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Zum Problem des Eurokommunismus Materialien und Denkanstöße | APuZ 2/1979 | bpb.de

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APuZ 2/1979 Zum Problem des Eurokommunismus Materialien und Denkanstöße Emanzipation von Moskau? Aspekte der Stalinismus-Diskussion bei den Eurokommunisten Eine Bestandsaufnahme *)

Zum Problem des Eurokommunismus Materialien und Denkanstöße

Boris Goldenberg

/ 46 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag versucht nicht, das Problem des Eurokommunismus zu lösen, d. h. zu entscheiden, ob es sich bei dem „Neuen" in den kommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs um ein taktisches Manöver, um die Entstehung einer neuen Richtung innerhalb des Weltkommunismus oder um eine „Sozialdemokratisierung" dieser Parteien (oder einer dieser Parteien) handelt. Er ist vielmehr der Aufgabe gewidmet, dem Leser in Form einer dokumentierten Analyse eine Orientierungshilfe zu geben. Nach einer Kritik des 1975 aufgekommenen Ausdrucks „Eurokommunismus" weist der Verfasser zunächst auf Gegensätze zwischen den drei erwähnten Parteien hin, um dann Gemeinsamkeiten herauszuheben, wie insbesondere die positive Haltung zur sowjetischen Außenpolitik, und die Tendenz, die Sowjetunion — trotz aller Kritik — als immer noch „sozialistisch" zu charakterisieren. Ferner werden in der Vergangenheit gefallene Äußerungen orthodox-kommunistischer Politiker wiedergegeben, die bereits „eurokommunistisch" anmuten, was die These erhärten könnte, der heutige Eurokommunismus stelle lediglich eine Wiederholung früherer Politik und somit nur ein taktisches Manöver dar. Andererseits sprechen (hier resümierte bzw. zitierte) Dokumente und die Entwicklung von Theorie und Praxis der KP Italiens und der KP Spaniens dafür, daß wir es nicht — oder nicht nur — mit einer Taktik zu tun haben, sondern auch mit dem Versuch einer Anpassung des Kommunismus an die Realität hochentwickelter Länder. Ein besonderes Kapitel ist der KP Frankreichs gewidmet, insbesondere dem von ihr im September 1977 eingeschlagenen Kurs, der zur Spaltung der „Linken" und zur Wahlniederlage vom März 1978 beitrug. Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß es verfrüht ist, ein endgültiges Urteil über das Wesen des „Eurokommunismus" zu fällen.

Viele Wörter, die wir in der Politik verwenden, sind „Pseudobegriffe", die der Klarheit und Eindeutigkeit ermangeln. Sie sind vage und ungenau, wenn nicht geradezu sinnlos. Das gilt von Standortbestimmungen wie „rechts" und „links", die auf die Sitzordnung im französischen Konvent zurückgehen, und auch für Begriffe wie „Demokratie", „Konservativismus", „Liberalismus" und „Sozialismus". Der Ausdruck „Eurokommunismus", den anscheinend der Chefredakteur der italienischen La Stampa, Arrigo Levi, 1975 zum erstenmal gebrauchte und den dann auch prominente Vertreter dieser Richtung zu verwenden begannen, fällt auch in diese Kategorie der unklaren Bezeichnungen. Er wird als Name für eine Tendenz innerhalb des Weltkommunismus verwendet, die neuerdings in Europa entstanden sei — eine Richtung, die man als „revisionistisch" charakterisieren kann, weil sie sich vom Leninismus abwendet, von dessen Revolutionsund Staats-auffassung abrückt, den Führungsanspruch Moskaus nicht länger anerkennt und sich für einen friedlichen Weg zum demokratisch-pluralistischen Sozialismus ausspricht.

Nun ist es aber zweifelhaft, ob es sich — bereits um eine klar ausgeprägte, theoretisch untermauerte Konzeption oder nur um erste Schritte in einer neuen Ausrichtung handelt oder es — um eine allgemeine, mehreren Parteien gemeinsame Tendenz oder nur um für jede Partei verschiedene nationale Politik geht oder ob wir es — tatsächlich mit einer kommunistischen Richtung zu tun haben oder — wie Ernest Mandel meint — mit einem „graduellen Prozeß der Sozialdemokratisierung" — ob es sich hier nicht nur um ein bloßes „taktisches Manöver", eine neue „Maskerade" handelt, — ob diese Richtung — wenn es tatsächlich eine solche sein sollte — so neu ist, wie ihre Vertreter es behaupten.

Mit Sicherheit ist es falsch, diese Richtung als ausschließlich europäisch zu kennzeichnen, weil erstens die Mehrheit der kommunistischen Parteien Europas nicht, und zweitens etliche der außereuropäischen Parteien (Australien, Japan) durchaus als eurokommunistisch angesehen werden können.

L Differenzen innerhalb des Eurokommunismus

Auch wenn wir die Bezeichnung „Eurokommunismus" nur für drei west-bzw. südeuropäische Parteien (die kommunistischen Parfeien Italiens, Spaniens und Frankreichs) gelten lassen, bleibt der Begriff unscharf, da zwischen diesen drei Parteien wesentliche politische Divergenzen bestehen. 1. Die KPF und die KP Spaniens kritisieren zur Zeit die KPdSU und die Sowjetunion weitaus schärfer als die KPI, die sich mit Erfolg darum bemüht, mit Moskau einigermaßen freundschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. 2. Die kommunistischen Parteien Italiens und Spaniens bringen der Europäischen Gemeinschaft weit größere Sympathien entgegen als die KP Frankreichs, die in dieser Hinsicht eine „gaullistische" Einstellung verrät. 3. Während die KPI sich in bezug auf die NATO sehr vorsichtig ausdrückt zieht die KPF entschieden gegen den Atlantikpakt zu Felde und bekennt sich seit 1977 auch zur französischen Nuklearstreitmacht, die sie 1972 im gemeinsamen Regierungsprogramm der Linken zusammen mit den Sozialisten verworfen hatte. Was die KP Spaniens betrifft, so behauptete Carrillo in seinem Buch die NATO sei als Schutz gegen die friedfertige Sowjetunion überflüssig, sie habe sich in einen bürokratisch-militärischen überbau und in ein Instrument der USA verwandelt, mit dessen Hilfe die Nordamerikaner Europa politisch, militärisch und wirtschaftlich kontrollierten. Das hinderte freilich den Verfasser nicht daran, seine Meinung bald zu ändern. Schon im August 1976 erklärte er dem nordamerikanischen Journalisten C. L. Sulzberger, der die Worte Carrillos in der International Herald Tribune vom /8. August veröffentlichte, Spanien solle der NATO beitreten, vorausgesetzt, daß diese Organisation kein Veto gegen einen Eintritt der eventuellen Kommunisten in die spanische Regierung -ein lege. Er fügte hinzu, seine Haltung sei mit jener Berlinguers identisch 7). 4. Die KP Spaniens ist die einzige, die auf ihrem Parteitag im April 1978 die Bezeichnung „leninistisch" fallenließ und sich selbst nur noch als „marxistisch, demokratisch und revolutionär" charakterisiert. 5. Während die KPF sich mit Entschiedenheit gegen die Maßhaltepolitik der Pariser Regierung wendet, die den breiten Volksmassen Opfer zur Überwindung der Wirtschaftskrise auferlegt, sind sowohl die KP Italiens wie jene Spaniens bereit, eine solche Wirtschaftspolitik ihrer Regierungen mitzutragen. 6. Während sich die KP Frankreichs für die Nationalisierung fast aller wichtigen privaten Unternehmen und die Erwartung des staatlichen Wirtschaftssektors ausspricht und dies im September 1977 zum Anlaß genommen hat, die Einheit der Linken — die Sozialistische Partei und die „Bewegung der linken Radikalen" waren dagegen — faktisch zu sprengen, verweist die KPI auf die Ineffizienz des in Italien bereits allzu großen staatlichen Sektors.

7. Während die KP Italiens sich schon seit 1956 auf dem Weg zum „Eurokommunismus" befindet und die KP Spaniens diesen Weg zwar später eingeschlagen, ihn aber um so schneller zurückgelegt hat konnte sich die KP Frankreichs nur langsam zu einer kritischen durch Haltung gegenüber KPdSU -ringen, bezog aber dann in der zweiten Hälfte des Jahres 1975 plötzlich eine entschiedene eurokommunistische Position.

8. Schließlich ist der sogenannte demokratische Zentralismus der KPF bis heute erhalten geblieben, während sowohl die KPI als auch die KP Spaniens de facto von ihm abgerückt sind und sich „demokratisiert" haben.

II. Die Gemeinsamkeit

Das, was den Eurokommunismus charakterisiert, ist am deutlichsten in einer gemeinsamen Deklaration der KP Italiens und der Frankreichs ausgedrückt, die die Führer der beiden Parteien am 17. November 1975 in Rom unterschrieben haben.

Das Dokument beginnt mit einer kurzen Analyse der Weltwirtschaftskrise. Sie beruhe „auf der Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, den Erfordernissen der Entwicklung der Produktivkräfte, einschließlich Wissenschaft und Forschung", gerecht zu werden. Das Großkapital und der Imperialismus seien bestrebt, „aus dieser Krise Profit zu schlagen und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Errungenschaften der Werktätigen und des Volkes (sic! B. G.) in Frage zu stellen. Doch können die Arbeiterklasse und die Volksmassen durch ihren Kampf solchen Versuchen ein Ende setzen." Es gelte nun, „mehr denn je, ... die Demokratie zu entfalten, sie in Richtung auf den Sozialismus vorwärtszutreiben". Zwar entfalteten die beiden Parteien ihre Aktivitäten im Rahmen verschiedener konkreter Bedingungen, doch stellten sie, „die ihren Kampf in entwickelten kapitalistischen Ländern führen, den gemeinsamen Charakter der grundlegenden Probleme fest, die vor ihnen stehen, und stimmen miteinander in bezug auf die Lösung der Probleme überein“.

Dann heißt es:

„Die italienischen und die französischen Kommunisten sind der Ansicht, daß der Marsch zum Sozialismus und der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft im Rahmen einer kontinuierlichen Demokratisierung des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens verwirklicht werden müssen. Der Sozialismus wird ein höheres Stadium der Demokratie und der Freiheit, eine , bis zu Ende geführte'Demokratie sein. In diesem Sinne müssen alle Freiheiten, die — sei es aus den großen bürgerlichen demokratischen Revolutionen, sei es aus den unter der Leitung der Arbeiterklasse geführten — Volkskämpfen dieses Jahrhunderts resultierten, garantiert und weiterentwickelt werden: die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks, die Pressefreiheit, die Vereinigungs-, Versammlungs-und Demonstrationsfreiheit, die Freizügigkeit der Menschen innerhalb ihres nationalen Territoriums und über dessen Grenzen hinweg, die Unverletzbarkeit des privaten Lebens, die Freiheit der Religion, die totale Freiheit des Ausdrucks aller philosophischen, kulturellen und künstlerischen Gruppen und Richtungen. Die französischen und die italienischen Kommunisten treten für Pluralismus der politischen Parteien, einschließlich des Rechts der Oppositionsparteien auf Existenz und Aktivität, ein, für die Möglichkeit des demokratischen Wechsels zwischen Mehrheiten und Minderheiten, für den laizistischen Charakter des Staates und die Unabhängigkeit der Justiz. Sie sprechen sich zugunsten der freien Betätigung und Unabhängigkeit der Gewerkschaften aus. Besondere Bedeutung messen sie der Entfaltung der Demokratie in den Betrieben bei, damit die Werktätigen das Recht erhalten, sich an der Führung der Unternehmen zu beteiligen und weitgehende Entscheidungsbefugnisse (pouvoirs etendus de decision) erhalten.

