Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung Forschungsüberblick und Kritik an der „herrschenden Lehre" | APuZ 45/1978 | bpb.de
Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung Forschungsüberblick und Kritik an der „herrschenden Lehre"
Eckhard Jesse /Henning Köhler
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Zusammenfassung
Die Einschätzung der Revolution 1918/19 hat sich im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt. Gaben in der Zwischenkriegszeit nationalistisch-konservative Kreise der Sozialdemokratie die Schuld am Ausbruch der Revolution, so kam es nach 1945 zunächst zu dem Konsens, es sei das Verdienst der Sozialdemokratie, durch ein Zweckbündnis mit den konservativen Kräften eine kommunistische Diktatur verhindert zu haben. Anknüpfend an das Werk Arthur Rosenbergs setzte sich mit Beginn der sechziger Jahre dann eine Richtung durch, die schwere Vorwürfe gegen die Sozialdemokratie erhob: Diese habe die Offenheit der revolutionären Situation unterschätzt und das demokratische Potential der Arbeiter-und Soldatenräte für die Entwicklung einer sozialen Demokratie nicht genutzt. Der Keim für den baldigen Untergang der Weimarer Republik liegt nach dieser heute nahezu kanonische Geltung genießenden Aufassung in der gescheiterten Revolution von 1918/19. Gegen die These vom . dritten Weg“ lassen sich jedoch gewichtige Einwände erheben. Arbeiter-und Soldatenräte mit höchst unterschiedlichen politischen Vorstellungen mußten zwangsläufig mit den Strukturen eines parlamentarischen Systems kollidieren, zumal schon frühzeitig radikale Tendenzen bei den Räten gegeben und akute Probleme zu bewältigen , waren (z. B. Demobilisierung, Volksernährung usw.). Da die Räte weder über eine zureichende Funktionsfähigkeit noch über eine genügende demokratische Legitimation verfügten, ist der Vorwurf an die sozialdemokratische Führung, eine große Chance vertan zu haben, wenig stichhaltig. Für den Historiker, der die unheilvolle Entwicklung kennt, stellen sich die Ereignisse anders dar als für die Akteure. Wer die Weichenstellung der Jahre 1918/19 so scharf betont, unterliegt der Gefahr, das Urteil über die Haltung der SPD vom schon baldigen Ende der Weimarer Republik her zu präjudizieren. Daß eine radikale Umwälzung nach dem Ersten Weltkrieg zu einer gefestigten Demokratie geführt hätte, ist lediglich ein Glaubensbekenntnis.
Einleitung
Vor sechzig Jahren, am 9. November 1918, brach die Monarchie in Deutschland zusammen und die Revolution aus. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief die Republik aus, und Wilhelm II. dankte ab. Arbeiter-und Soldatenräte konstituierten sich nach russischem Vorbild in ganz Deutschland. Schon am 29. Oktober hatten die Matrosen gegen den Plan der Marineleitung zum Auslaufen gemeutert. Die Meuterei begann in Wilhelmshaven und griff schnell auf die anderen norddeutschen Küstenstädte über. Bestimmend für die folgende Zeit sollten die Ereignisse in Berlin werden. SPD und USPD bildeten einen paritätisch besetzten „Rat der Volksbeauftragten". Die Vollversammlung der Berliner Arbeiter-und Soldatenräte setzte einen „Vollzugsrat" ein, der den „Rat der Volksbeauftragten" bestätigte. Zwischen der SPD, die unverzüglich die Wahl einer Nationalversammlung anstrebte, und den weiter links-stehenden Gruppierungen kam es in der Folgezeit zu heftigen Auseinandersetzungen. Der vom 16. bis 21. Dezember 1918 tagende Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte erteilte dem Rätesystem eine Absage und beschloß mit überwältigender Mehrheit die Wahl zur Nationalversammlung. Damit hatte sich die SPD durchgesetzt. In den daraufhin ausbrechenden Unruhen und Aufständen konnte sie mit Hilfe der Freikorps die Regierungsgewalt behaupten. So unumstritten die (hier stark verkürzt referierten) Fakten auch sind, so unterschiedlich fielen und fallen die Wertungen aus. Die Beschäftigung mit der Revolution von 1918/19 und die Intensivierung der Forschung hat mittlerweile eine fast unübersehbare Flut von Veröffentlichungen hervorge-bracht jedoch in vielen Punkten nicht zu einem Konsens geführt, sondern zahlreiche Fragen offengelassen: Ist es angesichts der weitgehenden Kontinuität vom Kaiserreich zur Weimarer Republik überhaupt eine Revolution gewesen? Wenn ja, handelt es sich um eine „überflüssige", eine „verratene", eine „improvisierte", eine „bürgerlich-demokratische“ oder eine „gescheiterte"? Wie läßt sich die Revolution zeitlich eingrenzen? Endete sie schon mit dem 9. November, mit der Wahl der Nationalversammlung im Januar 1919 oder erst nach dem Abschluß der politischen Streiks und Aufstände 1920? Diese Fragen können hier nicht diskutiert werden. Der vorliegende Beitrag soll statt dessen erhellen, wie sich der Forschungsstand gewandelt hat. Dabei ist nicht beabsichtigt, den Gang der Forschung in seinen Verästelungen vollständig zu erfassen. Vielmehr geht es darum, die Hauptlinien der Entwicklung chronologisch und an einigen Beispielen darzulegen.
Im Vordergrund steht die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeiten der DDR-Historiker finden keine Berücksichtigung. Eine Auseinandersetzung mit der durch Parteidekrete in ideologisch-eingleisige Bahnen gelenkten ostdeutschen Forschung zur Revolution 1918/19 ist solan-ge wenig fruchtbar, wie die — übrigens gänzlich unmarxistischen — Stereotypen von den „rechten Arbeiterführern", die „Verrat" an den „wahren Interessen" der „Massen" geübt haben sollen, dogmatischen Charakter haben. Abweichungen von den ZK-Thesen aus dem Jahre 1958 lassen sich kaum ausmachen Da eine marxistisch-leninistische Partei beim Ausbruch der Revolution fehlte, konnte das Proletariat nach dieser Auffassung keinen wirklichen Kampf zur eigenen Befreiung führen
Der Aufsatz beschränkt sich nicht auf einen Forschungsüberblick. Die Verfasser halten es für nötig, die heutzutage fast schon kanonische Geltung besitzende These vom „dritten Weg" in Frage zu stellen. Die Einmütigkeit der Forschung in dieser Frage kontrastiert übrigens erstaunlich zur Vielzahl der ungeklärten und umstrittenen Probleme der Revolution 1918/19. Die von links vorgetragene Kritik richtet sich in erster Linie gegen die sozialdemokratische Führung, die 1918/19 schwere Versäumnisse begangen habe. Die Auseinandersetzung mit der „herrschenden Lehre" kann hier allerdings nur thesenartig geschehen. Sie wird bewußt prononciert geführt, um die unterschiedlichen Positionen zu verdeutlichen.
I. Die Forschung in der Weimarer Republik und in den fünfziger Jahren
1. Weimarer Zeit In der Zwischenkriegszeit behaupteten nationalistisch-konservative Historiker, die Heimat sei den kämpfenden Truppen in den Rücken gefallen und habe damit die militärische Niederlage besiegelt Diese schon bald als „Dolchstoßlegende" entlarvte These vertraten u. a. Dietrich Schäfer und Georg von Below. So schrieb von Below beispielsweise im Dezember 1918: „Wenn eine Voraussetzung für deutsche Siege der ungebrochene Mut und die zähe Ausdauer der Soldaten und der Bürger in der Heimat sind, so hat ein Hindernis für deutsche Siege in der Agitation gele-gen, die davor gewarnt hat, an gewaltige deutsche militärische Erfolge zu glauben, und die ... die Verhältnisse an der Front und im Heimatland ganz planmäßig grau in grau gemalt hat.“ Eine Variante der Dolchstoß-theorie lag darin, der Sozialdemokratie die Hauptschuld am Ausbruch der Revolution zu geben, da sie ihre Anhänger nicht besser unter Kontrolle gehalten und im nationalen Interesse geführt habe
Daß die Geschichtswissenschaft in der Weimarer Republik das Revolutionsgeschehen generell nur verzerrt dargestellt oder aber überhaupt verdrängt hat, läßt sich keineswegs sagen Vielmehr gibt es auch zu dieser Zeit bereits beachtenswerte Versuche, diese im politischen Leben der Nation trotz unübersehbarer Kontinuitäten einschneidende Zäsur jenseits der ressentimentgeladenen Reaktionen konservativer Kreise angemessen zu würdigen So kommt Hans Delbrück zu einer vernichtenden Kritik der militärischen Führung: „Die Oberste Heeresleitung hat den Krieg absichtlich und verbrecherisch verspielt, denn sie hat, statt alles zu tun, den Verständigungsfrieden herbeizuführen, ihn nach Kräften zu verhindern gesucht und ihn erst angestrebt, als es zu spät war." Friedrich Meinecke führt in seinem 1930 erschienenen Beitrag eindringlich die wahren Ursachen der Novemberrevolution vor: die innen-politischen Versäumnisse während des Krieges durch die Regierung und die vom Wahlrecht in Preußen privilegierten Schichten sowie die militärischen Fehlentscheidungen und die von der militärischen Führung verlangte permanente Überspannung der eigenen Kräfte. Mit einer für diesen Zeitpunkt erstaunlichen Klarsicht kritisierte Meinecke auch den Entschluß, die Flotte Ende Oktober auslaufen zu lassen Dies gilt sowohl für die Eigen-Mächtigkeit der Entscheidung der Marineleitung als auch für die Bereitschaft zum „heroischen Untergang", die dann die Initialzündung zur Revolte abgeben sollte.
