Soziale Sicherung zwischen Anpassung und Strukturreform
Rüdiger Voigt
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Zusammenfassung
Das „soziale Netz" der Bundesrepublik Deurtschland wird in der ganzen Welt als eines der tragfähigsten und umfassendsten Systeme zur Sozialen Sicherung angesehen. Jedermann soll auch dann noch ein menschenwürdiges Leben führen können, wenn er durch Alter, Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit nicht mehr selbst in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Staatliche Renten-, Kranken-, Unfall-und Arbeitslosenversicherungen erfassen in Verbindung mit Kindergeld und Wohngeld fast jeden denkbaren Fall sozialer Not. Reicht dies alles nicht aus, so hat schließlich jeder Hilfsbedürftige immer noch einen Anspruch auf Sozialhilfe. Ist damit nun endlich das Zeitalter angebrochen, in dem wir die „Früchte der Industrialisierung" ernten können? Dagegen spricht zumindest die Tatsache, daß das Sozialleistungssystem ausschließlich für eine wirtschaftliche Schönwetterperiode konzipiert wurde. Dauernde Vollbeschäftigung und stetig wachsendes Bruttosozialprodukt wurden in nahezu jeder Phase der Sozialgesetzgebung als selbstverständlich vorausgesetzt. Inzwischen sind jedoch zumindest einige der sozialpolitischen Probleme so akut geworden, daß ihre Lösung unaufschiebbar geworden zu seih scheint: Die Sanierung der Rentenversicherung ist keineswegs abgeschlossen, schon bald drohen aufgrund der ungünstigen Geburtenrate neue Defizite in Milliardenhöhe. Die Kostensteigerungen im Gesundheits-System sind lediglich aufgehalten worden, ohne daß jedoch eine endgültige Lösung seiner Strukturprobleme in Sicht wäre. Ein besonderes Problem bildet in diesem Zusammenhang die Sozialhilfe. Sie ist die letzte Hilfe für all diejenigen, die keinerlei Ansprüche gegen staatliche oder private Versicherungen erworben haben. Von der einen Seite wird sie als Anreiz zum Nichtstun angesehen, statt als Hilfe zur Selbsthilfe zu fungieren. Dann wiederum konstatiert man sechs Millionen in Armut lebende Deutschen und spricht von einer . Wiederentdeckung der Armut'. In dieser Situation wird mit Nachdruck eine „kritische Überprüfung" der Sozialhilfe gefordert. Unser Sozialleistungssystem muß also von Grund auf neu durchdacht und mit Hilfe einer Strukturreform der veränderten wirtschaftlichen Lage angepaßt werden. Allerdings darf dies nicht auf Kosten derjenigen Menschen gehen, die am dringendsten auf die solidarische Hilfe der Allgemeinheit angewiesen sind. Vielmehr muß das gesamte System der Sozialen Sicherung als Einheit betrachtet werden. Folgerichtig sind dann auf der einen Seite staatliche Subventionen, Beihilfen und Privilegien abzubauen, um damit öffentliche Gelder einzusparen. Auf der anderen Seite können mit Hilfe dieser Gelder dann die notwendigen Mittel für die Bekämpfung der „neuen Armut" aufgebracht werden. Es geht also im wesentlichen um eine Umschichtung der vorhandenen Mittel im Gefolge einer neuen Prioritätensetzung. Hauptziel einer Strukturreform des Sozialleistungssystems muß es dabei sein, den Anspruch jedes Bürgers auf ein (materiell gesichertes) menschenwürdiges Leben zu erhalten und, wenn möglich, noch auszubauen.
Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland wird in der ganzen Welt als eines der umfassendsten und tragfähigsten Systeme zur Sozialen Sicherung angesehen. Grundidee dieser Sozialen Sicherung ist die Vorstellung, daß jedermann auch dann noch ein menschenwürdiges Leben führen können soll, wenn er durch Alter, Krankheit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit nicht mehr selbst in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Staatliche Renten-, Kranken-, Unfall-und Arbeitslosenversicherung erfassen in Verbindung mit Kindergeld und Wohngeld nahezu jeden denkbaren Fall sozialer Not. Daneben bestehen — teils alternativ, teils ergänzend — zahlreiche private Versicherungen. Reicht dies alles nicht aus, so hat schließlich jeder Hilfebedürftige immer noch einen Anspruch auf Sozialhilfe Damit findet die staatsbürgerliche Solidarität in unserem sozialen Gemeinwesen ihren höchsten Ausdruck
Breite Bevölkerungsschichten sind somit gegenüber den Lebensrisiken, die alle treffen können, in hohem Maße gesichert Haben wir damit nun endlich den Zeitpunkt erreicht, in dem wir die „Früchte der Industrialisierung" ernten können? Ist damit nach einer Phase menschenfeindlicher, wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung das „Zeitalter der Menschenwürde" angebrochen? Und wenn dies so ist, wie lange werden wir uns noch ein solch kostspieliges „soziales Netz" leisten können? Auf der anderen Seite: Wird unser Sozialleistungssystem zur „sozialen Hängematte", in der sich immer mehr Arbeitsunwillige ausruhen, für die dann immer* weniger Berufstätige finanziell aufkommen müssen? Die Kontroverse um Umfang und Inhalt der Sozialen Sicherung wird nicht mehr länger nur zwischen Regierung und Opposition und innerhalb der politischen Parteien ausgetragen, sondern sie reicht tief in den Bereich der Gewerkschaften und Verbände hinein und erfaßt allmählich auch die Bevölkerung selbst.
Angesichts einer unverändert hohen Zahl von Arbeitslosen in der Bundesrepublik und der Existenz wirtschaftlicher und sozialer Not nicht nur in den Randgruppen der Bevölkerung muß die Lückenlosigkeit des „sozialen Netzes" skeptisch beurteilt werden. Der optimistische Eindruck, das staatliche Soziallei-stungssystem brauche nur durch Gewährung neuer Leistungen oder durch die Einbeziehung weiterer Gruppen der Bevölkerung weiterentwickelt zu werden, erscheint rückblikkend als Ausdruck einer Euphorie des ungehemmten Wirtschaftswachstums. Dieser Eindruck mußte sich schon deshalb als falsch erweisen, weil das System der Sozialen Sicherung weder organisch gewachsen ist noch der Sozialpolitik der verschiedenen Bundesregierungen ein erkennbar einheitliches und konsequentes Konzept zugrunde gelegen hat. Zwar mangelte es nicht an weitreichenden sozialreformerischen Vorstellungen Aber gerade die Sozialpolitik ist über das im Rahmen der praktischen Politik übliche (und notwendige) Maß an Kompromissen und Rücksicht-nahmen auf Sonderinteressen hinaus durch „Wahlgeschenke" und andere sachfremde Motive bestimmt worden.
I. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik
1. Ursprung und Tendenzen der Sozialpolitik Sozialpolitik ist vom Ursprung her kein systematischer, sondern ein historischer Begriff, der sich aus drei gänzlich heterogenen, also in sich widersprüchlichen Entwicklungslinien herleiten läßt Eine dieser Linien ergibt sich aus den Besonderheiten des (früh-) kapi-talistischen Wirtschaftssystems. Die Verelendung großer Teile der Bevölkerung im Gefolge der Industrialisierung sowie die unmenschlichen Lebensbedingungen der Arbeiter und ihrer Familien wurden allmählich zu einer Bedrohung für die innere Stabilität des staatlichen und gesellschaftlichen Systems. Eine Sozialpolitik, die zumindest versuchte, die durch Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit und Invalidität verursachte Not zu lindern, war daher nicht nur Folge, sondern auch Voraussetzung der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieser Komplex wird heute insgesamt zum Begriff der Sozialversicherung zusammengefaßt. Ein weiteres Ursprungsgebiet bilden die Entschädigungsleistungen nach politischen Katastrophen (Kriegen etc.), die zu Ansprüchen an das Sozialprodukt führten. Dieses Ge-biet umfaßt den Bereich der Sozialen Entschädigung. Ein dritter Entwicklungsstrang ist schließlich die Armenfürsorge, aus der die heutige Sozialhilfe entstanden ist. a) Sozialpolitische Theoriebildung Angesichts der Heterogenität der Entwicklungslinien verwundert es kaum, daß es eine allgemein anerkannte Lehre von der Sozialpolitik nicht gibt Es lassen sich lediglich — einander z. T. widersprechende — soziologische, politikwissenschaftliche, juristische und wirtschaftswissenschaftliche Ansätze zu ihrer theoretischen Behandlung erkennen. Dabei stehen je nach Standort des Autors und Zeitpunkt der Erörterung Umfang, Ziele, Mittel, Träger, Funktionen oder auch Ursachen und Wirkungen im Vordergrund Den stärksten Einfluß auf die sozialpolitische Theorie-bildung haben zweifellos die Wirtschaftswissenschaften ausgeübt Das liegt nicht zu-letzt an der engen Verknüpfung von Sozialpolitik und Wirtschaftsordnung, die in dem Prinzip der „sozialen Marktwirtschaft" zum Ausdruck kommt. Vor allem aber hat sich die sozialpolitische Praxis stets auf einkommenspolitische Maßnahmen und deren ökonomische Konsequenzen konzentriert. Adressat der Sozialpolitik war der zeitweilig erwerbsunfähige Arbeitnehmer
Die ökonomische Sicht der Sozialpolitik spielt daher in der wissenschaftlichen Diskussion eine besondere Rolle. Die Wirtschaftswissenschaften selbst haben sich freilich von der ausschließlich einkommenspolitischen Betrachtungsweise abgewandt, nachdem sie diese als zu einseitig erkannt hatten. Eine neuere Forschungsrichtung nimmt daher eine (theoriebezogene) Zweiteilung vor, die zugleich verschiedene (praktische) Gegenstandsbereiche markiert. Der Theorie der gesellschaftlich bedingten Entstehung und Entwicklung sozialpolitischer Bedürfnisse wird eine Theorie der Produktion sozialpolitischer Güter und Dienstleistungen gegenübergestellt Diese Differenzierung wurde auch von der neuen soziologischen Forschung aufgegriffen, die in ähnlicher Weise zwischen einkommenspolitischen Maßnahmen auf der einen Seite und sozialen Dienstleistungen auf der anderen Seite unterscheidet b) Staatliche Rationalisierungsmaßnahmen Die Soziale Sicherung gehört gleichermaßen zu beiden Gegenstandsbereichen, umgreift diese aber bei weitem nicht vollständig. Vielmehr sind zur Gruppe der sozialpolitischen Bedürfnisse z. B. auch die Probleme der betrieblichen Mitbestimmung zu rechnen, während der Komplex der sozialpolitischen Güter- und Dienstleistungen die gesamte soziale Infrastruktur umfaßt und damit — je nach Definition — auch die Bildungs-und Kulturpolitik. Im Verhältnis der beiden Gegenstandsbereiche zueinander ist als genereller Trend zu beobachten, daß im gesamten Sozialleistungssystem allmählich die Geldleistungen zugunsten kollektiv vorgehaltener und erbrachter Sachleistungen zurückgehen worunter auch der Ausbau der Sozialinfrastruktur zu verstehen ist. Kaufkraftübertragungen werden also zumindest teilweise durch anstaltliche Verhältnisse der Beratung, Betreuung, Pflege, Heilung, Resozialisation etc. ersetzt. Auf diesem Wege wird ein kombinierter Steuerungs-und Einsparungseffekt erzielt, da nicht nur generell die angebotenen Leistungen auf dem freien Markt teurer bezahlt werden müßten, sondern zugleich auch eine wirkungsvollere Kontrolle der Verwendung von Sozialeinkommen ermöglicht wird
