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Ende des bürgerlichen Zeitalters? Betrachtungen zur antibürgerlichen Welle der Zwischenkriegszeit | APuZ 48/1978 | bpb.de

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APuZ 48/1978 Artikel 1 Ende des bürgerlichen Zeitalters? Betrachtungen zur antibürgerlichen Welle der Zwischenkriegszeit Politische Erwachsenenbildung

Ende des bürgerlichen Zeitalters? Betrachtungen zur antibürgerlichen Welle der Zwischenkriegszeit

Karl Dietrich Bracher

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Schlagwort vom Ende des bürgerlichen Zeitalters und die Abwertung des Bürger-begriffs beherrschen schon seit der Jahrhundertwende die historisch-politische Auseinandersetzung. Besonders in der Zwischenkriegszeit nach 1918 und um 1933, erneut dann nach 1945 und seit den sechziger Jahren treten die antibürgerlichen Wellen als wesentliche Vehikel der radikalen Ideologien von links wie von rechts hervor. Der international-revolutionäre Marxismus der Kommunisten wie der national-revolutionäre Autoritarismus der Faschisten und Nationalsozialisten begründeten die antidemokratische und antikapitalistische Stoßrichtung mit antibürgerlichen Prophezeiungen; sie bilden den Kern jener totalitären Versuchung und Verführung, die seit den zwanziger Jahren gegen den liberalen Rechtsstaat vordringt. Diesen Tendenzen steht eine Beharrungs-und Erneuerungskraft des Bürgerlichen gegenüber, die über die links-und rechtsdiktatorischen Umwälzungen hinweg wirksam bleibt. Die Renaissance des Bürgerbegriffs und die Anziehungskraft bürgerlicher Lebens-und Wirtschaftsformen widerlegen die Verfallsprognosen der historisch-soziologischen Kritik: Während sich die sozialen Bedingungen und Erscheinungsformen wandeln, bleibt der politische Bürgerbegriff konstitutiv für eine freiheitlich-demokratische Staatsgesellschaft und eine nicht-totalitäre politische Kultur. Als Epochenbegriff angefochten und vergänglich, wirkt das Bürgerliche durch seine Verallgemeinerung fort, ist die Tendenz zur Verbürgerlichung ein Kennzeichen selbst jener Bewegungen und Regime, die den Kampf gegen bürgerliche Rechts-und Wertvorstellungen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die Rückforderung der Menschen-und Bürgerrechte erweist sich als wirkungsvollste Anfechtung der modernen, sonst fast unumstößlich werdenden Diktaturen.

Mit Erstaunen registriert der Zeitgenosse, der auf die großen Umwälzungen von sechs Jahrzehnten zurückblickt, in welchem Maße Begriffe und Prognosen der gegenwärtigen Gesellschafts-und Demokratie-Kritik, bis hin zur Verkündung einer geschichtlichen Wende und eines künftig „sozialistischen“ Zeitalters, der Aufguß älterer Formeln in wenig neuem Gewände sind. Die Fortdauer oder Wiederaufnahme von Theorien und Thesen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die inmitten der tiefen Brüche unserer Zeitgeschichte eine bemerkenswerte Kontinuität beweisen, tritt vor allem auch in den antibürgerlichen Parolen der heutigen Gesellschaftsund Kulturkritik hervor, mag diese, verschlüsselt in eine modisch komplizierte Terminologie, sich noch so neuwertig gerieren: Von der Kritischen Theorie zum Neo-Marxismus begegnen uns Erscheinungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Auch was daran verändert ist — der Blick auf die Problematik der Dritten Welt zumal — wird zumeist mit den alten Formeln der Parlamentarismus-und Kapitalismuskritik in ein ideologisches Prokrustesbett gezwängt. Zum dritten oder vierten Mal — nach 1918, 1933 und 1945 — findet das Ende des bürgerlichen Zeitalters statt: von der Neuen Linken zwecks Anpassung marxistischer Prognostik mit dem Untergangsverdikt „spätbürgerlich" oder „spätkapitalistisch“ belegt, das ebenfalls alles andere als neu ist

I. Die antibürgerliche Erwartung

In den gesellschaftlichen Konflikten und Umschichtungen nach dem Ersten Weltkrieg, die sich schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert machtvoll angekündigt hatten, spielt die Parole von der Krise und dem Ende des bürgerlichen Zeitalters eine zentrale Rolle. Als Stichwort besitzt es dieselbe Bedeutung wie das Wort von der Krise und dem Ende des Kapitalismus im Bereich der Wirtschaft, wenn die beiden nicht sogar geradezu gleichgesetzt werden. Das Bürgerliche war eine durch und durch europäische Sache, es bezeichnete den Durchbruch und die weltbedeutende Leistung des modernen Europa. Aber nun hieß es, die Zeit des Bürgertums sei in der Selbstzerfleischung des Weltkrieges vergangen, abgelöst von neuen Kräften und Schichten, vor allem von der Arbeiterschaft und den neuen Angestellten oder vom „neuen Nationalismus" der Kriegsgeneration und der Jugendbewegung. Nicht nur die Marxisten und Sozialisten, sondern auch ein Großteil der bürgerlich-nationalen und besonders der radikal nationalistischen und antidemokratischen Schriftsteller und Propagandisten der Zeit nach dem Er-sten Weltkrieg haben die großen Veränderungen in Gesellschaft und Staat vor allem auf diese Formel gebracht: Ende des bürgerlichen Zeitalters, Durchbruch des „Proletariats“ (Lenin) oder des „Arbeiters" (Ernst Jünger).

Es ist aber bezeichnend, daß die Begriffe meist in einer zwielichtigen Allgemeinheit verblieben. In Wahrheit kann von einem Untergang des Bürgertums bis zum heutigen Tage nicht gesprochen werden, und auch kaum von einem Ende seiner bestimmenden Rolle in den nichtkommunistischen Staaten;

selbst unter der so betont neuen Gesellschaft des Kommunismus glaubt man einen Prozeß der Verbürgerlichung nun auch der proletarischen Schichten beobachten zu können. Das ist eine Frage der soziologischen und psychologischen Maßstäbe, die man verwendet; jedenfalls ist die Diagnose einer Krise des Bürgertums nur dann brauchbar, wenn sie auf einer differenzierteren Bestimmung als der marxistischen oder der faschistischen beruht. Es zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß eine soziale Schicht, eine wirtschaftliche Aktivität, eine politische Form, eine geistig-psychische Einstellung oder eine moralische Haltung gemeint sein kann, wenn von „dem Bürgertum" gesprochen wird, und so eng diese Bedeutungen Zusammenhängen mögen, so verschieden ist doch der zeitgeschichtliche Befund.

Schrille Stimmen von links wie von rechts künden schon im „bürgerlichen 19. Jahrhundert" selbst das Ende an, andere sehen dann Oktoberrevolution und Nachkrieg, Inflation und Wirtschaftskrise, Faschismus und Nationalsozialismus, schließlich die Zerstörung und Zerteilung Europas, die weltweite Ausbreitung des Kommunismus und die Emanzipation der Dritten Welt jeweils als Datum des Untergangs. Im Rückblick tritt aber eher das Gegenteil hervor, nämlich ein dramatisches Auf und Ab von antibürgerlichen Bewegungen und " Perioden, zugleich immer wieder der Vorgang der „Verbürgerlichung" bislang nichtbürgerlicher Schichten und Haltungen. Auch ist die Beobachtung nicht unbegründet, daß am Ende europäischer Weltherrschaft einer Verwestlichung der Welt die zunehmende Verbreitung und Durchsetzung bürgerlicher Einstellungen und Strukturen entspricht. Dies gilt ebenso für die innergesellschaftliche Entwicklung. Das Verhältnis von Arbeiterklasse und Mittelschichten hat sich seit der Jahrhundertwende in den westlichen Industriestaaten kaum verändert, in Deutschland sogar eher entschärft. Entgegen den marxistischen Erwartungen hat es jedenfalls gerade nicht einer allgemeinen Proletarisierung Platz gemacht, sondern wirkt umgekehrt auf die Eröffnung neuer Aufstiegschancen für Unter-schichten hin. Formen, Maßstäbe, Ideale bürgerlicher Kultur sind geblieben, auch wo Klassenkonflikte und soziale Verschiebungen stattfanden.