Meineckes Urteil über die Marine ist — trotz verbaler Zurückhaltung — in der Sache vernichtend: „So konnte das anscheinend so Widerspruchsvolle geschehen, daß die Marineoffiziere zuerst der Möglichkeit des ehrenvollen Unterganges heroisch ins Auge sahen und dann doch den Degen in der Scheide behielten, als die Massen der Meuterer sie umringten. Sie handelten darin eigentlich grundsätzlich ähnlich wie die Meuterer selbst, die von heroischem Untergang nichts wissen wollten." In den Arbeiter-und Soldatenräten konnte Meinecke jedoch keine geschichtsbildende Kraft, sondern nur — offensichtlich geprägt von den eigenen Berliner Eindrücken — „einen Ansatzpunkt zur Bolschewisierung Deutschlands" sehen, wie überhaupt das Geschehen der Novembertage sich ihm in erster Linie als Zusammenbruch präsentiert hat. Der Mehrheitssozialdemokratie wird „das historische Verdienst" zugesprochen, daß sie „die unvermeidlich gewordene Revolution . aufgefangen'und den Zusammenstoß der proletarischen mit der bürgerlichen Welt gemildert hat durch die Parole der reinen Demokratie, innerhalb deren ein dauerhafter sozialer Frier den in Zukunft allein noch möglich war" Die sozialdemokratische Memoirenliteratur in der Weimarer Republik interpretierte die „Novemberrevolution" ebenfalls hauptsächlich unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit der radikalen Linken 2. Fünfziger Jahre Nach 1945 vernachlässigte die Geschichtswissenschaft den Umbruch von 1918/19 zunächst fast vollständig. Die Diskussion um das Ende der Weimarer Republik nahm — verständlicherweise — einen viel höheren Rang ein Soweit die Forschung sich mit der Novemberrevolution auseinandersetzte, hielt sie sich zunächst weitgehend in dem Interpretationsrahmen, den die sozialdemokratische Seite in der Weimarer Republik vorgegeben hatte. Auch der Aufsatz von Georg Kotowski „Die deutsche Novemberrevolution" aus dem Jahre 1960 ist hierfür noch typisch Kotowski betont die erhebliche Bedrohung durch eine bolschewistische Revolution: „Die Gefahr, daß eine linksradikale Revolution zu einer bolschewistischen werden und sich dann mit der russischen verbinden würde, wurde stets als drohend empfunden. Trat das aber ein, so war ein Bürgerkrieg größten Ausmaßes kaum noch zu verhindern, und es mußte als ausgeschlossen gelten, daß die Siegermächte des Ersten Weltkriegs unter diesen Umständen auf eine Intervention verzichtet hätten.“ Friedrich Ebert wird das Verdienst zuge-schrieben, einen längeren Bürgerkrieg und einen gewaltsamen Umsturz verhindert zu haben. Karl Dietrich Erdmann hatte diese Beurteilung — in den fünfziger Jahren weitgehend allgemeine Ansicht der Forschung— schon vorher alternativ zugespitzt, es habe 1918/19 nur „die Wahl zwischen einem konkreten Entweder-Oder (gegeben): die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen wie dem alten Offizierskorps" Auf diesen einen Satz bezog sich fortan die in der jüngeren Forschung fast selbstverständlich gewordene Ablehnung der „These" Erdmanns.
II. Der Wandel in der westdeutschen Forschung
1. Rezeption des Werkes von Arthur Rosen-berg
Bestimmend für den Wandel in der Forschung sollte die — erst spät einsetzende — Rezeption des Werkes von Arthur Rosenberg werden, übte es doch einen nachhaltigen, kaum zu überschätzenden Einfluß aus. Aus der einmaligen Mischung des gelernten (Alt-) Historikers und aktiven Politikers der als Vertreter der KPD im Reichstag gesessen, im Zuge der Stalinisierungspolitik die Partei jedoch 1927 verlassen hatte und so Erkenntnisse und Erfahrungen über die deutsche Arbeiterbewegung mitbrachte, die einem „bürgerlichen" Historiker damals verschlossen waren, resultiert ein wesentlich anderes Verständnis der „Novemberrevolution". Dabei bleibt festzuhalten: Auch seine Schilderung des Revolutionsverlaufes orientiert sich vor allem an den in Berlin sich abspielenden Ereignissen und den damit gegebenen Stufen der Radikalisierung. Die drei miteinander konkurrierenden sozialistischen Parteien stellt Rosenberg abgewogen vor. In einer Klarheit, wie sie vielen neueren Arbeiten abgeht, kritisiert Rosenberg zugleich die Unfähigkeit und Rücksichtslosigkeit radikaler Gruppen, die zur Entstehung einer bürgerkriegsähnlichen Situation beitrugen. „Nur in der deutschen Revolution, mit ihrer trostlosen politischen Verwirrung und Rückständigkeit, mit dem Mangel an politischer Klarheit bei fast allen beteiligten Personen und Tendenzen, war es möglich, daß wegen der 80 000 Mark der Matrosen (der Volksmarinedivision, die Verf.) und wegen der Launen Emil Eichhorns (des Berliner USPD-Polizeipräsidenten, die Verf.) die schwersten Krisen ausbrachen."
Was jedoch die Einzigartigkeit der Stellung Rosenbergs für die westdeutsche Revolutionshistoriographie ausmacht, war nicht so sehr die Darstellung des Ereignisablaufs, sondern die Charakterisierung der Ausgangsposition unmittelbar nach dem Umsturz sowie die positive Einschätzung der Räte. Der ausgebliebene Widerstand gegen den Umsturz wurde so gedeutet, als ob die Möglichkeit zu einem wirklichen Neuanfang gegeben gewesen sei. Rosen-berg erklärt die Bildung von Arbeiterräten in der russischen Revolution als eine improvisierte Maßnahme, gab es doch bis zu diesem Zeitpunkt in Rußland weder Gewerkschaften noch Parteiorganisationen, die die auftauchenden politischen Probleme zu lösen bzw. politische Leitungsfunktionen auszuüben vermocht hätten. Auf die Problematik freilich, warum in Deutschland mit der hervorragend organisierten Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften nun ebenfalls derartige Räte entstanden und ob sie angesichts der voll ausgebildeten Partei-und Gewerkschaftsorganisationen wirklich notwendig waren, ging er nicht ein
Rosenberg vermittelte die Vorstellung, „daß die breite Mitte der gemäßigt sozialistisch-demokratischen deutschen Arbeiterschaft zugleich zum Kristallisationskern und zum sozialen Träger eines nationalen demokratischen Integrationsprozesses hätte werden können" Aufgeworfen war damit zugleich die Frage nach dem organisatorischen Rahmen, in dem dieses demokratisch-sozialistische Potential erfaßt und repräsentiert werden sollte. 2. Eberhard Kolb Dieser neue Interpretationsansatz ist durch die Studie von Eberhard Kolb über die Arbeiterräte höchst erfolgreich verwandt worden, nachdem einige Jahre zuvor Walter Termin auf einer (zeitbedingt) schmalen Quel-lenbasis einen ersten beachtlichen Versuch unternommen hatte, das Phänomen der politisch gemäßigten Rätebewegung in der „Novemberrevolution" aufzuhellen. Die Entstehung der Räte läßt sich nach Tormin dabei nicht auf bolschewistische Einflüsse zurückführen. Mit der Arbeit von Kolb, die mehr bietet als der Titel verrät, da es sich notwendigerweise zugleich auch um die Darstellung der wichtigsten Entwicklungslinien der „Novemberrevolution" handelt, beginnt ein neuer Abschnitt der Revolutionshistoriographie. Kolb versucht die Entstehung, das Wirken und die Ausschaltung der deutschen Arbeiter-räte zu erfassen.
Der umfangreichere erste Teil ist ein am zeitlichen Ablauf orientierter Abriß des Revolutionsgeschehens, der zweite spürt typische Strukturen in der Erscheinungsform der Arbeiterräte auf. Dabei unterscheidet Kolb strikt zwischen den „radikalen Arbeiterräten“ und den „demokratischen Arbeiterräten“. Die Untersuchung Kolbs hat ihren Schwerpunkt in der Analyse der Politik Eberts und der SPD-Führung, die er — z. T. heftig — kritisiert. So arbeitet Kolb die verschiedenen Manöver und Manipulationen gegenüber den Räten heraus wie z. B. die Pressekampagne über die Mißwirtschaft der Räte. Indem der Autor von der objektiven Schwäche der Linksradikalen — sowohl in numerischer als auch organisatorischer Hinsicht — ausgeht, erkennt er einen weitaus größeren Handlungsspielraum, als ihn die SPD-Führung in ihrer Fixierung auf die möglichst rasche Einberufung der Nationalversammlung angenommen hatte. Damit lehnt er zugleich die Gültigkeit der u. a. von Erdmann behaupteten simplen Alternative ab und stellt demgegenüber die These auf, die Gefahr einer bolschewistischen Machtergreifung habe keineswegs bestanden. Die Situation sei vielmehr offen gewesen, so daß die demokratisch eingestellten Räte die Verwaltung tiefgreifend hätten reformieren können. Kolb verweist darauf, daß die überwiegende Anzahl der Arbeiterräte nicht die Diktatur des Proletariats anstrebte. Die Führer der SPD, dies versucht Kolb zu belegen, überbewerteten die Stärke der Linksradikalen in dem Maße, wie sie die Gefährlichkeit der alten Mächte in Verwaltung, Wirtschaft und Militär unterschätzten. Die hier ausgebliebenen Reformen und das Zusammenwirken der SPD mit den Freikorps haben nach Kolb zum Teil erst die (spätere) Radikalisierung und Polarisierung provoziert. Während diejenigen Abschnitte seines Buches, die die Politik der Volksbeauftragten, der Spartakisten oder ihrer Führer abhandeln, sich durch Prägnanz auszeichnen, sind die Kapitel, die speziell auf die Räte eingehen, eigenartig unscharf und bleiben in eher formalen Ausführungen stecken. Das ist nach der Natur der Dinge nicht weiter erstaunlich, da von einem einzelnen, der noch dazu weitgehend Neuland betrat, nicht zugleich die abschließende und vertiefte Analyse der Räte in den einzelnen Städten und Ländern geleistet werden konnte. So erscheinen die Räte in einem diffusen Licht. Welche Aussagekraft hat z B. ihre Tätigkeit in den preußischen Ostprovinzen, die Kolb relativ ausführlich berücksichtigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese angesichts der agrarisch-konservativen Mehrheit nur eine Außenseiterrolle spielen konnten? An der Wünschbarkeit, das von Landräten, Gutsbesitzern und Pfarrern repräsentierte konservative Machtkartell zu zerstören, ist nicht zu zweifeln; aber wie sollten dies Arbeiterräte — in ostpreußischen Landstädten etwa — bewerkstelligen, ohne daß die bürgerlich-konservative Mehrheit derartige Aktivi, täten als Provokationen mit der Konsequenz einer Reaktion zur äußersten Rechten hin empfunden hätte?
