Außenwirtschaftsbeziehungen irritieB ren lassen. Eine Intensivierung des Handels und der Kooperation zwischen der Türkei und den RGW-Ländern, insbesondere -der UdSSR, sowie mit den Ländern der islamischen Welt kann nur im Interesse der Gemeinschaft liegen. Eine derartige Entwicklung würde wenig an der Tatsache ändern, daß die Türkei für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und die Lösung ihrer vordringlichsten Probleme in erster Linie auf Westeuropa angewiesen bleibt. Gleichzeitig jedoch wäre der gegenwärtige Zustand der hochgradigen Exklusivität in den Wirtschaftsbeziehungen und die damit für die EG gegebene besondere Verantwortung vermindert. Einhergehen müßte mit dieser Entwicklung eine politische Haltung gegenüber der Türkei, die das dort geschwundene Vertrauen in das westliche Bündnis und seine Hauptmacht, die USA, wieder herstellt. Hierzu wären im Rahmen der EPZ in Abstimmung mit der Allianz Konzepte über eine Änderung der internen Arbeitsteilung zwischen den USA und den westeuropäischen Staaten zu entwickeln, die sich dann wohl hauptsächlich der wirtschaftlichen Instrumente der Gemeinschaft zu bedienen hätten. 3. Auswirkungen auf die Beziehungen zu den Ländern der Dritten Welt Die Erweiterung wird auch für die Fortführung der gemeinschaftlichen Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt Konsequenzen haben. Diese können einmal den Bereich der eigentlichen Entwicklungshilfe, d. h. Umfang und Verteilung der dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, berühren und zum anderen die Handelsbeziehungen zwischen der EG und einer Reihe von Drittländern, insbesondere den AKP-Staäten (Afrika, Karibik, Pazifik) und jenen Staaten, die unter das System der Allgemeinen Präferenzen (SAP)
fallen.
Für die AKP-Staaten bedeutet die Erweiterung einen vergrößerten Absatzmarkt für ihre tropischen Produkte wie Kaffee, Tee, Kakao usw. Für die industriellen und handwerklichen Erzeugnisse dieser Länder gilt im Prinzip das gleiche, wobei zu bedenken ist, daß bereits heute der Absatz dieser Produkte eher eine Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit als des Marktzugangs ist. Im Rohstoff-bereich (Ol, Leder, Mineral, Holz) dürften sich wegen der Erweiterung auch keine größeren Probleme in den Beziehungen mit den AKP-Ländern ergeben. Schwierigkeiten werden hin-• gegen für den Handel mit einigen Produkten auftreten, die auch in den Beitrittsländern erzeugt werden: Früchte, Fruchtkonserven Frischgemüse und Textilien. Hier könnte sich das neue Angebot aus den mittelmeerischen Mitgliedstaaten zum Nachteil für die AKP-Länder auswirken, die in ihren Diversifizierungsbemühungen im Agrarsektor getroffen werden.
Ein besonderes Problem könnte sich in der industriellen Kooperation ergeben, wenn nicht dafür Sorge getragen wird, daß die in den AKP-Ländern zu entwickelnden Industrien primär für den heimischen Markt produzieren, dessen Kaufkraft entsprechend anzuheben wäre. Andernfalls könnte es hier zu einer Konkurrenz zwischen weltmarktorientierten Industrie-entwicklungen in den Beitrittsländern und den AKP-Ländern kommen, bei der die Kostenvorteile zunächst in der Dritten Welt liegen dürften. In der Konsequenz könnte dann in der EG/12 der Wunsch nach einem verstärkten Schutz vor dieser Konkurrenz wachsen. Wenn die Gemeinschaft vermeiden will, in ein Dilemma zwischen notwendiger Industrieentwicklung in der eigenen Mittelmeerperipherie einerseits und andererseits der Notwendigkeit zu geraten, bei der Umstrukturierung der weltweiten Arbeitsteilung ihren Beitrag zur industriellen Entwicklung der Dritten Welt zu leisten, so wird es notwendig, im Rahmen der industriellen Kooperation mit den AKP-Ländern eine entsprechende Abstimmung mit den westeuropäischen Entwicklungsimperativen vorzunehmen. Hierbei dürften erhebliche politische Probleme auftreten, und die Gemeinschaft könnte leicht in den Ruf einer „neoim-
perialistischen" Macht geraten. Daher wäre in diesem Zusammenhang sorgfältig zu prüfen, wie weit es für weltmarktorientierte Entwicklungsstrategien in den Beitrittsländern und der gesamten EG/12 praktikable Alternativen gibt.