Das trifft gerade auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu. Der Aufstieg des Sozialismus und der Arbeiterbewegung vor diesem Krieg und durch ihn mündete nicht einfach in eine Erweiterung der tiefen Kluft zwischen den Klassen, sondern in Versuche zu ihrer Überbrückung, zu Kompromiß und Kooperation im Rahmen einer sozial ausgestalteten, aber nicht sozialistischen, sondern liberal-parlamentarischen Demokratie „bürgerlicher" Tradition. Der Krieg selbst hatte sozial und national eher integrierend gewirkt, die Nachkriegsentwicklung führte überall außer in Rußland zu Formen (oder doch Versuchen) der Beteiligung oder Koalition liberaler und sozialistischer Parteien im parlamentsdemokratischen Verfassungsstaat. Oft kam die bürgerlich-liberale Bewegung selbst erst in diesem Augenblick politisch zum Zuge, wie in Deutschland 1918; das bürgerliche Zeitalter erreichte hier politisch erst seinen vollen Durchbruch. In der Tat bestand das Fundament der Weimarer Republik aus einem Grundkompromiß der drei Lager: Sozialismus — Liberalismus — politischer Katholizismus, die sämtlich jetzt erst in die politische Führung gelangten. Statt der revolutionären Umwandlung einigte man sich aüf das allgemeine Wahlrecht, auf die Autonomie der TarifPartner, auf soziale, liberale und kulturelle Garantien.

Diese Kompromißstruktur der modernen Demokratie, ihre Rechtsstaatlichkeit, ihr parlamentarischer und pluralistischer Charakter bezeichnen auch das Wesen der gesellschaftlichen Umschichtung und ihre Grenzen. Man hat lauthals die „Zähmung" des Sozialismus in der Nachkriegsentwicklung kritisiert, die den Endzeit-Erwartungen der bolschewistischen Revolutionäre so prinzipiell und existenziell widersprach, sie zur Ausnahme statt zur geschichtlichen Notwendigkeit machte. Der angebliche Verrat des „Revisionismus" an der Revolution war aber nichts anderes als die Anerkennung der Tatsache, daß die Möglichkeiten sozialer Veränderung und sozialen Aufstiegs auch innerhalb der „bürgerlichen" Demokratie geschaffen werden konnten — und unter weniger Risiko und Opfern als auf dem Wege blutiger Revolution und Unterdrückung. Es zeigte sich jetzt, daß der westeuropäische Sozialismus sich von Anfang an die „bürgerlichen" Ideale der Menschenrechte angeeignet und an ihnen festgehalten hat, auch als in seine ideologische Programmatik die marxistische Revolutionsdoktrin übernommen wurde, die ja ihrerseits alles andere als eindeutig war.

Wie die Sozialdemokraten in Deutschland und die Labour Party in England standen die meisten sozialistischen Parteien mehrheitlich hinter dem Kompromiß, der die Massen der Arbeiterschaft in den Staat integrieren wollte oder sollte. Die sozialen Konsequenzen waren in diesem Demokratiemodell schon enthalten: Es ging um einen möglichst praktikablen Ausgleich der verschiedenen Interessen in der Gesellschaft, um die weiteren sozialen und staatlichen Modifikationen des kapitalistischen Wirtschaftslebens, die ohnehin im Gang waren, und um eine friedliche Alternative zu den fortschreitend grausamen Formen der bolschewistischen Revolution, die den Liberalen und Sozialdemokraten gleichermaßen ein Greuel waren und die Kompromißbereitschaft zumal auf bürgerlicher Seite verstärkten. So kam es zu lange geforderten „Errungenschaften", die den kommunistischen Argumenten viel von ihrer Wirkung nahmen: Achtstundentag, Arbeitslosenunterstützung und soziale Sicherung, Streikrecht und Tarif-autonomie, volle politische Gleichheit und Abbau der sozialen Privilegien. Der Machtzuwachs der Gewerkschaften war besonders augenfällig; von der „Wirtschaft" oft beklagt, machte er diese Arbeiterorganisationen aber zu einer starken Stütze des demokratischen Staates, zum Garanten des politischen und sozialen Friedens im Rahmen der Verfassung — im Grunde zur stärksten Sicherung der demokratischen Formen und Regeln gegen eine Revolution. Das galt auch für eine neue Demokratie wie die deutsche, wo Gewerkschaften ebenso zur Abwehr des rechtsradikalen Kapp-Putsches (1920) beitrugen wie zum Scheitern der kommunistischen Umsturzversuche dieser Jahre; erst die Schwächung durch Massenarbeitslosigkeit machte sie hilflos vor der totalitären Überwältigung von 1933.

Freilich erwiesen sich manche der Erwartungen, die an die reformistischen Fortschritte der Gewerkschaftsbewegung geknüpft wurden, noch als verfrüht oder gar illusionär.

Große Kraftproben wie der englische Generalstreik von 1926 endeten mit gewerkschaftlichen Mißerfolgen, und'seit 1929 brachte die Weltwirtschaftskrise eine Krise des gesellschaftlichen Fundamentalkompromisses selbst, auf dem die westlichen Demokratien beruhten. Im Auf und Ab der Einschätzungen und der Parolen drängte nun scheinbar ein neues antibürgerliches Zeitalter zum Durchbruch, freilich nicht mehr allein mit der Perspektive einer sozialistischen Revolution, sondern wie schon in den Krisenjahren 1920 und 1923, unter dem Ansturm von links und rechts zugleich, im Zeichen einer drohenden totalitären Diktatur. Auch diese Periode dramatisiert den antibürgerlichen Akzent jedoch mehr als daß sie ihn realisiert: Das Maß der sozialen Umschichtungen unter faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft entspricht eher den allgemeinen Tendenzen der technisch-ökonomischen und zivilisatorischen Entwicklung als klassen-und schichtspezifischen Ansprüchen der neuen Regime; die Klassenkampfpolitik in der Sowjetunion wirkte auch hier abschreckend. Hitlers „soziale Revolution" ist wie die Mussolinis in der Tat mehr politischer, technisch-ökonomischer und ideologischer als sozialer Natur. Ihre Folgen freilich: Zerstörungen, Massen-Liquidationen und -Vertreibungen, deutsche und europäische Teilung, tragen zu einer weiter fortwirkenden gesellschaftlichen Umwälzung bei, wenn auch nicht im beabsichtigten Sinne.

Doch führt der Kampf gegen den Totalitarismus zugleich zu Reaktionen gegen seine „antibürgerlichen" Züge, gegen die erschreckende Perversion und Manipulation bürgerlicher Ideale, bürgerlicher Tugenden. Es kommt 1945 nicht ein sozialistisches Zeitalter, nicht jenes oft geweissagte Ende der bürgerlichen Ära, das selbst bürgerlich-aristokratische Widerstandsgruppen etwa des Kreisauer Kreises erwarteten. Vielmehr sind neue Kompromisse und Koalitionen, ein neues Einpendeln der gesellschaftlichen Struktur die Folge des Zweiten Weltkrieges. Bemerkenswert, daß nach all den Umstürzen und Katastrophen nicht so sehr die Umwälzung in den gesellschaftlichen Strukturen als eine Verstärkung der Mobilität, eine Flexibilisierung der Klassengesellschaft die eigentliche Veränderung ausmachen. Es beginnt so etwas wie ein neues bürgerliches Zeitalter, in dem es zwar starke Linksparteien, aber zugleich ein größeres Maß an Kompromißfähigkeit als nach 1918 gibt: jene sogenannte „Amerikanisierung“ der politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die nach 1945 zum umstrittenen Thema der Reformdiskussion in allen westlichen Demokratien wird.