Die nicht zu bestreitende und heutzutage auch keineswegs ernsthaft in Frage gestellte politische Mäßigung der meisten Räte ist — für sich genommen — wenig aussagekräftig. Die leidenschaftliche Ablehnung und Bekämpfung dieser Einrichtungen richtete sich in erster Linie gegen die provokativ auftretenden radikalen Räte und die Gefahren, die sich bei einer Ausbreitung derartiger Aktivitäten ergeben konnten. Entscheidend bleibt vielmehr: Eigneten sich Räte — mochten sie noch so demokratisch zusammengesetzt sein — überhaupt für die Gestaltung der politischen Neuordnung, speziell für die Demokratisierung der Verwaltung? Ferner läßt Kolb die nicht unwichtigen Fragen offen, ob das Räte-system mit der parlamentarischen Demokratie kollidiert und inwieweit ein Ausbau der Räte ein Hinausschieben der Wahlen bedeutet hätte.
Der Autor räumt an einer Stelle selbst ein, die Organisierung der Räte und ihre Strukturierung, aufgrund deren man überhaupt von einer Bewegung sprechen könnte, sei Ende Dezember 1918 erst annähernd erreicht gewesen, so daß Chancen für ihre Weiterentwick-B lung in Richtung auf eine sinnvolle Integration in das politische Leben bereits nicht mehr bestanden: „Es kennzeichnet die Entwicklung der Arbeiterräte in der deutschen Revolutionsbewegung 1918/19, daß diese Be-wußtwerdung erst in jenem Zeitpunkt zu greifbaren Ergebnissen führte, in dem ihnen bereits die machtpolitischen Grundlagen ihrer Wirksamkeit entzogen waren."
Kolb hat mit immensem Arbeitsaufwand unter Heranziehung neuer Quellen und Materialien eine große Darstellung geliefert, die den bis dahin . gesicherten'Stand der Forschung nachhaltig erschütterte. Der entscheidende Punkt seiner These vom demokratischen Potential der Arbeiterräte blieb jedoch schwach begründet. Um so überraschender ist es, daß die Kritik der etablierten, keineswegs im Geruch besonderer Fortschrittlichkeit stehenden westdeutschen Geschichtswissenschaft eigenartig verhalten blieb Zu einer Kontroverse kam es nicht, obwohl Kolbs Ausführungen 1962 — unter den Fachhistorikern — sicherlich mehr Ablehnung als Zustimmung gefunden hatten. 3. Peter von Oertzen Kurze Zeit nach Kolbs Arbeit erschien die politikwissenschaftliche, stärker systematisch angelegte Studie Peter von Oertzens über die „Betriebsräte in der Novemberrevolution“ Der Titel ist irreführend, denn von Betriebsräten im eigentlichen Sinne in der Novemberrevolution, versteht man darunter den Zeitraum vom Umsturz im November bis zu den Wahlen zur Nationalversammlung, ist kaum die Rede Vielmehr behandelt von Oertzen vor allem — im Gegensatz zu Kolb, der sich auf die erste Phase der Revolution konzentriert — die seit Januar 1919 sich entwickelnden Streik-und Aufstandsbewegungen in den Industriezentren des Ruhrgebietes und Mitteldeutschlands sowie die Theorien, Diskussionen und Bestrebungen zur Etablierung der Räte im Wirtschaftsleben und der Bestimmung ihrer Funktionen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene.
Die hier analysierten Aktivitäten waren primär Rückzugsgefechte linkssozialistisch-kommunistischer Gruppierungen, welche in ihren Hochburgen die Entscheidung der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft gegen eine sozialistische Entwicklung nicht akzeptieren wollten. Den radikalen Tenor dieser Bewegung kaschiert von Oertzen keineswegs: „Der Inhalt war die ... Vorstellung einer unmittelbaren, die gesamte Klasse umfassende Selbstregierung der Arbeiter , als solche'." Von Oertzen erteilt einer derartigen „proletarischen Demokratie“ keine Absage, kehrt vielmehr die These Erdmanns um: „Die einzige wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie war nicht der . Bolschewismus', sondern eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie." Dabei vertritt er die Auffassung, eine auf dem Rätesystem basierende Wirtschaftsstruktur könne die Basis einer parlamentarischen Demokratie bilden. Gegenüber Kolb hat er damit eine erhebliche Verschärfung vorgenommen. Von Oertzen arbeitet wohl die Frontstellung der Räte gegenüber den Gewerkschaften heraus, berücksichtigt jedoch nicht, daß die Gewerkschaftsführung unter Legien und Leipart auf dem Gewerkschaftskongreß im Juni 1919 trotz ihrer rechtssozialistischen Kriegspolitik und ihrer scharfen Ablehnung dieser linken Rätebewegung mit großer Mehrheit in den Ämtern bestätigt wurde. Das ist bei dem ungeheuren Mitgliederzuwachs der Gewerkschaften seit Kriegsende um so bemerkenswerter, als die Basis dadurch einen hohen Anteil von noch nicht „richtig" Organisierten bzw. in die Disziplin der gewerkschaftlichen Organisationen eingewöhnten Mitgliedern aufwies.
III. 1968 — Fünfzig Jahre „Novemberrevolution"
Die Thesen Kolbs und von Oertzens setzten sich sowohl in der Forschung als auch — überraschend schnell — in der Öffentlichkeit durch. Daß diese neuere Forschung das Bild von der „Novemberrevolution" ganz entscheidend geprägt hat, zeigte sich besonders 1968 Zu diesem Zeitpunkt legte Reinhard Rürup eine bündige Zusammenfassung vor, bei der er sich in zugespitzter Form die Thesen Rosenbergs und Kolbs zu eigen machte Auffallend und originell war dabei der Nachdruck, mit dem er betonte, es habe sich im November 1918 tatsächlich um eine Revolution und nicht etwa nur um einen Zusammenbruch gehandelt. Das Kriterium dafür sah Rürup überraschenderweise darin, daß eine revolutionäre Massenbewegung „prinzipieller Natur" entstanden sei, die über ein „Programm“ verfügte und es zu verwirklichen suchte Was der Autor darunter versteht, hat wenig mit näher bestimmbaren politi-sehen Zielen zu tun, denn dieses „Programm" sah keine Anleitung zu konkretem Handeln vor, sondern zielte auf Visionäres: „Es meinte die Befreiung der großen Mehrheit des Volkes von politischen und sozialen Abhängigkeiten und die Begründung einer Verfassung der Freiheit.“ Inzwischen hat Rürup seine kühne These noch weiter akzentuiert
Durch das Zusammenfallen des 50. Jahrestages der „Novemberrevolution" mit dem Höhepunkt der Studentenbewegung und der Aktivitäten der außerparlamentarischen Opposition fanden die Ereignisse von 1918/19 in der Öffentlichkeit ein erhöhtes Interesse. Zeitungen und Zeitschriften widmeten sich ausführlich dieser Thematik, teilweise in Serienform („Die Welt“, „Süddeutsche Zeitung", „Der Spiegel", „Der Stern"). Zu den kennzeichnendsten Aspekten der Diskussion Ende der sechziger Jahre gehörten zwei Bereiche: Zum einen entbrannte der Streit darüber, ob das Rätesystem ein alternatives Organisationsmodell zum Parlamentarismus sein könne, zum andern erschienen populäre Darstellungen, die die Forschungsergebnisse von Kolb u. a. weiter zuspitzten und vergröberten. Jeweils anhand eines Beispiels werden beide Aspekte hier berücksichtigt. 1. Propagierung der Rätedemokratie: Wilfried Gottschalch Die Parole linker Studenten „Alle Macht den Räten" hob die Rätedemokratie wieder ins Bewußtsein. Die Renaissance des Rätegedankens durch die Studentenbewegung hat auch die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig beeinflußt. So beschäftigte sich die Tagung der „Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft" 1969 u. a. mit der Thematik „Räte als politisches Organisationsprinzip". Oskar Anweiler und Peter Lösche un-43 tersuchten auf vorwiegend historischer Basis Probleme des Rätesystems; Udo Bermbach und Jürgen Fijalkowski erörterten neben organisationssoziologischen Fragen vor allem die Möglichkeit, rätedemokratische Elemente in Teilbereichen des parlamentarischen Systems zu verwenden. Während sie allesamt eher zu einer skeptischen Beurteilung des Rätesystems gelangten, kamen Wilfried Gottschalch und Bernd Rabehl zu umgekehrten Schlußfolgerungen.
Inzwischen ist der — kurzatmige — Ruf nach den Räten völlig verstummt auch ein Einbau rätedemokratischer Elemente in das parlamentarisch-repräsentative System wird kaum noch gefordert. Vor zehn Jahren galt eine solche Forderung als ein Beweis für Reformaufgeschlossenheit. Inzwischen hat die Forschung jedoch die mangelnde Tauglichkeit des Rätesystems überzeugend nachgewiesen Es ist für die Lösung der komplizierten Probleme einer hochindustrialisierten Gesellschaft ungeeignet und läßt sich mit einer parlamentarischen Demokratie nicht vereinbaren Wenngleich das Grundgesetz einen breiten Spielraum für alternative Gesellschaftskonzepte bietet, versteht es sich doch — nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik — als eine wertgebundene Ordnung, die bestimmte Prinzipien, wie die Gewaltenteilung, nicht zur Disposition stellt.