Die gleichen Probleme ergeben sich für das umfassendere System der Allgemeinen Präferenzen, das die EG der Mehrzahl der Entwicklungsländer eingeräumt hat. Einmal wird es kurzfristig zu einer Revision in der Festlegung der Plafonds und Quoten für verarbeitete Produkte kommen müssen, wenn die Erweiterung vollzogen ist. Zum anderen aber könnten längerfristig die Chancen der Entwicklungsländer erheblich verschlechtert werden, weil der Bereich der „sensiblen Produkte" zunimmt, bei denen wegen des Vorrangs der Interessen der eigenen Produzenten die Gemeinschaft ihre Abnahmegarantien einfrieren oder gar reduzieren muß. Die relativ großzügige Ausweitung der Angebote der EG im System der All-15 gemeinen Präferenzen, die in der Vergangenheit zu verzeichnen war, wird sich nicht im gleichen Umfang aufrecht erhalten lassen. Das trifft vor allem dann zu, wenn auch die allgemeine wirtschaftliche Stagnation andauert, die heute schon negative Konsequenzen für das SAP zeigt.
Einen neuen Akzent dürften nach der Süderweiterung die Beziehungen der Gemeinschaft zu Lateinamerika erhalten. Spanien und Portugal bringen hier das Erbe ihrer Vergangenheit als Kolonialmächte ein, was die EG zu einer Aufgabe ihrer bisherigen Haltung des „benign neglect” gegenüber dieser Region veranlassen wird. Das entspricht auch der Interessenlage der wichtigsten lateinamerikanischen Staaten, die sich über Spanien und Portugal einen leichteren und privilegierten Zugang zum westeuropäischen Raum versprechen. Die konkrete Ausgestaltung dieser Beziehungen dürfte jedoch, wie bisher schon, für beide Seiten nicht einfach sein. Das gilt vor allem für die größeren Länder in Lateinamerika (Mexiko, Brasilien, Venezuela, Argentinien und Chile), von denen fast alle einen ähnlichen Entwicklungsstand aufweisen wie die Beitrittskandidaten. Das führt im Bereich der Fertigwaren zur Wirtschaftskonkurrenz auf dem Markt der EG und in Drittländern, solange in den lateinamerikanischen Staaten wie in Westeuropa der Weg der weltmarktorientierten Entwicklung beibehalten wird. Insofern dürften die tatsächlichen Möglichkeiten für die Intensivierung der Handelsbeziehungen relativ gering sein.
Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß die großen Länder dieser Region dabei sind, ihren Platz in der internationalen Politik neu zu bestimmen und daß sie über Attribute verfügen, die ihren Status als „Schwellenländer" unterstreichen und ihnen im System der globalen Beziehungen einen eigenständigen Rang einräumen. So sind Argentinien und Brasilien Atomstaaten, Venezuela gehört zu den wichtigen ölexportierenden Ländern in der OPEC, während Mexiko über ein beträchtliches allgemeines Ansehen in der Dritten Welt verfügt. Für die EG/12 könnte daher die Frage, welche Rolle diese Länder beim . Prozeß der Neuordnung der Weltwirtschait spielen werden und welche Konsequenzen sich daraus für die westeuropäische Position in diesem Prozeß ergeben, von zunehmendem Interesse sein. Hier bietet die Erweiterung der Gemeinschaft einen Vorschuß an „good will" auf selten der lateinamerikanischen Staaten, den es zu nutzen gilt. 4. Die Gemeinschaft vor neuen Aufgaben in der Außenpolitik: einige Schlußfolgerungen Die aufgezeigten Probleme bei den Beziehungen einer erweiterten EG zu Drittländern erfordern von der Gemeinschaft neue Anstrengungen und Konzepte. Es ergeben sich jetzt neue Notwendigkeiten; generalisierend geht es darum, einen Einklang herzustellen zwischen verschiedenen Erfordernissen:
— der Beseitigung der Arbeitslosigkeit in den Ländern der bisherigen EG/9 durch die Schaffung dauerhaft gesicherter Arbeitsplätze mit Hilfe eines industriellen Strukturwandels; — der Beseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichmäßigkeiten in der EG/12 durch eine interne Entwicklungspolitik, die die Eigenkraft der Entwicklungsregionen stärkt und die Notwendigkeit eines Finanzausgleichs verringert. Dafür müssen in den Beitrittsländern wirtschaftliche Strukturen aufgebaut werden, die sowohl zur Hebung der Massen-kaufkraft wie zur intraregionalen oder internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften dieser Länder beitragen, ohne die vorhergehend genannte Zielsetzung zu gefährden; — der Beiseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit in der Welt durch eine Entwicklungspolitik, die in den Ländern der Dritten Welt die gleichen Effekte bewirkt, die schon für die Beitrittskandidaten genannt wurden. — der Beseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Not in den ärmsten Ländern der Erde, deren Potential nach unserem gegenwärtigen Wissensstand nicht ausreicht, um einen auf Eigenständigkeit gegründeten Entwicklungsprozeß durchzuführen.
Es ist deutlich, daß Widersprüche im Verfolg der genannten Ziele auftreten können, indem die in einem der genannten Bereiche verwandte Entwicklungsstrategie die Erfolge in anderen Bereichen gefährdet. Besonders groß dürfte die Möglichkeit von Zielkonflikten zwischen den an zweiter und dritter Stelle genannten Desiderata sein. Als Beispiel könnte hier angeführt werden eine Konkurrenz zwischen den Industrialisierungsplänen der Golf-Region und einer möglichen Orientierung in der wirtschaftlichen Entwicklung in Portugal und Griechenland auf petrochemische Produkte und Grundftoffindustrien. Ein anderer denkbarer Konflikt könnte entstehen, wenn sich die industrielle Entwicklung in Portugal und Griechenland auf die Fertigung von Konsumgütern und hochtechnologischen Gebrauchsprodukten und Industriewaren konzentriert, die kostengünstiger bereits in Entwicklungsländern produziert werden.
Damit wird die Frage aufgeworfen, inwieweit für einzelne Länder eine auf den Weltmarkt hin orientierte Industrieentwicklung durch andere Orientierungen ergänzt oder abgelöst werden sollte. Das gilt auch für die Lösung der Arbeitsbeschaffungsprobleme in bezug auf die Kernländer der EG, wo eine weitgehend auf die Internationalisierung der Produkte gerichtete Strategie zur Überwindung der Krise mit den Entwicklungserfordernissen der Beitritts-kandidaten in Konflikt geraten kann. Derartige Zielkonflikte zwischen den einzelnen Bereichen können nur bei einer ausreichenden Programmierung der Gesamtentwicklung vermieden werden, die dazu beitragen müßte, Fehlallokationen zu verringern. Das größte Problem dürfte die Abstimmung zwischen der Entwicklung der regionalen Arbeitsteilung in der EG/12 und der weltweiten internationalen Arbeitsteilung darstellen, ohne daß damit das Problem der regionalen Arbeitsteilung unterschätzt wird.