II. Krise und Fortdauer des Bürgerlichen

Mit diesem Ausblick über die „antibürgerliche Welle" der dreißiger Jahre hinaus soll nicht bestritten werden, daß die Weltwirtschaftskrise eine tiefe Erschütterung des nach 1918 mühsam restaurierten Glaubens an eine geregelte bürgerliche Welt hervorgerufen hat. Aber es war doch gerade die sozialpsychologisch begründete Furcht vor einem Absinken aus dem bürgerlichen „Stand" in das Proletariat, das die Panik des Mittelstan5 des, die Furcht vor dem Kommunismus, die Flucht in den Nationalsozialismus hervorgerufen hat. Man nahm auch die antibürgerlichen Töne der Faschisten und Nationalsozialisten in Kauf, wenn nur die drohende Erneuerung des Klassenkampfes vermieden wurde, die der Kommunismus als Konsequenz der Krise propagierte. Wenn das Jahr 1933 in Deutschland das Ende der kurzen Periode des demokratischen Kompromisses bedeutete, so war es doch in den Augen des Mittelstandes zugleich die Fortsetzung des bürgerlichen Abwehrkampfes mit den anderen Mitteln der Diktatur: ein verhängnisvolles Mißverständnis. Die sozialen Motive der Radikalisierung rechts und links waren wesentlich in der Bedrohung der bürgerlichen Welt begründet. Sie wirkte sich politisch in der Aushöhlung der Mitte und in der Abwertung der Ideale einer Demokratie aus, die zugleich bürgerlich-freiheitlich und sozial-egalitär sein wollte.

Doch wäre es falsch, den Niedergang des politischen Liberalismus schon seit der Jahrhundertwende, seinen bemerkenswerten, aber kurzen Wiederaufschwung nach 1918 und seinen katastrophalen Niedergang in der Wirtschaftskrise einfach mit einem Niedergang des Bürgertums gleichzusetzen. Es konnte auch an der veralteten Struktur und den Personenverhältnissen der liberalen Parteien liegen, wenn sich die bürgerlichen Schichten parteipolitisch zersplitterten. Auch ist zu bedenken, daß schon nach 1848 und mehr noch nach 1871 das deutsche Bürgertum weitgehend entpolitisiert oder nach rechts orientiert war, ohne daß man deshalb von einem unbür-gerlichen Zeitalter sprechen kann. Der Niedergang des englischen Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg war gewiß spektakulär und scheinbar definitiv. Dort bedeutete er die Ablösung durch die Labour Party, also teilweise eine Orientierung nach links. Vor allem aber wurde er durch das englische Mehrheitswahlrecht beeinflußt, und man kann jedenfalls gewiß nicht sagen, daß die Interessen und Ideale des englischen Bürgertums oder der entsprechenden Mittelschichten im Parlament und in der Politik Großbritanniens nicht vor und nach der großen Krise unverändert starken Ausdruck gefunden hätten. Wenn die englische Gesellschaft in ihrem Verhalten traditionsbewußt oder gar konservativ genannt wird, so eben im Festhalten an den bürgerlich-liberalen Idealen — mit oder ohne liberale Partei. Das allgemeinere Problem ist in der Tat, ob nicht die Übernahme liberaler Forderungen und Prinzipien durch andere Parteien die Fortexistenz gesonderter liberaler Parteien bedrohen oder aber erübrigen kann. Eben dies geschah und geschieht überall in Europa, selbst im klassischen Lande des „radikalen" politischen Liberalismus, in Frankreich — wenn auch dort langsamer und auf verschlungenen Wegen.

Eher mag es erstaunlich erscheinen, daß die Zerrüttung der Vermögen durch Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrise zumal in Deutschland nicht viel rascher und eindeutiger die soziale Umschichtung bestätigte, die mit dem Aufstieg des Sozialismus begonnen hatte. Allein in Rußland hat die brutale Gewalt eindeutige Verhältnisse geschaffen — und selbst dort kam es bei der geringsten Lockerung, wie in der NEP-Periode, zu neuen Liberalisierungstendenzen. Der Zug zum bürgerlichen Aufstieg und Denken kommt auch in dieser angeblich entbürgerlichten Gesellschaft immer wieder zum Vorschein, wenn nur der Druck etwas gelockert und eine geringe „Liberalisierung“ toleriert wird. Nach dem Ende der Stalinzeit, in Dissidenten-und Menschenrechtsbewegungen, auch in Paradoxformeln wie „sozialistische Marktwirtschaft" tritt die Tendenz immer erneut hervor, auch wenn das totalitäre Einparteiensystem und die autokratische, im Grunde vor-bürgerliche Tradition Rußlands übermächtig bleibt.

Gegenüber dem soziologischen Schematismus der Klassenbetrachtung ist denn auch nachdrücklich auf die historisch-politische Erfahrung hinzuweisen, daß „das Bürgerliche" in der modernen Welt offenbar mehr bedeutet als nur eine vorübergehende soziale Schichtung, sondern ein allgemeines individuelles und soziales Bedürfnis, das — eine Art Stehaufmann — mit grundlegenden geistigen und moralischen Wertbedürfnissen einhergeht. Es paßt weniger denn je in ein geradliniges Geschichtsschema mit der lapidaren Sukzessions-Formel Feudalismus — Bürgertum — Sozialismus, denn es behauptet gerade auch heute seine erstrangige Bedeutung als eine ständige Alternative zu kollektiven oder nivellierenden Formen der sozialen und staatlichen Organisation. Dabei bleibt bedenkenswert, daß das eigenständige Bürgertum im Grunde stets nur eine kleine Schicht war, seine prägende Wirkung aber weit darüber hinausging. Vollends war das Verlangen, bürgerlich zu sein oder bürgerliche Ideale zu vertreten, immer weit stärker als Klassen-oder Parteibindungen (so haben z. B. Anhänger der SPD in den fünfziger Jahren ihre Partei weitaus überwiegend als bürgerlich bezeichnet — 40 Jahre nach dem Niedergang und vielfach verkündeten Tod des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland). Was mit dem Ersten Weltkrieg verloren ging, war die bürgerliche „Sekurität" des 19. Jahrhunderts, auch sie von Krisen unterbrochen, aber als Orientierungswert fast unangefochten — was freilich in Deutschland, anders als in England oder Frankreich, noch nicht geheißen hatte, daß man nach der Macht im Staat greifen oder die Privilegien der Aristokratie übergehen konnte. Die Demokratien der ersten Nachkriegszeit haben demgegenüber in verschiedenen Formen die volle politische Gleichheit gebracht und doch die Freiheit erhalten. Sie waren insofern ein Höhepunkt der bürgerlich-liberalen Entwicklung — und erlebten im selben Augenblick ihre Anfechtung durch alte und neue Bewegungen, durch Restauration wie durch Revolution zugleich. Wo die bürgerliche Revolution längst gelungen war wie in England und Frankreich — und vor allem den USA —, hat sich auch der politische Liberalismus nicht selbst aufgegeben wie in Deutschland: nicht zuletzt, weil man wußte, was man ihm verdankte, und Zeit gehabt hatte, positive Erfahrungen mit dem liberalen Staat und seinen Vertretern zu machen.

III. Die sozialistische Anfechtung

Soziologisch gesehen waren die Übergänge überall gleich schmerzhaft; sie vollzogen sich vor allem im Bereich dessen, was in Deutschland als alter und neuer Mittelstand bezeichnet wurde. Der über Jahrzehnte dauernden Abnahme der kleinen Selbständigen entsprach die Zunahme einer breiten, in sich sehr weit gefächerten Schicht der Angestellten, die abhängig, aber durch Tätigkeit und Selbstbewußtsein von der Arbeiterschaft z. T. weit getrennt waren: in den USA, wo sie fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, treffend als white (gegen blue) collar workers bezeichnet. Dazu kam der steigende Anteil einer anschwellenden staatlichen Bürokratie, die in der mehr oder weniger ausgeprägten Beamtentradition stand und ebenfalls betont mittelständisch-bürgerliche Züge zeigte. Es war eher eine Umstrukturierung als eine Entbürgerlichung, aber die Unsicherheiten im Selbstverständnis wie in der wirtschaftlichen Situation und die neuen, auch modernistischen Ansprüche (auf mehr Egalität und technischen Fortschritt), die dabei auftreten, sind in dem massenhaften Zustrom von Angestellten zum Nationalsozialismus besonders deutlich geworden.

Ein weiterer wichtiger Strukturwandel vollzog sich mit der fortschreitenden Verstädterung und dem Rückgang der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung. Auch hier haben wir es mit einer langfristigen Entwicklung zu tun. Der Weg von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung hat erst die grundlegenden sozialen Veränderungen in Gang gesetzt, die hinter dem dritten den vierten Stand, die Arbeiterschaft, zur größten sozialen Gruppe in den westlichen Demokratien gemacht hat.