Die demokratische Dezentralisierung des Staates wird den Regionen mit den lokalen Kollektivitäten eine wesentlich größere Rolle geben; sie müssen eine breite Autonomie erhalten.

Eine sozialistische Transformation macht die öffentliche Kontrolle der wichtigsten Produktions-und Austauschmittel, ihre allmähliche Sozialisierung und die Erarbeitung einer demokratisch-nationalen Planung erforderlich. Der aus kleinen und mittleren Bauern, Handwerkern, Klein-und Mittelbetrieben der Industrie und des Handels bestehende Sektor wird beim Aufbau des Sozialismus eine besondere und positive Rolle spielen.

Diese Transformation kann nur das Ergebnis breiter Kämpfe, mächtiger Massenbewegungen sein, bei denen sich die Mehrheit des Volkes um die Arbeiterklasse sammelt. Sie setzt die Existenz demokratischer Institutionen voraus, die die Volkssouveränität wirklich repräsentieren, die Garantie und die Erweiterung ihrer Befugnisse und freie, direkte allgemeine Wahlen, gemäß einem proportionalen Wahlrecht... Für die italienischen und die französischen kommunistischen Parteien sind alle diese Bedingungen des demokratischen Lebens von prinzipieller Bedeutung. Die Haltung dieser zwei Parteien ergibt sich nicht aus taktischen Erwägungen, sondern entspricht ihrer Analyse der materiellen und historischen Gegebenheiten ihrer Länder.

Jedem Volk muß das Recht gewährleistet werden, souverän über sein politisches und soziales System zu entscheiden. Dies ist der Grund, aus dem die Notwendigkeit erwächst, gegen alle Versuche des US-Imperialismus zu kämpfen, sich in die Angelegenheiten der Völker einzumischen, sowie jegliche ausländische Einmischung entschieden abzulehnen.“

Für den Erfolg sei das Zustandekommen eines breiten Bündnisses verschiedener sozialer und politischer Kräfte erforderlich, in dessen Rahmen die Arbeiterklasse ihre Fähigkeit beweisen müsse, die führende Rolle zu spielen. Eine dauerhafte Zusammenarbeit von Sozialisten und Kommunisten bilde das Fundament dieses Bündnisses, das auch die vom Christentum inspirierten Volkskräfte umfassen müsse. „Angesichts der den Interessen des Volkes widersprechenden Orientierung der multinationalen und nationalen monopolistischen Gruppen und der nerrschenden Kreise, deren Politik im Europa des Gemeinsamen Marktes Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit er-5 zeugt, messen beide Parteien den auf Einheit der linken Kräfte gerichteten Bestrebungen der Volksmassen große Bedeutung bei. Sie sollen auch im Bahmen des europäischen Parlaments Ausdruck finden. Sie müssen auf die Demokratisierung der europäischen Politik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie auf den Aufbau eines demokratischen, friedfertigen und unabhängigen Europa ausgerichtet werden."

Zu vermerken ist aber auch eine gemeinsame weltpolitische Linie der „eurokommunistischen" Parteien. Sie greifen vor allem den „amerikanischen Imperialismus" an und unterstützen die angeblich friedensfördernde Außenpolitik der Sowjetunion.

III. Vorläufer des Eurokommunismus

Die Bekenntnisse der Eurokommunisten zum eigenen, friedlichen Weg zum Sozialismus, zu Parlamentarismus und zum Pluralismus sind nicht alle neu. Sie können sich auf frühere Äußerungen prominenter Vertreter des Kommunismus stützen. 1. Im Jahre 1937 hatten Stalin, Molotow und Woroschilow einen Brief an den spanischen Sozialisten Llargo Caballero, der an der Spitze der republikanischen Regierung stand, gerichtet; er wird von Carrillo in seinem Buch zitiert. Dort heißt es u. a.: „Die spanische Revolution eröffnet sich Wege, die sich in vielen Aspekten von denen unterscheiden, die Rußland gegangen ist. Sie ergeben sich aus den sozialen, historischen und geographischen Bedingungen und der internationalen Lage ... Es ist durchaus möglich, daß der parlamentarische Weg der revolutionären Entwicklung sich als weit effizienter erweisen wird, als dies in Rußland der Fall war." 2. 1946 gewährte der damalige Generalsekretär der französischen KP, Maurice Thorez, der zu dieser Zeit Minister war, der Londoner Times ein Interview, das am 18. November veröffentlicht wurde und damals großes Aufsehen erregte: „Die Fortschritte der Demokratie in der Welt gestatten es, auf dem Marsch zum Sozialismus andere Wege einzuschlagen als jenen, den die russischen Kommunisten eingeschlagen hatten." 3. Im Jahre 1951 brachte die KP Großbritanniens ein Programm unter dem Titel , Der britisehe Weg zum Sozialismus'heraus. Heute wird, wie der Londoner Economist vermerkt, dieses Dokument von der britischen Partei stolz als früher Vorläufer ihrer gegenwärtigen eurokommunistischen Einstellung ausgegeben, — zu Unrecht, da es Stalin vor seiner Veröffentlichung vorgelegen hatte, der damit einverstanden gewesen war; von dem sowjetischen Autor Zarodow wird dies in seinem jüngst erschienenen Buch in einer Fußnote vermerkt 4. 1956 verkündete Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem er auch seine Anklagerede gegen Stalin hielt, die Kommunisten des demokratischen Westens könnten auch auf parlamentarischem Wege zur Macht gelangen; dazu vermerkte Richard Löwenthal, daß „niemals vorher die Sowjet-führer den kommunistischen Parteien der ganzen Welt erklärt hatten, es gäbe für sie andere mögliche Vorbilder als das der Oktoberrevolution. Die Volksfront der 30er Jahre war ausdrücklich auf den Zweck beschränkt, die Demokratien im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verteidigen. Heute hingegen wird der . parlamentarische Weg'als Mittel angepriesen, um den Sozialismus, d. h. die Machtergreifung der Kommunisten, zu verwirklichen." 5. 1970 kam in Chile unter Allende die „Unidad Populär" an die Macht, zu deren wichtigsten Stützen und Teilhabern die treu stalinistisch eingestellte KP Chiles gehörte, die 1968 den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR ausdrücklich gebilligt hatte.

Diese Volksfront verkündete, einen eige-nen chilenischen Weg zu einem demokratischen Sozialismus gehen zu wollen. Ihr Programm würde heute als Dokument des Euro-kommunismus angesehen werden. Mehr noch: Als der Generalsekretär dieser chilenischen Partei, der gegen den Sowjet-Dissidenten Bukowsky ausgetauscht worden war, nach Rom kam, wo er von Berlinguer sehr herzlich begrüßt wurde, stimmte er der Politik der KPI voll zu: „Ich bin von dem Begriif . historischer Kompromiß'begeistert. Er entspricht genau dem, was wir versucht haben. Schon immer, schon als Frei noch an der Macht war, haben wir danach getrachtet, zu einem Abkommen, zu einem Bündnis mit den Christlichen Demokraten zu gelangen. Ich zögere nicht zu sagen, daß wir — Chiles Kommunisten — in diesem Sinne Vorlauter gewesen sind.“

Angesichts der zitierten Dokumente der Eurokommunisten und seiner Vorläufer mag es verständlich sein, daß einige die Meinung vertreten, diese Richtung sei eine „sozialdemokratische Abweichung", andere wieder vermuten, es handle sich um ein Manöver, das wie ein trojanisches Pferd die Demokratien von innen aushöhlen und schließlich erobern soll.

Um dem Leser ausreichende Informationen und Denkanstöße zu liefern, damit er sich eine eigene Meinung über das Wesen des Eurokommunismus zu bilden vermag, wenden wir uns nun den drei Parteien, der KP Italiens, Spaniens und Frankreichs, zu und skizzieren nicht nur ihre historischen Wurzeln und ihre theoretisch-politischen Konzeptionen, sondern auch ihre gegenwärtige Praxis.

IV. Die Kommunistische Partei Italiens

Die größte kommunistische Partei des Westens ist auch die erste, die den Weg zum Eurokommunismus betrat. Viele der Charakteristika ihrer Konzeption erwuchsen aus der Geschichte — nicht nur der Partei, sondern auch des Landes. Das gilt sogar für den Ausdruck „historischer Kompromiß", den die italienischen Geschichtsschreiber gebrauchten, um das Zustandekommen der staatlichen Einheit Italiens zu kennzeichnen

Die frühen Jahre In den wirren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wußte die Sozialistische Partei, die bei den Wahlen von 1919 zur stärksten Partei Italiens geworden war, nicht, was sie mit ihrer Kraft anfangen sollte. Ihr „rechter", reformistischer Flügel unter Turati trat für eine Regierungskoalition mit den Bürgerlichen ein, während die große Parteimehrheit unter Leitung Serratis eine solche Politik entschieden ablehnte und mit der Komintern sympathisierte, radikale Worte gebrauchte, aber in der Praxis keine diesen Worten entsprechende Strategie verfolgte, obschon die Mehrheit der Arbeiter, ein beträchtlicher Teil der Bauern und der Intellektuellen revolutionär gestimmt, wenngleich auch von konfusen Vorstellungen erfüllt war. „Wenn es je ein Land gegeben hat, in dem die Verhältnisse denen Rußlands glichen, so war es Italien, wo die Bauern nicht konservativ waren, die Intellektuellen sich in Mehrheit zum Sozialismus bekannten und der Süden in tiefer Unruhe lebte.“

Im August 1920 kam es zu Streiks, Aussperrungen und zu einer Welle von Betriebsbesetzungen, die niemand erwartet hatte. Die Arbeiter versuchten, die Unternehmen in eigener Regie zu führen. Dies konnte jedoch nicht gutgehen, da sie weder Bankkredite noch Rohstoffe erhielten und auch nicht wußten, wie sie ihre Waren absetzen sollten. Es schien nur noch eine Alternative zu geben: entweder zu kapitulieren oder die Bewegung zu radikalisieren und zu politisieren, d. h.den Versuch zu unternehmen, die Macht im Staat zu ergreifen. Eine gemeinsame Konferenz von Gewerkschafts-und Parteiführern beschloß den Rückzug und verhandelte mit der Regierung, die versprach, die Lage der Arbeiter zu bessern. Die Betriebe wurden geräumt. Der Schreck, den diese Bewegung dem Bürgertum versetzt hatte, ebnete dem Faschisten Mussolini den Weg zur Macht.

Während der kritischen Wochen war Serrati in Moskau, um am II. Weltkongreß der Komintern teilzunehmen. Hier wurde ihm ein Ultimatum gestellt: Falls die Italiener wünschten, in die Komintern ausgenommen zu werden, müßten sie die von der Spitze der Komintern formulierten 21 Punkte annehmen.

In Punkt 1 hieß es, die Kommunisten dürften nicht mehr nur die Bourgeoisie bekämpfen, „sondern müßten auch deren Agenten, die Reformisten aller Schattierungen, entlarven".

Punkt 2 machte es allen Parteien zur Pflicht, alle Reformisten und „Zentristen" aus den verantwortlichen Positionen zu entfernen und sie durch zuverlässige Kommunisten zu ersetzen. Punkt 3 verpflichtete jede Partei, neben ihrer legalen Organisation einen „Untergrundapparat" zu schaffen.

