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Gefahren des Rüstungswettlaufs und Aufgaben der Rüstungskontrolle | APuZ 11/1979 | bpb.de

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APuZ 11/1979 Artikel 1 Neue Waffentechnologien, Waffenarten und Kampfmittel Gefahren des Rüstungswettlaufs und Aufgaben der Rüstungskontrolle Friedensdienst — Sandkastenübung oder Element politischer Alternative?

Gefahren des Rüstungswettlaufs und Aufgaben der Rüstungskontrolle

Karsten D. Voigt

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine neue Etappe im Rüstungswettlauf zwischen Ost und West hat begonnen. Zwar spielen Quantitäten nach wie vor eine Rolle. Die wichtigsten Impulse der Rüstungsdynamik gehen heute jedoch von qualitativen Neuerungen aus. Qualitative Neuerungen sind deswegen besonders geeignet, das Wettrüsten anzuheizen, weil es für sie eine sozusagen „natürliche" Grenze nicht gibt. Es besteht immer eine Lücke zwischen dem bisher erreichten Stand der Waffentechnik und dem, was technologisch möglich ist. Es ist ein Irrtum, daß Rüstung nur die Folge von Konflikten sei. Es ist im Gegenteil richtig, daß über ursprüngliche oder andauernde Konfliktanlässe hinaus der Prozeß des Rüstungswettlaufs in Europa sich verselbständigt hat. Rüstung kann nicht nur als Folge, sondern muß auch als Ursache von Mißtrauen und Konflikten angesehen werden. Wer diese Kontinuität im Rüstungswettlauf außer Kraft setzen will, muß die Kontinuität und Stabilität der Entspannungspolitik festigen. Hierzu ist eine bündnisübergreifende Rüstungskontrollpolitik zunehmend ein notwendiges Element der Sicherheits-und Friedenspolitik. Rüstungskontrollpolitik kann nur erfolgreich sein, wenn die weitgehend verlorengegangene politische Kontrolle über die Entwicklung neuer Waffentechnologien und über den Rüstungswettlauf insgesamt wiedergewonnen wird. Dazu ist es erforderlich, daß die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation stärker als das noch vorhandene Mißtrauen ist und der Wille zur Vertrauensbildung Dämme gegen das Ausufern der System-und Machtkonkurrenz errichtet.

Wie die ausführliche Dokumentation von H. Pickert über neue Waffentechnologien in diesem Heft deutlich macht, droht nicht erst ein neuer Rüstungswettlauf zwischen Ost und West, sondern eine neue Etappe in diesem Rüstungswettlauf hat bereits begonnen. Es bedarf einer außerordentlich großen Bereitschaft zur Kooperation zwischen Ost und West, um diese neue Eskalation im Rüstungswettlauf zu kontrollieren, zu begrenzen und — soweit noch möglich — rückgängig zu machen oder „das Gleichgewicht des Schreckens" sogar auf einem niedrigeren Rüstungsniveau zu stabilisieren. Es wäre eine Verharmlosung der Wirklichkeit, wenn man davon spräche, daß der Prozeß der Entwicklung neuer Waffentechnologien der politischen Kontrolle zu entgleiten drohe: Die Kontrolle über die Entwicklung neuer Waffen-technologien ist den Politikern und insbesondere den Parlamentariern bereits weitgehend entglitten.

Meistens werden die Parlamente bei ihren Entscheidungen bereits mit den Ergebnissen fertiger Waffenentwicklungen konfrontiert. Ihre Entscheidungsfreiheit wird zusätzlich durch den Hinweis bereits auf vollzogene, wahrscheinliche oder mögliche Waffenentwicklungen des potentiellen Gegners eingeengt. Nur im Einzelfall gelingt es angesichts dieser „Sachzwänge" den Parlamentariern noch, die Einführung neuer Waffentechnologien zu verhindern. Bereits die Absicht, einen größeren Zeitraum für die Entscheidung zu gewinnen, um diesen für den Versuch einer rüstungsbegrenzenden Vereinbarung mit dem potentiellen Gegner zu nutzen, wird mit dem diffamie-. renden belegt, Sicherheitsinteressen Vorwurf zu gefährden. Es handelt sich also darum, die weitgehend verlorengegangene politische Kontrolle über die Entwicklung neuer Waffen-technologien, über den Rüstungswettlauf insgesamt wiederzugewinnen. Und dies ist nur möglich, wenn die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Vertrauensbildung, zur Kooperation und zur vertraglich wechselseitig bindenden Absprache besteht.

Es ist ein Irrtum zu behaupten, daß Rüstung nur die Folge von Konflikten sei. Es ist im Gegenteil richtig, daß über ursprüngliche oder andauernde Konfliktanlässe hinaus der Prozeß des Rüstungswettlaufs in Europa sich verselbständigt hat. Rüstung kann nicht nur als Folge, sondern muß auch als Ursache von Mißtrauen und Konflikten angesehen werden. Rüstung ist selber zu einer Antriebskraft der Rüstungseskalation geworden.