IV. Institutionelle Probleme der Erweiterung
Abbildung 4
Abbildung 4
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1. Zur Funktionsfähigkeit der Institutionen im Zusammenhang der Gemeinschaft Die neue Erweiterungsrunde, die sich mindestens über die nächsten fünf Jahre erstrecken wird, wird das Ziel einer europäischen Föderation in noch weitere Ferne rücken. Der Wunsch und die Notwendigkeit, die Erweiterung mit Elementen der Vertiefung zu begleiten, werden sich mit Anpassung und Innovationen eher auf den Bereich der Wirtschafts-und Währungsunion als auf den institutioneilen Bereich zu konzentrieren haben. Es wäre kaum realistisch, bei dieser Gelegenheit institutioneile Entwicklungen über das Maß hinaus anzustreben, das zur Kompensation von Funktionsschwächen im „decision-making process" erforderlich ist, die sich aus gegebenem Anlaß in der Gemeinschaft verstärkt zeigen oder ergeben werden. Ein Großteil der institutioneilen Anpassungen ist entweder vertraglich festgelegt oder aus dem Präzedenzfall der ersten Erweiterung analog ableitbar Das gilt wohl auch für den Bereich der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und läuft darauf hinaus, zukünftige Mitgliedsländer während der Beitrittsverhandlungen exklusiv über die interessierenden Fragen zu unterrichten und sie mit ihrem Beitritt zur EG auch voll berechtigt in die EPZ einzugliedern.
Ein Großteil der Belastungen, die im Zuge der Erweiterung die Effizienz des Entscheidungsprozesses in der Zwölfer-Gemeinschaft beeinträchtigen werden, verstärkt schon bestehende Probleme. Dies gilt insbesondere im Blick auf die Funktionsfähigkeit des Ministerrats, der stärker noch als bisher zum „Nadelöhr" gemeinschaftlicher Tagespolitik werden dürfte. Dem im Zusammenhang mit der Erweiterung zunehmenden Bedarf an Regelungen und Entscheidungen stehen keine vertraglich oder anderweitig vorgezeichneten und gleichermaßen wachsenden Kapazitäten zur Arbeitsbewältigung gegenüber. Wenn die Arbeit des Rates nicht unter der Bürde der zunehmend auseinanderstrebenden Ansprüche seiner zwölf Mitglieder völlig zum Erliegen kommen soll, wäre eine allgemeinere Anwendung von Mehrheitsentscheidungen zu fordern. Wird dem nicht entsprochen, wäre die prinzipielle Alternative eine weitgehende Abwendung von der gemeinschaftlichen Willensbildung und ein Über-gang zu weniger institutionalisierten Formen der Konsensfindung. Damit würde einem bereits bestehenden Trend und einem teilweise in Frankreich und Großbritannien bestehenden Wunsch zusätzlich Auftrieb gegeben. Durch die relativ wirksame Tätigkeit der EPZ ist die außervertragliche, intergouvernementale Kooperationsmethode bereits „salonfähig" gemacht worden. Schon jetzt greift diese Methode auf Bereiche über, die zu den Kompetenzen der EG zählen. Auch in neu zu erschließenden Sektoren europäischer Gemeinsamkeit (z. B. aus dem Kompetenzbereich der Innen-und Justizminister) wird die interadministrative Form der Zusammenarbeit vorgezogen. Das Hauptargument für diese Zusammenarbeit der europäischen Partnerländer geht dahin, daß integra-tionspolitischen Zielvorstellungen (wie z. B. die Errichtung der WWU) wegen der gestiegenen innergemeinschaftlichen Heterogenität auf absehbare Zeit nicht entsprochen werden kann, so daß eine Kooperation der Mitgliedsregierungen nicht nur als funktionsgerecht, sondern durchaus auch als zielgerechter Fortschritt zu europäischer Gemeinsamkeit gelten könne.