Punkt 4 verlangte, alle Parteien müßten alles daransetzen, die Streitkräfte ihres Landes zu ersetzen.

Punkt 7 betonte und nochmals ultimativ, alle Parteien müßten sobald wie möglich mit den und den Reformisten Zentristen in eigenen Reihen brechen, wobei die wichtigsten Vertreter dieser Richtungen namentlich genannt wurden.

Punkt 8 machte es zur Pflicht, die revolutionären Befreiungsbewegungen in den Kolonien zu fördern.

Punkt 11 verfügte die Unterordnung der parlamentarischen Fraktion unter das Zentralkomitee. In Punkt 12 hieß es: „In der gegenwärtigen Phase des Bürgerkrieges wird eine kommunistische Partei ihre Pflichten nur erfüllen können, wenn sie in höchstem Grad zentralisiert ist und eiserne Disziplin wahrt. Das Zentralkomitee muß unbeschränkte Macht und Autorität besitzen."

Punkt 15 verpflichtete alle Parteien, die sich der Komintern anschließen wollten, ihre Programme der Komintern-Führung vorzulegen und kein Programm anzunehmen, dem die Kominternführung (das Exekutivkomitee der Komintern, kurz „EKKI") nicht ausdrücklich zugestimmt habe.

Punkt 16 legte fest, daß alle Beschlüsse des Weltkongresses und des EKKI für alle Parteien bindend seien.

Serrati wehrte sich, versprach aber, diese Punkte dem nächsten italienischen Parteitag vorzulegen. Er wußte, daß die große Mehrheit der Partei hinter ihm stand.

Die Komintern stützte sich zunächst auf Teile der Sozialistischen Jugend, eine revolutionäre Gruppe von Intellektuellen in Turin (zu der unter anderem Gramsci und Togliatti gehörten), die einigen Einfluß auf die norditalienischen Arbeiter hatte und seit 1919 die Zeitschrift Ordine Nuovo herausgab, sowie eine weitere Gruppe, die sich um Bordiga scharte. Dieser gehörte zur internationalen „Ultralinken", deren Auffassungen von Lenin in seinem Buch Der Radikalismus — eine Kinderkrankheit des Kommunismus verworfen wurden. Der Parteitag der Sozialisten trat im Februar 1921 in Livorno zusammen. Zwei Kommissare der Komintern traten auf, klar darum bemüht, die Partei zu spalten und eine Kommunistische Partei zu begründen. Schließlich stimmte ein Drittel der Delegierten für und zwei Drittel gegen die Annahme der 21 Punkte — und damit gegen den Eintritt in die Komintern, wobei anzumerken ist, daß die weit größere Mehrheit der unzureichend informierten Delegierten Spaltung gegen die war und auch nicht alle Aktivisten, die als Parteitagsdelegierte hatten, der für die gestimmt bald darauf gegründeten Kommunistischen Partei Italiens beitraten. Noch vor der Spaltung hatte sich die Wochenschrift Ordine Nuovo in eine Tageszeitung verwandelt und wurde zum Organ der KPI, mußte aber bereits 1922 ihr Erscheinen einstellen. Während der ersten Regierungsperiode Mussolinis wurde sie (1924) zu neuem Leben erweckt, erschien aber auch als Zweimonatsschrift nicht regelmäßig und verschwand 1925 ganz.

Bereits 1921 hatte der Straßenterror der Schwarzhemden begonnen. Er verschärfte sich, als Mussolini im Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten berufen wurde und nach jenem mythischen „Marsch auf Rom" (den er selbst mit seinen engsten Freunden im Schlafwagen zurückgelegt hatte) sein Amt antrat.

Die Kommunisten waren außerstande, diese Machtübernahme zu verhindern, während die Sozialisten in Passivität verharrten. Ihr Führer, Pietro Nenni, Herausgeber der Zeitung Avanti, schrieb damals, daß es sich nur um eine neue Etappe im Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Fraktionen der Bourgeoisie handele, aus dem die Arbeiter sich heraus-halten sollten

Bis 1924 behielt das Regime Mussolinis eine demokratische Fassade: Das Parlament blieb erhalten, einige oppositionelle Zeitungen durften weiterhin erscheinen, während sich der Straßenterror der Fasci ausdehnte. Im August 1924 wurde der wichtigste Sprecher der Opposition, der Sozialist Matteoti, auf offener Straße ermordet. Die Opposition zog sich daraufhin protestierend aus dem Parlament zurück, was Mussolini den Weg zur Diktatur erleichterte, die er 1926 errichtete. Nun wurden alle Parteien der Opposition verboten und verfolgt, wobei sich der Diktator nicht mehr nur auf seine Schwarzhemden, sondern auf alle Machtmittel des Staates stützen konnte. Die KPI, die bereits durch Fraktionskämpfe und den faschistischen Terror geschwächt war, wurde fast vollständig zerschlagen. Viele ihrer Führer (darunter auch Antonio Gramsci) wurden ins Gefängnis geworfen, andere zur Emigration gezwungen (darunter Togliatti, der nach Moskau ging, in der Komintern-Führung eine bedeutende Rolle spielte und erst 1944 nach Italien zurückkehrte).

Unter der Diktatur vermochte die illegale KP — der sich 1924 wieder Serrati mit einer Gruppe linker Sozialisten angeschlossen hatte — keine größere Bedeutung zu erlangen. Ihre interne Führung, der eine Zeitlang auch Ignazio Silone angehörte, versuchte allen widrigen Umständen zum Trotz, die Parteiarbeit weiterzuführen. Die Mehrzahl der Kommunisten ging ins Ausland, und die Partei wurde immer wieder durch innere Auseinandersetzungen erschüttert, die regelmäßig zu Ausschlüssen prominenter Funktionäre führten. 1943— 1956 1943 begann in Norditalien eine antifaschistische Bewegung aktiv zu werden. Im März dieses Jahres brach in Turin ein großer Streik aus, der sich auf weite Gebiete des Nordens ausdehnte. Kommunisten, Sozialisten und republikanische Antifaschisten erwachten zu neuem Leben.

Im Juli 1943 landeten die alliierten Truppen auf Sizilien: Von dort aus stießen sie im September nach Süditalien und eroberten bereits im Oktober Neapel.

Noch vor der Landung auf Sizilien war am 22. Mai in einem in Moskau publizierten kommunistischen Organ ein Artikel von Togliatti unter seinem Decknamen „Ercoli" erschienen, in dem er eine neue politische Linie der italienischen Kommunisten vorzeichnete. Dort hieß es: „Unter den Ollizieren des Heeres und der Flotte, in der katholischen Bourgeoisie, unter den Industriellen und Intellektuellen und innerhalb der faschistischen Partei erkennt eine wachsende Zahl von Menschen die Notwendigkeit, mit Deutschland zu brechen, ehe es zu spät ist ... Noch immer bestehen die objektiven Bedingungen für die Schaliung einer breiten Front nationaler Kräfte, die das Land durch den Sturz Mussolinis aus dem Krieg herausführt."

Diese Auffassung widersprach jedoch den Ideen der in Italien kämpfenden Kommunisten und ihren sozialistischen Verbündeten. Sie waren auf radikalen Kampf eingestellt und traten auch für eine Republik ein. So entstand unter den an Bedeutung gewinnenden Antifaschisten, die bereits den Partisanenkampf begonnen hatten, beträchtliche Verwirrung. Die Kommunisten und die ihnen eng verbundenen Sozialisten waren von sozial-revolutionären Auffassungen erfüllt. Auch die „Partei der Aktion" unter Führung Parris war entschieden für eine Republik. All diese Parteien und Gruppen lehnten jegliche Beteiligung an einer bürgerlichen, noch dazu von hohen Offizieren im Rahmen der Monarchie gebildeten Regierung ab. Aber eine solche Regierung war in Süditalien unter Marschall Badoglio (der Mussolini verhaften ließ und am 9. September die Kapitulation unterzeichnete) gebildet worden. Inmitten dieser verworrenen Lage kehrte Togliatti im März 1944 nach Italien zurück. Die Bedeutung dieser Rückkehr sollte der spätere Ministerpräsident Bonomi in seinem 1947 erschienenen Buch mit den folgenden lyrischen Zeilen charakterisieren: „Da erschien aus entferntem Lande wundersam ein Ritter der Vorsehung, ein wiedererstandener Lohengrin, der sich Badoglio zur Seite stellte und ihn ans sichere Ufer trug. Der Ritter kam aus Rußland und heißt Palmiro Togliatti.“

Togliatti erklärte sich bereit, in die Regierung des Marschalls einzutreten; er kämpfte mit Entschlossenheit für jene Politik der breiten antifaschistischen Front, die er bereits in dem oben erwähnten Artikel skizziert hatte. Es gelang ihm, nicht nur die anderen antifaschistischen Parteien zur Beteiligung an der Regierung zu drängen, sondern auch seiner Partei diese Politik aufzuzwingen, die auf jegliche Sozialrevolutionäre Tätigkeit verzichtete. Das war die berühmt-berüchtigte „Wendung von Salerno", die an die Tradition der Volksfront der dreißiger Jahre anzuknüpfen schien, was mit den damaligen Interessen und Absichten der Sowjetführer übereinstimmte. Schon deshalb wäre es grundfalsch, den 1944 geschlossenen, aber nicht so „historischen benannten Kompromiß" mit der Monarchie und den bürgerlichen Kräften als Vorläufer des historischen Kompromisses von Berlinguer und die damalige Politik Togliattis als ersten Schritt auf dem Weg zum Eurokommunismus zu betrachten. Togliatti tat nur dasselbe wie sein französischer Kollege Maurice Thorez, der in einer von de Gaulle geführten Regierung ein Ministeramt übernahm und der bis 1947, d. h. bis zum Beginn der Kalten Krieges, Minister blieb. Freilich entsprach die von Togliatti eingeschlagene politische Linie nicht nur den Wünschen Stalins, sondern auch seiner eigenen Einschätzung der Lage Italiens. Ein so entschiedener Antikommunist wie Borkenau konnte seine Bewunderung für die geschickte Taktik Togliattis nicht verhehlen, als er schrieb: „Togliatti hatte sich durch seine zeitweilige Unterstützung der Monarchie eine wahre Schlüsselstellung in der italienischen Politik gesichert. Unter seiner Führung vermied die Partei bis Kriegsende jede Verwicklung in den Kampf zwischen Monarchisten und Republikanern. So erwarb sich Togliatti die Stellung eines Schiedsrichters."

Togliatti blieb in der Regierung Bonomi, die im Juni 1944 nach der Befreiung Roms gebildet worden war, Justizminister; im Kabinett waren außer ihm noch drei weitere Kommunisten. Inzwischen hatten die Kommunisten in dem von den Deutschen besetzten Norden große Fortschritte erzielt, ihre Partisanenarmee aufgebaut und sogar „Volksgerichte" geschaffen, die Faschisten, aber auch andere Gegner der Kommunisten aburteilten. Es war, als habe es in Italien damals zwei kommunistische Parteien gegeben — eine gemäßigte im Süden und eine radikale im Norden.