Aber auch hier sind viele Prophezeiungen fehlgegangen, die darin überhaupt das Prinzip der Zukunft, die Arbeiterschaft, das Proletariat, den Sozialismus als die einzige oder ein-deutig dominierende Form der Gesellschaft und des Staates sehen wollten: nicht nur die marxistischen Optimisten, sondern auch die konservativ-reaktionären Pessimisten. Sie haben eine Tendenz verabsolutiert und darüber andere Tendenzen vernachlässigt. Indem man das „Proletariat“ zur philosophischen Idee stilisierte, glorifizierend oder dämonisierend, verkannte man die empirische Realität „Arbeiterschaft“. Denn es zeigte sich: (1) daß diese Schicht keineswegs so einheitlich und geschlossen war, wie man geglaubt hatte; (2) daß sie nicht zu der übergroßen Mehrheit wurde, sondern bei etwa 50 °/o der Bevölkerung verharrte; (3) daß die moderne Gesellschaft mit ihren Aufstiegsmöglichkeiten zu einer zunehmenden sozialen Mobilität führte;

(4) daß schließlich die radikale Polarisation und Konfrontation nicht unausweichlich waren, sondern Kompromißfähigkeit und begrenzter Konflikt das Verhältnis von Arbeiterschaft und anderen Gruppen bestimmen konnte, sofern die Begegnung auf dem Boden einer ausgereiften demokratischen und liberalen Tradition stattfand.

So hat denn in den USA die gewaltige Industrialisierung nicht einmal zu einer größeren sozialistischen Partei geführt, weil das Parteiensystem offen und nicht klassengebunden, die soziale Mobilität fast unbegrenzt, die demokratischen Traditionen ausgeprägter waren als sonst irgendwo, überall aber wurden die Arbeiterparteien nach dem Kriege regierungsfähig, ja unentbehrlich, und die Abspaltung eines „revolutionären“ Teils, der Kommunisten, zeigte noch deutlicher, daß Intransigenz gegenüber der liberalen Demokratie nicht die Regel, sondern die Ausnahme war.

Es ist keine Widerlegung dieser Feststellung, daß im weiteren Verlauf diese Kooperation gestört wurde durch den Aufstieg radikaler Antisystemparteien von rechts und links. Das bedeutete ein nicht nur soziologisch, sondern mehr noch politisch zu bestimmendes Problem des jeweiligen Staates, wie jede differenzierende Erklärung z. B.der nationalsozialistischen Machtergreifung zeigt, die nicht bei soziologischen Formeln stehenbleibt, sondern die Frage beantwortet, warum und wie dies in Deutschland und nicht in anderen Industriestaaten mit ähnlich liberalen Verfassungen geschehen konnte.

Heiß umworben und propagandistisch eingesetzt wurde die Arbeiterschaft von allen Diktaturbewegungen der Epoche: Marx und Lenin haben ihr die totale Diktatur des Proletariats verheißen, Mussolini und Hitler die Ernennung aller „Schaffenden" zu Arbeitern vollzogen. Aber sie blieben gerade in den Diktaturen der Zwischenkriegszeit Objekte einer von oben diktierten oder gesteuerten Politik und Ökonomie — abgesehen von denen, die durch aktives Mitmachen in Partei und System zum sozialen Aufstieg gelangten. Eine überzeugende Alternative zur Demokratie boten diese Systeme auch für die Arbeiterschaft nicht. Ihre „sozialistische Politik“ brachte kaum mehr, eher weniger als die Verbesserungen, die ein Industriestaat ohnehin bieten konnte und mußte: Lehrreich ist ein Vergleich der Arbeitszeiten oder der Renten in sozialistischen und westlichen Systemen. Der prinzipielle Unterschied aber besteht ja letzten Endes nicht darin, ob man nun den Klassenkampf für beendet und die Arbeiterschaft als siegreich bezeichnet, sondern ob sie im Konfliktfall für ihre Rechte und Ansprüche eintreten kann, ob sie das Streikrecht besitzt. Auch hier erscheint der Fundamentalkompromiß der „bürgerlichen“, parlamentarisch-pluralistischen Demokratie dem vorgeblich perfekten, in Wahrheit repressiven „Arbeiterstaat" sozialistischer Prägung durchaus überlegen.

IV. Im Zeichen des Weltbürgerkriegs

Die Veränderung der sozialen Strukturen, die so eng mit dem ökonomischen Auf und Ab und mit dem Unterschied der Systeme zusammenhängt, hat ihre politische Bedeutung auch in jenen Situationen entfaltet, in denen es um nationale Interessen und zwischenstaatliche Konflikte ging. Europas nationalstaatliche Zersplitterung feierte nach 1918 neue Triumphe. Entgegen den Erwartungen der Internationalisten im demokratischen wie im revolutionären Lager ist es erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer überstaatlichen Koordinierung der ökonomischen und auch der sozialen Kräfte gekommen: zwangsweise in der neuen kommunistischen Welt, freiwillig und doch fast zwangsläufig in Westeuropa und anderwärts.

Und politisch fast völlig ignoriert, wenngleich zuweilen dramatisch diskutiert, wurde auch jene explosionsartige Zunahme der Weltbevölkerung, die seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Amerika, schließlich in allen Kontinenten die Modernisierung begleitet. Seit den düsteren Prognosen des Engländers Thomas Malthus über das Mißverhältnis von Bevölkerungszunahme und Ernährungslage (1798) hatte manche warnende Stimme darauf hingewiesen, daß auf diesem Felde der größte Strukturwandel, die eigentliche soziale Problematik sich entwickeln werde. Deutlicher denn je tritt die ungleiche Verteilung der Güter der Welt, die sich vergrößernde Disproportion zwischen wirtschaftlichem Potential und Geburtenziffer hervor: das heute soge-nannte Nord-Süd-Problem, die immer stärker werdende Diskrepanz zwischen Industrie-und Entwicklungsländern. Während die Demokratien Europas und Amerikas mit den eigenen, einzelstaatlichen Sorgen und Ambitionen beschäftigt waren und auch internationale Organisationen wenig zur Schärfung des Bewußtseins oder gar zur Lösung jener globalen Probleme vermochten, spielten sie in den „Weltanschauungen" der großen politisch-ideologischen Bewegungen durchaus eine Rolle, wenn auch auf verzerrte Weise. Faschismus und Nationalsozialismus, Sozialismus und Kommunismus haben je eigene Theorien und ideologische Erklärungen propagiert, die nun mit großer Wirkung in diese Lücke stießen: Lebensraum-und Rassendoktrin, Imperialismus-und Weltrevolutionstheorie reduzierten jene vielschichtigen, schwer lösbaren Probleme der Zukunft jeweils auf eingängige, weil einlinige Formeln (wie „Blut und Boden" oder „Proletarier aller Länder .. ").

