Alltägliches Geschichtsbewußtsein
Geschichtskenntnisse, geschichtliche Erkenntnisse und geschichtliche Argumentationen werden nicht allein im Geschichtsunterricht erworben. Ebensowenig bleiben geschichtliches Denken, geschichtliches Argumentieren oder gar gesellschaftliches Handeln aus geschichtlichem Bewußtsein auf den Geschichtsunterricht oder auf das historische Kolleg an der Hochschule beschränkt.
Im Gegenteil: außerhalb des durch staatliche Lehrpläne, Stundentafeln, Lehrerausbildung, Unterrichtsentwürfe, Schulbücher und didaktische Konzepte abgegrenzten Raumes . Geschichtsunterricht im Kontext schulischen Lernens'greifen Tageszeitungen, Illustrierte, Hörfunk, Fernsehen, Kinofilm, Theater, Populärliteratur, Belletristik und Comics geschichtliche Ereignisse, Persönlichkeiten und Zusammenhänge direkt oder in unterhaltsamer Einkleidung auf, wenden sich historische Sehenswürdigkeiten, Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen der Erwachsenenbildung und Heimatvereine an das historisch interessierte Publikum, ja gehen von regionalen Bräuchen und Festen, vom Erscheinungsbild älterer Städte, Ortschaften und Gebäude, von den Auslagen in Antiquitätengeschäften und von nostalgisch gestalteten alltäglichen Gebrauchsgegenständen geschichtliche Impulse an das Bewußtsein oder Unterbewußtsein aus.
Ob hiermit — weit über den Rahmen schulischen Geschichtsunterrichts hinaus, der schließlich nur einen Teil schulischen Lernens und nur wenige Lebensjahre des Heranwachsenden umfaßt — ein individuelles menschliches Bedürfnis nach geschichtlicher Bildung, historischer Aufklärung, Erbauung oder Unterhaltung bewußt oder unbewußt befriedigt wird, kann angenommen werden, soll aber an diesem Punkt dahingestellt bleiben. Als unbestritten hat dagegen zu gelten, daß Erwachsene, deren eigener Geschichtsunterricht lange zurückliegt, in bestimmten, durchaus alltäglichen Situationen historisch reflektieren oder argumentieren und sich offensichtlich in ihrem Handeln auch von historischen Erkenntnissen und Identifikationen mögen sie, . richtig’ oder . falsch’ sein oder von historischen Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte bzw. aus der Vermittlung der Eltern-bzw. Großelterngeneration leiten lassen. Dies schließt den Politiker und den Journalisten, die aus historischen Wendepunkten Warnungen oder Ermutigungen für das (partei) politische Tagesgeschäft ableiten, ebenso ein wie Angehörige der Nachkriegsgeneration, die aus dem Miterleben des Wiederaufbaus privaten und gesellschaftlichen Wohlstand nicht als Selbstverständlichkeit ansehen, oder Vertreter der Großelterngeneration, deren Verhältnis zum Geld durch die Erfahrung zweier Inflationen bestimmt wird. Individuelle wie kollektive geschichtliche Erfahrungen, Vorstellungen oder auch Legenden bestimmen insofern alltägliches wie auch — z. B. bei Wahlentscheidungen — politisch folgenreiches Entscheiden und Handeln mit. Weder Entstehung, Inhalte, Wandel und Auswirkungen dieser historischen Sozialisation — ich versiehe darunter ein Geflecht aus Kenntnissen, Erkenntnissen und Einstellungen, die in bewußten oder unbewußten Lernprozessen seit der frühesten Kindheit erworben, verfestigt und auch revidiert werden — noch die Gewichtsverteilung zwischen schulischem Geschichtsunterricht und außer-schulischer historischer Bildung im Gesamt-kontext der historischen Sozialisation sind bisher von der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik auch nur in den allergröbsten Umrissen geortet, geschweige denn theoretisch und empirisch erhärtet worden. Bis vor zwei bis drei Jahren hat die Geschichtsdidaktik in ihrer ausschließlichen Fixierung auf die schulische Vermittlung historischer Bildung die vorunterrichtliche bzw. unterrichtsbegleitende historische Sozialisation des Schülers günstigstenfalls unter dem Aspekt eines Anknüpfungspunktes für den Geschichtsunterricht, im Normalfall aber als eine pädagogisch oder geschichtswissenschaftlich unerwünschte und lästige Vorbildung — besser: Verbildung — der Jugendlichen wahrgenommen; historische Bildungsbedürfnisse und -pro-zesse nach Abschluß der Schulzeit blieben von der Geschichtsdidaktik völlig unberücksichtigt. Auch Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie — um sie der Vollständigkeit halber zu erwähnen — haben historische Bildung, Geschichtsinteresse und Geschichtsbewußtsein des Menschen vorzugsweise als metaphysische, anthropologische oder gesellschaftliche Kategorien thematisiert, seltener schon Handlungskonsequenzen des Geschichtsbewußtseins skizziert (letzteres allenfalls auf der Ebene von Staatsmännern, politischen Denkern, Historikern, Angehörigen der Bildungsschicht oder ganzen Völkern und Klassen), nie jedoch als tatsächliche Bewußtseinsstrukturen des Normalbürgers in Zustandekommen, Voraussetzungen und Folgen nachgewiesen. Auch der periodische Wechsel von Kassandrarufen über den „Verlust der Geschichte“ und von stolzen Hinweisen auf populäres Geschichtsinteresse offenbart nur tiefe Ungewißheit über alltägliches Geschichtsbewußtsein. Der hierin enthaltene Vorwurf läßt sich zusätzlich akzentuieren: Die Geschichtsdidaktik ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht in der Lage, über die Fernwirkungen des Geschichtsunterrichts oder über das Geschichtsbewußtsein von Erwachsenen (in Relation zum genossenen Unterricht und zu anderen Faktoren historischer Bildung bzw. historischer Sozialisation) empirisch verläßlich Auskunft zu geben; die ohnehin nicht zahlreichen Wirkungsuntersuchungen zum Geschichtsunterricht überprüfen nur Kenntnisse, Einsichten und Lernverhalten von Schülern, und dies häufig noch im unmittelbaren Anschluß an die zur Disposition stehenden Unterrichtseinheiten.