Als die deutschen Truppen in Italien kapitulierten und das von ihnen beherrschte Gebiet räumten, schien manchen eine wahrhaft „kommunistische Revolution" möglich zu werden. Doch Togliatti hielt an seiner Politik fest und setzte sie auch im Norden durch. 1945 drängte der neue Ministerpräsident Parri mit den gemeinsam Alliierten darauf, die Partisanen zu entwaffnen und die „Volksgerichte" aufzulösen. Togliatti, der nach wie vor in der Regierung war, unterstützte ihn. Die Partisanen gaben ihre Waffen ab und lösten ihre militärischen Einheiten auf. Auch die Volks-gerichte verschwanden, ohne daß es zu bemerkenswerten Rebellionen gekommen wäre. Auf Parri folgte im November 1945 der Christdemokrat de Gasperi, unter dem im Juni 1946 eine Volksabstimmung über die künftige Staatsform Italiens stattfand. Fast 13 Millionen Italiener entschieden sich für die Republik, aber immerhin 11 Millionen wollten die Beibehaltung der Monarchie. Bei den am gleichen Tag abgehaltenen Parlamentswahlen wurde die Democrazia Cristiana mit 207 von 556 Abgeordneten die stärkste Partei, gefolgt von den Sozialisten mit 115 und den Kommunisten mit 104 Parlamentssitzen. Der neuen, wieder von de Gasperi geführten Regierung gehörten Sozialisten und Kommunisten an. Im Mai 1947 verloren die Kommunisten jedoch ihre Posten, ohne daß es zu stärkeren Protesten oder gar Massenbewegungen gekommen wäre. Auch weiterhin beteiligten sich die kommunistischen Parlamentarier aktiv an der Erarbeitung der neuen Verfassung, die im Dezember 1947 vom Volk in einem Referendum gutgeheißen wurde. Es war dies ein recht „progressives" Dokument, das unter anderem die Schaffung von weitgehend autonomen Regionen vorsah. Die Kommunisten, die zu seinen „Vätern" gehört hatten, galten von nun an als verfassungstreu, was ihnen späterhin zugute kommen sollte.

Doch inzwischen war der , Kalte Krieg'ausgebrochen. Die Christdemokraten führten im Zeichen des Antikommunismus eine Kampagne durch und versuchten, bei den Parlamentswahlen im April 1948 die absolute Mehrheit zu erringen. Im Juli desselben Jahres schoß ein Student auf Togliatti, der zwar verletzt wurde, aber mit dem Leben davonkam. Ein vom Gewerkschaftsbund C. G. I. L. angeführter Massenstreik vermochte die Regierung nicht zu erschüttern, hatte aber die Abspaltung der Nicht-Kommunisten vom Gewerkschaftsbund zur Folge.

Bis 1956 betrieb die KPI, die nach wie vor eng mit der KPdSU zusammenarbeitete, eine erfolgreiche Politik, die man zwar als „klassenkämpferisch", aber kaum als „revolutionär" bezeichnen konnte. Die Zahl ihrer Mitglieder wuchs, Einfluß nahm zu, und ihr bald versuchte sie, auch die Sozialisten, die mit blieben, ihr verbunden zu überholen, nachdem sich deren rechter Flügel abgespalten hatte. 1956— 1972 Den Weg zum „Eurokommunismus" beschritt die KPI bereits 1956 — nach Chruschtschows Rede über die Verbrechen Stalins. Im Juni dieses Jahres erschien in der Zeitschrift Nuovi Argument! ein Interview mit Togliatti, das großes Aufsehen erregte. Er meinte, die Kritik Chruschtschows sei nicht tief genug gegangen. Es genüge nicht, den Personenkult zu verdammen, vielmehr gelte es, drei grundlegende Fragen zu beantworten: 1. Erklären sich die Verbrechen Stalins nicht etwa aus einer Degeneration des Sowjetsystems? 2. Hat das Prestige der gegenwärtigen Führer der KPdSU, die ja an den von ihnen jetzt ange-. prangerten Verbrechen mitbeteiligt waren oder sie doch zumindest toleriert hatten, nicht Schaden gelitten? 3. Kann die Sowjetunion nach alledem noch als Zentrum des Weltkommunismus angesehen werden?

Damit wandte sich Togliatti zum erstenmal klar von Moskau ab und bekannte sich zum „Polyzentrismus".

Angesichts der schweren Krise, in die die KPI als Folge des Polnischen Oktober und des so-wjetischen Einmarsches in Ungarn geriet hielt sich Togliatti mit seiner Kritik an Moskau zurück, ohne aber seine „heterodoxen" Ideen aufzugeben. Im Gegenteil: Er ging nun daran, eine der italienischen Wirklichkeit besser angepaßte Strategie zu entwickeln, wobei er auf die Ideen Gramscis zurückgriff und sie weiterzuentwickeln suchte. Diese Strategie war insofern „revisionistisch", als sie die sozialistische Revolution nicht als offensive, sich innerhalb eines kurzen Zeitraums vollziehende Umwälzung, sondern als einen lange Jahre währenden Stellungskrieg charakterisierte, währenddessen die Kommunisten — auf die Allianz mit einem neuen „sozialen Bauern, Block" aus Mittelschichten, Technikern und Intellektuellen gestützt — die Hegemonie erobern und Bastionen in Staat und Gesellschaft besetzen sollten: Ein „langer Marsch durch die Institutionen" sollte schrittweise Staat und Gesellschaft vervzandeln.

Auf dem X. Kongreß seiner Partei im Jahre 1962 erklärte Togliatti: „Man muß die Frage stellen, ob die arbeitenden Klassen nicht schon im Rahmen eines noch bürgerlichen Staates Positionen zu erobern vermögen, um in diesem Rahmen, von innen heraus, nach und nach den Klassen-charakter dieses Staates zu verändern.“

Dieser Kampf müsse sowohl im Parlament als auch außerhalb dieser Institution durch die Mobilisierung der Massen geführt werden — als Kampf für die Vertiefung und die Verbreiterung der Demokratie, an dessen Ende der Sozialismus stehen würde.

Bei aller Kritik an der leninistischen Konzeption und an der Moskauer Führung blieb Togliatti bemüht, freundschaftliche Beziehungen zur KPdSU aufrechtzuerhalten. 1964 reist er auf die Krim, um sich zu erholen, und dort starb er, nachdem er noch ein politisches Testament an die KPI abgefaßt hatte. Die Nachfolge an der Parteispitze trat zunächst der ehemalige Spanienkämpfer und Partisanenführer Luigi Longo an. Auf ihn folgte 1971 der aus Sardinien stammende Intellektuelle Einrico Berlinguer. * Die Strategie des historischen Kompromisses In drei Artikeln, die die Lehren aus der chilenischen Erfahrung ziehen sollten und die im theoretischen Organ der Partei, Rinascitä, am 28. September, 5. und 9. Oktober 1971 erschienen, formulierte Berlinguer seine strategische Konzeption. Er bezog sich auf frühere Äußerungen Togliattis und erklärte, die Aufgabe der Partei bestehe darin, ein Programm für die Gesundung und die demokratische Erneuerung der Gesellschaft und des Staates auszuarbeiten, die große Mehrheit des Volkes zu gewinnen und auf der Grundlage dieses Programms eine Neuordnung der politischen Kräfte zu erreichen, die es verwirklichen könnten. Die italienischen Kommunisten seien sich dessen bewußt, und die chilenische Erfahrung habe es erneut bewiesen, daß die antidemokratische Reaktion desto stärker und gewaltsamer würde, je mehr die Kräfte des Volkes an die Schalthebel der Macht gelangten. Die Schlußfolgerungen, die die KPI daraus ziehen müßte, seien: „Wir meinen, daß die Versuche der herrschenden sozialen Gruppen, den demokratischen Rahmen zu durchbrechen, das Land in zwei Lager zu spalten und die reaktionäre Gewalt zu entfesseln, uns dazu veranlassen sollten, noch entschiedener für die Freiheit und den demokratischen Fortschritt einzutreten, die vertikale Spaltung des Landes zu verhindern, und mit noch größerer Entschiedenheit, Klugheit und Geduld die reaktionären Gruppen zu isolieren und nach Möglichkeiten zu suchen, zu einem Einverständnis aller Volkskrälte zu kommen . . ." „Es schien uns immer falsch, den demokratischen und den parlamentarischen Weg gleichzusetzen. Wir sind nicht dem parlamentarischen Kretinismus verfallen. Wir betrachten das Parlament als eine wesentliche Institution des politischen Lebens . . . nicht nur jetzt, sondern auch während des Übergangs zum Sozialismus und während seines Aufbaus. Das Parlament kann nicht mehr — wie in der Epoche Lenins — einfach als Tribüne angesehen werden, von der aus die Übel des Kapitalismus angeprangert und der Sozialismus propagiert werden. Doch kann das Parlament seine Aufgabe nur erfüllen, wenn es zum , Spiegel des Landes'wird und wenn die parlamentarischen Initiativen der Parteien der Arbeiterbewegung eng mit dem Kampf der Massen und dem Wachstum einer demokratischen Macht in der Gesellschaft verbunden bleiben. Der Entschluß, den Kampf auf dem Boden der demokratischen Legalität zu führen, heißt nicht, einer Art legalistischer Illusion zu verfallen und darauf zu verzichten, ... eine dauerhafte Bewegung mit dem Ziel einer tiefgehenden demokratischen Erneuerung der Gesetze, der Regeln, der Strukturen und der Apparate des Staates voranzutreiben. Eine grundlegende, auf demokratischem Wege zu erreichende Verwandlung der Gesellschaft bedarf des Konsenses: In Italien kann sie durch eine Revolution verwirklicht werden, die von der großen Mehrheit des Volkes getragen wird ... So gewinnt das Problem der Bündnisse entscheidende Bedeutung .. . Man muß ein Programm tiefgehender sozialer Wandlung ... durchführen, ohne die Feindschaft der breiten Mittelschichten zu erwecken, sondern im Verlauf aller Phasen seiner Verwirklichung die Unterstützung der großen Bevölkerungsmehrheit zu gewinnen suchen ..." „Wir haben es immer gedacht, und die chile-nische Auffassung stärkt uns in dieser Auffassung, daß die Einheit der Arbeiterparteien und die Kraft der Linken nicht ausreicht, die Verteidigung und den Fortschritt der Demokratie zu sichern, wenn sich dieser Einheit ein Block entgegenstellt, der von der Mitte bis zur extremen Rechten reicht. Das zentrale Problem Italiens besteht darin, die Entstehung eines solchen Blocks zu verhindern und die sozialen und politischen Kräfte der Mitte für konsequente demokratische Positionen zu gewinnen ... Es wäre illusionär zu glauben, daß selbst das Erreichen von 51 Prozent durch die Kräfte der Linken und der Gewinn einer solchen Mehrheit der Parlamentsmandate genügen würde, um das Bestehen einer Regierung zu garantieren, die diese 51 Prozent vertreten würde. Dies ist der Grund, warum wir nicht von einer Alternative der Linken, sondern von einer demokratischen Alternative sprechen, d. h. von einem Bündnis von Kommunisten und Sozialisten mit jenen Kräften, die vom Katholizismus inspiriert sind, und anderen demokratischen Gruppen . .