Dem Ersten Weltkrieg entspringt und folgt mit diesen Bewegungen ein „Weltbürgerkrieg", der über die Staaten und Gesellschaften hinwegreicht. Seit 1917 schneidet der sozialistisch-kommunistische, seit 1922 und 1933 der faschistisch-nationalsozialistische Weltanspruch quer durch traditionelle Fronten und staatliche Loyalitäten; beide wenden sich aggressiv gegen überliefertes bürgerliches Be-

vußtsein. Wie einst im Zeitalter der großen Revolutionen, zumal nach 1789 und 1849, gibt es wieder das Phänomen der politischen Flüchtlinge. Doch sind auch darin die Dimensionen verschieden; die Massenemigration im russischen Bürgerkrieg trägt zur Auslöschung nicht nur der Aristokratie, sondern einer ganzen Mittelschicht in Stadt und Land bei; daneben gibt es das Schicksal der großen „Abweichler" aus dem eigenen Lager (wie Trotzki). Die Welt zerfällt in Verfolgerstaaten und Asylstaaten wie in Diktaturen und Demokratien. Dazu kommen die nationalstaatlich begründeten Umsiedlungen und Vertreibungen, die im Zweiten Weltkrieg und danach zu ganzen gewaltsamen Völkerverschiebungen führen. Ihre furchtbaren Folgen für den einzelnen werden noch übertroffen durch das Phänomen der „unpolitischen" Kollektiv-Verfolgungen und -Tötungen aus klassen-oder rassenpolitischen Gründen, die jeweils von der Sowjetunion und dem Dritten Reich ausgehen. Nicht nur die Opposition wird verfolgt, sondern ohne Unterscheidung der Person pauschal ganze Gruppen und Bevölkerungsteile, weil sie andersartig sind oder nicht dem etablierten ideologischen Prinzip entsprechen. Die Emigration vor dem Nationalsozialismus kommt einer ganzen Kultur-Verschiebung aus Deutschland zumal nach Amerika gleich. Wie im Zeitalter der Glaubenskriege radikalisiert und zerstört die Ideologisierung der Politik und Gesellschaft viele menschliche Bindungen. Die schrillen und unmenschlichen Aspekte jener Krise der modernen Welt, die besonders auch die politischen, sozialen und kulturellen Eliten durch Verfolgung und Exilierung betroffen hat, sind ein wesentlicher Teil der so vielfach erregten, vielseitigen, ungleichartigen geistigen Kultur der zwanziger und dreißiger Jahre.

V. Neuer Geist und Weltwirtschaftskrise

Tatsächlich war die geistige und psychologische Lage des Nachkriegs-Europa gekennzeichnet durch tiefe Risse und Konflikte, durch eine polarisierende Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen und Maßstäbe im intellektuellen wie im politischen Leben der Zwischenkriegszeit. Sie trat schon in der Schärfe des Generationskonflikts hervor. An der Spitze des politischen Establishments stand den großen Veränderungen zum Trotz weiterhin — und vielfach bis zum nächsten Krieg — die Vorkriegsgeneration: Der Wechsel fand nicht statt, war nicht einmal in Sicht, und dies nutzen die diktatorischen Erneuerungs-und Führerbewegungen zumal der Rechten, die sich nicht zuletzt als antibürgerlichen Aufstand der „Frontgeneration" und der Jugend verstanden. Auch sie freilich blieben trotz dieses Anspruchs zugleich auf Parolen und Personen gestützt, die nicht neu und jung, sondern Teil des Vorkriegs-und Kriegs-Establishments waren. Das traf auf Schlüsselfiguren wie Hindenburg und Petain, Horthy und Pilsudski, aber auch Lenin und Trotzki ebenso zu wie auf den Nationalismus und Sozialismus, die autoritären und revolutionären Bewegungen rechts und links, die sie vertraten oder denen sie zur Macht verhalfen.

Auch die furchtbaren Menschenverluste des Krieges haben dazu beigetragen, die Wirkungszeit der Vorkriegsgeneration noch zu verlängern, und dies stand im scharfen Kontrast zu den gewaltigen Erschütterungen und Veränderungen, die nach neuen Ansätzen des geistigen und politischen Lebens verlangten.

In den Nachkriegsdemokratien vermochten nur wenige Angehörige der Kriegsgeneration in die Führungspositionen aufzurücken, und dies eben war der Vorwurf der antidemokratischen Bewegungen. Wenn jene an die Spitze gelangten, wie 1930 Heinrich Brüning in Deutschland oder dann auch Daladier in Frankreich, blieben sie innerlich unsicher, gleichsam in einer Doppelrolle befangen: als Repräsentanten des alten Staates und zugleich der neuen Impulse, hin-und hergerissen zwischen demokratischen und autoritären Kriterien, am Ende Gescheiterte. Die Veränderungen der dreißiger Jahre, verstanden als verspäteter Durchbruch der Kriegsgeneration, waren bezogen, ja fixiert auf diesen Komplex des unbewältigten Krieges. Es fand seinen schärfsten Ausdruck im Hitlerregime, trat aber auch anderwärts hervor: in der fortdauernden Bewunderung der Kriegsführer (rechts) oder Revolutionäre (links), in der weiteren Verunsicherung, Verleugnung oder Verhöhnung des „Bürgerlichen", in der Resignation vor einem autoritären Zeitgeist. Die Nachkriegszeit ging nicht allmählich zu Ende, sondern der Krieg blieb auf der Tagesordnung, politisch in der Revisionsbewegung, ideell (und psychisch) in der Verstärkung autoritärer Wertvorstellungen auf Kosten der Liberalität und Toleranz.

Schließlich wurde der Glaube an die Ideale und Werte der westlichen Zivilisation, den der Krieg und/die Nachkriegskrisen schon so nachhaltig erschüttert hatten, durch den neuen Einbruch der Weltwirtschaftskrise weithin endgültig zerstört. Ihre Folge war es vor allem, daß sich das Klima der dreißiger Jahre tief verschieden vom Geist der zwanziger Jahre entwickelte. Nun erst kam die ganze Schwere der Erschütterung, die Krieg und Kriegsfolgen für ganz Europa bedeuteten, voll zum Ausdruck. Die zwanziger Jahre waren noch von einer Art Betäubung, vom Verdrängen und überspielen des schwer Faßbaren gekennzeichnet. Nun aber trat die umfassende Kulturkrise voll hervor. Sie erschütterte das Vertrauen in den steten Fortschritt der modernen Welt, in ihre technischen Errungenschaften und geistigen Wertvorstellungen. Der Rückgriff auf die barbarischen Ideale der Gewalt, des sozialdarwinistischen Kampfes, des Biologismus hatte schon mit der Technisierung der kriegerischen Zerstörung und Vernichtung eine neue Dimension gewonnen. Dahinter wirkte die Erfahrung, wie leicht und rasch die moralisch-humanitären Wertvorstellungen überwunden oder zurückgedrängt wurden, wie reibungslos der Übergang vom zivilisatorischen Friedensideal zur militanten, haßgetriebenen Massenmobilisierung und zur perfektionistischen Organisation der Zerstörung verlief, wie widerstandslos schließlich in den meisten Ländern Europas demokratische Verfassungsordnungen und liberales Geistesleben diktatorischen Erfolgsregimen und Veränderungsphilosophien Platz machten. ’

Die kulturelle Szene der zwanziger Jahre, überschattet und polarisiert durch die unheilvollen Erfahrungen des Krieges und die unheildrohenden Perspektiven der Nachkriegszeit, spiegelte zuerst den fieberhaft intensiven Ausbruch von Gefühlen und Experimenten, die fast etwas Endzeitliches an sich hatten, dann aber auch eine große Verarmung und Ernüchterung hinter und jenseits dieser Erwartungen und Illusionen. Offenkundig war der Widerspruch der Realität zu den Proklamationen des Friedens, der moralischen Restauration, der politisch-sozialen Gerechtigkeit; es tat sich die Diskrepanz zwischen einer viktorianischen oder wilhelminischen Ordnung des gesellschaftlichen wie privaten Lebens und jener Stärke und Tiefe der emotionalen Bedürfnisse und Triebkräfte auf, die Kriegserfahrung und psychologische Aufklärung je auf ihre Weise sichtbar machten. Rebellion und Aufstand gegen ältere Generation und Eltern, bis hin zum Topos des Vatermords und zur Theorie des Odipus-Komplexes, waren schon angebahnt in der Entstehung einer antibürgerlichen Wandervogel-und Jugendbewegung vor dem großen Krieg. Nun aber erschien die viktorianischwilhelminische Unterdrückung der „echten"

Gefühle, die Illusion ihrer zivilisatorischen Bändigung im vollen, grellen Lichte der Existenzkrise, die Kriegs-und Nachkriegszeit bedeutete. Die echten Gefühle: daß hieß die Freisetzung anarchistischer Bedürfnisse aus der bürgerlichen „Repression", wie sie von den linken Revolutionären gefordert oder von der Freudschen Psychologie analysiert wurde; es hieß aber auch Hypostasierung dieser Gefühle im Sinne eines neuen heroischen oder irrationalen Zeitalters, wie es die Adepten der Machtphilosophie Nietzsches und Sorels oder der Lebensphilosophie Henri Bergsons und Ludwig Klages'proklamierten.