Hier erheben sich eine Reihe gewichtiger Fragen: — Wie denken Erwachsene, deren Geschichtsunterricht 5, 10, 15, 20 oder gar 50 Jahre zurückliegt und die sich nicht beruflich mit Geschichte beschäftigen, über Geschichte, wie und unter welchen Voraussetzungen argumentieren sie geschichtlich’? Verändern sich Argumentationsstrukturen unter dem Einfluß aktueller Ereignisse? — Inwieweit bestimmen die Qualität ihres schulischen Geschichtsunterrichts, ihre damals vorhandene Motivation für das Fach Geschichte, ihre soziale Herkunft, das Niveau des erreichten Schul-bzw. Studienabschlusses, politische Einstellungen, Alter, Geschlecht, Beruf und Lebensschicksal ihr jetziges geschichtliches Bewußtsein? — Inwieweit wirken in ihrer geschichtlichen Erkenntnis-und Kritikfähigkeit bzw. -Unfähigkeit noch Einflüsse des Geschichtsunterrichts nach oder inwieweit werden diese durch nachfolgende Einflüsse geschichtlicher Bildung bereits überlagert? — Wie intensiv werden Impulse und Angebote der außerschulischen historischen Bildung bewußt oder unbewußt genutzt und welche quantitative Bedeutung besitzen sie im Vergleich zu langfristigen Wirkungen des Geschichtsunterrichts? — Und eine letzte Frage: Spielt schulischer Geschichtsunterricht, dessen möglicher Beitrag zur historischen Erkenntnis-und Kritik-fähigkeit nicht bestritten werden soll, unter der Perspektive einer sehr langfristigen handlungsrelevanten Prägung des Geschichtsbewußtseins überhaupt eine — und wenn ja, welche — Rolle neben anderen Instanzen vorunterrichtlicher und nachschulischer historischer Sozialisation?
Es bedarf keiner großen Phantasie, sich die möglichen Konsequenzen für die Didaktik des schulischen Geschichtsunterrichts und für das noch unerschlossene Feld einer Didaktik geschichtlicher Bildung über Medien und in außerschulischen Bildungseinrichtungen auszumalen. Um so ärgerlicher muß erscheinen, daß die Geschichtsdidaktik trotz vereinzelter Anstöße in den letzten Jahren offensichtlich keine Anstalten macht, diese für die Veranstaltung schulischen Geschichtsunterrichts lebensentscheidenden Fragen erschöpfend zu beantworten — ein Unding, wenn gleichzeitig in fast epischer Breite Lernzielkataloge und geschichtliche Identitäten diskutiert, postuliert und in Unterrichtsmodelle und auch in konkreten Unterricht umgeformt werden. Ich möchte an diesem Punkt von vornherein einem möglichen Einwand begegnen: Selbstverständlich sind die Entwicklungen der Geschichtsdidaktik der letzten Jahre — Lernziel-orientierung, Wissenschafts-und gesellschaftstheoretische Fundierung, veränderte geschicht-liche Perspektiven, neue Lernformen, Schulbücher mit Arbeitsbuchanspruch — zu unverzichtbaren Voraussetzungen eines heutigen Geschichtsunterrichts geworden. Das ändert jedoch nichts an meinem kritischen Vorbehalt: denn die Frage nach geschichtlichen Identitäten und nach Verhaltensleistungen aus geschichtlichem Bewußtsein, welche Geschichtsunterricht seiner Konzeption nach bewirken soll, stößt solange ins Leere, solange über das Innenverhältnis zwischen gewünschten Effekten und den Effekten historischer Sozialisation in Abhängigkeit von den genannten sozialstatistischen und sozialisationsrelevanten Daten keine nachprüfbaren Ergebnisse vorliegen. Audi die Tatsache, daß die wenigen selbstkritischen Diskussionsanstöße in der Geschichtsdidaktik, auf die noch einzugehen sein wird, bezogen auf die Gesamtheit der jüngeren geschichtsdidaktischen Diskussion und Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, allenfalls marginale Beachtung gefunden haben, unterstreicht einmal mehr, daß das Gros der Geschichtsdidaktiker nach wie Vor (noch) nicht bereit ist, einerseits die Selbstbeschränkung der Geschichtsdidaktik auf Vermittlungsprozesse im Geschichtsunterricht aufzugeben und andererseits vom Befund und von den Wirkungen des Geschichtsbewußtseins im Erwachsenen-alter eine Neuvermessung der historischen Sozialisation mit ihren Teilaspekten schulischer und außerschulischer historischer Bildung und latenter Sozialisation — mit entsprechenden didaktischen Konsequenzen — vorzunehmen.
Geschichtliche Bildung außerhalb des Geschichtsunterrichts
Rolf Schörken hat als erster im Jahre 1970 bemerkt, daß sich abgesehen von den didaktischen Voraussetzungen des Geschichtsunterrichts — Stichwort: Lerntheorie, Curriculum-revision — auch die den schulischen Geschichtsunterricht umgebenden Bedingungen des Wissenserwerbs von Schülern im Zeitalter der Massenmedien und der Massen-bildung grundlegend geändert haben. „Die Vermittlung der historischen Information und Bildung hat ihre Struktur bereits nachhaltig verändert. Fernsehen, Radio, Taschenbuchliteratur, Nachrichtenmagazine liefern historische Information von hoher Qualität, in solchen Mengen und so preiswert, daß davon schon seit langem mehr Menschen erreicht werden als von unserm Geschichtsunterricht. Die Schule kann nicht mehr länger die Vorstellung pflegen, als warte ein bildungsdurstiger Zögling voller Sehnsucht darauf, im Unterricht endlich von den sonst unerrei en Wissensquellen trinken zu dürfen. Das alte: , Der Schüler weiß nichts'verbindet sich mit dem neuen: , Der Schüler weiß alles'zum modernen didaktischen Paradox."
Gegenüber den in der Vergangenheit — und im Grunde noch bis heute — vorherrschenden geschichtsdidaktischen Vorstellungen, der Geschichtsunterricht könne außerschulische geschichtliche Informationen bzw. auch kümmerhafte Kenntnisse und Legendenbildungen (aus Medien, Elternerzählungen, Museumsbesuchen u. a.) zwar als motivierenden Einstieg benutzen, dann aber im Lernprozeß aufarbeiten, systematisieren und richtigstellen, brauche aber ansonsten diese konkurrierenden Informationsquellen weder qualitativ noch quantitativ ernst zu nehmen, stellt Schörkens Ensicht einen ersten Schritt zu einer realistischen Wahrnehmung außerschulischer historischer Bildung dar. Jedoch bleibt auch er dem traditionellen Blickwinkel vom Geschichtsunterricht zum außerschulischen Bereich hin verhaftet; auch er . integriert'— unter dem Lernziel kritischen Umgangs mit solchen geschichtlichen Bildungsangeboten — die außerschulische historische Bildung in den Geschichtsunterricht.
Erst eine Arbeitsgruppe des Historikerverbandes hat dann 1974 — nach einem weiteren Impuls Schörkens 1972 — definitorisch die Aufgabenstellung der Geschichtsdidaktik über den Schulunterricht hinaus erweitert: Geschichtsdidaktik hat es also nicht mit Unterricht allein zu tun. Ihr Gegenstand ist jener komplexe Vorgang, durch den sich in unterschiedlichster Weise in der Gesellschaft Vorstellungen von Geschichte aufbauen, weiterentwickeln, verändern, verflüchtigen und wieder neu entstehen — nicht als für sich existierende Bewußtseinsinhalte, sondern als integrierte Substanz des gegenwärtigen Selbstverständnisses."