Es sei falsch, die Democrazia Cristiana als eine unhistorische, ihrem Wesen nach unveränderbare Gruppierung anzusehen. Man müsse sie vielmehr im historisch-politischen Kontext sehen, in dem sich diese heterogene Formation entwickelt. Es sei möglich und notwendig, zumindest wesentliche Teile von ihr für eine Zusammenarbeit mit der Linken zu gewinnen. Berlinguer beendete seine Artikelserie mit dem Satz: „Die ernsten Probleme, vor denen das Land steht, die andauernde Gefahr reaktionärer Abenteuer, die Notwendigkeit, der Nation einen sicheren Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur sozialen Erneuerung und zum demokratischen Fortschritt zu ebnen, machen es zur dringenden Aufgabe, zu einer Übereinkunft der Kräfte zu gelangen, die die große Mehrheit des italienischen Volkes umfassen und vertreten — eine Übereinkunft, die man einen neuen, großen historischen Kompromiß'nennen kann."

Die Probe aufs Exempel Im Zeichen des historischen Kompromisses gelang es der KPI, ihren Einfluß zu erweitern. 1974 spielte sie eine führende Rolle im Kampf für das Ehescheidungsrecht, das durch ein Referendum durchgesetzt wurde. Die Gegner dieses Gesetzes, an deren Spitze der Christdemokrat Fanfani stand, mußten die Niederlage hinnehmen. Der rechte, entschieden antikommunistische Flügel der DC wurde geschwächt. 1975 errangen die Kommunisten bei den Regional-und Kommunalwahlen die Herrschaft über wichtige Regionen und eroberten die Rathäuser fast aller großen Städte. Die ersten „Bastionen" des Staates waren genommen. 1976 erzielten sie bei den Parlamentswahlen einen großen Erfolg. 1977 nahm ihre Bedeutung weiterhin rapide zu, und schließlich wurden sie 1978 offiziell in die „Regierungsmehrheit" ausgenommen. Zwar erhielten sie keine Ministerien, doch das christdemokratische Kabinett Andreotti hing von den Stimmen der Kommunisten ab. Bald aber begannen auch die Schwierigkeiten, die die neue Strategie mit sich brachte. Da sie eine „Burgfriedenspolitik" betrieben und auch die Wirtschaftspolitik der Regierung stützen mußten, verloren sie bei Arbeitern und jungen Intellektuellen an Boden, da sie alle gegen die Regierungspolitik gerichteten Protestbewegungen abzubremsen begannen. Die kommunistischen Führer — auch Lama, der Vorsitzende der Gewerkschaft CGIL — wurden auf Massen-und Betriebsversammlungen ausgepfiffen. Auch in der Kommunalpolitik gab es Ärger. Viele waren von der Tätigkeit der kommunistischen Stadtverwaltungen enttäuscht. Ultralinke Gruppierungen entstanden, und der Terror der Roten Brigaden steigerte sich. Am 15. Mai 1978 mußte die KPI bei Teilwahlen Verluste hinnehmen. Am 25. Mai hielt Berlinguer vor den kommunistischen Provinz-sekretäre Mai hielt Berlinguer vor den kommunistischen Provinz-sekretären eine Rede, in der er diese Rückschläge zu erklären versuchte: „Ein Teil der Wechselwähler, die 1975 und 1976 zu uns kamen, war von der großen Hoffnung, aber auch von der Illusion getragen, daß ein kommunistischer Vormarsch genügen würde, um relativ leicht und schmerzlos aus der Krise des Landes herauszufinden." Freilich seien diese Rückschläge aus der „gewiß nicht bequemen" Lage der Kommunisten zu erklären, die „ . Kampf-und Regierungspartei" zugleich sein müssen", aber gegenwärtig weder regieren noch opponieren könnten 24).

V. Die Kommunistische Partei Spaniens

Die 1921 gegründete Partei 25) blieb lange eine , Sekte'und gewann erst mit dem Entstehen der Volksfront (1935/36) an Bedeutung. Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges wurde sie bald zur führenden Kraft im republikanischen Lager: Die Sowjetunion war das einzige Land, das die Republik unterstützte, sie mit Geld und Waffen versorgte, militärische Berater und auch Agenten der GPU nach Spanien entsandte. Die KP Spaniens wurde zum wichtigsten Instrument Stalins. Sie leitete die Internationalen Brigaden, gewann entscheidenden Einfluß auf die (von Sozialisten geführten) republikanischen Regierungen und spielte — in enger Zusammenarbeit mit der GPU — eine wesentliche Rolle im Kampf gegen linke, aber revolutionär und antistalinistisch eingestellte Gruppen Nach dem Sieg Francos befand sich die Parteiführung im Ausland, während in Spanien selbst kommu-nistische Kader, ständig verfolgt, einen an Opfern reichen Kampf führten.

Die Partei blieb bis 1968 moskautreu, dann erst setzten die Veränderungen ein. Die Parteiführung verurteilte den Einmarsch der UdSSR in die Tschechoslowakei mit größerer Schärfe und Entschiedenheit als etwa die KP Frankreichs. Sie richtete Angriffe gegen die KPdSU und erarbeitete eine neue, von der KPI beeinflußte „eurokommunistische" Politik. Sie befürwortete den „friedlichen Weg" zur pluralistischen Demokratie und zur Zusammenarbeit mit allen gegen das Franco-Regime kämpfenden Gruppen. Diese Linie wurde in ihrem, vor Francos Tod geschriebenen und 1975 veröffentlichten Manifiesto-Programa festgelegt. Die von dem Kommunisten Marcelino Camacho geführten und immer aktiver werdenden „Arbeiterkommissionen" billigten den neuen Kurs der Partei. Alle Versuche Moskaus, die Partei zu spalten, blieben erfolglos.

Nach Francos Tod, kurz vor der Legalisierung der KP, verfaßte Generalsekretär Carrillo sein Buch Eurocomunismo y Estado, ein reichlich konfuses Werk, aus dem in der Folge einige der charakteristischsten Abschnitte zitiert werden sollen

Seine eigenen Grundauffassungen drückte Carrillo mit den folgenden Worten aus: „Wir werden die Ideen des revolutionären Marxismus nicht auigeben: den Begriff des Klassenkampfes, des historischen und dialektischen Materialismus, des weltrevolutionären Prozesses, der dem Imperialismus ein Ende bereiten wird.“

Womit der Generalsekretär lediglich bewies, wie sehr er dem „offiziellen" Marxismus-Leninismus verhaftet geblieben war. Den Gegensatz zwischen Eurokommunismus und Sozialdemokratie stellte er wie folgt dar: „Es darf keine Konfusion von Eurokommunismus und Sozialdemokratie aufkommen. (Der Eurokommunismus) ist darauf gerichtet, die kapitalistische Gesellschaft zu transformieren (sic! B. G.) und nicht darauf, sie zu verwalten, eine Alternative zum System des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu erarbeiten, statt sich in dieses System zu integrieren ..." „Wir kehren nicht zur Sozialdemokratie zurück, weil wir die Möglichkeit einer revolutionären Machtergreifung nicht ausschließen, falls die herrschenden Klassen den demokratischen Weg versperren sollten.“

Die ersten Sätze sind bemerkenswert, wenn man sie der praktischen Politik gegenüberstellt, die die KP Spaniens in den Jahren 1977/78 betrieb, während im nächsten Satz den sozialdemokratischen Parteien unterstellt wird, sie würden auch dann noch am „demokratischen Weg" festhalten, wenn die Demokratie durch eine reaktionäre Diktatur ersetzt werden sollte. „Die Eurokommunisten", heißt es an anderer Stelle, „müssen beweisen, daß einerseits die Demokratie nicht mit dem Kapitalismus identisch ist, daß vielmehr ihre Entfaltung die Überwindung dieses Systems erforderlich macht; andererseits, daß der Sieg der sozialistischen Kräfte in Westeuropa weder die sowjetische Staatsmacht stärken noch die Verwirklichung des sowjetischen Modells bedeuten wird.“

Besonderen Ärger erweckte in Moskau die scharfe Kritik an diesem „sowjetischen Modell". Da heißt es zunächst: „Die fehlende Glaubwürdigkeit der Kommunisten erwächst weniger aus unserer eigenen Politik, als daraus, daß in den Ländern, in denen das kapitalistische System verschwand, eine von einer einzigen Partei bestimmte proletarische Diktatur errichtet wurde, die schwerwiegende bürokratische Deformationen und sehr ernste Degenerationsprozesse aufweist.“ In der Sowjetunion sei ein mächtiger Staat entstanden, der im Namen der Gesellschaft spricht, der aber in Wahrheit über ihr steht und sie beherrscht Man könne die sowjetische Bürokratie nicht als eine neue kapitalistische Klasse ansehen, doch verfüge sie über unbeschränkte Macht Die sowjetische Demokratie sei ebenso „formal" wie die kapitalistische Die Sowjetunion sei nach wie vor durch soziale Ungleichheit gekenn-zeichnet, durch einen niedrigen Lebensstandard, durch unzureichende Versorgung der Bevölkerung und durch niedrige Produktivität, durch das Fehlen der Demokratie und durch soziale Konflikte, die von der offiziellen Propaganda verheimlicht würden

Die KPdSU betrachtete die Ausführungen Carrillos, der merkwürdigerweise die so charakterisierte Ordnung immer noch mit dem Wort „sozialistisch“ bezeichnete, als eine Kriegserklärung und antwortete zunächst mit einem langen Artikel in der Moskauer Zeitschrift Nowoje Wrenja (Neue Zeit), dessen deutsche Übersetzung in der FAZ vom 27. Juni 1977 erschien.

Wie aber sah die Praxis der spanischen KP aus?

Die legalisierte KP beteiligte sich 1977 an den ersten Parlamentswahlen, bei denen sie zehn Prozent aller Stimmen erhielt. Im November desselben Jahres unterzeichnete sie gemeinsam mit den anderen demokratischen Parteien den Pakt von Moncloa, in dem sie die Monarchie anerkannte und sich zu loyaler Zusammenarbeit mit der Regierung verpflichtete. Ihre Parlamentsabgeordneten beteiligten sich an der Ausarbeitung der neuen Verfassung und stimmten geschlossen für den Verfassungsentwurf, der Ende Juni 1978 vom „Unterhaus" angenommen und an den „Senat" weitergeleitet wurde Die Partei verzichtete auf alle „revolutionäre" Politik. Weder sie selbst, noch die „Arbeiterkommissionen" versuchten, Massenbewegungen zu entfachen oder zu Streiks aufzurufen.

Im April 1978 trat der IX. Parteitag zusammen, der erste nach der Ära Franco. Ihm lagen 15 von den Parteiführern erarbeitete Thesen vor, deren 15. vorschlug, das Adjektiv „leninistisch" aus der offiziellen Parteibezeichnung zu streichen. Im Parteiorgan Mundo Obrero und auf zahlreichen regionalen und lokalen Parteikonferenzen fanden offene Diskussionen statt, bei denen auch die Gegner der Parteispitze zu Worte kamen und manchmal sogar die Mehrheit errangen. Doch war die Opposition nicht einheitlich. W. Haubrich, Korrespondent der FAZ, meinte, sie setzte sich aus vier Gruppierungen zusammen, die nur wenige Gemeinsamkeiten aufwiesen: den Leninisten, den „Clandinisten" (Anhänger des bereits erwähnten, nicht mehr der Partei angehörenden Fernando Clandin), den regionalen Autonomisten, den Gegnern von Carrillo, die dem Generalsekretär seine „autoritäre" Haltung vorwarfen Die meisten prominenten Parteiführer waren mit der 15. These einverstanden, darunter auch der Vorsitzende des Madrider Bezirks, Sanchez Montero, der meinte, der Eurokommunismus vertrage sich mit dem Leninismus wie Hund und Katze

In einem Interview wies Sanchez Montero darauf hin, „daß es sich nicht um eine Loslösung vom Leninismus handelt, sondern daß der Leninismus von der Geschichte überholt worden ist. Zweitens möchte ich sagen, daß — mit Ausnahme der Provinzen Soria und Ciudad Real, sowie der Vereinigten Sozialistischen Partei Kataloniens (PSUC) — die meisten Parteitage in den Provinzen und Regionen sich dafür aussprachen, was in der Presse die , Loslösung vom Leninismus'genannt wird."