Wie kurzschlüssig die theoretische Beschäftigung mit dem Rätesystem war, zeigt Gottschalchs Beitrag auf der Politologentagung, der hier — exemplarisch — behandelt wird. Gottschalchs Behauptung, ein Rätesystem könne nur in einer homogenen Gesellschaft, d. h. — nach seinem Selbstverständnis — auf der Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse, funktionsfähig sein, gibt zu einer Reihe von Fragen Anlaß: Kann es überhaupt eine homogene Gesellschaft geben? Wenn ja, wäre sie wünschenswert? Wie soll eine homogene Gesellschaft gebildet und wie gewährleistet werden, daß sie homogen bleibt? Reicht ein formales Kriterium (sozialistische Produktionsverhältnisse) zur Unterscheidung von „antagonistischen" und „homogenen" Gesellschaften aus? Wäre eine homogene Gesellschaft mit pluralistischen Prinzipien vereinbar? Gottschalch erweist sich in diesem Punkt als (unfreiwilliger) Nachfahre Carl Schmitts, der offen bekannte: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen." In einer Gesellschaft, wie sie Gottschalch vorschwebt, darf das, was den Kern der Homogenität ausmacht (laut Gottschalch:
die sozialistischen Produktionsverhältnisse)
nicht geändert werden. Dies ist keine böswillige Unterstellung, sondern eine systemimmanente Konsequenz aus den Prämissen Gottschalchs. Eine Rätedemokratie, die es zuließe, daß die Voraussetzungen, die sie erst ermöglichten, in Frage gestellt werden können, gäbe sich selbst auf. Eine homogene Gesellschaft, ja schon das Streben nach einem Höchstmaß an Homogenität, unterliegt immer der Gefahr, totalitäre Strukturen hervorzubringen, da die Homogenitätsvorstellungen monistischen Ursprungs sind und die Legitimität mehrerer konkurrierender Interessen negieren
Keine überzeugende Antwort vermag Gottschalch auf das Problem zu geben, wie sich die Spannungen von Zentralismus und Dezen-tralismus in einem Rätesystem lösen lassen. Einerseits sollen möglichst viele Entscheidungen durch die unmittelbare Mitwirkung des Volkes fallen, andererseits findet das Recht der Selbstverwaltung dort seine Grenzen, wo das „Wohl der gesamten Bevölkerung“ bedroht ist. Dagegen erhebt er an anderer Stelle gegenüber den Parteien im parlamentarischen Staat den Vorwurf, daß sie sich „an einem oft gar nicht feststellbaren Gemeinwohl — Gustav Radbruch nannte das Gerede vom Allgemeinwohl die . Lebenslüge des Obrigkeitsstaates'— orientieren“ Gottschalchs Propagierung eines Zweikammernsystems nach den Vorstellungen Max Co-hens, das „auf der Rechten wegen ... (der) korporativen, berufsständischen Elemente große Sympathien“ fand, wirft erneut die Frage auf, inwieweit die Übereinstimmung rechter und linker antiparlamentarischer Ideologien grundsätzlicher Natur ist: „Diese eindeutige konservative Uminterpretation der Räteidee sollte den Befürwortern eines Räte-systems zu denken geben, ob nicht auch der antiparlamentarische Affekt in den Rätetheorien die Kehrseite zum wilhelminisch-obrigkeitsstaatlichen Antiparlamentarismus bildet.“
Gottschalch meint (im Gegensatz zu anderen Räteanhängern) auf einen „neuen Menschen" verzichten zu können, da in einer Gesellschaft, in der „eine Herabsetzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit auf ein Bruchteil der heute geforderten möglich wird" der Mensch anders motiviert und politisch bewußter sei. Aber, so bleibt zu fragen, kollidiert die These von der homogenen Gesellschaft nicht mit der von der stärkeren politischen Beteiligung der Bürger? Gottschalchs Feststellung läßt sich umkehren: Je stärker die gesellschaftlichen Spannungen, um so höher das politische Engagement, je homogener die Gesellschaft, um so verbreiteter die politische Apathie. Wie Carl Schmitt den idealisierten Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts gegen den Parteienbetrieb des Weimarer Staates ausspielt, so stellt Gottschalch dem Rätesystem in der hochindustrialisierten Gesellschaft mit der Fähigkeit zu absoluter Überproduktion und zu gewaltiger Reduktion der Arbeitszeit den Parlamentarismus in der heutigen Zeit gegenüber. Damit vergleicht er Unvergleichbares miteinander.
Bezeichnenderweise nimmt Gottschalch kaum Bezug auf die 1918/19 erörterten Rätemodelle Die Befürworter des Rätesystems, und das gilt nicht nur für Gottschalch, abstrahieren von historischen Problemen. Zum Teil enthüllt sich auch ein bedenklicher Mangel an historischen Kenntnissen. Unter Berufung auf Hannah Arendt vergleicht etwa Kurt Jürgen Huch die russische und die deutsche Entwicklung: „In beiden Fällen standen die parteipolitisch neutralen, radikaldemokratischen Räte gegen den Herrschaftsanspruch einer Partei, die sich als . Ordnungsmacht'verstand; in beiden Fällen unterlagen sie (auch in der Brutalität können sich Trotzki und Noske wohl messen).“ Ganz abgesehen von der abwegigen politischen Bewertung: Die Fakten stimmen nicht. Die Räte waren nämlich keineswegs „parteipolitisch neutral", auch und gerade nicht in der deutschen Revolution von 1918/19. So zeigen die Lokalstudien über den Verlauf der Revolution 1918/19, daß die beiden sozialistischen Parteien bei der Bildung der Arbeiter-und Soldatenräte eine wichtige, wenn nicht die ausschlaggebende Rolle gespielt haben. In der Einschätzung der Räte als alternatives Reformpotential wird diese Tatsache nur unzureichend berücksichtigt. Auch setzen sich die wissenschaftlichen Vertreter der These vom „dritten Weg“ nicht mit der Auffassung auseinander, daß parlamentarische und rätedemokratische Regierungsweise unvereinbar sind, „da beide Systeme auf strukturell völlig verschiedenen Organisationsprinzipien beruhen und eine Doppelkontrolle von Verwaltung und Gesetzgebung auf die Dauer notwendig zu Konflikten und zur Ausschaltung oder Unterwerfung einer der beiden Institutionen führen müßte“ Daß dieser Tatbestand erhebliche Konsequenzen für die Diskussion um den „dritten Weg" 1918/19 hat, wird kaum erwähnt. 2. Propagierung der „Verrats" -These:
Sebastian Haffner Ende der sechziger Jahre kamen mehrere populäre Darstellungen zur Revolution 1918/19 heraus, deren Verfasser sich darin gefielen, die Handlungsweise der Sozialdemokraten in einer schwierigen Zeit verächtlich zu machen. Den Höhepunkt modischer Geschichtsklitterung stellte dabei die Arbeit des Publizisten Sebastian Haffner dar Nur auf sie sei hier näher eingegangen Die Studie Haffners, zuerst als Serie im „Stern“ und anschließend in Buchform erschienen, verdient vor allem wegen der breiten publizistischen Wirksamkeit ein erhebliches Interesse und ist auch für die Wirkungsgeschichte der gängigen Revolutionsthesen höchst aufschlußreich.
Haffner behauptet, die sozialdemokratische Führung habe die „sozialdemokratische Revolution" verraten: „Sie ist mit äußerster, rücksichtsloser Gewalt niedergeschlagen worden, nicht von vorn, in ehrlichem Kampf: von hinten, durch Verrat." Die sozialdemokratisch orientierten Revolutionäre erstrebten nach Haffner „keine Diktatur des Proletariats, sondern eine proletarische Demokratie: Das Proletariat, nicht das Bürgertum wollte fortan die herrschende Klasse sein, aber es wollte demokratisch herrschen, nicht diktatorisch. Die entmachteten Klassen und ihre Parteien sollten parlamentarisch mitreden dürfen, ungefähr so wie im Wilhelminischen Reich die Sozialdemokraten hatten parlamentarisch mitreden dürfen" Haffner ist offenbar die Problematik der Unterscheidung zwischen einer „proletarischen Demokratie" und einer „Diktatur des Proletariats" nicht bewußt. Wollten die sozialdemokratischen „Massen" wirklich eine „proletarische Demokratie"? Ist dieser Begriff nicht ein Widerspruch in sich — es sei denn, man will bewußt vernebeln und die Vorstellung suggerieren, eine „proletarische Demokratie“ dürfe getrost gegen „Klassenfeinde" auch diktatorisch vorgehen? Kennzeichen seiner Darstellung — und in dieser Schärfe kaum in kommunistischen Werken anzutreffen — ist seine hysterische Polemik gegen die Führung der Sozialdemokratie, insbesondere gegen Friedrich Ebert, den er geradezu mit pathologischem Haß verfolgt. Im verzerrt gezeichneten Bild Eberts finden sich die bekannten Klischees der Rechtskräfte aus der Zeit der Weimarer Republik; sie sind nur leicht modifizert durch die Beförderung vom Sattlergesellen zum Handwerksmeister, „bescheiden-würdig im Umgang mit vornehmer Kundschaft, wortkarg und herrisch in seiner Werkstatt“ Ebert erscheint als der Typ des unangenehmen Radfahrers, nach oben katz-buckelnd und nach unten tretend. Von derartigen Invektiven und anderen gehässigen Unterstellungen her kann es nicht mehr überraschen, wenn Haffner suggeriert, Ebert sei ein Vorläufer des Nationalsozialismus
IV. Forschung der siebziger Jahre
Wie hat sich die Forschung in den Jahren von 1968 bis 1978 weiterentwickelt? Kontroversen blieben nahezu aus, und die These von der „verpaßten Chance" gilt daher „gegenwärtig als . herrschende Meinung'der Forschung" Um dies zu belegen, erfolgt hier eine Auseinandersetzung mit drei Werken, die alle 1975 erschienen sind. Sie behandeln keine Spezialaspekte und sind charakteristisch für die Forschung in den jeweiligen Bereichen. Es handelt sich um einen Sammelband zur lokalen „Rätebewegung" 1918/19, eine von der Kritik nahezu durchgehend als Standardwerk gewürdigte Studie über die Soldatenräte und eine Arbeit zum bisher vernachlässigten Problem der Rätetheorien 1918/19. 1. Sammelband zur lokalen „Rätebewegung"
1918/19 Die Sammlung von Abhandlungen zur Geschichte der Revolution von 1918/19 an Rhein und Ruhr bezieht sowohl die Hochburgen als auch die Randzonen der revolutionären Ereignisse ein. Die regionalgeschichtliche Betrachtungsweise zur Revolution 1918/19, und davon legt auch dieser Band Zeugnis ab, ist höchst aufschlußreich. Sie steckt heute keineswegs mehr in den Anfängen In der Einleitung wiederholt Rürup seine Vorwürfe an die sozialdemokratische Führung, nicht die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Umformung im demokratisch-sozialistischen Sinne — mit Hilfe der Rätebewegung — genutzt zu haben. Für Rürup ist die Revolution „einer der wenigen Augenblicke in der deutschen Geschichte, in denen ein mündiges, politisch verantwortliches Volk den Versuch unternahm, die alten Unterdrückungsmechanismen zu zerstören und eine neue demokratische Gesellschaft — den sozialen . Volksstaat', wie man es damals gern nannte — zu verwirklichen" Mit dieser Idealisierung der Revolution verbindet sich ein Appell an die Sozialdemokratische Partei, ihre Einstellung zur Revolution, die bisher im Grunde auf verlegenes Beiseiteschieben hinausgelaufen sei, grundsätzlich zu überdenken und die Revolution bewußt in die Tradition der Partei zu integrieren: „Hinsichtlich der Revolution 1918/19 hat dieser Prozeß der Wiederentdeckung und Umwertung geradezu erst begonnen, es scheint jedoch möglich und nötig, daß auch ihr künftig ein zentraler Platz im demokratischen Geschichtsbild des deutschen Volkes eingeräumt wird. Eine der Grundvoraussetzungen dafür ist allerdings ein bereinigtes Verhältnis der deutschen Sozialdemokratie zu . ihrer'Revolution" Diese Forderung berücksichtigt jedoch zu wenig die Tradition der Sozialdemokratie als einer im Kern evolutionären Partei und die damit zusammenhängenden Probleme einer positiven Einschätzung revolutionärer Entwicklungen.