Zu ersten Konsequenzen dieser Erweiterung des geschichtsdidaktischen Bezugsrahmens im Sinne einer unvoreingenommenen Sichtung von außerschulischen Medien und Instanzen historischer Bildung ist es dann — einmal abgesehen von wenigen verstreuten Einzeluntersuchungen, die noch zu nennen sein werden — ansatzweise im Oktober 1975 auf einer Konferenz der Geschichtsdidaktiker in Nürnberg und verstärkt auf einer weiteren Tagung desselben Kreises im Oktober 1977 in Osnabrück gekommen Insofern liegen jetzt für Reihe außerschulischer historischer Bildungsinstanzen erste Diskussionsansätze und erste Teilergebnisse vor, so z. B. für Historische Vereine, historische Belletristik, historische Museen, Comics, Jugendbücher, Werbung, einzelne Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen — sie werden in anderem Zusammenhang noch zu nennen sein. Damit ist ein erster Anfang einer Aufarbeitung außerschulischer historischer Bildung gemacht, der jedoch hinsichtlich der Breiten-und Fern-wirkung in der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik nicht überschätzt werden darf. So war auch auf der zuletzt genannten Tagung — ich stütze mich hier auf persönliche Eindrücke — insbesondere gegenüber der populären Verarbeitung von Geschichte in den Massenmedien (noch) die frühere Geringschätzung durch die Geschichtsdidaktik spürbar; andererseits vollzog man — lange vor einer ausreichenden Theoriebildung, Inhaltsanalyse, Wirkungsanalyse und didaktischen Konstruktion zur außerschulischen historischen Bildung — den von mir schon kritisierten Kurz-schritt der Vereinnahmung, Integration, Richtigstellung außerschulischer Impulse durch den Geschichtsunterricht.
Tiefere Spuren in der didaktischen Diskussion des Faches scheinen denn auch weder die beiden Tagungen noch die Erweiterung der Definition von Geschichtsdidaktik hinterlassen zu haben. So bekennt sich z. B. die neue Fachzeitschrift „Geschichtsdidaktik" zwar ausdrücklich zur weiteren Definition von Geschichtsdidaktik als einer Disziplin historisch-politischer Bildungsprozesse in interdisziplinärer wie gesamtgesellschaftlicher Einbettung, fragt dann aber bezeichnenderweise „nach fachgerechter wie nach schülergerechter Bildung an und durch Geschichte“ und stellt die ersten drei Hefte unter die Leitfrage „Warum (bzw. Wie) sollen Schüler Geschichte lernen?“ Zweifellos wirken hier insgesamt a-empirische, wenn auch nicht mehr anti-sozialwissenschaftliche Traditionen der Geschichtsdidaktik, aber auch ihre — ich bin versucht zu sagen: historisch nicht mehr reflektierte — Herkunft aus der schulischen hi-storischen Bildung nach. Man sollte allerdings auch berücksichtigen, daß die Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik in dem Zeitraum seit 1970 mit drängenderen Problemen — mit der Rezeption lerntheoretischer und curricularer Ansätze der Erziehungswissenschaft, mit geschichtswissenschaftlicher/sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, mit der Behauptung der Geschichte im Fächer-kanon, mit Integrationsanmutungen — so beschäftigt war, daß für eine Auslotung des Terrains historischer Sozialisation und außerschulischer historischer Bildung kein Raum blieb.
Auf der Suche nach Langzeitwirkungen des Geschichtsunterrichts
Hier schließt sich die Frage an, in welcher Weise und über welche Diskussionsstadien seitens der Geschichtsdidaktik zum einen vor-schulisches Geschichtsbewußtsein von Schülern als Ergebnis historischer Sozialisation und zum anderen Geschichtsbewußtsein von Erwachsenen als Folge von historischer Sozi-lisation und historischen Bildungsprozessen als Voraussetzung und Resultat von Geschichtsunterricht beurteilt worden sind.
Auch in diesem Punkt hat Schörken — im Jahre 1972 — die von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik vernachlässigte Frage nach den „Auswirkungen historischen Denkens auf nichtwissenschaftliche Bereiche" aufgeworfen. Seine Frage: „Gibt es so etwas wie Populärformen geschichtlichen Denkens und geschichtlichen Bewußtseins? Wie schlägt sich das, was wir unseren Schülern im Geschichtsunterricht beigebracht haben, denn endgültig nieder; was bleibt, wenn sie die Schule verlassen haben und Geschichte nur noch am Rande ihrer Existenz gelegentlich auftaucht?" Gleichzeitig verlagerte er den Akzent von einer sich als schulische Vermittlungswissenschaft im weitesten Sinne verstehenden Geschichtsdidaktik auf eine Didaktik als „Auswirkungswissenschaft", die darüber Auskunft gibt, „was denn nun das tatsächliche Ergebnis geschichtlichen Lehrens und Lernens ist — Ergebnis hier nicht verstanden als prüfbare Lernleistung, Geschichtsnote oder Studienbefähigung, sondern als lebenslange Bewußtseinsprägung" mit verhaltensrelevanten und handlungsanweisenden Konsequenzen.
So unbefangen eine ältere wie auch die neuere Geschichtsdidaktik bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensprägungen beim Heranwachsenden als Ziele des Geschichtsunterrichts beansprucht hat — ich nenne aus der Fülle der Lernzielforderungen als ein extremer Ansprüche unverdächtiges Beispiel Ernst Weymar: „Historische Erklärung gegenwärtiger Zustände, Probleme und Konflikte; Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Denkens und Handelns im Rahmen geschichtlicher Strukturen; Kritische Aufklärung — Ideologiekritik; Soziale und politische Identifikation; Eröffnung universal-geschichtlicher Perspektiven; Unterhaltung" —, so konsequent ist sie bis heute der von Schörken aufgeworfenen Frage, deren empirisch schlüssige Beantwortung u. U. die denkbar weitreichendsten Konsequenzen für den Geschichtsunterricht nach sich ziehen könnte, ausgewichen Auch die curriculare Lernzieltheorie und Lernzielevaluation des Geschichtsunterrichts, von der man theoretisch eine Überprüfung der Wirkungen historischer Bildung im Erwachsenenalter hätte erwarten dürfen, ist über bescheidene Anfänge der Leistungsmessung im allerengsten Umkreis des Unterrichts nicht hinausgekommen Das ist um so bedauerlicher, als gerade der curriculare Kerngedanke einer Qualifizierung für Lebenssituationen durch schulisches Lernen die Rückfrage nach langfristigen Sozialisationsergebnissen erzwingt.