Effizienzsteigernd wirken aber auch andere staatliche Rationalisierungsmaßnahmen, durch die freilich das ursprüngliche Verhältnis der drei Grundprinzipien des Sozialleistungssystems: Versicherungs-, Versorgungs-und Fürsorgemaxime gegeneinander verschoben wird. Durch den Übergang vom Kausal-zum Finalprinzip, bei dem nicht mehr die Ursache des Schadens, sondern seine optimale Beseitigung bzw. Linderung im Vordergrund steht, tritt die Versicherungsmaxime zugunsten der Versorgungsmaxime zurück. Dies ist z. B. immer dann der Fall, wenn der Staat sich durch Bundeszuschüsse oder -erstattun-gen an der Finanzierung der Aufgaben der Sozialversicherungsträger beteiligt Das Versorgungsprinzip verstärkt im Gegensatz zu Versicherungs-und Fürsorgemaxime den Umverteilungseiiekt im Sozialleistungssystem denn für gleiche Sachleistungen werden nach dem Einkommen gestufte Beiträge erhoben. c) Präventive Sozialpolitik Damit wandelt sich der Charakter der Sozialleistungen von der Statussicherung zur Grundsicherung Während diese seit jeher für die gesetzliche Krankenversicherung kennzeichnend war, bei der für unterschiedliche Versicherungsbeiträge qualitativ gleiche Leistungen gewährt werden, sind neuere Beispiele hierfür die einkommensunabhängigen Zahlungen im Familienlastenausgleich
(z. B. Kindergeld) und die Aufnahme neuer Personenkreise in die Rentenversicherung, bei denen nicht sicher ist, ob sie noch mit einer einkommensgerechten Alterssicherung (Statussicherung) rechnen können. Gleichzeitig weist der Staat den Versichertengemeinschaften dadurch den Status von Versorgungsträgern zu, indem er diesen zu seiner Entlastung zunehmend öffentliche Aufgaben aufbürdet. Hierzu gehört etwa die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen, die Übernahme vorsorge-und familienpolitischer Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung sowie die Durchführung berufs-und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen durch die Arbeitslosenversicherung. Das Versicherungsprinzip verliert aber auch gegenüber dem Fürsorgeprinzip an Boden, wie sich etwa bei der Übernahme der Rehabilitationsleistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung zeigt Den gleichen Effekt hat ein weiteres staatliches Rationalisierungsschema, das die Effizienzsteigerung der Sozialpolitik durch Verstärkung vorbeugender Maßnahmen zum Ziel hat. Eine solche präventive Sozialpolitik findet sich in Ansätzen nicht nur im Gesundheitssektor, z. B. bei vorbeugenden Reihenuntersuchungen, sondern gleichermaßen auch in der Bildungspolitik (Vorschulerziehung etc.) und im Bereich des Arbeitsschutzes etwa unter dem Motto „Humanisierung der Arbeit". Das Interesse des Staates liegt hierbei in einem möglichst frühen und damit kostengünstigen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel Da der Umfang der beispielsweise für medizinische Vorsorgemaßnahmen verfügbaren Finanzmittel nicht zuletzt von der Entwicklung der Kosten durch Arzthonorare und Krankenhauspflegesätze abhängt, stellt das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar 2. Sozialpolitik und Wirtschaftswachstum Jede Neuordnung des Sozialleistungssystems wird allerdings durch zwei Tatsachen erheblich erschwert. Zum einen ist die Sozialpolitik heute das zentrale Thema der Gesellschaftsund damit der Innenpolitik Von ihr gehen die stärksten Umverteilungswirkungen aus, so daß sozialpolitische Maßnahmen nahezu jedermann in seinen persönlichen Lebensverhältnissen betreffen. Das bedeutet aber auch, daß sich sowohl die Regierungswie die Oppositionsparteien mit Rücksicht auf die in der Bundesrepublik stets unmittelbar bevorstehenden Landtags-oder Bundestagswahlen kaum zu unpopulären Maßnahmen entschließen werden. Ohne einschneidende Eingriffe in die Privilegien bestimmter Gruppen (wie z. B. Beamte und Bauern) läßt sich aber eine Revision des Gesamtkomplexes „soziale Sicherheit" nicht durchführen. Zum anderen haben einmal gewährte Vergünstigungen die Tendenz, auch dann noch bestehenzubleiben, wenn der Grund für die Leistung längst entfallen ist. Sie pflegen dann als vermeintlicher „sozialer Besitzstand" von den Begünstigten und ihren Organisationen erbittert verteidigt zu werden. Jede Regierung muß also bei einer Revision des Bestehenden mit dem heftigen Widerstand der Betroffenen-Verbände rechnen.
Geht man aber davon aus, daß bereits bestehende Sozialleistungen auch dann nicht angetastet werden, wenn die ursprünglich zugrunde liegende sozialpolitische Zielsetzung längst erreicht oder aber inzwischen überholt ist, dann verengt sich der Spielraum der Sozialpolitik erheblich. Reformen lassen sich nur noch mit zusätzlichen Geldmitteln durchführen. Damit wird besonders in Zeiten stagnierenden Wirtschaftswachstums das Dilemma der Sozialpolitik sichtbar, nämlich die enge Verknüpfung mit der ökonomischen Entwicklung. So trat beispielsweise mit dem Rentendebakel des Jahre 1976 vielen zum ersten Mal das Grundprinzip unseres Sozialleistungssystems deutlich vor Augen: Die im Arbeitsprozeß stehende Generation finanziert durch ihre Beiträge die Sozialleistungen für die aus dem Arbeitsleben Ausscheidenden (sogenannter Generationenvertrag), die wiederum selbst zuvor Beiträge in die Sozialversicherung eingezahlt haben. Das bedeutet aber auch, daß jede Veränderung der wirtschaftlichen Lage zwangsläufig entsprechende Auswirkungen auf die Finanzsituation der Sozialversicherungsträger hat.
Damit kommt in Rezessionszeiten ein großer Mangel unseres Sozialleistungssystems zum Tragen: es wurde nämlich ausschließlich für eine wirtschaftliche Schönwetterperiode konzipiert. Dauernde Vollbeschäftigung und ständig wachsendes Volkseinkommen wurden nahezu in jeder Phase der Sozialgesetzgebung als selbstverständlich vorausgesetzt. Anhaltende Arbeitslosigkeit und geringere Einkommenszuwächse der Versicherten bringen daher das System der Sozialen Sicherheit schnell in Finanzierungsprobleme, die im Ernstfall zumeist durch den Rückgriff auf Steuergelder gelöst werden. Gleichzeitig wird vor allem von konservativen Kritikern des Systems eine drastische Leistungsreduzierung gefordert. Charakteristisch für den unlösbaren Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und Beitragszahlungen ist die Situation der Rentenversicherung. Vermindert sich beispielsweise die Zahl der Beschäftigten um 200 000, so entsteht der Rentenversicherung ein jährlicher Einnahmeausfall von rd. 1 Mrd. DM. Ein ebenso hoher finanzieller Ausfall muß hingenommen werden, wenn die Löhne und Gehälter auch nur um 1 °/o weniger steigen als erwartet
Zugleich nehmen aber auch die Ausgaben sämtlicher Träger des Sozialleistungssystems ständig zu. Inzwischen erreicht die Sozialleistungsquote — also das Verhältnis von Sozialleistungen zum Bruttosozialprodukt — 31, 5 0/0 Pro Kopf der Bevölkerung wurden 1978 5 0/0 29). Pro Kopf der Bevölkerung wurden 1978 im Durchschnitt 6 590 DM für Sozialleistungen aufgewendet (sogenannte Sozialleistungsziffer) 30). Und das Sozialbudget ist im Laufe von knapp sieben Jahren um mehr als das Doppelte gestiegen 31). Damit stellt sich mit aller Dringlichkeit die Frage nach der künftigen Finanzierbarkeit unseres Sozialleistungssystems. Angesichts der Finanzkrise des Staates, verursacht durch die anhaltende Rezession, und im Hinblick auf die inzwischen erreichte Grenze der finanziellen Belastbarkeit der Bürger muß vorurteilslos darüber nachgedacht werden, welche Maßnahmen zur Konsolidierung des Erreichten erforderlich sind. Eine Neuordnung des Systems der Sozialen Sicherheit ist notwendig, um nicht das ganze aufs Spiel zu setzen. Dabei darf auch nicht vor der Abschaffung solcher Zuwendungen haltgemacht werden, die zwar schon lange gewährt werden, deren sozialpolitischer Sinn aber längst zweifelhaft geworden ist. 3. Befriedungsfunktion der Sozialpolitik Eine solche Revision des Sozialleistungssystems muß jedoch auf eine wichtige staatspolitische Aufgabe der Sozialpolitik besondere Rücksicht nehmen: ihre Belriedungsfunk- tion Diese Aufgabe wurde von allen bisherigen Bundesregierungen — unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung — stets als Zentralproblem der Innenpolitik behandelt. Damit zeigt sich aber auch der enge Bedingungszusammenhang zwischen der beispiellosen Festigung des inneren Friedens und der politischen Stabilität der Bundesrepublik einerseits sowie dem außerordentlich hohen finanziellen Aufwand für die Soziale Sicherheit andererseits. Je lückenloser das „soziale Netz" und je umfassender und frühzeitiger die Befriedigung sozialpolitischer Sonderinteressen politisch einflußreicher Gruppen, desto zuverlässiger wirkte scheinbar die Befriedungsfunktion des Sozialleistungssystems; desto weniger dringlich erschienen den Verantwortlichen allerdings auch Strukturreformen in diesem Bereich a) Innenpolitische Stabilität Diese Tendenz wurde noch verstärkt durch die wachsende Neigung der Regierungen, anstelle langfristiger Reformpolitik ein allenfalls mittelfristiges betreiben Krisenmanagement zu Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Behandlung des Rentensanierungsproblems im Jahre 1976 durch die Bundesregierung. Die Reaktion der Betroffenen schien bis vor kurzem den Verfechtern dieses Konzepts recht zu geben. Denn trotz der ökonomischen Krise der letzten Jahre ist die innenpolitische Stabilität, die sich beispielsweise in der extrem geringen „Streikfreudigkeit" der deutschen Arbeitnehmer zeigt, tragfähig geblieben. Trotz nahezu konstanter Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Unsicherheit werden die hiermit verbundenen sozialpolitischen Probleme von den Bürgern — wenn überhaupt — dann auch nur zögernd zur Kenntnis genommen. Erst spektakuläre Pannen z. B. bei der seit langem überfälligen Rentensanierung lassen die Problematik kurzfristig in das Bewußtsein der Öffentlichkeit dringen