Es würde schwieriger werden, den Frieden und die Sicherheit Europas zu bewahren, wenn der Zusammenhang von Verteidigungs-und Entspannungspolitik durch eine Akzentverschiebung zu Lasten der Entspannungspolitik gefährdet würde. Diese Akzentverschiebung zu Lasten der Entspannungspolitik droht, obwohl wir im Interesse der Friedenssicherung eine Vertiefung der Entspannungspolitik in Europa und eine regionale Ausweitung der Entspannungspolitik auf Asien und Afrika bräuchten.

Die Fähigkeit zur militärischen Abschreckung und das Stabilitätsziel der „Strategie des Gleichgewichts" sind für sich allein unzureichend, um dem Ziel der Rüstungsbegrenzung und Rüstungsverminderung näherzukommen. Sie sind sogar unzureichend, um in Spannungssituationen, wenn Mißverständnisse, Fehlkalkulationen und einzelne Fehlentscheidungen fast unausbleiblich sind, eine Eskalation zu vermeiden und ein friedenssicherndes Krisenmanagement zu ermöglichen. Aus diesem Grunde müssen wir uns für den Abschluß und die Ratifizierung von SALT II, für ein erstes vertragliches Ergebnis bei den Wiener MBFR-Verhandlungen, für Verhandlungen über die Waffen der sogenannten Grauen Zone, für Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnahmen, für nationale und internationale Regelungen zur Begrenzung von Waffenexporten und des Waffenhandels engagieren.

Von der Quantität zur Qualität

Bei der Entwicklung des Wettrüstens stand jahrelang das Rennen um Quantitäten im Vordergrund: Es ging darum, die Anzahl der Sprengköpfe zu erhöhen, die Zerstörungskraft der Bomben bis in den Mega-Tonnen-Bereich zu steigern und den Bestand an Rake23 ten, Flugzeugen und anderen Waffenträgern zu vermehren. Bereits die Ergebnisse der quantitativen Rüstungsentwicklung können erschrecken. Die Sprengkraft der heute gelagerten Waffen ist millionenfach stärker als die der Hiroshima-Bombe von 1945; der Vorrat an strategischen und taktischen Nuklear-Sprengköpfen geht in die Zehntausende und übertrifft bei weitem die Zahl denkbarer Ziele. Die Menge an Raketen, Überschallbombern, Atom-U-Booten und sonstigen Trägersystemen zeigt, wie intensiv auf diesem Gebiet in den letzten 20 Jahren in politisch-militärischen Planungsstäben, in Forschungslabors und in der Rüstungswirtschaft gearbeitet worden ist.

Obwohl eine weitere Vermehrung der Waffen die inzwischen insbesondere bei den Großmächten angesammelte Zerstörungskraft nicht mehr in einer für das militärische Kräfteverhältnis zwischen Ost und West entscheidenden Weise erhöhen kann, ist das Wettrüsten dennoch nicht eingestellt oder verlangsamt worden. Es hat sich lediglich verlagert und damit andere Akzente bekommen.

Zwar spielen gegenwärtig — wie die Herstellung z. B. von Mehrfach-Sprengköpfen ausweist — nach wie vor Quantitäten eine Rolle. Die wichtigsten Impulse der Rüstungsdynamik gehen heute jedoch von qualitativen Neuerungen aus. Der Kontrolle und Begrenzung dieser qualitativen Komponenten des Wettrüstens muß deshalb zusätzlich zur Kontrolle, Begrenzung und schrittweisen Verringerung der Quantität der Rüstungen und Mannschaften die Aufmerksamkeit unserer Rüstungskontroll-und Abrüstungspolitik gelten.

Qualitative Neuerungen sind deswegen besonders geeignet, das Wettrüsten anzuheizen, weil es für sie eine sozusagen „natürliche" Grenze, an der der Bedarf gesättigt ist (etwa bei den „Overkill-Kapazitäten"), nicht gibt. Es besteht immer eine Lücke zwischen dem bislang erreichten Stand der Waffentechnik und dem, was technologisch möglich ist. Der Ehrgeiz, diese Lücke zu verringern, ist eine der wichtigsten Triebkräfte des gegenwärtigen Rüstungswettlaufs.

Der Zeitfaktor als Antriebskraft im Rüstungswettlauf

Nicht erst die Kenntnis von einer bestehenden Lücke zwischen dem Rüstungspotential eines möglichen Gegners und dem eigenen Rüstungspotential reicht aus, um die Forderung nach Aufrüstung (neuerdings wird die eigene Aufrüstung im Gegensatz zu der des potentiellen Gegners begrifflich als „Nachrüstung" zu verharmlosen versucht) zu unterstreichen. Bereits die Erkenntnis einer voraussichtlichen Lücke im Rüstungspotential oder der Waffentechnik in den achtziger Jahren führt zu der Forderung, die Entwicklung und Einführung neuer Waffensysteme nicht durch neue Ost-West-Verhandlungen zu verzögern, da man sonst gegenüber dem potentiellen Gegner ins Hintertreffen gerate oder den vorhandenen technologischen Vorsprung verringere.