Blieb Schörkens Frage nach der Bewußtseins-und Verhaltensprägung durch Geschichtsunterricht im Kern auch unbeantwortet, so wies er unter dem Stichwort der . geschichtlichen Identität', die er sich als eine durch Wechsel von Identifikationen und Zugehörigkeitsgefühlen zu leistende kritische Reflexion von „Geschichtsbewußtsein zu Geschichtsbewußtsein" vorstellte, über mehr instrumentellfunktionale Inhalte, Lernziele und Lernprozesse des Geschichtsunterrichts hinaus auf die im Erwachsenenalter aus reflektiertem Geschichtsbewußtsein handlungsfähige Persönlichkeit. Dabei soll nicht bestritten werden, daß Geschichtsdidaktik seit eh und je auch die historisch gebildete oder historisch reflektierende Persönlichkeit als Konsequenz des Geschichtsunterrichts vor Augen hatte, insofern also auch auf den Aufbau einer geschichtlichen Identität abzielte; dennoch wird man bei der heute unter diesem Stichwort geführten Diskussion den Perspektivenwechsel in Richtung einer Akzentuierung bleibender Bewußtseins-und Verhaltensprägungen unter stärkerer Mediatisierung der Lernprozesse im Geschichtsunterricht nicht von der Hand weisen können.
Es konnte nicht ausbleiben, daß das an sich inhaltsleere Konzept einer geschichtlichen Identität bzw. eines Geschichtsbewußtseins — von Schörken darum auch zur Fähigkeit des Umgehens mit geschichtlichen Identitäten, Identitätsspannungen und Identitätstraditionen zwecks Einübung einer bewußten politischen (und geschichtlichen) Identität für gegenwärtiges gesellschaftliches Handeln weiterentwik-kelt — von unterschiedlichen geschichtstheoretischen bzw. gesellschaftspolitischen Positionen her gefüllt wurde: Friedhelm Streiffeier plädiert für eine durchgängige Identifikation der Schüler mit unterdrückten Klassen und Völkern in der Geschichte Klaus Bergmann und Hans-Jürgen Pandel treten — etwa auf der Mitte zwischen Streiffelers verpflichtender Klassenidentifikation und Schörkens mehr funktionaler Bewußtmachung von vorhandenen bzw. auch aufgezwungenen Identitäten und Identitätsbeschädigungen — für Identifikationsangebote im Geschichtsunterricht mit Präferenz für die Geschichte der Unterdrückten ein Hermann Giesecke spricht sich für ein demokratisches Geschichtsbewußtsein im Sinne des demokratischen Emanzipationsprozesses in der Neuzeit aus Annette Kuhn für eine sozialbiographisch-emanzipatorische Identitätsgewinnung des Schülers Erich Kost-horst schließlich plädiert für die Ermöglichung einer Identifikation mit dem nationalen, demokratischen Neuanfang der Bundesrepublik im gesamtnationalen wie supranationalen Rahmen als der Aufgabe des (zeit) geschichtlichen Unterrichts Angesichts dieses Fächers von Diskussionsbeiträgen scheint es durchaus bedenkenswert, von einer Ablösung der an deutlichen Ermüdungsund Frustrationserscheinungen leidenden Lernzieldiskussion des Geschichtsunterrichts durch die didaktische Kategorie . historischer Identität/historischen Bewußtseins'zu sprechen
Jedoch: nicht anders als im Falle früherer Lernzielformulierungen, als Geschichte Welt-verstehen und kulturelle Orientierung verhieß, eint die genannten Autoren die Sicherheit, durch geeignete Lernarrangements und Lerninhalte die je gewünschte spezifische Identität — bzw. im Falle Schörkens und Bergmanns: die Fähigkeit der Identitätsreflexion — beim Schüler erreichen und als Verhaltensprägung für den erwachsenen Menschen verfestigen zu können, oft sogar noch unter Aufhebung vorhandener Identitäten oder Identitätsbeschädigungen. Vor die theoretische und empirische Analyse einer von Schülern in den Unterricht eingebrachten historischen Sozialisation, ihrer Festigkeit und Modifizierbarkeit werden bereits wieder das didaktische Postulat einer multiperspektivischen, emanzipatorischen oder demokratisch-nationalen geschichtlichen Identität und die didaktische Konstruktion erfolgversprechender Unterrichtsverfahren gesetzt. Ebenso-wenig wird bedacht und überprüft, ob die möglicherweise im Unterricht aufgebauten geschichtlichen Identitäten — ich klammere hier die Distanz zwischen Unterrichtsentwurf und Unterrichtsverwirklichung einmal völlig aus — dann neben nachschulischen historischen Bildungseinflüssen und Sozialisationseffekten dauerhaft Bestand haben. Solange über Existenz, Strukturen und Verwendung von historischer Identität beim . Normalbürger'nur Vermutungen, subjektive Eindrücke und Forderungen artikuliert werden können, läßt sich auch die alte Frage, in welchen konkreten . alltäglichen'Denk-und Handlungskontexten der . Normalbürger'— im Gegensatz zu Gesellschaftswissenschaftlern, Lehrern bestimmter Fächer, Politikern, Journalisten und auch Schülern, die Geschichte und ihr Geschichtsbewußtsein quasi . professionalisieren'— Operationalisierungen eines solchen Bewußtseins zwingend benötigen, weiterhin nur idealtypisch beantworten — unter Hinweis auf orientierende, ideologiekritische, gesellschaftsanalytische, soziale usw. Funktionen der Geschichte
Der Eilfertigkeit der Didaktiker, historische Identitäten durch Unterricht zu entwickeln, entspricht die Neigung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik, Geschichtsbewußtsein, dessen Beschreibung in der bundesdeutschen Gegenwart mangels sozialpsychologischer Kategorien und empirischer Befunde zu einem Glasperlenspiel gerät, auf einem sehr hohen Wissens-und Argumentationsniveau anzusiedeln; so sehr man einerseits Erscheinungsformen populären Geschichtsinteresses breiter Massen begrüßt — und fehlende Anzeichnen dieser Art ohne genauere Nachprüfung als . Geschichtsverlust'beklagt —, so wertet man andererseits alle Artikulationen von Beschäftigung mit Geschichte, die sich — wie beispielsweise bei publizistischer oder nostalgischer Verarbeitung — den strengen Maximen des Fachhistorikers und dem belehrenden Zugriff des Geschichtslehrers entziehen, ausdrücklich oder tendenziell als , vor-und außerwissenschaftlich'oder als . trivial'ab Statt Voraussetzungen, Struk-turen und Auswirkungen von Geschichtsbewußtsein in seiner ganzen Alltäglichkeit, Bruchstückhaftigkeit, sozialen und intellektuellen Heterogenität zu erarbeiten, droht die Identitätsdiskussion die Fragestellung auf hi-storisch vorausgesetzte oder gesellschaftlich erwünschte Identitätserwartungen — einschließlich wissenschaftstheoretischer Prämissen und didaktisch-konstruktiver Aspekte — zu verengen.