Dieses geringe Interesse an den sozialpolitischen Kernproblemen hat in Deutschland freilich eine lange Tradition. Bereits die Bismarcksche Sozialgesetzgebung stand in engem Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz von 1878 Durch die Gewährung eines gewissen Maßes an Sozialer Sicherheit hoffte Bismarck die Arbeiter aus ihrer Bindung an die Sozialdemokratie zu lösen und ihnen damit die politischen Führer zu nehmen Folgerichtig traf daher das Verbot jeglicher politischer Betätigung neben den Sozialdemokraten auch die (sozialistischen) Gewerkschaften In der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 führte Wilhelmi, vor dem Reichstag aus, „daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu suchen sein werde". Als sein Ziel nannte er (u. a.), „dem Vaterland neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens" hinterlassen zu wollen. Die Gesetze über die Krankenversicherung der Arbeiter (1883), die Unfallversicherung (1884) und über die Invaliditäts-und Alterssicherung (1889), die die deutsche Sozialversicherung begründeten, waren zugleich Bismarcks innenpolitische Antwort auf die soziale Bewegung der vorangegangenen Jahrzehnte b) Sozialbeiriedende Reiormen Die Verschärfung der Risiken, denen die lohnabhängigen Arbeitskräfte besonders in der frühkapitalistischen Industriegesellschaft ausgesetzt waren, führte schon früh zu einem Engagement verschiedener politischer und weltanschaulicher Richtungen im Bereich der Sozialpolitik Von manchen wurde auch bereits erkannt, daß die skandalösen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft langfristig innenpolitisch gefährlich werden konnten. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts forderten daher neben den Sozialdemokraten auch die christlichen Kirchen sowie einige Konservati-ve — wenn auch mit ganz unterschiedlichen Motiven und Zielsetzungen — eine stärkere Aktivität des Staates zugunsten Sozialer Sicherheit Gerechtigkeit. Dabei und beherrschte die meisten Sozialtheoretiker (mit Ausnahme der Sozialisten) der Gedanke, einen ausbrechenden Klassenkonflikt bereits im vorhinein durch sozialbeiriedende Reformen zu entschärfen oder sogar gänzlich zu verhindern Durch den Abbau der Gegensätze sollten die Arbeiter in das System der konstitutionellen sozial integriert werden Nur mit Hilfe dieses Konzepts schienen Staat und Gesellschaft dieser Zeit vor revolutionären Veränderungen bewahrt werden zu können.
In der Weimarer Republik wurde diese Tradition unter Führung der Sozialdemokratie im positiven Sinne fortgesetzt. In Art. 151 Abs. 1 der Weimarer Verfassung (WV) fand sich ihr sozialreformerischer Kernsatz: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern." Damit wurde eine sozialstaatliche Generalklausel formuliert, die erstaunlich modern anmutet. Ihr großer Mangel bestand jedoch darin, daß sie nicht als aktuelle Bindung für Gesetzgeber und Verwaltung akzeptiert wurde, sondern allenfalls als eine Art Leitlinie. Da die sozialen Normen der Weimarer Verfassung durch einen Kompromiß zwischen liberalem und reformsozialistischem Ideengut zustande gekommen waren, hätten sie der Ausfüllung und Weiterentwicklung durch eine engagierte Sozialpolitik von Reichsregierung und Reichstag bedurft. Ohne dieses Engagement blieben sie jedoch lediglich unverbindliche Programmsätze. Die Ausführungsgesetzgebung, die sie hätte aktualisieren können, blieb trotz einiger Ansätze bereits in den Anfängen stecken 4. Anspruch auf soziale Sicherheit Die frühen (vor 1949 erlassenen) Nachkriegs-verfassungen der deutschen Länder orientieren sich im wesentlichen an der Weimarer Verfassung, gehen allerdings in einigen Bereichen erheblich weiter als diese (z. B. Schutz der Arbeit). Man findet Bekenntnisse zu sozialer Gerechtigkeit und soziale Gewährleistungen unterschiedlichster Qualität die jedoch — wie ihr Vorbild — weitgehend unverbindlich bleiben. Neue verfassungs -rechtliche Maßstäbe im Bereich der Sozialpolitik setzt erst das Grundgesetz. Zum ersten Mal läßt sich nun unmittelbar aus der Verfassung ein Anspruch auf Sozialausgleich ableiten. Das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG verpflichtet den Staat, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen Der Gesetzgeber wird also verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität angehalten die sich aber nicht mehr nur abstrakt auf die Herstellung und Wahrung einer — wie immer definierten — sozialen Gerechtigkeit richtet, sondern auch (sehr viel konkreter) auf die Abhilfe sozialer Bedürftigkeit abzielt Zum Sozialstaatsauftrag gehört daher in gewissem Maße ebenfalls der Schutz der Staatsbürger gegen die Wechselfälle des Lebens a) Grundgesetzlicher Eigentumsschutz Damit sind — so scheint es — Sozialversicherung, Sozialhilfe und die übrigen Sozialleistungen als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips als Einrichtungen vom Grundgesetz garantiert Dieser Eindruck muß jedoch insoweit relativiert werden, als selbstverständlich keine absolute Verpflichtung des Gesetzgebers zur allgemeinen Besitzstandswahrung sozialer Rechte besteht Denn andernfalls würde das Sozialstaatsprinzip schließlich die gesamte Gesetzgebung blockieren und die (erforderliche) Anpassung des Rechts an veränderte soziale und wirtschaftliche Verhältnisse verhindern. Die somit konstatierte generelle Möglichkeit, soziale Tatbestände und also auch das Sozialleistungssystem neu zu gestalten, findet ihre Grenze jedoch in der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Soweit also verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsansprüche auf bestimmte Sozialleistungen bestehen, unterliegt der Gesetzgeber bei ihrer Neugestaltung den durch das Grundgesetz bestimmten Schranken. Eine Enteignung etwa ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig und darf nur dann erfolgen, wenn zugleich die Entschädigung geregelt wird (Art. 14 Abs. 3, sogenannte Junktimklausel).
Freilich beruht das gegenwärtig bestehende System der Sozialen Sicherheit keineswegs in seiner Gesamtheit auf dem Prinzip des Privateigentums. Die historisch gewachsenen Zweige dieses Systems unterscheiden sich vielmehr z. T. ganz erheblich hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Qualifikation. Demgemäß genießen sie auch nicht denselben Eigentumsschutz. Zwar gewährleisten Sozialversicherung, Soziale Entschädigung und Sozialhilfe übereinstimmend die Soziale Sicherheit für jeden einzelnen; diese Gewährleistung beruht aber auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen So erwirbt der Sozialversicherte durch seine Beitragsleistung — unter finanzieller Hilfe der Versichertengemeinschaft — eine eigentumswerte Position. Soziale Entschädigung erhält der Berechtigte aus Steuermitteln zum Ausgleich für Einbußen an Leben und Gesundheit (u. U. auch an Vermögen), für die die staatliche Gemeinschaft als verantwortlich angesehen wird. Demgegenüber beruht die Sozialhilfe ausschließlich auf der Solidarität der Staatsbürger. Diese Solidarität ist zwar neben der sozialen Gerechtigkeit das tragende Prinzip der Sozialen Sicherung führt bei der juristischen Beurteilung aber zu einer geringeren Bewertung des Sozialhilfeanspruchs. Dementsprechend ist der Rechtsanspruch des einzelnen auf Sozialhilfe auch nur schwach ausgeprägt. Sozialhilfe ist stets nachrangig gegenüber anderen Leistungen Sie tritt also nur dann ein, wenn der Hilfebedürftige aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann und wenn er von anderer Seite keine Hilfe erhält. Damit schließt die Sozialhilfe die Lücken, die die anderen Zweige des Sozialleistungssystems offenlassen. Sie soll also gewissermaßen sicherstellen, daß niemand aus dem „sozialen Netz" herausfällt. Diese Subsidiarität der Sozialhilfe bestimmt andererseits aber auch die rechtliche Qualität des Hilfeanspruchs. Dem Hilfebedürftigen steht ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nur insoweit zu, als gesetzlich bestimmt ist, daß die Hilfe zu gewähren ist. Dem Gesetzgeber wird also die Möglichkeit eingeräumt, diese Leistungen notfalls auch einzuschränken. Zudem ist der Anspruch begrenzt auf die „notwendigen Maßnahmen" zur Sicherung einer angemessenen sozialen Mindestexistenz. Den Trägern der Sozialhilfe, den Landkreisen und kreisfreien Städten, wird damit ebenfalls ein relativ weiter Ermessensspielraum bei der Hilfeleistung eingeräumt. b) Soziale Sicherung und Sozialausgleich Demgegenüber bezwecken die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung — zumindest dem Grundsatz nach —, daß der einzelne durch seinen Versicherungsbeitrag " Vorsorge für sich selbst und/oder seine Familienangehörigen trifft. Auf diese Weise entsteht ein enger Zusammenhang zwischen der Vorleistung des Versicherten und den Versicherungsleistungen (Versicherungsmaxime). Allerdings geht die Sozialversicherung weit über die Funktion einer privaten Versicherung hinaus Sie deckt nicht nur das Versicherungsrisiko des Beitragszahlers, sondern führt darüber hinaus einen Sozialausgleich einerseits zwischen den wirtschaftlich stärkeren und den finanziell schwächeren Versicherten und andererseits zwischen den Generationen durch Der grundgesetzlich verbürgte Eigentumsschutz erstreckt sich allerdings nur auf die tatsächlich eingezahlten Beiträge und die damit erworbenen Rechtsansprüche. Soweit die Renten über den Wert der geleisteten Beiträge hinaus entsprechend der Kaufkraftentwicklung und dem durchschnittlichen Bruttoarbeitsverdienst aller Ar-beitnehmer fortgeschrieben werden, steht dem Staat bei einer Neuregelung dagegen ein weiter Regelungsspielraum zu.