Neben der verstärkten nationalen und inter-gouvernementalen Tendenz dürfte sich nach der zweiten Erweiterung auch die Kooperation von Mitgliedstaaten mehr oder weniger unabhängig vom Zwölfer-Kreis verstärken. Wie bereits bei den Neun begonnen, wird sich die Praxis immer mehr fortsetzen, daß wichtige Entscheidungen europäischer Politik im kleineren Kreis — und das heißt in der Regel unter den großen Drei plus Italien — getroffen werden. Zur Anregung europäischer Initiativen wird dieser multiple Bilateralismus unter den „Großen" der erweiterten Gemeinschaft unerläßlich werden. Ein Grundprinzip der EG, nämlich die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten, wird durch diese selektive Kooperation zweifellos untergraben. Andererseits werden die größeren Staaten aber auch mehr und mehr in eine Verantwortung und in Gremien — z. B. Wirtschaftsgipfel der Industriestaaten, Internationaler Währungsfonds (IMF), OECD — hineingezogen, die die europäische Dimension lediglich noch als eine unter vielen ausweisen.
Zwar besteht seit Anbeginn der Gemeinschaft aufgrund des Übergewichts der „Großen” eine De-facto-Leitgruppe-, sie wurde aber in einen Rahmen eingebunden, der die gleichmäßige Behandlung jedes Mitgliedstaates garantierte. In der EG/12 wird das Eigengewicht der Gruppe der „Großen" noch deutlicher hervortreten. Dennoch kann ein Direktorium — will es die Effizienz des Ganzen ernsthaft verbessern — nicht aus einer Kommandogruppe der drei bis vier „Großen" bestehen (vgl. die Empfindlichkeiten im Kontext der westlichen Wirtschaftsgipfel!). Vielmehr muß — unter Beibehaltung der Leitungsvorteile — eine vernünftige Form der Rückbeziehung von der „steering group" zum Gemeinschaftsganzen gefunden werden. Selbst wenn mit Hilfe von „Direktorium" und Mehrheitsregel der Entscheidungsprozeß effizienter gemacht werden kann, wird sich für eine wachsende Zahl von Dissensfeldern keine Zwölfer-Lösung finden lassen. Die bloße Verbesserung der Konsens-und Entscheidungstechniken hilft hier wenig. Die unvermeidliche Einbeziehung von Entwicklungen in Richtung neuer vielfältiger Entscheidungsstrukturen zur Lösung dieser Probleme führt aber zu einer weiteren Komplizierung der institutionellen Struktur in Westeuropa mit ungewissem Ausgang für Wirkungsgrad und Finalität des Einigungsprozesses.
Die Hoffnung, der Europäische Rat könne ein gemeinsames Dach für die Vielzahl pragmatischer Gemeinschaftsformen sein, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Europäische Rat wirkt im Rahmen seiner Möglichkeiten bislang als globaler Koordinator aller Gemeinschaftstätigkeit sowie als wegbereitende und richtungweisende Instanz. Der Bedarf an solcher Funktionserfüllung wird in einer erweiterten Gemeinschaft auch hinsichtlich der westeuropäischen Außenpolitik zunehmen. Durch den Vorstoß in komplexere außenpolitische Verantwortungsbereiche wird zudem dringlicher, daß die außenwirtschaftliche Komponente der EG enger mit den Handlungsschwerpunkten der EPZ und den sicherheitspolitischen Aspekten des Bündnisses konzeptionell und institutionell verbunden wird. Diese Aufgaben kann der Europäische Rat nicht allein leisten, er kann hier aber Impulse geben und eine Klammer bilden. Die Vielfalt seiner Verfahrensmöglichkeiten und die Breite seiner Themenbehandlung machen heute seine Attraktivität aus. Sollte sich die Versammlung der Regierungschefs in der erweiterten Gemeinschaft zur Berufungsstelle für den Ministerrat entwickeln oder — das andere Extrem — sich zunehmend auf politische Diskussion beschränken, so wäre dies weniger zum Schaden verfassungspolitischer Ziele als zum Schaden der impulsspendenden Funktion des Europäischen Rates.
Für die fernere Entwicklung eines „verfaßten" Europas stellt die kompetenzverwischende Kreation des Europäischen Rates keinen verheißungsvollen Ansatz dar. Im Stadium der Gemeinschaftserweiterung dürfte er aber bei unveränderter Struktur eine der wenigen Reserven sein, die zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft kurzfristig mobilisiert werden können.