Auf dem Parteitag erklärte Carrillo, der Verzicht Adjektiv das leninistisch bedeute nicht, daß sich die Partei vom Geist und allen Auffassungen Lenins distanziere. Sie sei Lenin treuer als jene, die seine Formeln andauernd wie eine Gebetsformel wiederholten. Nach lebhafter Debatte stimmte die große Mehrheit der Delegierten dafür, die Bezeichnung „leninistisch" fallenzulassen und die KP als „marxistisch, demokratisch und revolutionär" zu bezeichnen. Von den 1 350 Delegierten, die 220 000 Mitglieder vertraten, stimmten 968 für die 15. These, 248 dagegen, während sechs sich der Stimme enthielten und 40 für die Einberufung eines Sonderparteitages votierten. Santiago Carrillo, der im Verlauf des Parteitages oft kritisiert wurde und auch Selbstkritik übte, bekannte sich ausdrücklich zum „demokratischen Zentralismus", der aber wirklich demokratisch sein müßte. Er und an-dere Mitglieder der alten Führung (darunter auch der Chefideologe Manuel Azcärate und der Wirtschaftsfachmann Ramon Tamames) wurden wiedergewählt. Wie gemäßigt deren Auffassungen sind, geht auch aus Interviews hervor, die sie der deutschen Zeitschrift Industriemagazin gewährten

Man kann also kaum bestreiten, daß die KP Spaniens gegenwärtig in das System integriert ist. Sie steht eher rechts als links von der Sozialistischen Partei und wird von linken Kritikern ironisch als „Königlich-Kommunistische Partei Spaniens" bezeichnet. Die Partei ist jedoch in ihrer Struktur weit demokratischer als andere kommunistische Parteien. Welche der in ihr bestehenden Strömungen sich schließlich durchsetzen wird, kann man bis heute noch nicht voraussehen; man kann bisher auch noch nicht die Frage beantworten, ob und inwieweit die Parteiführung ihre wirkliche Konzeption hinter einer gemäßigten Maske verbirgt.

VI. Die Kommunistische Partei Frankreichs

Von 1956 bis zum März 1978

Die KPF kam erst spät zum -Eurokommunis mus. Von den Ereignissen des Jahres 1956 wurde sie kaum berührt. Sie wandte sich gegen die Haltung Togliattis und stand loyal zur KPdSU. Erstmals kritisierte sie die Repression Moskaus gegen die Dissidenten im Jahr 1966, anläßlich der Verfolgung von Daniel und Siniawski. 1968 verurteilte sie zwar den Einmarsch in die SSR, tat dies aber auf sehr behutsame Weise. 1970 schloß sie ihren prominentesten Theoretiker Roger Garaudy aus, weil er mit den revoltierenden Studenten vom Mai 1968 sympathisiert und weitaus entschiedener als die Parteiführung die Niederschlagung des Prager Frühlings verdammt hatte

Ihre Versuche, zu einer Einigung mit den Sozialisten zu gelangen, entsprachen der Volksfront-Tradition und hatten nichts mit Euro-kommunismus zu tun.

Diese „Einheitsfront" konnte sich erst ab 1971 verwirklichen, als die alte, geschwächte und weitgehend kompromittierte SFIO durch eine neue Sozialistische Partei ersetzt wurde, an deren Spitze Francois Mitterrand stand, der entschieden für ein Bündnis mit den Kommunisten eintrat. Im gleichen Jahr war Georges Marchais zum Generalsekretär der KPF gewählt worden.

1972 wurde — mit Blick auf die Parlamentswahlen des Jahres 1973 — ein „Gemeinsames Regierungspiogramm der Linken" verabschiedet, auf dessen Inhalt sich die Kommunisten, die Sozialisten und die kleine, von der Radikalen Partei abgespaltene „Bewegung der linken Radikalen" geeinigt hatten. Es ein war breit angelegtes Programm, das eine linke Regierung einzusetzen versprach, falls die Linke an die Macht kommen sollte; es sah eine Demokratisierung des Staates vor, sagte den Monopolen den Kampf an und plante die Nationalisierung von Banken, Kreditinstituten und von neun großen, namentlich aufgeführten Unternehmen. Im Vorwort ihrer Veröffentlichung des Gemeinsamen Programms zählten die Sozialisten jene drei wichtigsten Punkte auf, über die sie sich mit den Kommunisten nicht hatten einigen können.

1. Was die Nationalisierungen betraf, hatten die Kommunisten die von den Sozialisten geforderte „Selbstverwaltung" (autogestion) der Arbeiter in den verstaatlichten Betrieben abgelehnt. Diese Frage konnte aber ausgeklammert werden, da es sich ja nur um ein Programm für die nächsten fünf Jahre handelte, und niemand hätte erwarten können, daß eine Regierung der Linken gleich nach der Machtübernahme die Selbstverwaltung „von oben" verfügen würde.

2. In bezug auf die nationale Sicherheit hatte die KP verlangt, die französische Armee solle lediglich defensiven, auf die Verteidigung des eigenen Territoriums beschränkten Charakter haben. Die nationale Atomstreitmacht solle aufgelöst werden und Frankreich müsse auf die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen verzichten. Die Sozialisten lehnten diese Forderung ab, weil ihre Annahme Bündnisse mit anderen Staaten unmöglich gemacht hätte.

3. Ein politisch geeintes Europa wurde von den Sozialisten befürwortet, von den Kommunisten hingegen bekämpt Da die Linke die Wahlen von 1973 nicht gewann, verschwand das Programm von der Tagesordnung.

Bis Mitte 1975 gab es keine Kursänderung in der Politik der KPF, vielmehr traten Anfang 1975 neue, scharfe Gegensätze zwischen ihr und den Sozialisten auf. Es ging um die portugiesische Innenpolitik. Die KP Portugals unter Alvaro Cunhal bekämpfte die von Mario Soares geführten Sozialisten. Während nicht nur Mitterrand und seine Genossen, sondern auch Carrillo und die italienische KP für Soares und gegen Cunhal Stellung bezogen, gehörte die KPF zu den engsten Verbündeten der moskaufreundlichen KP Portugals. Im Verlauf der innerkommunistischen Verhandlungen, bei denen es um die von der KPdSU und ihren Anhängern ursprünglich für 1975 geplante Konferenz ging, brachen die Gegensätze zwischen den moskautreuen und den auf Unabhängigkeit bedachten Parteien auf. Die KPF stand dabei auf der Seite der KPdSU. Die Vorverhandlungen zogen sich in die Länge. Um die Divergenzen zu beheben, wurde im Frühjahr 1975 eine paritätisch zusammengesetzte Arbeitsgruppe gebildet, die von Mai bis Mitte Juli debattierte. Den vier Vertretern der „unabhängigen" Parteien (Jugoslawien, Rumänien, Italien, Spanien) standen vier Vertreter der „Orthodoxen" gegenüber: neben den Repräsentanten der KPdSU, der SED und der KP Dänemarks — der Delegierte der KP Frankreichs

Die Wendung zum Eurokommunismus vollzog sich schlagartig im Verlauf der zweiten Hälfte des Jahres 1975: Am 8. August kritisierte Georges Marchais auf einer Pressekonferenz einen zwei Tage zuvor in der Moskauer Prawda erschienenen Artikel von Zarodow. Dieser war darin auf die Haltung Lenins im Jahr 1905 eingegangen und hatte die Aktualität der von Lenin formulierten „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern" und die Unabdingbarkeit des proletarischen Internationalismus unterstrichen. Marchais veranlaßte dies zu einer öffentlichen Erwiderung: Die Politik der KPF werde in Paris und nicht in Moskau gemacht. Das Eintreten der KPF für die Erhaltung und Vertiefung der persönlichen und kollektiven Freiheit sei eigenständig und entspräche keinem bereits existierenden Modell des Sozialismus.

Im November 1975 fuhr Marchais nach Rom, wo er gemeinsam mit Berlinguer die weiter oben aufgeführte Deklaration unterzeichnete.

Einen Monat später nahm die KPF-Führung einen Fernsehfilm, in dem ein sowjetisches Konzentrationslager gezeigt wurde, zum Anlaß, einen heftigen Kampf gegen die in der Sowjetunion herrschende Repression zu entfachen.

Am 20. Dezember wandte sich Marchais im Fernsehen gegen die Verfolgung des Ziels, eine „Diktatur des Proletariats" zu errichten. Auf dem Anfang Februar zusammengetretenen XXII. Parteitag der KPF, der beschloß, diesen Begriff aus den Statuten der Partei zu streichen, hielt Marchais die Eröffnungsrede. Darin hieß es u. a., die französischen Kommunisten könnten es nicht zulassen, daß ihr Ideal durch ungerechte und ungerechtfertigte Akte besudelt werde, die in der Sowjetunion 58 Jahre nach der Oktoberrevolution geschähen.

Kurze Zeit später trat in Moskau der XXV. Parteitag der KPdSU zusammen, bei dem auch einige Führer oppositioneller kommunistischer Parteien, z. B. Berlinguer, erschienen. Marchais aber weigerte sich, nach Moskau zu fahren; er begründete dies in einer Sendung des Pariser Fernsehens mit den tiefen Meinungsverschiedenheiten, die es zwischen den beiden Parteien bezüglich der Probleme der sozialistischen Demokratie und auch der Bewertung der französischen Außenpolitik gebe.

Am 11. Mai 1977 sagte der Generalsekretär der KPF: „Der XXII. Parteitag hat die Freiheit, die Demokratie zum wichtigsten Gegenstand des Kampfes der Werktätigen unseres Landes gemacht. Doch ist der XXII. Parteitag zugleich durch eine andere idee-force gekennzeichnet, der keine geringe theoretische und politische Bedeutung zukommt: die Idee der nationalen Unabhängigkeit.

In der Tat war die KPF bemüht, Einfluß auch auf die gaullistischen Wähler auszuüben, woraus sich nicht zuletzt ihr gegen die USA gerichteter Anti-Imperialismus, ihr betonter Patriotismus, ihre verschärfte Kritik an der Europäischen Gemeinschaft und ihr plötzliches Bekenntnis zur französischen Nuklearstreitmacht erklärt. Zur gleichen Zeit begann sie unter der Losung „Laßt die Reichen zahlen!" eine Kampagne gegen die Armut, deren Zunahme sich aus der sowohl „relativen wie absoluten Verelendung des Proletariats" ergebe.

Die Parteiführung war sich gewiß dessen bewußt, daß solche Stellungnahmen und Kampagnen bei den Sozialisten nicht auf Sympathien stoßen würden. Doch war es gerade das von den Demoskopen festgestellte Wachstum des sozialistischen Einflusses, das der KPF Sorgen bereitete. Sollte es den Sozialisten gelingen, bei den Wahlen im März 1978 die KP weit zu überflügeln, würde die KPF bei einem Sieg der Linken nur die zweite Geige spielen können und in der von Mitterrand geführten Regierung nur verhältnismäßig unwichtige Ministerien zugewiesen bekommen, trotzdem aber die Mitverantwortung für die Politik tragen müssen. Ünd diese Politik würde — angesichts der Weltwirtschaftskrise und den besonderen Problemen Frankreichs — Enttäuschung innerhalb der linken Wählerschaft hervorrufen.