II. System der Sozialen Sicherung
Die gemeinsame Aufgabe aller drei Zweige des Sozialleistungssystems: Sozialversicherung, Sozialentschädigung und Sozialhilfe, ist es, die Bürger vor den wichtigsten Lebensrisiken zu schützen. Bei der Beurteilung der Frage, ob das gegenwärtige System der Sozialen Sicherung dieser Aufgabe gerecht wird, kann die Entwicklungsgeschichte ihrer einzelnen Zweige nicht unberücksichtigt bleiben. Denn in ihr spiegelt sich zugleich die gesellschaftspolitische Entwicklung Deutschlands von den Anfängen der Industrialisierung bis heute wider. Dabei lassen sich für die Bundesrepublik drei Phasen unterscheiden, nämlich die Re-staurations-, die Leistungsreform-und die Strukturreformphase. Während das erste Nachkriegsjahrzehnt von dem Bestreben gekennzeichnet war, das Sozialleistungssystem in seiner überkommenen Form wiederherzustellen, begann mit dem Ende der fünfziger Jahre die Zeit der Leistungsreformen, die das System sowohl quantitativ als auch qualitativ entscheidend verbesserten, ohne es jedoch grundlegend zu ändern. Angesichts der Tatsache, daß die Finanzkrise des Staates weitere Leistungsverbesserungen nahezu unmöglich macht, sind künftig strukturverändernde Reformen unabdingbar. Wir befinden uns daher gegenwärtig am Beginn der dritten Phase. 1. Die Rentenversicherung Der bedeutendste Zweig der Sozialversicherung ist die gesetzliche Rentenversicherung. Aus den von ihr erbrachten Leistungen bestreiten schon heute neun Zehntel der Alten, Invaliden, Witwen und Waisen der Bundesrepublik den größten Teil ihres Lebensunterhalts. Dieser Anteil wächst aber noch, da nicht nur die Versicherungspflichtgrenze — also die Bruttoeinkommensgrenze, bis zu der Versicherungszwang herrscht — für Angestellte (1968) abgeschafft wurde, sondern auch weitere Bevölkerungsgruppen in die soziale Rentenversicherung aufgenommen wurden. Eine steigende Anzahl insbesondere freiberufDas lieh Tätiger tritt außerdem freiwillig in die gesetzliche Versicherung ein. Entsprechend hoch ist auch der Anteil der Rentenversicherungsleistungen am Sozialbudget. Im Jahre 1977 betrug dieser Anteil 32% (das sind fast 125 Mrd. DM; für 1982 werden in diesem Bereich Ausgaben in Höhe von 153 Mrd. DM geschätzt
Dies ist der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die mit der Schaffung einer Rentenversicherung für eine begrenzte Gruppe not-leidender alter Menschen (Arbeiter) im Jahre 1889 begann In der Reichsversicherungsordnung (1911) wurden Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-und Alterssicherung der Arbeiter zusammengefaßt und durch das Angestelltenversicherungsgesetz im selben Jahr die Rentenversicherung der Angestellten geschaffen. Das Reichsknappschaftsgesetz von 1923 faßte schließlich das in Landesgesetzen verstreute Recht zusammen und schuf eine reichseinheitliche knappschaftliche Rentenversicherung für die im Bergbaubereich Beschäftigten. Die moderne Rentenversicherung hat an der klassischen Dreiteilung in Arbeiter, Angestellten-und Knappschaftsrentenversicherung festgehalten Nach dem Zweiten Weltkrieg kam 1957 die Altershilfe für Landwirte, 1960 eine Neuordnung der (seit 1938 bestehenden) Handwerkerversicherung und 1972 die Alterssicherung der freien Berufe hinzu. a) Vollrente und Rentendynamisierung Während dieses Zeitraums von fast 90 Jahren hat sich der Charakter der Rentenversicherung allerdings erheblich gewandelt. Heute verfolgt dieser Zweig der Sozialversicherung den Zweck, alle Arbeitnehmer (mit Ausnahme der Beamten) durch ein kollektives Vorsorge-system gegen die finanziellen Auswirkungen des Ausscheidens aus dem Arbeitsprozeß — wie Alter oder Invalidität — abzusichern und im Falle des Todes des Versicherten dessen Hinterbliebene zu versorgen Darüber hinaus ist es Aufgabe der Versicherungsträger, vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen zu fördern und durch Rehabilitation zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit beizutragen. Diesem Ziel ist die gesetzliche Rentenversicherung durch eine Reihe von Reformen nachgekommen, deren schwerwiegendste und folgenreichste die Rentenreform von 1957 war Während in den Anfangsjahren der Rentenversicherung der Gedanke vorherrschte, die Rente brauche nicht mehr zu sein als eine Ergänzung zu anderweitigen (z. B. betrieblichen) Versorgungsanspruchen, setzt sich nun das Konzept der 'Vollrente durch, d. h.der vollständigen materiellen Alterssicherung der Rentner.
Vor der Reform von 1957 war die Rentenhöhe aus einem allgemeinen Grundbetrag und einem Steigerungsbetrag berechnet worden, der von der Beitragsleistung des einzelnen abhängig war. Nach diesem Schema wurde die Rente einmal berechnet und für die gesamte Laufzeit mit einem Nominalbetrag festgesetzt. Im Gegensatz zu den Einkommen der aktiv am Wirtschaftsprozeß Teilnehmenden, blieben die Renten also konstant. Damit sank langfristig der Lebensstandard der Rentner im Vergleich zu dem der erwerbstätigen Arbeitnehmer. Auf die Dauer war sowohl eine absolute wie eine relative Verarmung der Rentner zu erwarten. Durch die Rentenreform wurde nun zunächst das Ausgangsniveau der Renten angehoben und darüber hinaus ihre Dynamisierung eingeführt. Seit 1959 werden die Renten daher alljährlich an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt.
Maßgebend für die Rentenberechnung ist seither die sogenannte Renteniormel, die sich aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt:
— allgemeine Bemessungsgrundlage, — persönliche Bemessungsgrundlage, — Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre und — Steigerungssatz für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr.
Allgemeine Bemessungsgrundlage ist der durchschnittliche Bruttoarbeitslohn aller versicherten Arbeiter und Angestellten (bruttolohnbezogene Rente). Für 1977 beträgt sie 20 161 DM Maßgebend sind dabei die letzten drei Jahre vor dem Kalenderjahr, das dem Versicherungsfall (Erreichen der Altersgrenze, Feststellung der Invalidität) vorausgegangen ist. Nach der Vorverlegung durch die Rentenanpassung des Jahres 1977 bedeutet das, daß maßgebend für die Rentenberechnung des Jahres 1979 der Durchschnittsverdienst der Versicherten in den Jahren 1976, 1977 und 1978 ist. b) Flexible Altersgrenze und Versorgungsausgleich Die Abhängigkeit der Sozialversicherung von der wirtschaftlichen Entwicklung brachte die erste große Bewährungsprobe für die Rentenversicherung in der Rezession der Jahre 1966/67. Damals gelang es jedoch, die Rentenfinanzen zu konsolidieren, so daß strukturändernde Reformen des Sozialleistungssystems wiederum verschoben wurden Zudem stand aufgrund hochgerechneter Überschüsse für die nächsten 15 Jahre ein Spielraum für leistungsverbessernde Reformen zur Verfügung.
Unter der Führung der sozialliberalen Koalition wurde daher die sozialstaatliche Qualität der Rentenversicherung durch eine Reihe seit 1972 durchgeführter sozialpolitischer Maßnahmen entscheidend verbessert. Hierzu zählen vor allem die flexible Altersgrenze, die Rente nach Mindesteinkommen und die (allerdings noch nicht abgeschlossene) Verbesserung der sozialen Sicherung der Frauen.
Die flexible Altersgrenze soll den Entscheidungsspielraum der 63— 65jährigen insofern erweitern, als diese nunmehr zwischen Altersbezügen und Erwerbseinkünften (oder einer Kombination von beidem) wählen können. Voraussetzung für einen solchen vorzeitigen Rentenantrag ist allerdings die Vollendung des 63. Lebensjahres und der Nachweis von mindestens 35 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren sowie eine Wartezeit von 15 Jahren. Die gezielte Anhebung von Kleinrenten (Renten nach Mindesteinkommen) gleicht demgegenüber vor allem solche Nachteile aus, die sich für die Rentenanwartschaft auf einem besonders niedrigen Lohnniveau in be-stimmten Gebieten und Wirtschaftszweigen in der Vergangenheit ergeben können. Für Versicherte, die mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre erreicht haben, wird auch dann ein Einkommen von 75 °/o des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten zugrunde gelegt, wenn der tatsächliche Verdienst niedriger war. Damit findet ein sozialer Ausgleich zwischen den finanziell schwächeren und den finanziell stärkeren Versicherten statt.