Eine weitere, wenn auch erst langfristig verfügbare Reserve zur Funktionsverbesserung des Willensbildungsund Entscheidungsprozesses in der Zwölfer-Gemeinschaft liegt in einer allmählichen Aufwertung der Tätigkeit des Europäischen Parlaments. Weniger die Direktwahl per se als vielmehr die politischen Bewegungen im Vorfeld dieser Wahlen und parallel zur Parlamentstätigkeit könnten zu einer zunehmenden, transnationalen politischen Infrastrukturbildung führen, die sich auf die Konsensfähigkeit bei Parlament und Ministerrat auswirkt. Die hier vorsichtig eingeleiteten Prozesse werden jedenfalls in den ersten Jahren der Erweiterung wegen der Ausdehnung des politischen Spektrums der Gemeinschaft um die Gruppierungen der Beitrittsländer kaum nennenswert voranschreiten. Eher dürften sich Belastungen ergeben, die unter Umständen die bestehenden Ansätze zur Bildung politischer Infrastruktur in Westeuropa auf harte Proben stellen. Andererseits liegen hier Potentiale für breitere politische Verständigungsmöglichkeiten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen der alten und der neuen Mitgliedstaaten. Analoge Auswirkungen sind voraussichtlich auch dort zu erwarten, wo die transnationalen Gruppierungen der Sozialpartner am Meinungsbildungsprozeß innerhalb der EG-Administration aktiv beteiligt werden. Insgesamt dürfte damit in kürzerer Sicht nur wenig vorhanden sein, was als Mittel der Funktionsverbesserung für die institutioneilen Prozesse mobilisiert werden kann. Dieses begrenzte Potential würde indessen nochmals empfindlich reduziert, wollte man sich auf strikt vertragskonforme Anpassungen beschränken. 2. Zur Entwicklung der Institutionen unter dem Vorzeichen neuer Ansprüche an das Integrationskonzept Die Ausdehnung der Gemeinschaft auf zwölf Mitglieder ist ein zugleich politisch gewollter und vertraglich gestützter Vorgang. Demzufolge müßte von einer Stärkung des ursprünglich vorgesehenen Integrationsvorhabens ausgegangen werden können. Neben positiven Auswirkungen werden aber die Belastungen der Erweiterung in ihrer Summe so erheblich sein, daß sowohl die geltende Integrationsperspektive wie der gegenwärtige Entwicklungsstand der Gemeinschaft gefährdet erscheinen. Die verschiedenen Formen der Belastung in der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft haben einen Haupttrend: sie beeinträchtigen und relativieren den gemeinschaftlichen Charakter des westeuropäischen Zusammenschlusses. Mühsam erworbenes Gemeinschaftspotential aufzugeben dürfte aber um so weniger vertretbar sein, je mehr die Effizienz außervertraglicher Kooperationspolitik vom vertrags-gestützen Integrationsstand abhängig ist. Uber diese Abhängigkeit lassen sich allerdings keine präzisen Angaben machen. Dennoch ist aufgrund der Entstehungsgeschichte, der sachlichen Komplementarität und der teilweisen personellen Identität von vertragsbegründeter und außervertraglicher Politik anzunehmen, daß beide aufeinander angewiesen sind, um leistungsfähig zu sein. Folglich wäre auf eine entsprechende Ausgewogenheit beider abzuzielen. Zunächst wäre auf einen höheren Nutzungsgrad gemeinschaftlicher Regelungen zu achten, deren Nichtausschöpfung nach wie vor als vertragswidrig anzusehen ist. Weiterhin wäre einer durch die EG-Erweiterung wahrscheinlich genährten Tendenz entgegenzuwirken, strikte und gesicherte Gemeinschaftsverfahren auszusparen. Zumindest aber müßte darauf hingewirkt werden, das Integrationsmuster, wie es durch die Römischen Verträge vorgezeichnet ist, nicht außer Kraft zu setzen. Andererseits kann nicht übersehen werden, daß die neuerliche Gemeinschaftserweiterung nicht so sehr zur Teilverwirklichung einer finalen Integrationsvorstellung erfolgen soll, sondern vielmehr zur Realisierung konkreter, auf den Mittelmeerraum bezogener politischer Anliegen und damit zur Festigung demokratischer Lebensformen in Westeuropa insgesamt. Ein ausgesprochen heikles institutionelles Problem, das mit der Erweiterung Aktualität gewinnen könnte, betrifft daher die Frage, welche Konsequenzen es für die Gemeinschaft und ihrer Aktivitäten haben würde, wenn eines der Mitglieder einer demokratischen Verfassung wieder entfremdet würde. Mit der kürzlich vom Europäischen Rat abgegebenen Erklärung zum demokratischen Grundcharakter der Gemeinschaft ist diese Frage wohl kaum schon beantwortet.