In allen Fällen war der „neue Geist“ gegen die restaurierte Zivilisationswelt des 19. Jahrhunderts gerichtet, ob er sich nun als Moderne progressiv oder als neuer Durchbruch des Elementaren antimodernistisch verstand. Der Angriff auf die konventionelle und traditionelle, christliche oder humanistische Moral bezog seine Wirkungskraft in jedem Fall aus dem Bruch und der Auflösung der Maßstäbe, die man seit 1914 erlebt hatte. Aber noch hielt in den ersten Nachkriegskrisen doch zugleich die Hoffnung auf den Wiederaufbau die Balance, zumal es in den mittleren zwanziger Jahren aufwärts ging und der Ausbruch des Pessimismus in einer neuen Blüte von Literatur und Kunst sublimiert wurde.

Um so verheerender mußte der Zusammenbruch in der weltweiten Wirtschaftskrise wirken: Von den Zweiflern und Gegnern als eine neue Widerlegung der westlichen Zivilisation und ihrer bürgerlichen Werte angeprangert, bot sie dem rechten wie dem linken Radikalismus Gelegenheit zum zweiten und fatalen Ansturm. Wenn nicht, wie in Stalins Sowjetunion und in Hitlers Deutschland, die Kultur der zwanziger Jahre in ihren modernen und realen Ausdrucksformen überhaupt als dekadent oder entartet abgetan, verfemt und verfolgt wurde, so ging ihre unmittelbare Kraft und Fülle zurück. Sie verschwand hinter den verflachenden, pseudorealistischen Formen eines nationalistisch oder sozialistisch auftretenden Kulturgebarens, das sich auch so manchen Vertreter der neuen Literatur (wie den expressionistischen Dichter Gottfried Benn) vorübergehend einzugliedern vermochte. Mit dem Siegeszug der autoritären Diktaturen ging auch die Bühne verloren, von der aus Kunst und Geist, Literatur und Wissenschaft experimentierend in das Zeitgeschehen einzugreifen versucht hatten. Zugleich machte freilich dieser rasche Wandel, der in Deutschland so viele persönliche Schicksale der Verfolgung, Emigration und Selbstverleugnung mit sich brachte, den schwankenden Boden der zwanziger Jahre und das unsichere Gewicht des neuen Kulturaufschwungs deutlich — zum Teil auch das Versagen seiner Exponenten vor der Aufgabe der menschlichen wie der soziopolitischen Bewältigung der Kriegs-und Nachkriegskrise. Das zeigt ein Blick auf die vielgerühmte Kulturblüte der Weimarer Republik, die in vielem repräsentativ für die Stärken und Schwächen der geistigen Entwicklung zwischen den Kriegen war, diese zugleich besonders scharf wie unter einem Brennglas zum Ausdruck brachte, bevor sie im Feuer der Bücherverbrennung unterging.

VI. Die Kultur von Weimar

Die politische Bedeutung der Nachkriegskultur ist vor allem in zwei Richtungen zu kennzeichnen. Einerseits erwies sich gerade das militärisch geschlagene, politisch instabile und zerrissene Deutschland als ein kulturelles Experimentierfeld per se, auf das für einige Jahre die Aufmerksamkeit des Westens konzentriert war und aus dem dann nach dem Zusammenbruch der Republik, nach der Vertreibung seiner großen Vertreter durch den Nationalsozialismus, Impulse von kaum zu überschätzender Tragweite in die Welt gingen. Gleichzeitig aber trug die Schärfe der gestigen Auseinandersetzung und das politisch und moralisch oft extreme Verhalten der Intellektuellen, die das geistig-künstlerische Leben fieberhaft vorantrieben, zur Verunsicherung der Republik und zur Bloßstellung der Schwächen bei, die ihre Gegner dann so schonungslos zu nutzen verstanden: vor allem die republikanische Toleranz auch gegen die radikalen Feinde der Demokratie. Der tiefe Widerspruch des Kulturbetriebes, ihr erregender und zugleich deprimierender Charakter, wie er in den Bildern eines George Grosz, im Kontrast von Amüsierleben und sozialem Elend zum Ausdruck kam, mag auch als Folge eines verzweifelten Eskapismus interpretiert werden. Aber tödlich scharf war die Kritik gerade der Linken an der . bürgerlichen" Republik, dem Gebilde der unerfüllten Hoffnungen, und doch ließ diese toleranter als irgendeine Zeit und irgendein Land die Experimentierer wie die Kritiker gewähren. Das Experiment endete negativ, die Selbstkontrolle funktionierte nicht, der Rückschlag war um so furchtbarer. Diese Erfahrung hat bewirkt, daß zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg ungleich vorsichtiger und zurückhaltender, mit dem steten Vorbehalt der politischen und moralischen Konsequenzen gedacht und geschrieben, experimentiert und theoretisiert wurde: vor allem in Deutschland, wo das Verfassungsprinzip der verteidigungsbreiten, „wehrhaften" Demokratie gegen die Erfahrung von Weimar gesetzt wurde, bis die linksradikalen Anfechtungen im Gefolge der weltweiten Studentenrevolte alte Gefahren aufs neue beschworen.

Gewiß: die härtesten Feinde der Weimarer Republik standen rechts, wie die politischen Morde und Putsche, schließlich der Untergang der Demokratie bewiesen. Und gewiß übten obrigkeitsstaatliche Kräfte und Strukturen zum Teil noch einen starken Einfluß auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen aus. Aber Deutschland besaß zugleich den liberalsten Staat seiner Geschichte. Die Weimarer Liberalität ermöglichte deutsche Filme, die in Frankreich und England verboten wurden; bis zum Ende von 1933 waren Beschränkung und Zensur nicht hemmender als in anderen freiheitlichen Ländern. Damit kontra-stiert die Tatsache, daß viele der Intellektuellen, die davon profitierten, dennoch mit Hohn von der glanzlosen „bürgerlichen" Republik sprachen und weder Verständnis für die junge Demokratie noch Voraussicht für ihre Belastbarkeit bewiesen. Und wie der Kommunismus, so wurde am Ende auch Hitler nicht wirklich ernst genommen: In der linken „Weltbühne" wollte man ihn ans Ruder lassen, damit er abwirtschaften könne, und die verächtliche Weigerung zu wirklicher Auseinandersetzung mit einem so niveaulosen Phänomen wie dem Nationalsozialismus drückte das verhängnisvoll typische Wort des großen Wiener Literaten Karl Kraus aus, das unbegreiflicherweise bis zum heutigen Tag zustimmend zitiert wird, obwohl es doch das Versagen der Intellektuellen vor der politischen Problemlage demonstriert: „Mir fällt zu Hitler nichts ein".

An die damaligen und heutigen Bewunderer der „goldenen zwanziger Jahre" stellt sich die Frage, ob sie nicht mit der überscharfen Kritik an allem Bestehenden ein Klima förderten, in dem auch die Verhöhnung der Republik und ihrer 'Repräsentanten besonders gedieh, ihre Verteidigung noch schwerer gemacht wurde. Fortschritt, Modernismus, Experimentieren — das hieß für viele ein Vorherrschen von Amoralismus in Kunst und Litera11 tur, und eine demonstrative Libertinage trug dazu bei, das Vertrauen in republik-und demokratiefreundliche Intellektuelle zu erschüttern oder zu unterminieren. Diese ungewollte Gegenwirkung, ein „counter-productive effect", tritt vor allem in der Einstellung zum Staat überhaupt und zur Frage eines normalen Patriotismus als Alternative zum chauvinistischen Nationalismus der Rechten hervor. Indem sie das natürliche Bedürfnis einer nationalen Identifikation vernachlässigte, deren gerade auch die Republik unter den schweren inneren und äußeren Belastungen der Nachkriegszeit bedurfte, hat sich die Linke insgesamt und besonders eine betont international orientierte, verletzend antibürgerlich argumentierende „Linksintelligenz" vor den Augen der breiten Bevölkerung diskreditiert. Der von rechts geschürte Haß auf die linksintellektuellen „Verräter" konnte sich leicht der Empörung über verletzende Aussprüche bedienen: etwa Tucholskys Slogan vom Deutschland der Richter und Henker, seiner Verhöhnung jeder Manifestation patriotischer Gefühle („deutsch ist doof") oder der ätzenden Karikaturen des „typischen" Weimar-Deutschen, mit denen George Grosz den Zorn des „Normalbürgers" geradezu herausforderte. Es kam hinzu, daß solche provokativen, schonungslosen Kritiker der Vergangenheit und Gegenwart sich mit keiner der Parteien zu identifizieren vermochten und gerade jene Politiker — wie Ebert oder Stresemann — als Reaktionäre und Spießbürger verhöhnten, die ein bislang unerhörtes Maß an politischer und kultureller Freiheit garantierten, von dem die Intelligenz in erster Linie profitierte. Daß jene Kritiker über das Ziel hinausschossen, damit ihr eigenes Anliegen gefährdeten, oft einer fragwürdigen Rangordnung in der Wahl der Themen folgten und bei ihrer Kritik am Konservativen und am Bürgerlichen im Vergleich mit anderen Ländern allzu einseitig negativ verfuhren — all dies ging wohl auch zurück auf jene enttäuschte Erwartung einer unbürgerlichen Republik der Künstler und Intellektuellen, die in den Umbrüchen und Krisen von 1918/19 entstanden war, jedoch in den erforderlichen praktischen Kompromissen der Folgezeit auch von den Sozialdemokraten, die man im übrigen ihres kleinbürgerlichen Lebensstils wegen belächelte, nicht erfüllt werden konnte.