Die soziale Sicherung der Frauen wurde u. a. durch die Einführung eines sogenannten Babyjahres verbessert. Rentenversicherte Frauen erhalten für jedes lebend geborene Kind zur Abgeltung eines zusätzlichen Versicherungsjahres einen Zuschlag für ihre Rente. Besondere Probleme entstehen jedoch bei der finanziellen Sicherung der Frauen, die nicht selbst versichert sind, nach einer Scheidung. Während der Ehemann die an seine Person gebundenen Versorgungsanwartschaften behält, ist die Ehefrau auf Unterhaltsansprüche gegen ihren geschiedenen Mann beschränkt, deren tatsächlicher Wert z. B. von seiner Zahlungsbereitschaft abhängt. Um unnötige soziale Härten für geschiedene Frauen zu vermeiden, wird daher seit dem l. Juli 1977 ein für die während der Versorgungsausgleich Ehe von beiden Ehepartnern erworbenen Versorgungsansprüche durchgeführt, bei dem im Ergebnis nach der Scheidung eine Aufteilung je zur Hälfte vorgenommen wird Ein Sonderproblem stellt insofern die Hinterbliebenensicherung für Frauen und Männer für den Gesetzgeber dar, als das Bundesverfassungsgericht das geltende Hinterbliebenenrecht unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung von Mann und Frau für verfassungswidrig erklärt hat und eine Neuregelung bis zum Jahre 1984 fordert
Durch Gesetz wurden im Jahre 1974 die Maßnahmen der verschiedenen Sozialleistungsbereiche zur Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit einander angeglichen. Auch für die soziale Rentenversicherung wurde die Rehabilitation, die durch die Rentenreform von 1957 zur Regelleistung erhoben worden war, nach einheitlichen Grundsätzen neu gestaltet. Der Grundgedanke der Rehabilitation ist der, daß eine gesundheitliche und berufliche Förderung sowohl für den einzelnen Versicherten als auch für die Volkswirtschaft günstiger ist als eine dauernde Rentenleistung Zur Durchführung der hierfür erforderlichen Leistungen, die seit 1957 erheblich erweitert wurden, haben die Rentenversicherungsträger eigene Einrichtungen. Zur Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit können medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen unter zwei Voraussetzungen erbracht werden. Erstens muß die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten z. B. durch Krankheit gefährdet oder gemindert sein, und zweitens muß die Aussicht bestehen, daß die Erwerbsfähigkeit auf diese Weise erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. 2. Die Krankenversicherung Neben der Rentenversicherung ist soziale die Krankenversicherung der größte und bedeutendste Zweig im Sozialleistungssystem. Uber 90 °/o der Bevölkerung der Bundesrepublik werden durch sie als Versicherte oder als mitversicherte Familienangehörige mit medizinischen Diensten und Gütern versorgt Pflichtversichert sind alle Arbeiter sowie die Angestellten bis zu einem bestimmten Jahreseinkommen. Diese Versicherungspflichtgrenze, die gegenwärtig (seit 1970) 75 °/o der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung der Arbeiter beträgt, wird jährlich an die Entwicklung der Einkommen angepaßt. Unter bestimmten Bedingungen ist auch ein freiwilliger Beitritt zur sozialen Krankenversicherung möglich.
Im Jahre 1977 wurden mehr als 70 Mrd. DM, das sind ca. 18, 5% des Sozialbudgets (6% des Bruttosozialprodukts) für Krankenversicherungsleistungen verwandt. Und für 1982 werden in diesem Bereich Ausgaben in Höhe von fast 95 Mrd. DM geschätzt Ursache für diese hohe Ausgabensteigerung ist jedenfalls teilweise die ungünstige Entwicklung des Mitgliederbestandes. Während die Zahl der pflichtversicherten und der freiwillig versicherten Mitglieder von 1970— 1975 um gut 7 °/o (von 30, 6 Mill, auf 33, 5 Mill. Mitglieder) gestiegen ist, wird sich voraussichtlich in der Zeit bis 1982 der Bestand an Pflichtmitgliedern nur noch langsam weiter erhöhen. Bei den freiwillig Versicherten ist sogar schon heute eine Negativbilanz erkennbar, denn bereits im Jahre 1977 ging die Zahl der freiwilligen Mitglieder — z. T. durch Austritt aus der gesetzlichen Krankenversicherung — um rd. 80 000 zurück. Insgesamt wird dieser Zweig der Sozialversicherung 1982 voraussichtlich etwa 35, 7 Mill. Mitglieder haben, wobei der Anteil der versicherten Rentner steigt a) Familienhilfe und Lohnfortzahlung Die zahlreichen Aufgaben der sozialen Krankenversicherung, die neben der sogenannten Krankenhilfe auch Vorsorgemaßnahmen, Mutterschaftshilfe etc. umfassen, sind ihr im Laufe eines langen Entwicklungszeitraumes übertragen worden. Vorläufer der Bismarckschen Arbeiter-Krankenversicherung von 1883 waren die (preußischen) gewerblichen Unterstützungskassen und die Hilfskassen (1854/76). Die Leistungen der Krankenversicherung der gewerblichen Arbeiter waren zunächst auf das Notwendigste beschränkt. Als Krankengeld wurde damals (1883) mindestens die Hälfte des Lohnes gezahlt; die Zahlung war bis 1903 auf längstens drei Monate begrenzt. Durch die Reichversicherungsordnung von 1911 wurden schließlich alle in wirtschaftlich und persönlich abhängiger Stellung Beschäftigten einbezogen. Für Angestellte galt allerdings schon damals eine Versicherungspflichtgrenze (2 500, — M im Jahr).
Während die Mutterschaftshilfe für versicherte Frauen bereits im Jahre 1883 eingeführt worden war, wurde die Familienhilfe, die 1914 noch eine freiwillige Leistung der Krankenkasse war, erst 1930 zur Regelleistung. In den Kriegsjahren 1941— 1943 wurde die Mutterschaftshilfe erweitert; die zeitliche Begrenzung der Krankenpflege fiel fort; die Rentner wurden in die Krankenversicherung einbezogen. An diesen Aufgabenbestand knüpfte die gesetzliche Krankenversicherung nach dem Zweiten Weltkrieg an, indem sie Leistungen und Beiträge den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen anpaßte. Eine wichtige Station auf dem Wege zur sozialen Krankenversicherung war die Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle im Jahre 1957. Freilich gelang eine Gleichstellung der Arbeiter mit den Angestellten in diesem Bereich erst 1970, als auch für Arbeiter die Fort-zahlung des Arbeitsentgelts durch den Arbeitgeber in den ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit verwirklicht wurde. b) Gesundheitsvorsorge und Behindertenversicherung Bereits vor ihrer gesetzlichen Fixierung hatten einige Krankenkassen Vorsorgemaßnahmen in erheblichem Umfang erbracht. 1970 wurde für alle Krankenkassen eine Pflicht zur vorbeugenden Gesundheitsfürsorge eingeführt. Danach haben sie bestimmte Maßnahmen zur Früherkennung und zur Verhütung von Krankheiten anzubieten. Seit dem l. Juli 1971 haben Kinder in den ersten vier Lebens-jahren, Frauen vom Beginn des 30. und Männer vom Beginn des 45. Lebensjahres an Anspruch auf Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten Während sich die (insgesamt sieben) Untersuchungen bei Kindern auf die körperliche und geistige Entwicklung (z. B. angeborene Leiden) beziehen, sind bei den Erwachsenen jährliche Untersuchungen zur Früherkennung von Krebserkrankungen vorgesehen. Zu den Maßnahmen zur Krankheitsverhütung gehören vor allem Gesundheitsaufklärung, Reihenuntersuchungen und Schutzimpfungen.
Durch das Rehabilitationsangleichungsgesetz wurde 1974 der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung um medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation erweitert. Diese Maßnahmen umfassen insbesondere (zahn-) ärztliche Behandlung, Arznei-und Heilmittel etc., orthopädische Hilfsmittel sowie Bewe-gungs-, Beschäftigungs-, Sprach-und Arbeitstherapie. Erst im Jahre 1975 wurde eine bis dahin bestehende Lücke im Sozialleistungssy-stem der Bundesrepublik ausgefüllt. Durch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter wurden vom l. Juli 1975 an Behinderte, die in Behindertenwerkstätten, Heimen etc. arbeiten, in die gesetzliche Renten-und Krankenversicherung einbezogen. Weil dort aber teilweise gar keine oder sehr niedrige Löhne gezahlt werden, kann auf dem üblichen Wege über die eigenen Beitragsleistungen keine Rente in angemessener Höhe erreicht werden. Beteiligte Werkstätten, Bund und Länder zahlen daher gemeinsam so hohe Versicherungsbeiträge für die Behinderten ein, daß ausreichende Kranken-und Rentenversicherungsleistungen geboten werden können. 3. Die Unfallversicherung Anders als die übrigen Zweige der Sozialversicherung ist die Unfallversicherung seit ihrer Gründung im Jahre 1884 weit weniger stark verändert worden. Sie löste die Haftpflicht des Arbeitgebers für von diesem verschuldete Arbeitsunfälle ab. Darüber hinaus umfaßt sie aber auch Unfälle auf dem Weg zur und von der Arbeit sowie Berufskrankheiten. Die Beiträge werden von den Arbeitgebern im wesentlichen allein aufgebracht (1978 etwa 8, 6 Mrd. DM). Neben den Arbeitnehmern und Auszubildenden (Lehrlingen) werden inzwischen Schüler sämtlicher (seit 1971 auch der allgemeinbildenden) Schulen von der Unfallversicherung erfaßt sowie Studenten und Kindergartenkinder, insgesamt (inkl. Schüler etc.) etwa 45, 6 Mill. Personen Versicherungsfrei sind demgegenüber Beamte, freiberufliche Ärzte und Apotheker sowie ähnliche Berufsgruppen. Träger der Unfallversicherung sind gewerbliche und landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, Gemeindeunfallversicherungsverbände, die Bundesanstalt für Arbeit, der Bund und die Länder. 4. Die Arbeitsförderung Der jüngste Zweig der deutschen Sozialversicherung ist die 1927 geschaffene Arbeitslosenversicherung. Nach verschiedenen Änderungen und Verbesserungen in den Jahren 1956, 1959, 1966 und 1967 wurde das alte Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Jahre 1969 durch das Ar-beitsförderungsgesetz abgelöst. Hauptziele des neuen Gesetzes sind:
— Sicherung der Vollbeschäftigung — Sicherung optimaler Berufschancen durch Förderung der beruflichen Bildung und Anpassung, — Schutz vor sozialem Abstieg infolge Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit.
Der Kreis der nach dem Arbeitsförderungsgesetz leistungsberechtigten Personen ist weiter gefaßt als in den übrigen Einrichtungen der Sozialen Sicherung. Zugleich besteht eine grundsätzliche Beitragspilicht aller Arbeitnehmer, von der lediglich bestimmte Gruppen ausgenommen sind (Beamte, Rentner, Gelegenheitsarbeiter etc.).