Der Sammelband, der laut Herausgeber Rürup die Richtigkeit der bekannten Thesen zur Revolution unterstreichen soll, zeigt indes einen eigenartigen Widerspruch zwischen der den Räten zugeschriebenen Rolle als einer neuen, qualitativ anders strukturierten politischen Kraft einerseits und den tatsächlich von ihnen wahrgenommenen Funktionen andererseits So wird in dem umfangreichen Beitrag von Inge Marßolek über die Entwicklung in Dortmund — nur auf ihn sei hier eingegangen — eindrucksvoll das sozialdemokratische Übergewicht im Arbeiter-und Soldatenrat vorgeführt, demgegenüber der Einfluß der USPD kaum ins Gewicht fiel. Die Bildung des Rates war wenig demokratisch; es gab nicht die viel beschworene Spontaneität der „Massen", da keine Wahlen stattfanden, sondern nur die Spitzen der sozialistischen Organisationen in den Rat entsandt wurden. Eine eigenständige Rolle dieser ausgesprochen gemäßigten lokalen Räteorganisation fehlt; im Gegenteil, ihre politische Haltung blieb ganz auf die Politik Eberts und Scheidemanns eingeschworen. Das „revolutionäre Potential" zeigte sich erst in den Straßenunruhen Anfang Januar im Anschluß an die Berliner Auseinandersetzungen der Jahreswende. Sie ließen sich rasch eindämmen — mit dem Ergebnis, daß die scharfe Trennung von der USPD und der KPD weiter vorangetrieben wurde. Der schließlich nur aus Mehrheitssozialdemokraten bestehende Rat löste sich im März 1919 faktisch auf.
Diese Entwicklung, wahrscheinlich typisch für den Ablauf der Revolution in einer Vielzahl deutscher Städte, beurteilt die Autorin grundsätzlich negativ: Das „Machtvakuum in den Novembertagen“ sei nicht ausgenutzt, die Sicherheitswehr nicht zu einem „Instrument zur Sicherung der Revolution" umgestaltet und überhaupt das Ziel der „Demokratisierung von Verwaltung und Betrieben" mißachtet worden. Wenn demgegenüber als Alternative — neben dem Aufzeigen solcher „Versäumnisse“ — angeboten wird, die von radikaler Seite erhobenen Sozialisierungsforderungen zu verwirklichen, so läuft das auf die Behauptung hinaus, die 1919 enttäuschten Arbeiter wären bei der Mehrheitssozialdemokratie geblieben, hätte diese eine USPD-Politik betrieben und etwa die nachstehenden Forderungen erhoben:
„ 1. Demokratisierung am Arbeitsplatz (wobei letztlich die kollektive Leitung durch Arbeiter angestrebt wurde).
2. Kontrolle und Einblick in die gesamte Geschäftsführung. 3. Minderung, letztlich Aufhebung der Privat-profite."
Demgegenüber bleibt nur anzumerken, daß diese paradox anmutende Hypothese mehr mit der Einstellung der Autorin als mit der tatsächlichen Rolle des Dortmunder Arbeiter-und Soldatenrates im Jahre 1918/19 zu tun hat. Völlig zu Recht bezeichnet Wolfgang J. Mommsen derartige Konzeptionen, die weder der Sozialisierungsproblematik noch der wirtschaftlichen Lage gerecht werden, „in gewisser Hinsicht als naiv“ Festzuhalten bleibt daher: Der historische Befund, vorgeführt an einem so wichtigen Beispiel wie Dortmund, vermag nicht die These von der Rätebewegung als „dritten Weg“ zu stützen,, da sie wohl postuliert, jedoch nicht untermauert wird. 2. Ulrich Kluges Arbeit über die Soldatenräte Die Studie von Ulrich Kluge über die Soldatenräte die auf der Auswertung umfangreicher Literatur und der Erschließung zahlreichen Quellenmaterials beruht, stellt von der Thematik her das Pendant zu der Arbeit Kolbs dar, erreicht jedoch nicht ein vergleichbares Niveau Zugleich macht das Buch von Kluge deutlich, wie weit sich inzwischen die Schwerpunktverlagerung nach links vollzogen hat. Das kommt besonders klar bei der Behandlung des Sicherheitsproblems in linksradikal beherrschten Städten zum Ausdruck, wie etwa das Beispiel Hanaus erhellt Insgesamt neigt Kluge dazu, alle linksradikalen Aktivitäten herunterzuspielen, um seine These von den verpaßten Chancen untermauern zu können. Auch Kluge zählt das „Sündenregister" der sozialdemokratischen Führung auf, die das Reformpotential einer demokratischen Rätebewegung nicht genutzt habe. Dabei konstruiert der Autor gleichsam eine Art revolutionäre Legitimation für die Kräfte des Umsturzes, die es gerechtfertigt hätte, vor der Wahl zur Nationalversammlung vollendete Tatsachen zu schaffen
Die Politik des Vollzugsrates bzw. die seiner linken, tonangebenden Mitglieder, die bisher aufgrund der Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch, die oberste revolutionäre Instanz zu sein, und der (mangelnden) Fähigkeit, die von ihm prätendierten Aufgaben zu erfüllen, der Kritik nahezu aller Seiten ausgesetzt gewesen ist, beurteilt Kluge, der die „gewissenlose politische Kampagne" gegen den Vollzugsrat beklagt, deutlich positiver. Die Frage, wie sich die Soldatenräte in die preußische Militärtradition einfügten und in welchem Maße Anknüpfungspunkte für sie im preußischen Militärsystem existierten, behandelt Kluge nicht; ebenso weicht er dem Problem aus, ob es im Offizierskorps überhaupt oppositionelle, für einen radikalen Neuaufbau verwertbare Gruppierungen gegeben hat
Statt dessen wird gerade an den entscheidenden Punkten eine bezeichnende Tendenz zur Verwischung der Gegensätze offenkundig. Dies gilt etwa für die Frage der Aufrechterhaltung der Ordnung und die Durchsetzung der Regierungsgewalt in Berlin gegenüber bewaffneten Einheiten der „Revolution". Aus der breiten Palette der nach dem Umsturz gebildeten „revolutionären" bewaffneten Organe, die von „Roten Garden" oder Wachtruppen sehr zweifelhaften, mitunter kriminellen Charakters bis zu disziplinierten und absolut zuverlässigen Sicherheitswehren reichte, konstruiert Kluge — nach dem Vorbild der einschlägigen DDR-Literatur — eine „Volkswehrbewegung" als ob die Vielzahl der — im Grunde Polizeifunktionen ausübenden — heterogenen Wacheinheiten, in einer „Bewegung" zusammengefaßt, die Grundlage für ein neues Heer hätte bilden können. Ein so radikales Programm wie die auf dem Berliner Rätekongreß angenommenen Hamburger Punkte, die mit der Wahl der Offiziere durch die Mannschaften eine vollständige Revolutionierung und Umstrukturierung der Armee bedeutet hätten, stellt Kluge als praktikabel und durchaus annehmbar hin. Es besteht jedoch nicht der geringste Zweifel daran, daß dieses Programm erst nach einem erfolgreichen Bürgerkrieg hätte verwirklicht werden können, weil die erbitterte Bekämpfung derartiger Bestrebungen durch das Bürgertum im allgemeinen wie durch das Offizierkorps im besonderen eingetreten wäre. 3. Horst Dähns Werk über die rätedemokratischen Modelle Da keine neuere Arbeit über die 1918/19 diskutierten Rätemodelle vorlag, wurde mit großer Erwartung einer einschlägigen Gesamt-darstellung entgegengesehen. Schließt nun die aus einer Dissertation entstandene Publikation von Horst Dähn diese Lücke? Die Antwort muß negativ ausfallen. Der Autor referiert ausgiebig die rätedemokratischen Modelle, analysiert sie jedoch nicht auf ihre Praktikabilität hin. Das ist jedoch die Voraussetzung, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, inwiefern denn die Rätetheoretiker 1918/19 überhaupt realitätsnahe Rätesysteme diskutierten. Dähn versucht außerdem aufzuzeigen, in welchem Ausmaße die Rätewirklich-keit bis zum Frühjahr 1919 Einfluß auf deren politische Konzeption gewonnen hat, wobei er seine empirische Untersuchung allerdings auf Württemberg, Baden und Bayern beschränkt. Sein ambitiöser Anspruch steht in einer beträchtlichen Diskrepanz zum Ergebnis, fehlt doch eine Verklammerung der beiden Ebenen. Der Verfasser räumt selbst ein, die rätetheoretische Diskussion sei von der Praxis — jedenfalls bis zum Frühjahr 1919 — kaum befruchtet worden.