Historische Sozialisation: Vorprägung historischen Lernens?
Der von mir betonte Mangel gesicherter Erkenntnisse über Bewußtseinsprägungen und -Veränderungen durch Geschichtsunterricht hat infolge der Rezeption der Ergebnisse der politischen Sozialisationsforschung seitens der Geschichtsdidaktik eine zusätzliche Dimension erhalten.
Auf der Basis amerikanischer Untersuchungen, die Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik aufgenommen, dann diskutiert und weitergeführt worden sind, läßt sich folgender Sachverhalt konstatieren: Politische und gesellschaftliche (dabei auch gruppen-und schichtenspezifische) Einstellungen, Normen und Verhaltensweisen werden in einem Sozialisationsprozeß vom frühesten Kindesalter an erworben und bereits früh zu politischen Grundorientierungen und auch Verhaltensdispositionen (wie z. B. politischem Engagement) verfestigt. Diese durch latente Lernprozesse in der Familie, durch Medienkonsum und in Gleichaltrigengruppen erworbenen, unstrukturiert-verfestigten und immer wieder Impulsen ausgesetzten . Theoriestücke’, Normen und Loyalitäten des Heranwachsenden präformieren und re'ativieren die Möglichkeiten intendierter Lernprozesse im Politikunter-richt mehrere Zwischenstadien artikulierte sich in der geschichtsdidaktischen Diskussion der Bundesrepublik die Einsicht, daß es parallel zum bzw. in Verklammerung mit dem Prozeß politischer Sozialisation eine . historische Sozialisation'des Heranwachsenden in dem Sinne gebe, daß dieser vom Kindesalter an über die Familie und über andere Sozialisationsinstanzen geschichtliche Weltbilder, Erklärungsmuster und Urteilskategorien, individuelle und kollektive historische Erfahrungen (der jüngsten und weiteren Vergangenheit) sowie auch bruchstückhafte geschichtliche Kenntnisse und Einsichten internalisiert: Diese noch unstrukturierte und unbewußte historische Identität, die schichtenspezifischen, familienbiographischen, landsmannschaftlichen usw. Einflüssen und natürlich auch dem gesellschaftlichen und historischen Wandel unterworfen ist, wirkt vor, während und nach dem gesteuerten Lernprozeß des Geschichtsunterrichts diesem gegenüber als ein Selektionsraster und verbindet sich dann mit bleibenden Prägungen des Geschichtsunterrichts zur schon erwähnten geschichtlichen Identität des Erwachsenen, die dessen Einstellungen und Verhaltensweisen mitsteuert. Faktum und mögliche Konsequenzen einer historischen Sozialisation sind bisher am dezidiertesten von Hermann Giesecke, Klaus Bergmann und Lothar Steinbach in den Jahren 1974— 1976 angesprochen worden Bergmann: „Schüler bringen — wie diffus auch immer — historische Identität in den Geschichtsunterricht von Hause aus mit. Der Schüler, der im Geschichtsunterricht Geschichte rezipieren soll, hat bereits Geschichte in Form einer bestimmten sozialen Geschichte internalisiert; er hat bereits ein klassen-, schichtenund/oder gruppenspezifisches Geschichtsbewußtsein vorgebildet und eine historische Identität angelegt — wie unstrukturiert, ja wie gebrochen, wie heterogen sie auch immer ist. Dieses bereits angelegte Geschichtsbewußtsein, das noch weitgehend frei ist von kognitiven Inhalten, bestimmt die Zeitperspektive des Schülers, seine Identifikationen, seine Wertvorstellungen und seine Einstellung zur politischen Praxis." Auch Steinbach sieht Motivation für und Beeinflußbarkeit der Schüler durch Geschichtsunterricht durch außerschulische Sozialisationsund Informationsinstanzen sowie durch die Sozialstruktur der Familie — von anderen Faktoren wie institutionalisiertem Lernen, Lehrerverhalten, Lehrplänen, Konkurrenzsituation der Geschichte zur Politischen Bildung einmal ganz abgesehen — entscheidend vorgeprägt, und zwar vorgeprägt im Sinne einer Verhinderung kritischer Aufklärung durch Geschichtsunterricht; er kommt zu dem Ergebnis: „Die Wirksamkeit von historisch-po-
litischiem Unterricht auf den Prozeß der Sozialisation ist relativ begrenzt."
So leicht sich — und ich schließe mich mit meiner Akzentuierung der historischen Sozialisation ein — diese Aussagen zu Papier bringen lassen, so wenig Präzises wissen wir über Aufbau, Strukturen und Festigkeit dieser eingebrachten historischen Sozialisation bei verschiedenen Schülerpopulationen, so desinfor-miert sind wir hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen einem (kritischen) Geschichtsunterricht und der vorhandenen bzw. immer wieder aus außerschulischen Impulsen gespeisten historischen Sozialisation — man denke z. B. an die Effekte, die sich ergeben, wenn Fragen aus dem (zeit) geschichtlichen Unterricht in der Familie zur Sprache kommen. Ist schließlich die für diesen Fragenkomplex konstituierende Annahme einer Dichotomie von einer in einem bestimmten politischen Sinne affirmativen historischen Sozialisation und ähnlicher Tendenzen bei außerschulischen Produzenten historischer Bildung einerseits und der Sozialisation der Schüler im Geschichtsunterricht auf eine wünschenswerte Gesellschaft hin andererseits unter der Voraussetzung gesellschaftlichen Wandels und sich wandelnden Geschichtsbewußtseins (also auch bei Eltern und in den Medien) fortdauernd zutreffend? Eine andere offene Frage: Sind nicht u. U. alle schul-und unterrichtsexfernen Faktoren, die die historische Sozialisation, die Motivation für Geschichte und auch die zeitliche Dauer des genossenen Geschichtsunterrichts (wie des Schulbesuchs überhaupt) bedingen, für geschichtliche Bewußtseins-und Verhaltensprägungen des Heranwachsenden und des Erwachsenen ausschlaggebender als alle internen Faktoren des Geschichtsunterrichts wie Lernziele, Inhalte Darbietung oder Abstimmung mit benachbarten Lernfeldern? Andersherum gefragt: Ot sich nicht möglicherweise eine . positive'historische Sozialisation und Motivation eines Schülers durch . schlechten'Geschichtsunterricht ebensowenig entscheidend verschütten wie eine . negative’ historische Sozialisation durch . guten'Unterricht grundlegend verbessern läßt? Und eine letzte Frage: Inwieweit läßt sich der auch gegenüber einer als gewichtig erkannten historischen Sozialisation erhobene Anspruch der neueren Geschichtsdidaktik, durch geeignete geschichtliche Lernerfahrungen (z. B. Thematisierung von sozialen Veränderungen, von Emanzipationsbewegungen, von geschichtlichen Fällen historischer Sozialisation) nachhaltige Bewußtseinsund Verhaltensänderungen des Schülers zu bewirken in Reihenuntersuchungen kontrolliert erhärten? Oder konstruiert sich letztlich die Geschichtsdidaktik einen kunst-und liebevoll gestalteten, auch von Schülern aus unterschiedlichen Motiven geschätzten goldenen Käfig, außerhalb dessen z. T. konträre, z. T. gleichläufige, in jedem Fall aber hochwirksame historische Sozialisationsprozesse verlaufen? Von dem Erfordernis abgesehen, das gesamte Umfeld des Geschichtsunterrichts aufzuhellen, drängt sich darum auch die Frage auf, ob nicht die Geschichtsdidakt'k diese außerschulischen Vermittlungsprozesse in ihren didaktischen Strukturen erforschen und in Dienst nehmen sollte