In der Arbeitslosenversicherung wird der Gedanke der Prävention besonders deutlich erkennbar Er kommt vor allem in den Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung zum Ausdruck, die die Bundesanstalt für Arbeit als Träger der Arbeitslosenversicherung gewährt. Die Bedeutung dieser Aufgabe zeigt sich beispielsweise darin, daß nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1973 ein Drittel aller berufstätigen Männer in einem Zeitraum von fünf Jahren mindestens einmal ihren Beruf gewechselt haben. Mehr als die Hälfte der hiervon Betroffenen konnte im neuen Beruf die ursprünglichen Berufskenntnisse nicht oder nur gering verwerten. Die institutionellen und individuellen Förderungsangebote (Ausbildungs-, Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen) der Bundesanstalt werden dementsprechend stark in Anspruch genommen. Die Zahl, der Teilnehmer an beruflichen Förderungsmaßnahmen stieg in drei Jahren um das Fünf-bis Sechsfache. Im Jahre 1975 beteiligten sich rd. 271 000 Personen an berufsfördernden Maßnahmen
Die Geldleistungen bei beruflicher Fortbildung und Umschulung nehmen daher hinter den eigentlichen Leistungen an Arbeitslose inzwischen den zweiten Platz ein. Wichtig sind darüber hinaus aber auch das 1959 eingeführte Schlechtwettergeld für die in der Bauwirtschaft Beschäftigten und das Kurzarbeitergeld bei vorübergehendem Arbeitsausfall. Den mit Abstand größten Finanzaufwand verursachen aber immer noch die sog. „Lohnersatzleistungen", die die Bundesanstalt für Arbeitslosigkeit gewährt. Hierzu gehört das Arbeitslosengeld, das ein Arbeitsloser aber nur dann erhält, wenn er während eines bestimmten Zeitraumes (ca. drei Jahre) Beiträge an die Arbeitslosenversicherung entrichtet hat. Während der Empfänger von Arbeitslosengeld etwa 68 °/o seines durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens erhält, beträgt die Arbeitslosenhilfe nur etwa 58%. Arbeitslosenhilfe erhält der Arbeitslose, der zwar versichert ist, aber nicht die Bedingungen für eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erfüllt. 5. Die Soziale Entschädigung Mit der Schaffung des Sozialgesetzbuches sind die Kriegsopferversorgung und andere Leistungsbereiche, in denen das Bundesversorgungsgesetz angewendet wird, als einheitliches soziales Entschädigungsrecht zusammengefaßt worden. Neben der Versorgung von Kriegsopfern (seit 1920) gehört hierzu auch die der Wehr-und Zivildienstbeschädigten, der Impfgeschädigten und der Opfer von Gewalttaten. Für den betroffenen Personenkreis ergibt sich hieraus ein Anspruch auf die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Für den Beschädigten selbst und für seine Hinterbliebenen kommt ein Anspruch auf angemessene wirtschaftliche Versorgung hinzu. Seit dem Jahre 1971 werden die Kriegsopferrenten jährlich an die allgemeine Einkommensentwicklung angepaßt. Die Zahl der Anspruchsberechtigten — insbesondere der Kriegsopfer — geht allerdings 34 Jahre nach Kriegsende allmählich zurück. Die Kosten für die soziale Entschädigung werden vom Bund getragen, während die persönlichen und sachlichen Verwaltungsausgaben zu Lasten der Länder gehen 6. Die Sozialhilfe Der Ursprung der Sozialhilfe liegt im kommunalen Armenwesen und in der freien Wohlfahrtspflege Die Gemeinden nahmen die öffentliche Armenpflege stets als kommunale Selbstverwaltungsaufgabe wahr. Nach dem Heimatprinzip — das heute noch in einigen Schweizer Kantonen gilt — wurden allerdings nur die Armen versorgt, die in den Städten und Landkreisen heimatberechtigt (gebürtig) waren. Die Hilfe für Ortsfremde, die meist die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden überstieg, konnte nur durch (zentral-) staatli-chen Zwang durchgesetzt werden. Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war die öffentliche Hilfe nachrangig gegenüber der freien Wohlfahrtspflege. Die fortschreitende Industrialisierung ließ das Heimatprinzip jedoch bald als lästige Schranke für die Mobilität der Arbeiter erscheinen. Eine endgültige Wende brachte aber erst der Erste Weltkrieg, der große Teile der Bevölkerung verarmen ließ und die Finanzen der freien Wohlfahrtsverbände zerrüttete. Das Armen-wesen wurde durch die öffentliche Fürsorge abgelöst, das Heimatprinzip durch das Wohnsitzprinzip. a) Von der Fürsorge zur Sozialhilfe Freilich erschien der Hilfebedürftige nach der Fürsorgepflichtverordnung und nach den Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge immer noch als bloßes Objekt der Fürsorge. Hilfe wurde ihm nicht um seiner selbst willen, sondern im Interesse der Allgemeinheit gewährt, für die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten werden mußten. Folgerichtig hatte der Bedürftige auch keinen eigenen Rechtsanspruch auf eine Fürsorgeleistung, im Vordergrund stand vielmehr das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Fürsorgeträger Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Sichtweise als zu eng betrachtet. Infolge der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, aber auch infolge der Schaffung besonderer Sozialleistungsgesetze (Körperbehinderten-und Tuberkulosehilfegesetz) ergab sich für die Fürsorge nunmehr die Möglichkeit, sich mehr individuellen Notständen zuzuwenden, die nicht nur den reinen Lebensunterhalt betrafen
Diese neue Entwicklung wurde beschleunigt durch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die bereits nach dem gelten-den Fürsorgerecht dem Hilfebedürftigen einen Anspruch auf Fürsorge zugebilligt hatte Dabei bezogen sich die Gerichte besonders auf die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde (Art. 1) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20). Der Bundesgesetzgeber vollzog diese Neuorientierung nach, in dem er in dem 1962 in Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz die Aufgabe der Sozialhilfe folgendermaßen umschreibt: Sie hat „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht" (§ 1 Abs. 2). Die Rechtsposition des einzelnen wurde erheblich gestärkt, indem ihm jetzt ein Anspruch auf Sozialhilfe zugestanden wurde
Dem Funktionswandel der Sozialhilfe von der Sicherung des Existenzminimums zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens, der durch die Änderungsgesetze von 1965 und 1969 weitergeführt worden war, trug das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialgesetzes vom 25. März 1974 in besonderem Maße Rechnung. Zentrales Anliegen der Novellierung war die Verbesserung der Stellung des Hilfesuchenden. Zahlreiche Leistungsverbesserungen bei der Ausbildungshilfe, der vorbeugenden Gesundheitshilfe, der Altenhilfe, der Eingliederungshilfe für Behinderte, der Hilfe zur Pflege und der Hilfe für Sozialgefährdete ließ die Aufwendungen für die Sozialhilfe allerdings sprunghaft ansteigen. Die Kreise und kreisfreien Städte als Träger der Sozialhilfe wurden damit vor fast unlösbare finanzielle Probleme gestellt. Dem Anspruch des Hilfebedürftigen gegen seinen Stadt-bzw. Landkreis entspricht nämlich keineswegs ein Kostenersatzanspruch der kommunalen Träger gegenüber Land oder Bund. b) Hilie zum individuelle Lebensunterhalt und Hilfe Zu den tragenden Grundsätzen der Sozialhilfe gehört nicht nur ihre Nachrangigkeit gegenüber anderen Hilfeleistungen, sondern auch das Prinzip der Individualisierung. Danach sollen sich Art, Form und Maß der Hilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles richten (§ 3 Abs. 1 BSHG). Darüber hinaus ist Sozialhilfe in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe, verlangt also die Mitwirkung des Hilfeempfängers. Während auf die Hilfe zum Lebensunterhalt, durch die mit bestimmten Regelsätzen der Bedarf an Ernährung, Wohnung, Kleidung etc. sichergestellt werden soll, ein Rechtsanspruch besteht, wird den Behörden bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen ein gewisser Gestaltungsspielraum (Ermessen) zugestanden. Inzwischen entfallen rund zwei Drittel der Sozialhilfeaufwendungen auf die Hilfe in besonderen Lebenslagen. Mehr als die Hälfte dieser Ausgaben betrifft die Hilfe zur Pflege, fast ein Viertel die Eingliederungshilfe für Behinderte und etwa 12°/o die Krankenhilfe Alle übrigen Hilfearten spielen demgegenüber (finanziell) nur eine untergeordnete Rolle. Der inzwischen vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes vom 9. 11. 1978 soll das geltende Sozialhilferecht entsprechend der sozialpolitischen Zielsetzung der Bundesregierung und den Erfahrungen und Bedürfnissen der Sozialhilfepraxis weiterentwickeln. Der Gesetzentwurf sieht Leistungsverbesserungen zugunsten alleinstehender Elternteile, die allein für die Pflege und Erziehung eines Kindes sorgen, sowie zugunsten von Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege vor. Vor allem die besonders wichtige persönliche Hilfe wird durch die Hervorhebung ihrer Bestandteile (im Einzelfall erforderliche Beratung, allgemeine Lebenshilfe,, persönliche Betreuung) umfassender beschrieben. Die persönliche auch dann Hilfe soll nunmehr — freilich als Ermessensleistung — zu den Aufgaben der Sozialhilfeträger gehören, wenn die Voraussetzungen der Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Hilfe in besonderen Lebenslagen nicht vorliegen
Demgegenüber verwies die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände in ihrer Stellungnahme vom 11. 7. 1978 mit Nachdruck darauf, daß nach dem „Bericht über Kostensteigerungen in der Sozialhilfe" für die Arbeits-und Sozialministerkonferenz der Anstieg der Kosten zu einem erheblichen Teil auf gesetzlichen Leistungsverbesserungen beruhte. Trotz einer gewissen Abflachung der Steigerungsraten für den Sozialhilfeaufwand in der letzten Zeit lägen deshalb diese Soziallasten im Verhältnis zu den kommunalen Einnahmen immer noch zu hoch. Der eigentliche Auftrag der Sozialhilfe, die personenorientier te Hilfe, werde zudem dadurch gefährdet, daß ein Drittel des Sozialhilfeaufwandes für Pflegekosten aufzubringen sei, die eindeutig versorgungsartigen Charakter hätten. Die Kommunen halten es daher nach wie vor für erforderlich, zur Sicherung der bedarfsgerechten und existenzsichernden Leistungen der Sozialhilfe bedarfsübersteigende Leistungen zu überprüfen und strukturelle Änderungen im Sozialhilferecht durchzuführen.