Kennzeichend für Dähns Einstellung ist seine Typologisierung der Räte. Die Systematisierung Kolbs in „demokratische" und „radikale" Räte verwirft er. Statt dessen differenziert er zwischen Rätekonzeptionen systemüberwindenden Charakters — zu ihnen rechnet Dähn die Modelle der KPD und der linken USPD — und Rätekonzeptionen systemerhaltenden Charakters — hierzu zählen die der rechten USPD und der linken SPD —, wobei sein Wohlwollen unverkennbar dem ersteren Typus gehört: „Gerade die Räteexperten der linken USPD sowie des Spartakusbundes bzw.
der KPD erstrebten die Errichtung einer breiten — nicht nur den staatlich-politischen, sondern auch den ökonomischen Bereich — miteinbeziehenden demokratischen Ordnung..." Ironischerweise deckt sich jedoch die Typologie mit der von Kolb, obwohl er sie ausdrücklich ablehnt. Dähn wählt lediglich eine andere Terminologie und kommt zu einer konträren Bewertung. Denn gerade die „Verfassungsalternativen zum System der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie"
— dies sind für Dähn die Rätekonzeptionen mit einem systemüberwindenden Charakter — apostrophiert Kolb als „undemokratisch", weil sie die Institutionalisierung eines Räte-systems auf Dauer anstrebten. Dähns Systematisierung ist also alles andere als neu oder gar originell.
Daß ein Rätesystem für Teile der äußersten Linken 1918/19 lediglich ein taktisches Mittel zur Errichtung der Diktatur des Proletariats bedeutete, ignoriert Dähn; ebenso verzichtet er darauf, die (absurde) Kernthese der system-überwindenden Rätekonzeption zu überprüfen, wonach eine Monopolisierung der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalten nötig sei, um „der Wiederherstellung alter bürokratischer Apparaturen entgegenzuwirken" Die Arbeit enttäuscht wegen ihrer mangelnden intellektuellen Durchdringung der Rätetheorien und der politischen Implikationen. So bleibt Kolbs erfrischend klarem Resümee nichts hinzuzufügen: „Angesichts der modisch linken Prämissen, die der Rätetypologie des Vf. zugrundeliegen, kann es nicht verwundern, daß die Rätekonzeption der äußersten Linken mit kaum verhüllter Sympathie referiert und nicht auf ihre Aporien hin untersucht wird. Wenn die kritische Durchleuchtung der Rätediskussion 1918/19 und der damals entworfenen Rätemodelle wirklich ein Desiderat ist, dann bleibt sie es auch nach dem Erscheinen dieses Bandes.“ 4. Ergebnis Diese drei Arbeiten sind — um es noch einmal zu betonen — durchaus typisch für die gegenwärtige Forschung. Sicherlich gibt es Nuancen, ja Differenzen — Dähn beurteilt die äußerste Linke und deren Theorien viel positiver als etwa Kluge 99a) —, doch in der Regel zeigen die seit 1968 erschienenen Studien einen weitgehenden Konsens. Nach dieser Auffassung bestand 1918/19 keine reale Gefahr von links, wohl aber die Chance für tief-greifende Reformen und eine fundamentale Demokratisierung von Bürokratie, Militär und Großindustrie. Es sei jedoch versäumt worden, das demokratische Potential der Arbeiter-und Soldatenräte für die Entwicklung einer sozialen Demokratie nutzbar zu machen. Die der Spontaneität der Arbeiterschaft mißtrauende SPD-Führung habe — mehr ordnungs-als erneuerungsbewußt — sowohl ihren Handlungsspielraum als auch die Offenheit der revolutionären Situation unterschätzt. Erst aus Enttäuschung über die Versäumnisse und Fehler der SPD-Führung (Abwürgen der Rätebewegung, weitgehender Verzicht auf Ge-sellsdiaftsreformen, Kooperationen mit den Freikorps) — und das ist die zentrale Kategorie, unter der die Kritiker die weitere Entwicklung betrachten — sei es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen wie überhaupt zur Radikalisierung der ursprünglich sozialdemokratischen Rätebewegung gekommen. Im Ausbleiben der sozialen Umgestaltung liege der Keim für die spätere Schwäche der Weimarer Republik und ihren Untergang. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Analyse einer realistischen Beurteilung standhält. *
V. Einwände gegenüber der „herrschenden Lehre"
Die hier knapp skizzierten Grundpositionen der westdeutschen Forschung zur Revolution 1918/19 sind bisher — von sporadisch geäußerten Vorbehalten abgesehen — auffallenderweise keiner grundsätzlichen wissenschaftlichen Kritik unterzogen worden. Im Anschluß an den Forschungsbericht seien daher einige Einwände formuliert. Sie sollen dazu anregen, die Kritik detailliert und umfassender fortzusetzen. Hier wurden lediglich „Stichworte" geliefert. Mögen sie auch dazu beitragen, daß die Vertreter des „dritten Weges“ ihre Position überdenken und präzisieren. 1. Konstruktion einer „Rätebewegung"
Die demokratische Räte bewegung, von deren Existenz man bereits im Dezember 1918 auszugehen pflegt, ist in ihrer Eigenständigkeit und ihrer effektiven Rolle als Vertretung eines neuen demokratischen Potentials keineswegs nachgewiesen. Kann denn eine amorphe Vielzahl einzelner Räte mit sehr unterschiedlichen politischen Vorstellungen und einem „systemlosen Charakter" in der Summierung zu einer geschlossenen „Bewegung" hochstilisiert werden? Das bloße Vorhandensein einer organisatorischen Gliederung, etwa auf regionaler Ebene, besagt angesichts der deutschen Organisationsfreudigkeit im allgemeinen und der von der Militär-wie Zivilbürokratie im Verlauf des Weltkrieges entwickelten Organisationsmanie im besonderen — für sich genommen — noch gar nichts. Hier gilt es zu belegen, daß die Organisationen tatsächlich die Funktionen ausgeübt haben, die man ihnen generell zuweist. Konnten sie wirklich eine effektive Vermittlungsfunktion zwischen der Basis und der Zentrale erfüllen?
Betrachtet man beispielsweise die Situation im Raume von Groß-Berlin, erfahren Überlegungen dieser Art keine Bestätigung Der Kampf gegen die Volksbeauftragten, der sich schon vor dem Jahresende 1918 in der Regel gegen die gewichtigeren Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie richtete, bedeutete stets die Auseinandersetzung mit der Reichsspitze bzw.der fortbestehenden Exekutivgewalt, wobei beide sozialistischen Parteien weder fähig noch gewillt waren, in den Ministerien mehr als eine symbolische Kontrolle zu installieren. Die Vielzahl der Räte im Groß-Berliner Raum spielte demgegenüber kaum eine Rolle. In Berlin hat es keine Initiativen der Räte von unten nach oben gegeben. Wo — so wäre weiter zu fragen — lassen sich nun die hier nicht anzutreffenden Anstöße, etwa aus der Provinz, von der Rätebewegung feststellen — nicht nur Anfragen einzelner Räte, sondern Aktivitäten und Anregungen, die sich aus der regionalen Zusammenarbeit von Räteorganisationen ergeben hatten und die zeigen könnten, ein Aufbau von unten nach oben im Sinne der postulierten Demokratisierung sei nicht nur eine Erwartung an die Zukunft gewesen, sondern habe tatsächlich bestanden und funktioniert? Auch Wolfgang J. Mommsen hat jüngst seine Skepsis gegenüber der These vom „demokratischen Potential" der Räte zum Ausdruck gebracht. Er sieht sie „auf nicht eben sonderlich stabilen Grundlagen" fehlte den Räten doch sowohl die Macht als auch der Wille, die Demokratisierung voranzutreiben. Die These von der Möglichkeit des „dritten Weges" kann erst dann überzeugen, wenn die Forschung die Räte aus ihrer schemenhaften Rolle herausholt und deutlich macht, wie sie die — behaupteten — verpaßten Chancen hätten verwirklichen sollen. 2. Verharmlosung der linksradikalen Bedrohung Der Entwicklung in Berlin, d. h.der gradlinigen Radikalisierung in Richtung auf die Bürgerkriegssituation, ist entscheidende Bedeutung beizumessen, da in der Metropole die Gegensätze am schärfsten aufeinanderprallten und dadurch die tragenden Kräfte auf beiden Seiten am deutlichsten hervortraten. Daß die Hauptstadt für eine Revolutionsbewegung die Schlüsselrolle einnimmt, bedarf nicht der eingehenden Begründung. In Berlin war die Situation vergleichsweise überschaubar, herrschte doch ein erbitterter Kampf um die Macht zwischen den Mehrheitssozialdemokraten und der radikalen Linken, der seit dem Umsturz die Verhältnisse prägte, auch wenn er nicht ständig zu spektakulären Auseinandersetzungen führte. Die radikale Seite verfügte dabei über ein beträchtliches Potential an z. T. bewaffneten Kräften, dem die Volks-beauftragten bis zum Jahresende, wie die Enttäuschung mit dem Kommando Lequis zeigte, kaum Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Diese Situation veranlaßte schließlich auch die Spartakisten dazu, die Machtfrage zu stellen, wobei sie freilich ihre tatsächliche Kraft überbewerteten.
Sicher läßt sich darüber streiten, ob Anfang Januar 1919 in Berlin ein Aufstand ausbrach; eine „planlose, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen ausartende Demonstrationsbewegung" waren die Unruhen jedenfalls auch nicht, vor allem, wenn man an die Intentionen ihrer Urheber denkt. Obwohl die Linksradikalen nicht einmal einen Aufstand in Szene zu setzen vermochten — dies hat übrigens auch schon Arthur Rosenberg mit beißender Ironie festgestellt —, verlor die Notwendigkeit, gegen den Aufruhr etwas zu unternehmen, deswegen nicht an Gewicht, berücksichtigt man die Folgen, die sich aus der Wehrlosigkeit einer Regierung in ihrer eigenen Hauptstadt ergeben mußten. Denn eine Regierung, die sich gegenüber disziplinlosen Soldaten als machtlos erwies, konnte ihre Autorität und Glaubwürdigkeit nach außen schwerlich behaupten.