Von einer solchen Analyse ausgehend scheint die KPF-Führung sich im Herbst 1977 zu einer Wendung ihrer Politik entschlossen zu haben, die eine Wahlniederlage herbeiführen mußte: Im September 1977 brach sie die wochenlangen Verhandlungen mit den Sozialisten und Radikalen der Linken über eine Aktualisierung des Gemeinsamen Programmes von 1972 ab

Kurz nach dem Abbruch der Verhandlungen begann sie eine Kampagne gegen die sozialistischen Bundesgenossen. Diese wurden beschuldigt, nach rechts zu rücken, sich von einer revolutionären zu einer „reformistischen" Partei zurückzuentwickeln, das Gemeinsame Programm von 1972 faktisch zu verraten. Trotz eines kurz vor der Wahl ohne programmatische Diskussion zwischen den beiden Parteien der Linken abgeschlossenen Pakts, demzufolge beide sich verpflichteten, beim zweiten Wahlgang für den Kandidaten der Linken zu stimmen, der im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatte, war der angerichtete Schaden irreparabel. Die Linke verlor die Wahl. In gewissem Sinne hatten die Kommunisten erreicht, was sie beabsichtigten: Die Sozialisten errangen nicht die erhofften 25— 28 Prozent, sondern nur knapp 23 Prozent aller Stimmen, die Kommunisten etwas weniger als 21 Prozent.

Das Land war erstaunt, die Linke enttäuscht und niedergeschlagen. Die „Bewegung der Radikalen Linken" kündigte den Pakt mit den Kommunisten auf, während in der Kommunistischen Partei eine Diskussion begann, die die Parteiführung nicht zu kanalisieren vermochte.

Die Ansichten von zwei kommunistischen Intellektuellen, von denen der erste eher zum rechten, der zweite zum linken Flügel der Partei gehört, spiegeln die Ereignisse wider.

In drei aufeinanderfolgenden Artikeln (Le Monde, 13., 14. und 15. April 1978) kritisierte der Historiker Jean Eilenstein die Politik seiner Partei und die Ideen der Parteiführung, die ihm — auch in bezug auf die UdSSR — von Marchais und seinen Anhängern nicht klar und konsequent analysiert erschienen. „Die UdSSR stellt nicht nur kein Modell des Sozialismus, sondern geradezu das Gegenteil eines solchen Modells dar. Der Sozialismus, wie wir ihn verstehen, existiert nirgends. Wir wissen in Wahrheit nicht, was er sein wird, wohl aber, was er nicht sein darf."

Auch der Begriff „Revolution" habe im gegenwärtigen Frankreich nicht mehr jene Bedeutung, die er einstmals gehabt habe. Der Weg zum Sozialismus führe nur über den Prozeß einer tiefgehenden Strukturreform. Eine solche gänzlich neue Konzeption widerspreche der Tradition und den Mythen, die die Gründer der KPF erfüllt hätten. Die Führung der KPF habe die Wendung zu neuen Auffassungen nicht klar genug gemacht. „Eine große Zahl links stehender Franzosen hat es vorgezogen, ihre Stimme der Sozialistischen Partei zu geben, weil sie nicht sicher sind, ob sich die KPF wirklich gewandelt hat, und die seit September 1977 von der Partei verlolgte Politik hat diese Zweifel verstärkt." Ohne sich um die wirkliche Lage der französischen Arbeiter zu kümmern, ohne auf die im Verlauf der letzten Jahrzehnte erkämpften sozialen Reformen einzugehen, habe die KPF eine primitive „Kampagne gegen die Armut" entfacht, ohne zu bemerken, daß ein beträchtlicher Teil der französischen Arbeiter sich selbst nicht als „arm" empfinde, sondern mit ihrer materiellen Lage im großen und ganzen zufrieden sei. So hätte man mit Hilfe völlig veralteter Konzeptionen von der nicht nur „relativen", sondern auch „absoluten" Verelendung des Proletariats und mit demagogischen Parolen wie „Die Reichen sollen zahlen!" eine Kampagne geführt, die an den wirklichen Problemen der Arbeiter vorbeigezielt hätte. Damit habe man die Arbeiter nicht für sich gewinnen können, die Intellektuellen und die Mittelschichten aber abgestoßen.

Noch schärfer war die Kritik des Philosophen Louis Althusser in Le Monde vom 25. bis 28. April 1978:

Die Politik der Partei werde ausschließlich von der Führung festgelegt und den Mitgliedern aufgezwungen. So sei 1972 bei der Annahme des Gemeinsamen Programms, bei der jüngsten, völlig Verfehlten Kampagne „gegen die Armut" und bei allen, geradezu atemberaubenden Wendungen der Parteipolitik verfahren worden — etwa bei dem plötzlichen Bekenntnis zur Nuklearstreitmacht und der ebenso plötzlich einsetzenden Offensive gegen die Sozialisten. Nichts sei vom wirklichen, demokratischen Sozialismus geblieben: „Die Partei ist nach dem Modell des bürgerlichen Staats-und Militärapparats aufgebaut." Ihre allmächtige Spitze stütze sich auf einen großen Apparat von Berufsfunktionären, der — entsprechend den bürgerlichen Prinzipien — hierarchisch gegliedert und der Basis entfremdet sei.

Kein Wunder, schreibt Althusser weiter, daß die Partei unter einer permanenten Fluktuation leide, daß alte, erfahrene Mitglieder sie verlassen und durch neue und unerfahrene ersetzt werden, so daß die Zahl der ehemaligen Kommunisten die der tatsächlichen Mitglieder weit übersteige, daß die Parteiideologie zu einer Karikatur, einer Sammlung von Plattitüden verkommen sei.

Die Losung „Laßt die Reichen zahlen!" habe den Eindruck erweckt, die Partei wolle zur alten Taktik „Klasse gegen Klasse" zurückkehren. „Statt die Monopole zu isolieren, hat man die Mittelschichten abgestoßen.“

Man habe darauf verzichtet, große Teile der Intellektuellen und der Gehaltsempfänger zu gewinnen und habe sie den Sozialisten überlassen. Die Parteipresse habe eine Kampagne gegen die Intellektuellen geführt „und den großen Problemen der Gesellschaft und der Kultur, die sich im Mai 1968 manifestiert haben, keine Beachtung geschenkt“.

Die Partei habe nichts über die wachsende Macht der Bürokraten und des Staates, über die Selbstverwaltung, die Frauenfrage, die Probleme der Urbanisierung gesagt. Sie habe nur halbherzig versucht, sich der Realität anzupassen, nicht, sich zu erneuern. „Doch bleiben wir immer auf halbem Wege stehen ... Die alte kommunistische Partei existiert nicht mehr, die neue, der Wirklichkeit angepaßte existiert noch nicht. Daraus resultiert eine Identitätskrise, deren Bedeutung man nicht unterschätzen darf."

Die Partei habe auf die Erarbeitung einer der Realität entsprechenden Theorie verzichtet und auch die Parteivergangenheit nie einer Analyse unterzogen, mit ihr nicht wirklich gebrochen und nie klargestellt, wie schädlich sich diese Vergangenheit auf den Einfluß und die Glaubwürdigkeit der Kommunisten auswirkte. „Man mag als Erbe der Oktoberrevolution auitreten und die Erinnerung an Stalingrad wachhalten. Wenn man aber auch die Schuld an dem Gemetzel und den Massendeportationen der , Kulaken'genannten Bauern, an der Vernichtung der Mittelschichten, an , Gulag'und den noch 25 Jahre nach Stalins Tod andauernden Repressionen mit sich schleppt, wenn man als einzige Garantie der demokratischen Wandlung nur Worte anbietet, die in der einzigen Domäne, in der sie nachprüfbar sind — der innerparteilichen Basis —, dementiert werden, kann man begreifen, warum die Partei blockiert ist."

Der Prozentsatz der Wähler der KPF schwanke zwischen 20 und 21 Prozent. Sie sei nicht einmal imstande, auch nur die Mehrheit der Arbeiter für sich zu gewinnen. Bei den letzten Wahlen habe sich gezeigt, daß nur ein Drittel von ihnen für die Partei, 30 Prozent für die Sozialisten, 20 Prozent für die Parteien der „Rechten" gestimmt und der Rest sich der Stimme enthalten habe.

Die Partei habe sich in eine Festung verwandelt, die einem Fünftel der Franzosen Zuflucht gewähre. Aus dieser Festung gelte es auszubrechen mit Hilfe der Neuerweckung der marxistischen Theorie, der Erarbeitung einer der Realität angepaßten Konzeption, der völligen Änderung der Parteistruktur und einer Bündnispolitik, die Spitzenabkommen mit den anderen Parteien mit der Entfaltung eines Massenkampfes verbindet.

Am 26. April versuchte Marchais auf einer Tagung des Zentralkomitees den Kritikern zu antworten. Ihre Kritiken seien unberechtigt und drückten nur die Meinungen einer kleinen Minderheit aus. Die Parteipolitik sei im wesentlichen richtig gewesen, die Mißerfolge bei den Wahlen erklärten sich in erster Linie aus der „Rechtswendung der Sozialisten"

Kurz gesagt —: Marchais spielte die Rolle des Doktors Pangloss aus Voltaires Candide: Die KPF sei die beste aller möglichen kommunistischen Parteien. Die Partei fuhr fort, die Sozialisten zu bekämpfen, mit dem Ergebnis, daß bei den fünf Nachwahlen zum Parlament, die bis Ende September 1978 stattfanden, der Stimmanteil der Sozialisten stark wuchs, während der der Kommunisten abnahm

VII. Schlußbemerkung

Der 1964 aus der spanischen KP ausgeschlossene Schriftsteller Jorge Semprün hat einen Artikel geschrieben, der in Le Monde vom 30. April 1978 unter dem Titel „Totenglocken für den Eurokommunismus" („Le glas de l'eurocommunisme") erschien. Er schloß mit den Sätzen: „Die Eurokommunisten verfolgen eine gemeinsame Politik. Sie sind darauf aus, den Status quo zu erhalten. Sie verzichten auf alle Versuche, der gegenwärtig bestehenden sozialen Hegemonie ein Ende zu bereiten. Einer alten Tradition treu bleibend, hat die KPF wieder daran erinnert, daß sie nicht an eine Revolution denkt, daß die Transformation der Gesellschaft nicht zu ihren Zielen gehört.“

Handelt es sich also tatsächlich um eine „Sozialdemokratisierung" oder um den Versuch, zwischen der Sozialdemokratie — deren Strategie von Land zu Land ja auch verschieden ist und oft der Klarheit ermangelt — und den Marxisten-Leninisten den schmalen Pfad eines „linken Sozialismus" zu finden? Was aber, wenn die Revolution in den entwickelten Ländern tatsächlich unmöglich, zu einem bloßen Mythos geworden ist? Falls nicht nur der Leninismus, sondern auch der Marxismus der neuen Realität nicht mehr entspricht? Falls hier nur die Traditionen der Vergangenheit „wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden" lasten?