Erfahrungsgemäß sind gezielte institutionelle Veränderungen im Rahmen eines integrationspolitischen Konzepts äußerst mühsam zu bewerkstelligen (vgl.den Entschluß zur Direktwahl des Europäischen Parlaments). Andererseits besteht bei einseitiger Konzentration auf die Funktionstüchtigkeit der Gemeinschaft die Gefahr, die Idee und den Anspruch der europäischen Einigung überhaupt aus den Augen zu verlieren. Die Möglichkeit der Einordnung funktionaler Schritte in einen konzeptionellen Rahmen bleibt daher ein wichtiger Erinnerungsposten in Zeiten des Erweiterungspragmatismus. Die Mitgliedsregierungen werden wohl über kurz oder lang vor der Frage stehen, inwieweit der gültige konzeptionelle Ansatzpunkt europäischer Integrationspolitik — der Tindemans-Bericht — Bestand haben kann.
Wäre unter den Gemeinschaftsmitgliedern der politische Wille zur Stärkung der Gesamtheit der bestehenden vertraglichen und außervertraglichen Strukturen hinreichend gegeben und gleichzeitig unverrückbar, daß im Wirkungszeitraum der Erweiterung jeder größere Fortschritt auf dem Wege zur Europäischen Union zumindest für London und Paris unannehmbar ist, so bestünde allenfalls im Bereich konzeptioneller Gesten eine Bewegungsmöglichkeit. Beispielsweise ließen sich unter der Bezeichnung „Europäische Konföderation" die Strukturen von EG, EPZ und Europäischem Rat straffen und zu einer Einheit zusammenfassen. Damit könnte den Institutionen insgesamt mehr Stringenz und Prestige verschafft werden, um die Erwartung zu stärken, daß nach Überwindung der Erweiterungsprobleme weitergehende institutionelle Fortschritte möglich werden.
Christian Deubner, Dr. rer. pol., wiss. Mitarbeiter im Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: Die Atompolitik der westdeutschen Industrie und die Gründung von Euratom, 1977; zus. mit U. Rehfeldt und F. Schlupp; Deutsch-französische Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, in: Deutschland, Frankreich, Europa, hrsg. v. R. Picht, München 1978. Heinz Kram er , Dr. rer. pol., geb. 1945 in Lübeck; wiss. Mitarbeiter im Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: Nuklearpolitik in Westeuropa und die Forschungspolitik der EURATOM, Köln 1976; Ziele und Verhalten der Sozialpartner in Westeuropa als Faktoren für die Gemeinschaftsbildung, Ebenhausen 1977; zus. mit R. Rummel: Gemeinschaftsbildung Westeuropas in der Außenpolitik, Baden-Baden 1978. Götz Roth, Dr. phil., geb. 1919, 1958— 1966 Lehrbeauftragter für Internationale Politik am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg, Gastprofessor am Grinnell College, Iowa, USA; seit 1965 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik. Veröffentlichungen u. a.: Die Europapolitik der Regierung Nixon, Ebenhausen 1975; Die britischen Gewerkschaften und die Wirtschaftskrise in England 1974— 1976, Ebenhausen 1976.
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