Auch im Ausland, insbesondere in Frankreich, wurde die Zuspitzung der Situation in Berlin sehr ernst genommen und die „Partei Liebknecht" als eine wirkliche Bedrohung eingeschätzt Die verbreitete Auffassung, es habe sich bei dem Entschluß zur resoluten Gegenwehr um eine isolierte, von mangelndem Überblick Eberts und seiner mehrheitssozialdemokratischen Kollegen getragene Entscheidung gehandelt, trifft daher keineswegs zu. Gewiß erwies sich der Rückgriff auf das alte Heer und die Freikorps als höchst problematisch. Doch dafür verantwortlich sind in erster Linie die Provokationen linksradikaler Kräfte, deren Aktivitäten die Vertreter des „dritten Weges“ häufig verharmlosen. Der Vorwurf, die Sozialdemokratie habe sich zu eng an die alten Gewalten angelehnt, bedarf folglich der Relativierung.
Die neuere Forschung wendet sich zu Recht gegen den Begriff „Novemberrevolution", weil er das revolutionäre Geschehen allzusehr auf die politische Umwälzung im November 1918 einengt. Sie unterscheidet vielfach zwischen einer ersten Phase (bis zur Wahl der Nationalversammlung), in der die Räte demokratische Forderungen erhoben, und einer zweiten (bis etwa Sommer 1919), die sich durch zunehmende Radikalisierung und Gewalttätigkeiten auszeichnete. Diese Phasenunterteilung wird jedoch der revolutionären Dynamik nicht gerecht. Tatsächlich hat es nämlich schon von Beginn der Revolution an beträchtliche sozialistisch-revolutionäre Strömungen gegeben, die sich keinesfalls mit einer „sozialen Demokratie" zufriedengeben wollten. 3. Probleme einer Neuordnung Gewiß, die bolschewistische Diktatur war nur eine entfernte Möglichkeit, aber aus der fehlenden akuten Bedrohung von dieser Seite kann nicht auf die Chance des dritten Weges einer demokratischen Rätebewegung geschlossen werden. Die Alternative zur schnellen Wahl der Konstituante und der Wiederherstellung der Staatsautorität lag vielmehr in der Entwicklung zu chaotischen Verhältnissen, zu denen es im Winter 1918/19 jederzeit kommen konnte. Man denke nur an die Folgen willkürlicher Eingriffe in das Transportwesen, wilder Sozialisierungen und von Plünderungen in größerem Maßstab. Tatsächlich hatten sich lediglich Ansätze derartiger Gefährdungen gezeigt; bei fortdauernder innerer Lähmung ließen sich verheerende Konsequenzen aber leicht voraussagen. Sehr richtig konzediert daher Hans-Ulrich Wehler — dies tut übrigens auch Rürup ’ —, grundlegende Reformen hätten nicht verwirklicht werden können, ohne „den Preis einer zeitlich schwer abschätzbaren Funktionshemmung in Kauf zu nehmen“ Dies ist eine akademisch-vornehme Umschreibung für die weitere Verschlechterung der Lage, die hier lässig in Kauf genommen wird. Was mußte die „Funktionshemmung" in einem ausgehungerten Land nach vier Jahren Krieg bedeuten? Wäre die nichtsozialistische Mehrheit des deutschen Volkes passiv geblieben, und hätten insbesondere die bürgerlichen Eliten tatenlos einer solchen Entwicklung zugeschaut? Vieles spricht dafür, daß in einem Bürgerkrieg die sozialistischen Kräfte, auch wenn sie vereint angetreten wären, den kürzeren gezogen hätten.
Die Zahl der zu bewältigenden Probleme war für die politisch Verantwortlichen 1918/19 Legion. Sie seien hier nur angedeutet: Demobilisierung des Heeres — Massenarbeitslosigkeit — Wiedereingliederung der Soldaten in das Wirtschaftsleben — Versorgungsschwierigkeiten — Abschluß eines Friedensvertrages — Aufrechterhaltung der Reichseinheit. Jedes dieser Probleme konnte bei unzureichender Lösung ungeahnte Folgen zeitigen. Schon deshalb kamen für die Sozialdemokraten tiefgreifende Veränderungen und weitreichende Eingriffe in — vergleichsweise — funktionsfähige Bereiche nicht in Frage. Wer die geübte Zurückhaltung vor allem auf den Immobi-lismus und die Phantasielosigkeit der SPD zurückführt, verkennt den Grad der Schwierigkeiten Im folgenden wird lediglich — exemplarisch — auf den Vorwurf eingegangen, die Demokratisierung der Verwaltung sei nicht in Angriff genommen worden. 4. Beispiel: Demokratisierung der Verwaltung Wie hat man sich die Demokratisierung der Verwaltung durch die Räte vorzustellen, eine durch ständige Wiederholung geradezu zur Selbstverständlichkeit gewordene Forderung? Die Wünschbarkeit ist verständlich, doch bringen ihre Befürworter kaum Argumente bei, die auch nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für eine Realisierung aufwei-sen; es sei denn, man unterstellt die Identität von Demokratisierung mit dem „revolutionären" Recht der Machtausübung durch aktivistische Minderheiten. Auf welche Weise ist eine Bürokratie zu demokratisieren, die — trotz mancher Mängel im einzelnen — gerade auch im Krieg ihre Leistungsfähigkeit und Unbestechlichkeit unter Beweis gestellt hatte? Sollte die Mehrzahl der Beamten, die ihre Loyalität gegenüber dem neuen Regime zwar bekundet hatte, bei der aber eine konservativ-monarchische Gesinnung auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden konnte, ein Berufsverbot erhalten?
„Wessen eigene politische Ordnungsvorstellungen stark mit obrigkeitsstaatlichen Elementen durchsetzt sind", meint Reinhard Rürup, „der wird die Forderung nach einer Demokratisierung der Verwaltung auch in der Revolution allenfalls in Einzelfragen berechtigt finden können." Es geht jedoch vor allem darum, inwiefern eine Demokratisierung der Verwaltung durch die Räte überhaupt möglich (nicht: berechtigt) gewesen ist. Bisher hat noch niemand bewiesen, ein halbwegs gleichwertiger Ersatz habe für die überkommene Verwaltung zur Verfügung gestanden 1. Sollte aber die „demokratische" Gesinnung den Vorzug vor der Qualifikation erhalten, ist das Ergebnis leicht vorhersehbar, würde doch dann der sattsam bekannte Mechanismus ausgelöst, die Kritik mundtot zu machen und die Demokratisierung in ihr Gegenteil zu verkehren. 5. Außenpolitische Hindernisse Waren von außenpolitischer Seite entscheidende Hindernisse für das Gewährenlassen einer ebenso spannungsreichen wie langfristigen Demokratisierungsbewegung gegeben? Es ist so charakteristisch wie bezeichnend für die Revolutionsforschung, die außenpolitische Dimension nahezu völlig zu vernachlässigen, die Frage nämlich, welches Echo die deutsche Revolution bei den Siegermächten gefunden hat. Radikale Kräfte konnten im westlichen Ausland keineswegs mit Sympathien rechnen, da hier das parlamentarische System nicht ernsthaft in Frage gestellt, durch den Sieg über die monarchisch-konservativen Mittelmächte eher noch gestärkt wurde. Waren die Alliierten bereit — und dies ist eine zentrale Frage für die Beurteilung der (wirklich, oder vermeintlich) verpaßten Chance des „dritten Weges" —, ein radikal-sozialistisches, maßgeblich auf den Räten basierendes politisches System in Deutschland anzuerkennen? Unter den Alliierten spielte Frankreich aufgrund seiner militärischen Stärke und seines besonderen Interesses an der deutschen Entwicklung die wichtigste Rolle.
Die Untersuchung der französischen Deutschlandpolitik im Jahre 1918/19 ergibt ein aufschlußreiches Bild Ohne sich direkt in die innerdeutschen Angelegenheiten einzumischen und durch entsprechende Bekundungen die Politik Eberts und der Volksbeauftragten zu stützen, was diese sehnlichst erwarteten und was die sozialdemokratische Presse gern ohne Begründung behauptete, betrachtete Frankreich die revolutionären Wirren unter einem besonderen Aspekt. Diese sollten die Voraussetzung dafür abgeben, die Rheinbund-politik wieder aufleben zu lassen, um der katholischen Bevölkerung des Rheinlandes und Süddeutschlands mit der Angst vor dem „Bolschewismus" die Trennung vom übrigen Deutschland schmackhaft zu machen. Natürlich hatte die französische Regierung mit den Räten nichts im Sinn: Sie dachte gar nicht daran, derartige Einrichtungen in der eigenen Besatzungszone hinzunehmen, sondern arbeitete mit den alten Behörden zusammen. Bis zum März 1919 hat sie darauf gehofft, die inneren Unruhen in Deutschland könnten ihr als Hebel dienen, die gewünschten Ziele durchzusetzen. Da die Volksbeauftragen diese Gefahr erkannten, trachteten sie danach, die revolutionäre Übergangssituation möglichst rasch zu beenden. Von der außenpolitischen Situation her — und hier wurde nur die Rolle Frankreichs angesprochen — fehlten also die Rahmenbedingungen, um politischen Experimenten in Form der Räte eine Chance einzuräumen. Vielmehr konnte auf diese Weise nur der Bestand des Gesamtstaates ernsthaft in Gefahr geraten. 6. Mangelnde demokratische Legitimität der Räte Bisher wurden nur Argumente beigebracht, die gegen die Praktikabilität eines maßgeblich auf der Rätedemokratie beruhenden „dritten Weges" sprechen. Aber wäre ein „dritter Weg" überhaupt legitim gewesen? Auch diese Frage ist zu verneinen. Denn wie sieht es eigentlich mit der demokratischen Legitimation der Räte aus? Die „oft unter Zufallsbedingungen entstandenen" Räte spiegelten keineswegs die unterschiedlichen Auffassungen der Bürger wider. So bezeichneten sich beispielsweise von den 488 Delegierten auf dem Kongreß der Arbeiter-und Sodatenräte 90 als Anhänger der USPD und lediglich 25 zählten sich zur DDP Mitglieder des Zentrums fehlten ganz. Dies braucht nicht zu verwundern, da sehr häufig die örtlichen Instanzen der SPD und der USPD ihre Vertreter in die Räte entstandten. Die SPD hatte sich im Kaiserreich stets für ein demokratisches Wahlsystem ausgesprochen (Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts; Einführung des Frauenwahlrechts). Sollte sie sich jetzt plötzlich für die Räte stark machen und damit die umgekehrte Klassenprivilegierung einführen? Rätedemokratie und parlamentarisch-demokratisches System ließen sich wegen der unterschiedlichen Strukturprinzipien nicht miteinander vereinbaren. Wenn die SPD schon frühzeitig die Räte entmachtete, so wurde, wie Bermbach zu Recht andeutet, „ihr Verhalten durch das Bewußtsein dieser System-inkompatibilität mitbestimmt"
Zudem: Mußte der sozialdemokratischen Führung die Räteidee nicht suspekt erscheinen — angesichts der Erfahrungen in Ruß-land, wo eine Minderheit unter geschickter Benutzung der Räte die Macht an sich gerissen hatte und sie diktatorisch ausübte? Daher war die Haltung der SPD nur folgerichtig, so schnell wie möglich demokratische Wahlen anzustreben.