III. Strukturprobleme des Sozialleistungssystems
Die skizzierte Entwicklung der Sozialen Sicherung macht deutlich, daß Sozialpolitik in Deutschland stets als situationsbedingte Antwort auf bereits eingetretene Notlagen verstanden worden ist Die verschiedenen Zweige des Sozialleistungssystems stehen daher nach wie vor weitgehend unverbunden nebeneinander. Die von den Sozialleistungen ausgehenden Verteilungs-und Belastungswirkungen sind kaum zu durchschauen. Zwar wurde das System der Sozialen Sicherung im Laufe der Jahre als Reaktion auf neue Notsituationen weiterentwickelt, gegenüber umfassenden Reformversuchen erwies es sich jedoch als resistent. Der Schritt von der Strukturerhaltung zur Strukturgestaltung gelang bisher nicht. Auch die Zusammenfassung der einzelnen Einrichtungen des Sozialleistungssystems im Sozialgesetzbuch stellt kaum mehr als die Schaffung eines äußeren (Rechts-) Rahmens dar. Eine Neuordnung der Sozialen Sicherung wird aber vor allem wegen der überall auftretenden Finanzierungsprobleme immer dringlicher. 1. Sanierung der Renten Spätestens seit Oktober 1975 war abzusehen, daß die Finanzierung der Rentenversicherung nach dem geltenden Beitrags-und Leistungsstand in absehbarer Zeit nicht mehr gesichert sein würde Ursächlich für das zu erwartende Defizit waren zum einen die Belastung der Rentenversicherungsträger durch die Krankenversicherung der Rentner, zum anderen die Leistungsverbesserungen, die durch das Rentenreformgesetz von 1972 eingeführt worden waren. Diese Verbesserungen waren finanziell nicht ausreichend abgesichert gewesen Nach verschiedenen Hochrechnungen ergaben Expertenschätzungen für die folgenden fünf Jahre ein zu erwartendes Defizit von mehr als 50 Mrd. DM. Die Bundesregierung sprach schließlich von einer Finanzlücke von rund 32 Mrd. DM, die bis 1982 entstanden wäre, wenn die Renten weiterhin bruttolohnbezogen erhöht worden wären Weder die Regierung noch die sie tragenden Parteien brachten jedoch den Mut auf, der Bevölkerung rechtzeitig (vor der Bundestagswahl) die Notwendigkeit einer Korrektur der Rentenreform von 1972 einzugestehen. Und auch der Oppositionsführer gab dazu eine ausdrückliche Sozialgarantie ab.
Erst 1977/1978 wurden durch das 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz schließlich Maßnahmen zur Konsolidierung der Rentenfinanzen ergriffen Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen von SPD und FDP im Dezember 1976 bestand in einem Kompromiß. Zwar sollte die Bruttolohnbezogenheit bei der Festsetzung der Neurenten nicht angetastet werden. Faktisch wurde dieses Prinzip aber dadurch durchlöchert, daß — je nach der Finanzlage der Rentenversicherungen — künftige Rentenerhöhungen höchstens nach dem Brutto-und mindestens nach dem Nettoprinzip festgesetzt werden sollten. Ab 1982 soll sich der Anpassungssatz dann wieder nach der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter richten.
Die Rentenreform von 1972 wurde insoweit aufgehoben, als die Rentenanpassungen um ein halbes Jahr (vom l. Juli auf den folgenden 1. Januar) hinausgeschoben wurden. Während die Renten 1979 um 4, 5 °/o steigen, werden sie in den Jahren 1980 und 1981 nur noch um jeweils 4 0/0 erhöht. Aufgrund der mit Vorausschätzungen gemachten bitteren Erfahrungen ist auch diese Anpassung freilich mit einer Risikoabsicherungsklausel verbunden, die es der Bundesregierung erlaubt, für den Fall einer wesentlichen Verschlechterung der Wirtschaftslage dem Bundestag geeignete Maßnahmen vorzuschlagen (§ 16 21. RAG). Zulässig wären dann auch niedrigere oder überhaupt keine Rentenerhöhungen. Darüber hinaus wurden die Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner ab 1. 7. 1977 von bisher (faktisch) 17, 4 0/0 ihres jährlichen Rentenzahlbetrages auf 11, 7% herabgesetzt. Die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose werden nunmehr von der Bundesanstalt für Arbeit entrichtet. Zugleich wurden die Rücklagen von drei Monaten auf eine „Schwankungsreserve" in Höhe des Rentenaufwandes für einen Monat (ca. 11 Mrd. DM) zurückgeführt. Von 1981 an ist auch eine Beitragserhöhung nicht mehr vermeidbar, so daß der Beitrag zur Rentenversicherung um 0, 5 % auf 18, 5 % steigen wird.
Trotzdem bleibt fraglich, ob sich durch diese Maßnahmen die Rentenfinanzen auf Dauer konsolidieren lassen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Annahmen zuträfen, die die Bundesregierung ihren Sanierungsmaßnahmen zugrunde gelegt hat Diese Annahmen gehen u. a. davon aus, daß bis 1980 jährlich eine durchschnittliche Lohnsteigerung von nominal 7, 5 % möglich ist. Diese Zielprojektion erweist sich jedoch inzwischen bereits als weitgehend überholt. Und während die Bundesregierung im Juni 1977 noch davon ausging, daß sich das Verhältnis Versicherte/Rentner bis 1985 bessern und damit die Rentenversicherung entlastet würde, zeigt eine Übersicht über die Rentenanträge von 1976, daß rund 70 % der Versicherten die Herabsetzung der Altersgrenze in Anspruch nehmen. Das bedeutet aber, daß weniger Versicherte mehr
Renten finanzieren müssen. Auch die Bevölkerungsentwicklung läßt wegen der sinkenden Geburtenrate nur den Schluß zu, daß sich langfristig das Verhältnis von Versicherten zu Rentnern weiter erheblich verschlechtern wird. 2. Dämpfung der Krankenversicherungskosten Auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung traten seit Anfang der siebziger Jahre Finanzierungsprobleme auf, die Heiner Geißler, damals Sozialminister des Landes Rheinland-Pfalz, im Flerbst 1974 mit dem Alarmruf „Die Gesundheitskosten explodieren!" in das Bewußtsein der Öffentlichkeit rückte. Während das Bruttosozialprodukt in der Zeit von 1970 bis 1976 um rund 66% und die Brutto-löhne und -gehälter um etwa 75 % stiegen (jährlicher Anstieg ca. 9, 3%), wuchsen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im gleichen Zeitraum je Mitglied um 143% (Jahresanstieg ca. 16, 5%). Beispielsweise nahmen die Ausgaben für ärztliche Leistungen um 118%, für stationäre Behandlung um 219 % und für zahnärztliche Behandlung sogar um 278% zu Hatten die Aufwendungen der Krankenversicherungsträger 1960 noch lediglich 9, 6 Mrd. DM betragen, so waren es 1970 bereits 25 Mrd. DM. Sechs Jahre später hatte sich dieser Betrag auf mehr als das Zweieinhalbfache erhöht (ca. 68 Mrd. DM). Dementsprechend stiegen auch die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung. Betrug der durchschnittliche Beitragssatz 1970 noch 8, 2 %, so waren es 1977 bereits 11, 4 %.
Die Gründe für das Auseinanderklaffen von Einnahmen und Ausgaben lagen nur z. T. in der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, zum anderen beruhen sie auf sozialpolitischen Entscheidungen der Regierenden Während die Ansprüche der Menschen an die Krankenversorgung stiegen (z. B. „klassenloses Krankenhaus"), wuchsen auch die Kosten für den technischen und personel-len Aufwand. Da Dienstleistungen im Gesundheitsbereich den größten Kostenanteil ausmachen (im Krankenhaus z. B. ca. 70 %), schlugen die Gehaltserhöhungen und Arbeitszeit-verkürzungen bei Krankenschwestern und Krankenhausärzten entsprechend zu Buche.
Aber auch die (Brutto-) Einkommen der niedergelassenen Ärzte wuchsen beträchtlich (10, 6 °/o im Jahresdurchschnitt 1963 bis 1976).
Zu dem Kostenanstieg trug aber vor allem auch die Entscheidung des Gesetzgebers selbst bei, den Kreis der Versicherten zu erweitern und die Leistungen zu verbessern.
Obgleich durch gemeinsame Bemühungen der Bundesregierung und der am Gesundheitswesen Beteiligten freiwillig eine deutliche Verminderung der erreicht Kostensteigerungen wurde (Arztkostensteigerung 1977 = 4, 4 °/o gegenüber 1975 = 19, 5 °/o), entschloß sich die Bundesregierung zu einer gesetzlichen Regelung. Allerdings konnte das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vom 27. 6. 1977 erst nach langwierigen Auseinandersetzungen mit den Interessengruppen und nach Anrufen des Vermittlungsausschusses als Kompromiß verabschiedet werden. Die Zielsetzung des Gesetzes umfaßt vier Forderungen — Die steigende volkswirtschaftliche Belastung durch den Gesundheitsaufwand soll vor allem dadurch begrenzt werden, daß die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Einkommensentwicklung der Versicherten in Einklang gebracht werden. — Die Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssy-stems soll unter Aufrechterhaltung des erreichten Versorgungsniveaus erhöht werden. — Die Struktur des Gesundheitssystems soll verbessert werden, um den medizinischen Fortschritt weiter zu führen. Dabei sind freilich die Grundsätze der Vertragsfreiheit der Beteiligten und der ärztlichen Therapie-freiheit zu beachten.
Neben der Neuordnung der Krankenversicherung der Rentner sieht das Gesetz Änderungen im Leistungsrecht und im Kassenarztrecht einschließlich der Arzneimittelverordnung vor, die das Kostenbewußtsein aller Beteiligten stärken sollen.
Diese Änderungen, die insbesondere die Verordnung von Arznei-, Verbands-und Heilmitteln des täglichen Gebrauchs sowie die Arzneikostenbeteiligung, die Voraussetzungen für Kuren etc. betreffen, werden jedoch insgesamt voraussichtlich nur wenig zur Kosten-dämpfung beitragen. Als grundlegende Neuerung erscheint demgegenüber eine Institution, die erst auf Betreiben der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat zur Stärkung der Selbstverwaltung in das Gesetz aufgenommen wurde die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen"
(§ 405 a RVO). Danach entwickeln die an der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung Beteiligten gemeinsam medizinische und wirtschaftliche Orientierungsdaten sowie Vorschläge zur Rationalisierung, Erhöhung der Effektivität und Effizienz im Gesundheitswesen und stimmen diese miteinander ab.
Diese Empfehlungen sind für die Selbstverwaltungsorgane der Ärzte und der Kassen verbindlich, sofern sie diesen zugestimmt haben.
Darüber hinaus sind vor allem folgende Änderungen von Bedeutung
— Die Vergütungsvorschriften für ärztliche und zahnärztliche Leistungen haben sich verstärkt an der allgemeinen Einkommensentwicklung und an der Entwicklung der Praxis-kosten zu orientieren.
— Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel werden in eine globale Vergütungsregelung mit einbezogen.
— Die Verhandlungsposition der Krankenkassen wird durch Aufgabenübertragung auf die Landesverbandsebene gestärkt.
— Zugleich wird allerdings das Leistungsangebot zu Lasten der Versicherten begrenzt. Nicht in das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz aufgenommen wurde der Krankenhausbereich, soweit er mit der gesetzlichen Krankenversicherung in Zusammenhang steht, obgleich die Ausgaben der Krankenkassen für Krankenpflege inzwischen mehr als 20 Mrd. DM — also ein Drittel der Gesamtausgaben — betragen Zur Kostendämpfung im Krankenhausbereich hat die Bundesregierung jetzt aber den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes vorgelegt der vor allem dazu beitragen soll, — die Planungs-und Steuerungsinstrumente im Krankenhausbereich zu verbessern, — die Krankenhäuser in ihren Bemühungen um eine möglichst wirtschaftliche Betriebs-führung wirksam zu unterstützen und — die Selbstverwaltung im Krankenhausbereich zu stärken.
Nach wie vor bleibt jedoch fraglich, ob sich die Kostenexpansion im Gesundheitsbereich mit Hilfe der bereits ergriffenen bzw. geplanten Maßnahmen nachhaltig bekämpfen läßt. Der Erfolg dieser Bemühungen hängt nicht zuletzt von der Sanierung der Rentenfinanzen ab, da Renten-und Krankenversicherung in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Die Beitragserhöhungen einiger Ortskrankenkassen im Ruhrgebiet mögen vielleicht zunächst noch Einzelfälle bleiben, sie signalisieren aber bereits wieder eine bedrohliche Beschleunigung der Ausgaben auf dem Gesundheitssektor. 3. Begrenzung der Sozialhilfelasten Auch bei der Sozialhilfe sind die Steigerungsraten seit Beginn der siebziger Jahre ungewöhnlich hoch. So stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 1970 bis 1975 zwar „nur" um 33 °/o, dafür verdreifachten sich aber im gleichen Zeitraum die Aufwendungen für die Sozialhilfe nahezu (von 1970 = 3 Mrd. DM auf 1975 = 8, 6 Mrd. DM). Der höchste Steigerungssatz wurde im Jahre 1974 mit 26, 2 °/o erreicht. Seither flacht sich der Kostenanstieg allmählich ab, liegt aber gegenwärtig immer noch bei 10%. Bis 1982 werden die Sozialhilfeleistungen auf jährlich 17, 3 Mrd. DM (1978 = 12 Mrd. DM) angewachsen sein. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat längst die Zwei-Millionen-Grenze überschritten. Die Gründe für diesen außergewöhnlichen Anstieg liegen zum einen in den durch die BSHG-Novellen bewirkten Leistungsverbesserungen und in der Einbeziehung weiterer Personenkreise, zum anderen in der hohen Arbeitslosigkeit.
Dabei wirken vor allem folgende Faktoren kostensteigernd — Die Hilfebedürftigkeit nimmt zu und die traditionellen Hemmungen vor allem älterer Menschen, Ansprüche auf Sozialhilfe geltend zu machen, nehmen ab. Insgesamt wurde das Sozialhilfe-Niveau angehoben.
— Der starke Anstieg der Kosten bei Alten-, Pflege-und Behindertenheimen macht bereits über die Hälfte des Gesamtaufwandes der Sozialhilfe aus.
— Zunehmende Pflegebedürftigkeit und hohe Pflegekosten bewirken, daß allein 35 % des Sozialhilfeaufwandes auf Hilfe zur Pflege entfällt. — Sozialhilfe muß ständig in großem Umfang unzulängliche Altersrenten (Kleinrenten) der Rentenversicherungen — meist für Frauen — aufstocken.
— Das gleiche gilt für die Aufstockung unzureichender Arbeits-Nettoeinkommen einkommensschwacher Arbeitnehmer mit Kindern sowie ungenügender Unterhaltszahlungen oder zu geringer Einkommen alleinerziehender Mütter mit Kindern.
— Vor allem aber muß die Sozialhilfe zunehmend unzulängliches Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe ergänzen. Diese Ausgaben wachsen sich bei der gegenwärtigen hohen Dauerarbeitslosigkeit zu einer permanenten Belastung der Sozialhilfeträger aus.
Angesichts dieser schwierigen Finanzprobleme, die für die Stadt-und Landkreise, die rund 72 °/o der Sozialhilfelasten zu tragen haben, wegen ihrer eigenen unzureichenden Einnahmesituation nicht allein zu bewältigen ist, haben die Kommunen umfangreiche Änderungsvorschläge zur Kostenbegrenzung im Sozialhilfebereich vorgelegt Diese Sparvorschläge sind als Anregungen für den Gesetzgeber gedacht und zielen insgesamt auf eine kritische Überprüfung des Sozialleistungssystems. Im einzelnen wird folgendes angeregt:
— Überprüfung der Leistungshöhe nach Bedarfsgesichtspunkten, die an der Funktion der Sozialhilfe zu orientieren sind, ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten.
— Überprüfung von Ansprüchen auf Leistungen geringeren Umfangs auf ihre sozialhilfe-rechtliche Relevanz.
— Überprüfung von Leistungsbedingungen auf ihre Bedeutung für eine selbstverantwortliche Lebens-und Wirtschaftsführung. — Überprüfung des Leistungsrechts auf zu starre rechtliche Verfestigungen, die der vorrangig persönlichkeitsorientierten Sozialhilfe nicht Rechnung tragen.
Diese Vorschläge werden von den Wohlfahrtsverbänden im großen und ganzen abgelehnt. Sie betonen zu Recht, daß Maßstab für die Gewährung oder Nichtgewährung von Sozialhilfe nicht die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Trägers sein könne. Andererseits kann aber auch nicht auf Dauer hingenommen werden, daß die extrem hohe Kostenbelastung der Kommunen durch Sozialhilfeleistungen deren Mittel derart in Anspruch nimmt, daß andere notwendige Aufgaben nicht mehr finanziert werden können. Da die Realisierung eines Sozialhilfe-Lastenausgleichs, bei dem der Bund die Aufwendungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt übernehmen würde, nicht in Sicht ist, bleibt zunächst nur die Hoffnung auf den Finanzausgleich zwischen Ländern und Gemeinden. Einige Finanzausgleichsgesetze (Bayern, Rheinland-Pfalz) tragen daher auch bereits in einem speziellen Sozialhilfeansatz der besonderen Belastung ihrer Kommunen durch die Sozialhilfe Rechnung. Ob sich freilich das Mißverhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen auf diese Weise auf Dauer beseitigen läßt, bleibt nach wie vor zweifelhaft. 4. Schlußbemerkung Angesichts der Finanzierungsprobleme, die inzwischen auch die Arbeitslosenversicherung erreicht haben und die noch keineswegs als gelöst betrachtet werden können, ist eine Strukturreform des Sozialleistungssystems unvermeidbar geworden. Dies gilt um so mehr, als das Geflecht der staatlichen Transferleistungen — wie Subventionen, Beihilfen und Privilegien — das System der Sozialen Sicherung zu überwuchern droht. Beispielsweise gab der Staat 1978 allein für die (sozialpolitisch umstrittene) Sparförderung und Vermögensbildung 17 Mrd. DM aus (incl. Steuerermäßigungen). Hinzu kommen aber auch noch Staatshilfen für die Landwirtschaft in Milliardenhöhe (allein das Sozialbudget des Bundesernährungsministers beträgt über 3 Mrd. DM), Wohngeld, Steuervergünstigungen und Beihilfen für Beamte. Insgesamt flossen 1977 von den Gesamtausgaben des staatlichen Sektors in Höhe von 566, 7 Mrd. DM 263, 8 Mrd. DM (46, 6 °/o) an die Bürger zurück, von denen allerdings lediglich 195, 3 Mrd. DM privaten Haushalten zugute kamen.
Diese Leistungen, deren sozialpolitischer Sinn — wie z. B. bei dem einkommensunabhängigen Kindergeld — äußerst fragwürdig ist, kosten nicht nur Geld, das für die Soziale Sicherung dringend gebraucht würde, sondern sie sind auch so undurchsichtig geworden daß nur eine Totalrevision Hilfe verspricht. Bedenklich ist dabei vor allem, daß gerade die Familien mit mittlerem Einkommen die ihnen zufließenden Leistungen im wesentlichen (ca. 45%) selbst bezahlen Die Bundesregierung hat daher Anfang 1978 eine Transfer-Enquete-Kommission eingesetzt, die den Einfluß der staatlichen Geldleistungen auf die Einkommen der Bürger untersuchen und Vorschläge zu einer besseren Abstimmung machen soll. Große Teile des Umverteilungssystems sind dabei freilich ausgeklammert worden, wie die Umverteilung im Rahmen der Sozialversicherung. Ziel einer Totalrevision müßte es aber sein, ein „System der integrierten Gesamtversorgung" zu schaffen das zumindest die Sozialversicherung für Arbeiter, Angestellte und Beamte — unter Einschluß von Wohngeld, Kindergeld etc. sowie unter gleichzeitigem Abbau der Privilegien — zusammenfassen würde.
An eine solche Totalrevision der Sozialpolitik wagen sich jedoch weder die Regierungsparteien noch die Opposition heran. Zunächst kann es daher nur um eine Umschichtung der Mittel des Sozialbudgets gehen, bei der neue sozialpolitische Prioritäten gesetzt werden müssen. Hauptziel einer solchen Neuordnung des Sozialleistungssystems, die gegebenenfalls schrittweise zu vollziehen wäre, ist es, den Anspruch jedes Bürgers auf ein (materiell gesichertes) menschenwürdiges Leben auf Dauer zu sichern.
Rüdiger Voigt, Dr. jur., geb. 1941 in Flensburg; Studium der Rechts-, Wirtschafts-und Politikwissenschaft in Kiel und Tübingen; seit 1978 Akademischer Rat für Politikwissenschaft an der Gesamthochschule Siegen. Veröffentlichungen u. a.: Die Auswirkungen des Finanzausgleichs zwischen Staat und Gemeinden auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin 1975; Kommunale Partizipation am staatlichen Entscheidungsprozeß, Würzburg 1976; Restriktionen kommunaler Sozialverwaltung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/77; Finanzsystem und Lebensqualität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/77; Haushaltsrecht zwischen Parlament und Regierung, in: Bayerische Verwaltungsblätter, 1978.
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