Das sind Probleme, die auch in der Sozialistischen Partei Frankreich diskutiert werden und mit zu deren Zerrissenheit beitragen. Der Eurokommunismus, einschließlich seiner linken, durch Clandin vertretenen Variante, findet keine Lösung für diese Probleme: Es fällt ihm schwer, über den eigenen Schatten zu springen. Noch handelt es sich beim Euro-kommunismus weniger um eine neue Richtung als um unklare Ansätze, bei denen die einen versuchen, eine taktische Maskerade vorzunehmen, während andere neue Ausgangspositionen suchen.

Die eurokommunistischen Parteien durchlaufen einen widerspruchsvollen Wandlungsprozeß, dessen Ausgang noch nicht abgesehen werden kann. Man sollte sich daher vor voreiligen Urteilen hüten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Annie Kriegel, Un autre Communisme?, Paris 1977, S. 21.

  2. „Der Ausdruck , Eurokommunismus'charakterisiert eine der kommunistischen Tendenzen der Gegenwart. Wenn es ihm an Genauigkeit fehlt, so zum Teil darum, weil es sich um eine tastende, unfertige Richtung handelt, die sich bis jetzt eher in einer ernsthaft selbstkritischen Politik als in einer erarbeiteten Theorie äußert. Auch hier geht die Praxis der Theorie voran." Santiago Carrillo, Eurocomunismo y Estado, Madrid 1977, S. 10/11.

  3. Giorgio Amendola, in: Henri Reber (Hrsg.), Parti communiste Italien, Paris 1977, S. 93.

  4. Ernest Mandel, Kritik des Eurokommunismus, Berlin 1978, S. 44.

  5. In dem berühmt-berüchtigten Interview, das Enrico Berlinguer dem Journalisten Gianpaolo Pansa gab und das am 15. Juni 1976 im Corriere de la Sera veröffentlicht wurde, ging der Generalsekretär der KPI so weit, den Wert der NATO als Schutzschild der Unabhängigkeit Italiens gegen eine etwaige sowjetische Intervention anzuerkenne.

  6. S. Carrillo, a. a. O., S. 77.

  7. Ich verdanke diesen Hinweis einem Artikel von Neil McInnes, in: Survey, London, Vol. 22, Nr. 3/4, Summer-Autumn 1976, S. 102.

  8. Auf einer Pressekonferenz im Dezember 1976 erklärte Carrillo: „Wenn wir den Weg später eingeschlagen haben als die Italiener, so haben wir den Weg zum Eurokommunismus dann jedoch schneller zurückgelegt, nachdem die internen Schwierigkeiten in unserer eigenen Partei überwunden waren." Zitiert von Walter Haubrich, in: Heinz Timmermann (Hrsg.), Eurokommunismus, Frankfurt 1978, S. 130.

  9. Zitiert nach M. Bossi und H. Portelli, Les P. C. espagnol, francais et Italien face au pouvoir, Paris 1976, S. 30 ff.

  10. S. Carrillo, a. a. O., S. 157/8.

  11. Zitiert aus Jacques Fauvet, Histoire du Parti Communiste Franqais, Bd. II, Paris 1965, S. 187.

  12. The Economist, London, vom 6. Mai 1978, S. 131.

  13. Richard Löwenthal, Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963, S. 27.

  14. Zitiert aus Annie Kriegel, a. a. O., S. 118.

  15. „Das Wort . Kompromiß'ist den italienischen Historikern verwendet worden, um die Bildung des Einheitsstaates zu charakterisieren. Dieser Staat ist nicht aus einer radikalen bürgerlichen Revolution erwachsen, (sondern) aus einem Kompromiß, den die Monarchie von Savoyen mit einigen Schichten der Aristokratie und der Bourgeoisie schloß. Diese Elemente haben einen rechten Block gebildet, der zum Mittelpunkt des neuen Staates wurde und der die Volksmassen ausschloß ... Es handelt sich also um einen Begriff aus dem Vokabular der italienischen Historiographen, der außerhalb Italiens schwer zu verstehen ist." Giorgio Amendola, in H., Weber (Hrsg.), a. a. O., S. 72.

  16. Franz Borkenau, World Communism, University of Michigan Press, 1963, S. 210.

  17. Alfonso Leonetti, Notes sur Gramsci, Paris 1970, S. 114.

  18. Franz Borkenau, Der europäische Kommunismus, München o. J., S. 269.

  19. Ivanoe Bonomi, „Diario di un anno“, zitiert bei Franz Borkenau, Der europäische Kommunismus, S. 271.

  20. Borkenau, Der Kommunismus, europäische S. 431. Dieses Buch ist weit weniger ernst zu nehmen als das frühere Werk (World Communism). Es enthält ernste Fehler und interpretiert die Entwicklung in einer fragwürdigen Weise.

  21. Dieser Begriff war nicht sonderlich glücklich. Als die KPF ihn angriff, wurde er von der KPI-Führung Ende 1961 wie folgt erläutert: „Dieser Begriff darf nicht im Sinne der Bildung mehrerer regionaler Zentren verstanden werden. Er dient dazu, die unverzichtbare Autonomie jeder Partei im Rahmen des proletarischen Internationalismus zu unterstreichen." Zitiert von Giorgio Baili, in: Polycentrism, London 1962, S. 135.

  22. Aus dem Bericht, den das Zentralkomitee der KPI im Januar 1960 dem IX. Parteitag vorlegte, ging hervor, daß allein im Verlauf des Jahres 1957 217 000 Mitglieder ausgetreten waren, während die Gesamtzahl der Mitglieder 1 787 000 betrug. Vgl. Giorgio Galli, a. a. O., S. 127.

  23. Zitiert nach Henri Weber, a. a. O., S. 40.

  24. Eine gute Darstellung der jüngsten Entwicklung dieser Partei kann der Leser im Beitrag von W. Haubrich, in: H. Timmermann (Hrsg.), Eurokommunismus, Frankfurt 1977, S. 127— 153, finden.

  25. Die wohl beste in deutscher Sprache vorliegende Geschichte des Bürgerkrieges ist zur Zeit wohl Pierre Broue und Emile Temime, Revolution und Krieg in Spanien, 2 Bde., Suhrkamp Taschenbücher, Frankfurt 1975.

  26. Auf das wesentlich ernstere Buch des „linken" Eurokommunisten Fernando Clandin, Eurocomunismo y Socialismo, Madrid 1977, können wir aus zwei Gründen nicht eingehen: 1., weil dafür der hier zur Verfügung stehende Platz nicht ausreicht, und 2., weil Clandin 1964 aus der KP ausgeschlossen wurde und somit nicht als Sprecher der Partei angesehen werden kann.

  27. S. Carrillo, a. a. O., S. 29.

  28. Ebd., S. 168.

  29. Ebd., S. 51.

  30. Ebd., S. 197.

  31. Ebd., S. 198 und S. 200.

  32. Ebd., S. 207/8.

  33. Ebd., S. 202.

  34. Ebd., S. 105.

  35. Der in Barcelona gewählte kommunistische Abgeordnete Jordi Sole Tura zählte in der liberalen Madrider Tageszeitung El Pais vom 31. August 1978 die drei wichtigsten Einwände der Kommunisten gegen den als ungemein progressiv bezeichneten Verfassungsentwurf auf: 1. Die Kommunisten waren gegen das Verbot einer gewerkschaftlichen Organisation und die aktive politische Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten. 2. Sie betrachteten. die vorgesehene Zahl der Abgeordneten als zu niedrig. 3. Sie waren gegen die vorgesehene Zusammensetzung des Senats, die agrarischen und reaktionären Elementen mehr Vorteile brächte.

  36. F. A. Z. vom 19. April 1978.

  37. Ebd.

  38. Radio Exterior de Espana — Madrid, 19. April 1978, 10. 43 Uhr GMT.

  39. Industriemagazin, München, 15. Mai 1978.

  40. Siehe das Interview, das Garaudy der Pariser Wochenzeitung L'Express gewährte und das in deren Ausgabe vom 1. — 7. Mai 1978 veröffentlicht wurde.

  41. Programm Commun de Gouvernement, Flammarion, Paris 1973, S. 6— 8.

  42. Kevin Devlin, The Challenge of Eurocommu-nism, in: Problems of Communism, US. Information Agency, Washington, Jan. /Febr. 1977.

  43. Zitiert von Annie Kriegl, a. a. O., S. 155.

  44. Offiziell ging es um das Problem der Nationalisierungen: 1972 waren im Namen des Kampfes gegen die „Monopole" neun große Gruppen von Unternehmen namentlich erwähnt worden, die verstaatlicht werden sollten. Der Begriff „Gruppe von Unternehmen" war von vornherein nicht klar. Nun verlangte die KPF, daß nicht nur die aufgeführten Unternehmen selbst, sondern auch alle ihre „Filialen" und Gesellschaften, an denen sie größere Anteile besaßen, ebenfalls verstaatlicht werden sollten. Das hätte nicht nur eine totale Umwälzung des gesamten französischen Wirtschaftssystems bewirkt und jede mögliche Entschädigung der Enteigneten in Frage gestellt, sondern zugleich eine bereits vor der Machtübernahme der Linken einsetzende Kapitalflucht und somit eine Verschärfung der Wirtschaftskrise hervorgerufen. Darüber hinaus wären vermutlich dadurch auch weite Bereiche der Mittelschichten zutiefst verunsichert worden. Mit der Strategie des Euro-kommunismus waren die Forderungen der Kommunisten also kaum zu vereinbaren. Mit Gewißheit mußte aber erwartet werden, daß die Sozialisten und die Linken Radikalen diese Vorschläge ablehnen würden, was dann auch geschah. Doch war dieser Konflikt nur der offiziell angegebene Anlaß, nicht aber der wirkliche Grund für den Kurswechsel der KPF.

  45. Eine Zusammenfassung dieses Referates in Le Monde vom 29. April 1978.

  46. Wir beschränken uns hier auf die Ergebnisse der letzten drei Nachwahlen, von denen die erste im Departement Pas de Calais, die zweite in Lothringen und die dritte im 14. Pariser Bezirk stattfand, wobei wir die Ergebnisse des ersten Wahlganges vom September 1978 mit denen der März-wahlen desselben Jahres vergleichen. September März Pas de Calais Soz. Partei 49, 3 °/o 32, 0 °/o KPF 6, 4 «so 13, 2 °/o Nancy (Lothringen) Soz. Partei 50, 0 0/0 9, 4 0/0 KPF 18, 8 % 19, 6 °/o Paris, 14. Bezirk Soz. Partei 33, 0 0/0 19, 5 0/0 KPF 19, 3 0/0 22, 2 °/o

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Boris Goldenberg, Dr. phil., geb. 1905 in St. Petersburg (Leningrad); 1914— 1933 in Deutschland (Berlin), 1933— 1941 in Frankreich, 1941— 1960 auf Kuba; ab 1949 Lehrer an kubanisch-nordamerikanischen Oberschulen; 1960— 1963 in London als freier Schriftsteller; 1964— 1971 Leiter der Lateinamerika-Redaktion der Deutschen Welle, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Karl Marx. Ausgewählte Schriften (hrsg. u. eingel.), München 1963; Gewerkschaften in Lateinamerika, Hannover 1963; Lateinamerika und die Kubanische Revolution, Köln—Berlin 1963; Kommunismus in Lateinamerika, Stuttgart 1971; Lateinamerika, in: Jahrbücher der Deutschen Gesell1958— 1960, 1962, 1963, 1966— 1967, 1968— 1969, München—Wien 1971 ff.