VII. Zur Rolle der Intellektuellen

Diese Grundenttäuschung, die nichts anderes als ein neues Kapitel in der Geschichte der Entfremdung von Geist und Macht war, spiegelt eine allgemeine Problematik im Verhältnis des Intellektuellen zur Politik wider. Aber sie trat am deutlichsten dort hervor, wo nach der Niederlage eines überalterten politischen Systems inmitten der Verzweiflung auch die Hoffnungen auf eine neue, bessere Welt jenseits der traditionellen Politik und Gesellschaft besonders hoch aufflammten. Zerbrochen war schon in der bayerischen Räterepublik der Anspruch, selbst zu regieren — jene revolutionär-utopische alte Sehnsucht der Intellektuellen, die sich auch wieder bei den französischen Unruhen von 1968 in deren vielzitiertem Slogan meldete: „Die Phantasie an die Macht!" Es war eine Anmaßung, zu der sie, die so glühend für Demokratie und Volkswillen stritten, niemand legitimiert hatte. Der Anspruch, die Zukunft zu kennen und zu gestalten, stand gegen die Notwendigkeit, mit den Aufgaben der Tagespolitik fertig zu werden. Die volle Schärfe dieses Grundkonflikts des politischen Lebens wurde wiederum im Deutschland der zwanziger Jahre besonders sichtbar, weil auch die deutschen Sozialdemokraten mehr als die Sozialisten etwa Frankreichs ein anti-intellektuelles Mißtrauen gegen Literatur und Künstler entwickelten, je mehr sie deren hochmütig anmaßende Verachtung für solide Organisation und politische Tagesarbeit, für reformistische statt revolutionäre Zielsetzung spürten.

Die Haltung der Rechten war ohnehin durch einen traditionell ausgeprägten Anti-Intellektualismus gekennzeichnet. Dabei stellten die Rechtsintellektuellen der „Konservativen Revolution" eine eher exzeptionelle Erscheinung dar. Als Offiziere ohne Soldaten glossiert, schleuderten auch sie — mit elitärem Anspruch — der demokratischen Republik die antibürgerliche Kriegserklärung einer „Revolution von rechts" entgegen, bis sie schließlich nolens volens dem autoritären Umbruch gleichsam als „Trotzkisten" des Nationalsozialismus anheim oder zum Opfer fielen. So saßen die geistigen Neuerer, wie radikal demokratisch oder auch elitär ihre Ideen und Absichten sein mochten, im Endeffekt zwischen allen Stühlen, während sie zugleich die Republik, die sie zur wahren Demokratie oder zum wahren Staat machen wollten, durch ihre Agitation ruinierten oder durch ihre Kritik nicht so stützten, wie dies notwendig und möglich gewesen wäre. Dem geistigen Niveau und der künstlerischen Qualität der Nachkriegskultur, so umstritten sie sein mochte, standen alle Möglichkeiten offen; und gerade das verhöhnte und totgesagte Bürgertum hat diese Kultur getragen oder doch toleriert; man denke an die Erfolge der antibürgerlichen, antikapitalistischen Stücke etwa Bert Brechts, des Apostaten des Augsburger Bürgertums. Aber die politische Wirkung war bestenfalls gleich null, weil ein positiver Bezug zu der realen Republik im Sinne jener kritischen Sympathie fehlte, auf die es in jeder Demokratie so entscheidend ankommt; meist war die Wirkung vielmehr negativ, weil die überkritische Darstellung und Deutung der Zeit eher als nihilistisch denn als wegweisend, konkretisierbar und positiv empfunden wurde.

Es kam noch hinzu, daß die Kommunisten ihrerseits gegen die bürgerlichen Linksintellektuellen standen, die sich ihnen nicht unterwarfen, auch wenn sie ihnen nützliche Dienste im Sinne einer kulturellen Volksfronttaktik leisteten. Die antiintellektuelle Polemik der KPD konnte es zuweilen durchaus mit jener der Nationalsozialisten aufnehmen. Die beiden Extremparteien besaßen jeweils ihre eigenen Spitzenintellektuellen: Literaten wie Goebbels und Alfred Rosenberg (bei der NSDAP) oder Johannes R. Becher und die Propagandisten des Münzenberg-Konzerns (bei der KPD) wurden vom Verdikt gegen die bürgerlichen Intellektuellen ausgenommen, während sie virtuos die Kampagnen führten, die das geistige Leben vergifteten und reif machten für die Kapitulation vor den autoritären und totalitären Kräften. Es ist bezeichnend, daß unter Intellektuellen trotz allem weit mehr Sympathien für die Kommunisten als für die Sozialdemokraten bestanden: Das militante Pathos der Radikalen schien dem intellektuellen und künstlerischen Anspruch auf volle Verwirklichung, Perfektion eher zu entsprechen als „kleinbürgerliche" Kompromißpolitik der gemäßigteren Demokraten.

Auch dies war ein großes Mißverständnis, das in den sechziger Jahren wiederkehrte, als Studentenbewegung und „Neue Linke" sich auf die großen Ideale einer abstrakten Demokratie und Gerechtigkeit beriefen, um die bestehenden Demokratien als „spätbürgerlich" zu denunzieren, als untergangsreif zu bekämpfen. Das Sendungsbewußtsein einer „progressiven" Kunst und Literatur war um so entschiedener gegen jeden Status quo des Gesellschaftsund Parteiensystems gerichtet, je mehr die Polarisierung des politischen Lebens fortschritt. Sie hat schließlich alles verengt zu jener radikalen Scheinalternative vieler Intellektueller und Künstler der zwanziger und dreißiger Jahre, der man sich als vermeintlich unausweichlich unterwarf: Faschismus oder Kommunismus.

Es kam noch eine weitere Dimension hinzu, die zugleich als Komplikation wirkte: der große Beitrag der Juden zur Kultur der Zeit. Die Spannung von Tradition und Modernisierung, von Sonderbewußtsein und Assimilationsdruck setzte ein großes Potential schöpferischer Kräfte frei, aber die rasch in den Vordergrund gerückte Stellung der jüdischen Minderheit im kulturellen Leben stieß in der jungen, ihrer selbst unsicheren Republik auf antisemitische Ressentiments, die schon im religiösen und ökonomischen Bereich seit der Bismarckzeit starke Wurzeln besaßen. Es beeinträchtigte Wirkung und Integration der Kultur von Weimar ganz besonders, daß sie als Werk „undeutscher" Kräfte gescholten und mit antibürgerlich-antikapitalistischen Slogans, vor allem aber mit jenen antisemitischen Stereotypen belegt wurde, gegen die rationale Argumente wirkungslos waren: die Juden diffamiert als Repräsentanten einer antinational-kosmopolitischen Kultur, als wurzellose und destruktive Kritiker, als Gegensatz zum „schöpferischen" deutschen Geist.