Zumindest angesichts unseres heutigen Kenntnisstandes läßt sich der Verdacht nicht ausräumen, daß die durch vorunterrichtliche, unterrichtsbegleitende und nachschulische historische Sozialisation geprägten Bewußtseins-und Verhaltenseinstellungen durch den Geschichtsunterricht nur vorübergehend und nicht nachhaltig tangiert werden — insbesondere bei Absolventen der Sekundarstufe I. In welchem Maße Erwachsene, deren Geschichtsunterricht nur noch eine Erinnerung darstellt, mit Legenden, Schwundformfen, erstarrten Interpretationsschemata (anthropologischer, personalistischer, sozialdarwinistischer, vulgärmarxistischer Art) und mit Sympathie-bzw. antipathiegespeisten Identifikationen geschichtlich argumentieren bzw. ihre Argumente geschichtlich legitimieren, ist aus subjektiven Beobachtungen immer wieder betont worden Giesecke spricht im gleichen Zusammenhang von abgesunkenen histori-sehen Erfahrungen: „z. B. anti-kommunistische, anti-gewerkschaftliche Komplexe; tief-sitzendes Mißtrauen gegen die Arbeiterbewegung und deren Funktionäre sowie gegen die Fähigkeit und Ziele organisierter Arbeitnehmerinteressen; gegen räte-ähnliche politische Organisationsmuster und die . Politik der Straße'" Noch leichter lassen sich stereotypisierte Strukturen eines interessengebundenen Geschichtsbewußtseins in gesellschaftspolitischen Kontroversen unter Politikern oder in der Medienöffentlichkeit nachweisen; auch hier — also bei Angehörigen der Bildungsschicht — reduziert sich Geschichte als Handlungsanweisung zu einer Handvoll von Argumentationsfiguren, die — relativ austauschbar pro oder contra eine Entscheidung — das . Beispiel', die . Warnung', die . Ermutigung'oder den . Sinn'der Geschichte unter Anführung von illustrierenden Beispielen beschwören Es dürfte auch kaum zu bestreiten sein, daß der immer wieder zu beobachtende Massenandrang zu historischen/kunst-geschichtlichen Ausstellungen oder der Erfolg von historischer Populärliteratur oder von Fernsehsendungen mit historischen Themen weniger dem Wunsch nach geschichtlicher Belehrung und rationaler Aufklärung entspringen, sondern überwiegend auf ein Interesse an Unterhaltung, an nostalgischem Dekorum, an individueller bzw. gesellschaftlicher Identifikation oder ah rückschauendem Voyeu-rismus zurückgehen. Diesen mannigfaltigen und offensichtlich sozial und situativ differenzierten Funktionen von Geschichte, die dringend genauerer Nachforschung bedürfen, ist gemeinsam, daß sie mit den uns bekannten Zielen und Strukturen von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht praktisch nichts mehr gemein haben.
Aber auch Durchschnittsschüler haben offensichtlich trotz ihres Geschichtsunterrichts nach wie vor Mühe, über geschichtliche Pauschalurteile und verfremdende bzw. vereinfachende Stereotypen hinauszukommen. Hatten schon Friedeburg/Hübner dem Schüler der fünfziger und sechziger Jahre „übermächtige Subjekte, personalisierte Kollektiva, stereotype Ordnungsschemata, anthropomorphe Bezugskategorien" als Kategorien seines Geschichtsbewußtseins nachgewiesen, so scheint auch heute — unter der Annahme eines veränderten Geschichtsunterrichts — dieser sich als ein mäßig erfolgreiches Bemühen zu erweisen, die Urteilsfähigkeit des Schülers gegenüber historischen Prozessen, Interessen und Perspektiven zu erweitern und zu differenzieren und die Neigung zu unangemessenen . einfachen’ Urteilskategorien abzubauen; angesichts entsprechender Unterrichtsbeobachtungen formuliert Schörken den bitteren Stoßseufzer: „Es hat den Anschein, als kämen die Schüler ihr ganzes Schulleben hindurch mit den Kategorien eines quasi-naturalen Imperialismus aus, die als beliebig zu verwendende Versatzstücke gebraucht werden („mehr Land haben wollen", „mehr Macht haben wollen")." Ob Schüler dabei anthropologische, personalistische, vulgärmarxistische oder unverdaute soziologische und sozialpsychologische Kategorien als Argumentationsund Rechtfertigungsinstanzen benutzen, ist vor dem Hintergrund eines zu fordernden rational-kritischen Geschichtsverständnisses letztlich belanglos.
Nicht nur hinsichtlich der Befähigung zu historischer Urteilsbildung, sondern auch hinsichtlich der Vermittlung elementarer zeitgeschichtlicher Kenntnisse — dies als bewußte Eingrenzung — erweist sich die Bilanz des Geschichtsunterrichts nach wie vor als defizitär. Seit den Tagen Friedeburg/Hübners überraschen befragte Schüler (vorzugsweise Hauptschüler, aber auch Abiturienten) immer wieder durch ein von Gemeinplätzen durchsetztes und recht lückenhaftes zeitgeschichtliches Wissen Mir will es nicht mehr so ohne weiteres einleuchten, lückenhafte zeitgeschichtliche Kenntnisse und insbesondere auch mangelnde historische Urteilsfähigkeit der Schüler auf eine (anhaltend) schlechte Realität des Geschichtsunterrichts, d. h.seiner schulischen Lehrpläne, seiner didaktischen Konzepte, seiner Lehrmaterialien, seiner vielleicht schlecht ausgebildeten und wenig motivierten Lehrer usw., zurückzuführen, wie dies in der kritischen Beurteilung des Geschichtsunterrichts zu Beginn der siebziger Jahre geschehen ist Mir schiene vielmehr der Verdacht untersuchenswert, daß auch ein inhaltlich und didaktisch verbesserter Geschichtsunterricht, von dem heute mehr und mehr auszugehen ist, oder auch die zusätzliche Geschichtsstunde bzw. die stärkere Berücksichtigung von Geschichte im Politikunterricht, die von manchen gefordert werden, die Strukturen der vorunterrichtlichen und unterrichtsbegleitenden historischen Bewußtseinsbildung und Kenntnisvermittlung nur ganz oberflächlich berühren.