Die Sozialdemokratie wehrte sich dagegen, vollendete Tatsachen zu schaffen, da ihr hierzu das Votum der Bevölkerung fehlte. Unter dem Druck der Regierungsverantwortung und in vollem Bewußtsein der ungelösten Probleme scheute sie vor einer Politik zurück, die ihre Kritiker nachträglich empfehlen. So hätte sie, meint Erich Matthias, den Versuch unternehmen sollen, „durch eine vorwärtsgerichtete Politik ihren Führungsanspruch gegenüber den bürokratischen und militärischen Instrumenten der Exekutive, den zentrifugalen Tendenzen des Föderalismus und den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Großmächten der Grundstoffindustrien und des Großgrundbesitzes zu manifestieren und, soweit es im Interesse einer von der großen Mehrheit des Volkes für selbstverständlich gehaltenen demokratischen Neuordnung lag, möglichst auch* durchzusetzen" Aber was ist im Interesse „der großen Mehrheit des Volkes"? Die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung brachten keine sozialistische Mehrheit. Die USPD gewann lediglich 7, 6 Prozent der Stimmen. Die Zentrumspartei (19, 7 Prozent) und die Deutsche Demokratische Partei (18, 5 Prozent) erreichten zusammen etwas mehr als die SPD (37, 9 Prozent). Der von Helga Gre-bing und auch anderen Vertretern des „dritten Weges" erhobene Vorwurf, die SPD habe es abgelehnt, „revolutionäre Legitimität als Voraussetzung ihres Handelns anzunehmen" kann nicht verfangen, da das Bekenntnis der SPD zur parlamentarischen Demokratie keineswegs von taktischen Erwägungen bestimmt war. Gerade deshalb zog sie sich ja den Haß der Kommunisten zu. Das Eintreten für die sofortige Wahl einer Nationalversammlung und das Engagement für die parlamentarische Demokratie bedeuteten jedoch durchaus nicht von vornherein den Verzicht auf sozialistische Maßnahmen. 7. Überbetonung der Weichenstellung von 1918/19 Für den Historiker — mit der nötigen Distanz und in Kenntnis dessen, was die spätere Zeit an Unheil mit sich brachte — stellen sich die Ereignisse anders dar als für die Akteure. Wer die Weichenstellung der Jahre 1918/19 für eine restaurative Politik so scharf betont, unterliegt — zumindest tendenziell — der Gefahr, das Urteil über die Haltung der SPD 1918/19 vom schon baldigen Ende der Weimarer Republik her zu fällen und nicht mehr ausschließlich das Geschehen vom Jahr 1918/19 her zu bewerten 0. Bezeichnenderweise hat auch Arthur Rosenberg in seiner 1928 publizierten „Entstehung der Weimarer Republik", bei der das letzte Kapitel „Der Zusammenbruch" lautet, die verpaßte Chance eines „dritten Weges" noch nicht beklagt Die Behauptung, eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg hätte zu einer gefestigten Demokratie geführt und die nationalsozialistische Machtergreifung verhindert, ist genauso eine — weder zu beweisende noch zu widerlegende — Spekulation wie, beispielsweise, das Glaubensbekenntnis der „Kölner Schule" und ihres Nestors Ferdinand A. Hermens: Deutschland wäre die nationalsozialistische Diktatur erspart geblieben, wenn das Parlament rechtzeitig ein Mehrheitswahlsystem eingeführt hätte
Zusammenfassung
Die Beurteilung des Revolutionsgeschehens 1918/19 hat im Laufe der letzten sechzig Jahre häufig gewechselt. Dies braucht nicht zu verwundern, hängt doch die Haltung zu den Ereignissen 1918/19 auch von der politischen Einstellung des Historikers ab. Nicht zuletzt bestimmt auch der Zeitgeist die Ergebnisse mit. Nachdem in den fünfziger Jahren die Sozialdemokratie von dem Vorwurf der revolutionären Umtriebe rehabilitiert wurde, begann sich Anfang der sechziger Jahre eine Richtung durchzusetzen, die die sozialdemokrati-sehe Führung um Ebert dafür verantwortlich machte, die Chance für eine soziale Ordnung verspielt zu haben. Das demokratische Potential der Räte sei ebensowenig genutzt worden wie der zur Verfügung stehende Handlungsspielraum. Diese Auffassung prägt auch heute noch das Bild der Forschung. Es liegen nämlich keineswegs, wie Ulrich Kluge meint, deutlich erkennbare Tendenzen vor, „das alte, bis in die Mitte der fünfziger Jahre vorherrschende Bild ... zu restaurieren“ Eine Revision der herrschenden Richtung tut vielmehr not. Denn die Gefahr, daß ein beträchtlicher Teil der Forschung — im Bestreben, alte Legenden zu zerstören (Räte als Instrumente des Bolschewismus) — neue hervorgebracht hat (Räte als Garanten der Demokratisierung), ist keineswegs von der Hand zu weisen. Die „Wiederentdeckung der Räte“ hat zu einer „Wiederauferstehung des Rätemythos" geführt. Die These vom „dritten Weg" steht nämlich auf tönernen Füßen. Das Konfliktpotential, das sich — um nur einige Punkte zu nennen — durch die materielle Not, das stimulierende Vorbild der russischen Revolution und die militärische Niederlage angesammelt hatte, macht es wenig wahrscheinlich, daß die vorhandene Verbitterung und Aggressivität ohne gewaltsame Entladungen in einer demokratischen Rätebewegung hätte kanalisiert werden können.
Die Zurückweisung der (Wunsch-) Vorstellung vom „dritten Weg" bedeutet jedoch keineswegs einen Rückfall in die Position der fünfziger Jahre. Weder waren die Räte überwiegend kommunistisch orientiert noch läßt sich die Politik der Mehrheitssozialdemokratie als in jeder Hinsicht glücklich und rühmenswert kennzeichnen. Das inzwischen von der Forschung bereitgestellte Quellenmaterial ermöglichst durchaus faktenerhärtete Kritik (z. B. Vertrauensseligkeit gegenüber der militärischen Führung; Unterschätzung der konservativen Herrschaftspositionen). Bei allen berechtigten Vorwürfen an die sozialdemokratische Führung bleibt allerdings ihre Zwangslage zu berücksichtigen.
Unhistorische Ex-post-Konstruktionen halten einer näheren Prüfung nicht stand. Dies gilt sowohl für die Zeit nach dem Ersten als auch für die nach dem Zweiten Weltkrieg. Die These von der „verpaßten Chance" des Winters 1918/19 hat eine augenfällige Parallele. Nach 1945, so heißt es häufig in neueren Publikationen, habe die Möglichkeit eines „dritten Weges“ jenseits von kapitalistischer Gesellschaft und kommunistischer Diktatur bestanden 6. Wie sieht es mit der Beweiskraft aus? Um nur einen Punkt herauszugreifen: Genau wie die These von der „verpaßten Chance“ 1918/19 vernachlässigt die Konzeption des „dritten Weges" nach 1945 die antikommunistische Prädisposition der Bevölkerung. Dabei hatte nicht so sehr die nationalsozialistische Demagogie den Boden für den Antikommunismüs bereitet, sondern vor allem die Politik der Sowjetunion und das Vorgehen der „Roten Armee". 1918/19 gab es ebenfalls eine — weitverbreitete — Bolschewismusfurcht, auch und gerade bei der Sozialdemokratie die sich in ihrem Handeln davon bestimmen ließ.
Letzte Gewißheit über den Versuch eines „dritten Weges" 1918/19 wird allerdings kaum zu erreichen sein, weil die so demokratische wie verantwortungsbewußte Sozialdemokratie das Risiko scheute. Daher muß „die Frage, welche Erfolgschancen ein anderer, ein . dritter Weg'hätte bieten können, spekulativ bleiben" Im Gegensatz zur Mehrheit der Forscher, die sich mit dieser Thematik befassen, sind die Verfasser skeptisch, daß die Räte eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hätten vorantreiben können.
Eckhard Jesse, Diplom-Politologe, geb. 1948 in Wurzen; Verwaltungslehre, Zweiter Bildungsweg, Studium der Politikwissenschaften und der Geschichtswissenschaften an der FU Berlin (1971— 1976); Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Veröffentlichungen 1978: Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in das politische System, Berlin 1978; Parlamentarismus in Deutschland, Reihe „Zum Nachdenken" der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Heft 74, Wiesbaden 1978; Demokratie — Extremismus — Terrorismus, Reihe „Informationen zur politischen Bildung" der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 178, Bonn 1978 (i. E.); Der Streit um die „streitbare Demokratie" (zus. mit F. Fuchs), in: M. Funke (Hrsg.), Extremismus im demokratischen Rechtsstaat, Düsseldorf 1978; Wahlen. Ein Überblick über die, Neuerscheinungen der letzten Jahre, in: Der Bürger im Staat 3/1978. Henning Köhler, Dr. phil., geb. 1938 in Berlin; seit 1972 Professor der Neueren Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitsdienst in Deutschland. Pläne und Verwirklichungsformen bis zur Einführung der Arbeitsdienstpflicht im Jahre 1935, Berlin 1967; Autonomiebewegung oder Separatismus? Die Politik der „Kölnischen Volkszeitung" 1918/19, Berlin 1974; Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen in der Schlußphase der Regierung Brüning, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 276— 307; Grundlagen und Konzeptionen der französischen Rhein-und Deutschlandpolitik, in: Die Rheinfrage nach dem Ersten Weltkrieg. Actes du Colloque d'Otzenhausen, hrsg. vom Centre de Recherches „Relations internationales" de l’Universite de Metz, Metz 1975, S. 59— 87.
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