Das Klischee von der „jüdisch-überfremdeten" Kultur diskreditierte zugleich überhauptet die westliche Zivilisation der nachrevolutionären Moderne, und es verschärfte die Spaltungen zwischen rechts und links, bürgerlich und sozialistisch, reformistisch und revolutionär, nationalistisch und internationalistisch noch um eine entscheidende Nuance. So erfolgte dann auch gerade in Deutschland, wo sich jene Spaltungen besonders tief auftaten, der Umschlag von der weltoffenen, liberalen Kulturblüte der zwanziger Jahre zur engsten totalitären Reglementierung mit besonderer Heftigkeit. Aber kaum geringer war schließlich auch die Desillusionierung der intellektuellen Zukunftsvisionen im Blick auf die Sowjetunion Stalins, die auf ihre Weise ebenso repressiv auf den Traum von der herrschaftsfreien Politik und einem Vernunftreich der Intellektuellen reagierte.

Es war eine Erfahrung, die nach 1945 noch über zwei Jahrzehnte hin wirkte und eine Renaissance liberaler Demokratie in Westeuropa ermöglichte, freilich auch ein ähnlich enthusiastisches Aufblühen der Kultur bremste.

Als in den sechziger Jahren jene Erfahrung verblaßte, wurden fast krampfhaft die kritischen Positionen und Probleme der zwanziger Jahre wieder aufgenommen. Doch führt es eher zu einer Reprise als zu neuer Entfaltung; schon nach wenigen Jahren erweist sich die Unwiederholbarkeit jenes geistigen und künstlerischen Aufbruchs, der auf ambivalente Weise, durch Vision und Destruktion, so wesentlich zu der vielfältigen, zugleich ver-wirrenden und irrenden Entfaltung der Zeit zwischen den Kriegen beigetragen hat. Die historische Erfahrung sollte gleichwohl auch heute, im Zeichen linksintellektueller Renaissancen und unpolitischer Nostalgien, ernst genommen werden.

VIII. Zusammenfassung

Im Rückblick auf jene historische Erfahrung sind für die gegenwärtige Diskussion vor allem die folgenden Gesichtspunkte hervorzuheben: 1. Es gibt einen politischen Bürgerbegriff, der bis zur Gegenwart die Funktion und das Verhältnis des einzelnen zum Staat bezeichnet: von der griechischen Vorstellung des polites und der tragenden Rolle des „Mittelstandes" in der Polis (Aristoteles) über den römischen civis (Cicero) zum Citizen und citoyen, zur middle dass in der Neuzeit.

2. Die sozialen Bedingungen des Bürgerbegriffs wandeln sich im Lauf der neueren Geschichte: von der Stadt des Mittelalters über die Modernisierung des Staates im Absolutismus zur Aufklärung, bürgerlichen Revolution, liberalen Bürgergesellschaft. In der Entwicklung der industriellen Massengesellschaft gelingt es freilich dem hochentfalteten Bürgertum nicht, die seinen Bedürfnissen adäquaten Sozialstrukturen zu stabilisieren, vielmehr setzt es im Zivilisationsprozeß antibürgerliche Automatismen in Gang, die seine Weiterexistenz, die bürgerliche Lebensbasis selbst, aufs Äußerste in Frage stellen: Der Weg „vom dritten zum vierten Menschen" (Alfred Weber), zum „eindimensionalen Menschen“ (H. Marcuse) zeichnet sich ab.

3. Das bürgerliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts und sein Wertsystem geraten gerade zum Zeitpunkt ihres scheinbar endgültigen Triumphs in eine tiefe Krise. Eine doppelte Anfechtung von links und rechts, die je unter dem Slogan des „Sozialismus" vordringt, betont die egalitär-kollektiven gegenüber den individuell-liberalen Fortschritts-und Ordnungsvorstellungen: als internationaler oder als nationaler Sozialismus. Die antibürgerliche Welle beschwört die Zerreibung, den Verlust der Mitte herauf.

4. Aber der Niedergang des Bürgertums im Zeitalter der Weltkriege resultiert keineswegs im prophezeiten Verschwinden, sondern in einer Verallgemeinerung des Bürgerlichen, einer Tendenz zur allgemeinen Verbürgerlichung selbst unter „sozialistischen“ Systemen, die mehr ist als ein residuales überleben historischen Bürgertums. Die politischen Formen sind verschieden, aber die bürger-rechtliche Komponente als Träger und Garant politischer Kultur tritt überall hervor; ihr Fehlen oder ihre Schwäche ist denn auch ein Hauptproblem der Dritten Welt. Konstitutiv bleiben die Traditionen des politischen Bürgers nach den Modellen des französischen Republikanismus und des englischen Parlamentarismus, die Axiome des middle-class-Egalitarismus in der betont nicht-sozialistischen Gesellschaft der USA, aber auch die fortdauernden „bürgerlichen" Ideale im Sozialismus — als unterschwellige Tendenz zum sozialen Aufstieg wie als menschenrechtliches Postulat.

5. Die negativen wie die positiven Prägungen des Bürgerbegriffs, vom Spießbürger zum Staatsbürger und zur Bürgerinitiative, bilden denn auch bis zum heutigen Tag einen mächtigen Faktor des politischen und gesellschaftlichen Bewußtseins. Im Auf und Ab der Entwicklung Deutschlands hat sich die Ambivalenz und Vieldeutigkeit des „Bürgerlichen“ besonders gravierend ausgewirkt: im Versagen von 1933 wie im Wiederaufstieg nach 1945. Die Mißverständnisse der Diskussion von Hegel bis Habermas, die hierzulande vorwiegend spekulativ geführt wird, hängen auch mit der Tatsache zusammen, daß die empirisch begründeten Differenzierungen von citoyen, bourgeois, middle dass im deutschen Bürgerbegriff vermischt und generalisiert auftreten. 6. Die antibürgerlichen Wellen unserer neueren Geschichte signalisieren Kampfsituationen, aber nicht definitive, „geschichtsnotwendige" Entwicklungen. Marxismus und Leninismus, Faschismus und Neomarxismus, allesamt mit totalitärem Endzeitanspruch bewaffnet, haben in hundertfünfzigjähriger Folge ihre pseudowissenschaftlichen Prophezeiungen ausgestoßen. Zu früh und zu Unrecht! Die Eule der Minerva hat ihren Flug schon mehrmals vergeblich begonnen. Noch sind die Bürger freiheitlicher Staaten nicht gezwungen, vor ihrem Flügelschlag verführt oder resignierend zu kapitulieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daß die kritische Welle des letzten Jahrzehnts eher ein Restaurationsphänomen ist, zeigt die Überflutung des Taschenbuchmarkts mit großenteils älterer Linksliteratur, die als völlig neue „Wissenschaft" glorifiziert wird, obwohl sie die Kämpfe der zwanziger Jahre austrägt. Auch bei Parolen wie „Spätbürgertum“ und „Spätkapitalismus" handelt es sich um ältere Begriffe, die schon seit Ende des 19. Jahrhunderts polemisch verwendet wurden, und zwar besonders auch in der „rechten“ Kritik bis hin zur Konservativen Revolution: Beispiel für die Offinität von rechter und linker Systemkritik. So spricht die „Tat" 1930 vom „Todeskampf des Spätkapitalismus“, macht die Neue Linke Anleihen bei Carl Schmitt. Das gilt nicht nur für die „kritische Theorie“, deren jüngere Vertreter gleichwohl den älteren Frontstellungen verhaftet sind. Besonders platt die neomarxistische Gleichsetzung von bürgerlich und faschistisch z. B. Bei Reinhard Kühn/, Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalismus, Faschismus, Hamburg 1974. Vgl. auch K. D. Bracher, Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorf, 1978, S. 75 ff.

Weitere Inhalte

Karl Dietrich Bracher, Prof., Dr. phil., Dr. h. c., geb. 1922 in Stuttgart, Ordinarius für Politische Wissenschaften und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955 (6. Aufl. 1978); Die nationalsozialistische Machtergreifung, 1960 (3. Aufl. 1974); Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur, 1964; Die deutsche Diktatur, 1969 (5. Aufl. 1976); Das deutsche Dilemma, 1971; Die Krise Europas 1917— 1975 (Propyläen Geschichte), 1976; Schlüsselwörter in der Geschichte, 1978.