So weisen z. B. Schüler vor Eintritt in bzw. ohne zeitgeschichtlichen Unterricht vergleichbare Kenntnisse, Kenntnislücken oder Verkürzungen auf wie Schüler nach entsprechendem Unterricht — die außerschulische Wissensvermittlung über Eltern, Medien, Jugendlektüre wirkt offensichtlich zuverlässig. Die Grundstrukturen der vorschulischen historischen Sozialisation schließlich lassen sich in Umrissen aus Schülerbefragungen zum Geschichtsinteresse rekonstruieren, wobei dann häufig von den Autoren Ergebnisse familialer Sozialisation als psychologische Voraussetzungen eines altersgemäßen Geschichtsunterrichts ausgegeben worden sind mit einiger Wahr-scheinlichkeit dürften spätere geschichtliche Ar-gumentationsund Urteilsmuster, wie sie in Umrissen erläutert worden sind, in diesen Grundstrukturen einer bereits in den Geschichtsunterricht eingebrachten historischen Sozialisation angelegt sein. Zugespitzt formuliert: Bereits die vor bzw. begleitend zum Geschichtsunterricht familial vermittelte und gefüllte Grundeinstellung gegenüber der Geschichte — z. B. eine völlig ablehnende oder eine rein antiquarische oder eine individuell-psychologische oder eine gegenwarts-vorgeschichtliche oder eine sozialbiographisch-voreingenommene Motivation oder auch eine Wertschätzung als Bildungsgut — dürfte das spätere Geschichtsbewußtsein des Jugendlichen und Erwachsenen entscheidend vorprägen.
Untersuchungs-und Entwicklungsfelder
Diese letzte wie auch die zuvor aufgeworfenen Fragen dürften nicht länger spekulativ, subjektiv bzw. auf schmälster und vermutlich überholter empirischer Basis beantwortet werden; vielmehr müßte die Geschichtsdidaktik der Bundesrepublik — hier verstanden als Didaktik aller innerund außerschulischen, intentionalen wie latenten geschichtlichen Lernprozesse — entweder im Zusammenwirken vorhandener Lehrund Forschungskapa-zitäten oder im Rahmen eines zeitlich begrenzten Sonderforschungsprogramms den hier ausgefalteten Themenkomplex systema-tisch in möglichst vielen und breitangelegten Untersuchungen erhellen und in handhabbare Ergebnisse für Vermittler geschichtlicher Bildung in der Geschichtslehrerausbildung, in der Schule und außerhalb der Schule umsetzen. (Daß eine solche Aufgabe nur interdisziplinär, also im Zusammenwirken von Geschichtswissenschaft/Geschichtsdidaktik, Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie, und eingebettet in das Gesamtfeld historisch-politischen Lernens und seiner Didaktik sinnvoll zu leisten wäre, sei hier nur am Rande vermerkt.) Unter bewußter Ausgrenzung, wenn auch nicht Außerachtlassung des eigentlichen Geschichtsunterrichts, d. h.seiner Theorien, Lernziele, Inhalte, Medien, Interaktionsformen und Beteiligten, wären von der geschichtsdidaktischen Forschung vordringlich folgende Komplexe in Angriff zu nehmen:
— die vorschulische historische Sozialisation, — das Problem mittel-und langfristiger Lernergebnisse des Geschichtsunterrichts, — das Geschichtsbewußtsein Erwachsener, — Strukturen historischer Bildungsangebote außerhalb der Schule, — und die Entwicklung einer Didaktik der außerschulischen historischen Bildung. 1. Entstehen, Strukturen, Inhalte und Festigkeit der historischen Sozialisation von Kindern bis zum Eintritt in den Geschichtsunterricht müßten in Abhängigkeit von den verschiedensten Bedingungsfaktoren (Soziallage, Sozialgeschichte, Bildungssituation des Elternhauses; lokale Umwelt; Lesegewohnheiten, Medienkonsum des Kindes usw.) empirisch untersucht werden. Diese Untersuchungen müßten in regelmäßigen Abständen unter vergleichbaren Bedingungen wiederholt werden, um evtl. Veränderungen der historischen Sozialisation infolge eines sich ändernden geschichtlichen Selbstverständnisses der Gesellschaft (in letzter Konsequenz durch nachrükkende Elterngenerationen) feststellen zu können. 2. Auf der Basis der dann bekannten, von Kindern eingebrachten historischen Sozialisa-tion wären mittel-und langfristige Einstellungs-und Verhaltensmodifikationen als Ergebnis von Geschichtsunterricht nachzuprüfen. Dabei wären sowohl die unterschiedlichen Ausgangsdaten der Schüler und Schüler-gruppen als auch divergierende didaktische Konzepte des praktizierten Geschichtsunterrichts als Variablen zu behandeln und über Kontrollgruppen auf ihren Einfluß zu untersuchen
Eine zusätzliche, aber unabdingbare Aufgabe wäre, die unterrichtsbegleitende historische Sozialisation — ausgehend von der Katalysa-torfunktion des Unterrichts bei der familialen Interaktion bzw. bei der Aufnahme außerschulischer historischer Bildungsimpulse durch den Schüler — in ihrer verstärkenden oder modifizierenden strukturellen Wirkung auf Bildungsprozesse im Geschichtsunterricht schlüssig zu lokalisieren.
Die Weiterentwicklung der bei der Schulentlassung vorhandenen geschichtlichen Urteils-fähigkeit, des Bewußtseins und Interesses sollte bei ausgewählten Gruppen in regelmäßigen Abständen unter Einbeziehung persönlicher (d. h. beruflicher, sozialer, familialer) wie gesellschaftlicher Daten (z. B. von Entwicklungen im Geschichtsbewußtsein gesellschaftlicher Gruppen) verfolgt werden.
Es sollte insbesondere auch eine Selbstverständlichkeit und Selbstverpflichtung werden, geschichtsdidaktische Gesamt-und Teilentwürfe in angemessener Frist nach ihrer Vorlage durch intersubjektiv kontrollierbare und erschöpfend dokumentierte Unterrichtsversuche oder Praxisberichte zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern; dabei dürfte es sich nicht um Gefälligkeitsäußerungen von beteiligten Lehrern und Schülern oder um einstudierte Musterlektionen vor Ausnahme-klassen handeln. Solche Evalutionsberichte könnten mosaikartig mittel-und langfristige Auswirkungen von Geschichtsunterricht erhellen. 3. Geschichtsbewußtsein, Geschiehtsinteresse und Geschichtsbedürfnis heutiger Erwachsener wären als Konsequenz ihrer zu rekonstru-ierenden historischen Sozialisation und ihres Geschichtsunterrichts, aber auch in Abhängigkeit von Alter, persönlicher/kollektiver Lebensgeschichte, Beruf, Geschlecht, sozialer Lage usw., nicht nur einmalig, sondern periodisch empirisch zu erheben Zu prüfen wäre insbesondere, ob beschreibbare Bevölkerungsgruppen, z. B. Hauptschüler oder Frauen, in relative Geschichtslosigkeit entlassen werden oder ob z. B. andere Gruppen berufsbedingt geschichtliches Denken . professionalisieren'. Es liegt auf der Hand, daß die so gewonnenen Erkenntnisse aus den bisher genannten drei Sozialisationskontexten ständig aufeinander bezogen werden müßten; Fernziel könnte ein in seinen Bedingungsfaktoren bekanntes pro-zeßhaftes Profil historischen Denkens über die Stationen frühkindlicher Sozialisation, schulischer und schulbegleitender geschichtlicher Bildungsprozesse sowie nachschulischer historischer Bildung sein. 4. Außerschulische Angebote historischer Bildung müßten nach manifesten Inhalten, ihrer Reichweite, ihren vermuteten sozialen Funktionen und den u. U. geschichtspädagogischen Absichten ihrer Vermittler bzw. Träger untersucht werden. Der Bogen dieser zu untersuchenden außerschulischen Angebote und Instanzen kann zunächst gar nicht weit genug gespannt werden einer Summierung von Einzelanalysen und der oben geschilderten Adressatenbefragungen wird es dann überlassen bleiben, abzuschätzen, welche tatsächliche Bedeutung für das geschichtliche Bewußtsein einzelne Angebotstypen unter welchen Voraussetzungen bei welchen Adressaten-gruppen haben. Ohne den Anspruch der Vollständigkeit seien genannt:
— Fernsehsendungen zu historischen Themen ebenso wie Fernseh-Unterhaltungssendungen vor geschichtlichem Hintergrund oder in historischer Einkleidung — Kinofilme mit historisch-dokumentarischem Anspruch ebenso wie Spielfilme vor geschichtlichem oder zeitgeschichtlichem Hintergrund
— Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Publikumszeitschriften: dies müßte Lokalzeitungen aus Orten mit und ohne . Vergangenheit'ebenso einbeziehen wie die überregionale Boulevardpresse, geschichtsbewußte Organe wie FAZ, Die Welt, Die Zeit, Spiegel, Stern usw. ebenso wie vermutlich . geschichtslose'Frauenzeitschriften, Jugendzeitschriften und Soraya-Blätter — Geschichte in der Konsum-und Dienstleistungswerbung ;
— Belletristik vor historischem oder zeitgeschichtlichem Hintergrund
— historische Sach-und Populärliteratur in ihrer ganzen Bandbreite einschließlich Bildbände, Biographien, Memoiren, Sittengemälde; ein vereinfachter Zugang böte sich hier über das Angebot von Buchklubs; — geschichtliche Jugendbücher
— geschichtliche Comics
— populäre Geschichtszeitschriften;
— Theaterstücke zu historischen Themen oder in historischer Einbettung;
— Museen und Ausstellungen;
— historische Sehenswürdigkeiten und historische bzw. historisierende lokale Feste bzw. Bräuche
— Aktivitäten von Historischen Vereinen bzw. Heimatvereinen — Veranstaltungen in Einrichtungen der Erwachsenen-und Jugendbildung.
Die Inhaltsanalyse dieser historischen Angebote müßte begleitet sein von Angaben über den prozentualen Stellenwert der Geschichte im untersuchten Medium, von Angaben über Auflage bzw. Reichweite oder Besucherzahl, von einer Adressatenstatistik und — sofern möglich und sinnvoll — von Aufschlüssen über das geschichtliche bzw. geschichtspädagogische Bewußtsein der Kommunikatoren (z. B.der mit historischen Themen befaßten Fernseh-, Illustrierten-oder Lokalredakteure) Vorrang bei der Untersuchung sollten alle Massenformen geschichtlicher Bildung genießen
5. Die Vermittlung historischer Erkenntnisse und historischen Bewußtseins über außerschulische Kanäle unterliegt eigenen medien-spezifischen, in zweiter Linie aber auch geschichtsdidaktischen Gesetzen. Den Kommunikatoren in den Medien und den pädagogisch Tätigen in der Erwachsenenbildung — evtl, auch . heimlichen'Sozialisatoren wie den Eltern und Großeltern — ihr geschichtspädagogisches Tun bewußt zu machen und zusammen mit ihnen didaktische Leitlinien für Geschichte in Massenmedien, Populärliteratur, Erwachsenenbildung und Elternbildung zu entwickeln, wäre Aufgabe einer Didaktik außerschulischer Geschichtsbildung, die sich neben . geschichtsunterrichtsdidaktischen'Erkenntnissen solche der Mediendidaktik und der Erwachsenenpädagogik zunutze machen müßte. Für historische Museen und Ausstellungen ist diese Arbeit in museumsdidaktischen Konzepten bereits geleistet
Erscheint es immerhin möglich, die zahlenmäßig wenigen, aber einflußreichen . Geschichtspädagogen'in den Medien, in Verlagen, in Museen und in Einrichtungen der Erwachsenen-und Jugendbildung anzusprechen und hinsichtlich ihrer Aktivitäten zu sensibilisieren, so scheint eine vergleichbare Sensibilisierung für ihre (Fehl) Leistungen an historischer Sozialisation bei der Gruppe der Eltern und Großeltern auf den ersten Blick ausgeschlossen. Jedoch wären auch hier Vorstöße denkbar und zu erproben: z. B. Elternbriefe zu Schulgeschichtsbüchern, Elternabende, Eltern-arbeit, Artikel in Elternzeitschriften, die dieser Gruppe insgesamt die Problematik einer latenten historischen Sozialisation in der Familie vor Augen führen.
Eine weitere — jetzt wieder unmittelbar adressatenbezogene — Hand in Hand mit der Mediendidaktik zu leistende Aufgabe einer Didaktik außerschulischer Geschichtsbildung wäre, Erwachsene zum kritischen Um-gang mit Artikeln, Sendungen oder Veranstaltungen historischen Inhalts zu befähigen. Eine derartige Einübung in den Umgang mit populären historischen Impulsen nach der Schulzeit, d. h. mit Geschichte im Alltagsleben, müßte natürlich bereits im Geschichtsunter-richt stattfinden — allerdings nicht unter motivationsverhindernden Aspekten. Um den Geschichtslehrer zur Analyse historischer Themen in den Massenmedien zu befähigen, wären wiederum Voraussetzungen in der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung zu schaffen.