Der rationale Kern der Forderung, potentielle Entwicklungen der Waffentechnologien eines möglichen Gegners durch eigene Forschungsund Entwicklungsanstrengungen zu antizipieren, beruht auf dem langen Zeitraum, der in der Regel vom Zeitpunkt der Entscheidung über die Entwicklung einer neuen Waffe bis zu ihrer Einführung in die Truppe vergeht. Arthur J. Alexander geht davon aus, daß die Aufrüstungsentscheidungen, die sich bis in die späten siebziger Jahre auswirken, in der UdSSR noch unter Chruschtschow in den Jahren 1959— 60 begonnen haben (Decision-Making in Soviet Weapons Procurement, Adelphi Papers 1978/79, S. 4).

Dieser lange Zeitraum vom Zeitpunkt des Beschlusses über die Entwicklung einer neuen Waffe bis zu deren Einführung bei der Truppe ist Ursache für die in mehrfacher Hinsicht spekulative Entscheidungsgrundlage von Beschlüssen zur Entwicklung neuer Waffensysteme: Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung über die Entwicklung neuer Waffensysteme fällt, sind die tatsächlichen technologischen Entwicklungen und politischen Entscheidungen der UdSSR, die 10 bis 15 Jahre später zur Einführung neuer Waffensysteme bei der Truppe führen, den Entscheidungsträgern im Westen weitgehend unbekannt. Sollten diese Informationen den Geheimdiensten verfügbar sein, so gelangen sie weder an alle Parlamentarier, noch sind sie für den engen Kreis der Parlamentarier, die Zugang zu Geheiminformationen haben, überprüfbar und öffentlich diskutierbar.

Aus diesem Grunde antizipieren westliche Entscheidungsträger die Entwicklungen zukünftiger Waffensysteme in der UdSSR weitgehend spekulativ aufgrund bisheriger sowjetischer Entwicklungstrends und unter Berücksichtigung ihrer Kenntnis der eigenen technologischen Entwicklungsmöglichkeiten. Dieses spekulative Element im Entscheidungsprozeß ist eine der Ursachen des Rüstungswettlaufs. Es kann nur durch verstärkte Information, Ver-trauensbildung und Kooperation zwischen Ost und West seine Wirkung verlieren.

Der lange Zeitraum, der zur Entwicklung neuer Waffensysteme erforderlich ist, führt auch dazu, daß eine Rüstungsentscheidung immer weniger Reflex einer konkreten politischen Situation ist. Reagierte der Westen heute mit den Beschlüssen zur Entwicklung neuer Waffensysteme auf eine von ihm als bedrohlich empfundene aktuelle Waffenmodernisierung im Osten, so würde er damit heute auf voraussichtlich vor ca. zehn Jahren in der UdSSR gefallene militärpolitische Entscheidungen reagieren und könnte mit seinen aktuellen Entscheidungen wiederum zum Anlaß für spätere Rüstungsbemühungen der UdSSR werden. Wer diese Kontinuität im Rüstungswettlauf außer Kraft setzen will, muß die Kontinuität und Stabilität im Prozeß der Entspannungspolitik festigen. Sonst wird die ständige Furcht, der potentielle Gegner könne den eigenen technologischen Vorsprung aufholen oder in der Modernisierung der Waffen sogar eine Nasenlänge voraus liegen, zu neuen Rüstungsanstrengungen antreiben.

Uber die Entwicklung und Einführung neuer Waffensysteme wird also ständig unter dem Druck eines zeitlich begrenzten Entscheidungsspielraumes diskutiert. Dieser Zeitdruck wird aber für Rüstungskontrollverhandlungen nicht akzeptiert; hier wird ständig davor gewarnt, sich bei den Verhandlungen nicht unter zeitlichen Druck setzen zu lassen, weil dies die eigene Verhandlungsposition schwächen könnte. Zu wenig beachtet wird aber, daß auch Rüstungskontrollverhandlungen unter einem zeitlichen Druck als Folge waffentechnologischer Entwicklungen stehen, da sonst ursprünglichen Verhandlungskonzeptionen aufgrund neuer Entwicklungen der Boden entzogen wird.

Politisches Mißtrauen statt wachsendem Vertrauen wäre die Folge. Aus diesem Grunde müssen die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen von Rüstungskontrollvereinbarungen so verändert werden, daß die bestehende Asymmetrie des zeitlichen Entscheidungsdrucks gegenüber dem Zeitdruck bei Einführung neuer Waffentechnologien zugunsten der Rüstungskontrollverhandlungen ausgeglichen wird. Hierüber hinaus muß auch das rüstungskontrollpolitische Instrumentarium selber verbessert werden.

Merkmale der neuen Waffentechnologien

Ein besonderes Merkmal der neuen Waffen besteht darin, daß ihre fortgeschrittenen technologischen Eigenschaften vergleichsweise wenig spektakulär sind. Während z. B. die Entwicklung der Atom-Bombe oder der Start von Weltraumraketen überall in der Welt als ein einschneidender Wendepunkt der Rüstungsentwicklung wahrgenommen wurde, vollziehen sich die qualitativen Wandlungen der derzeitigen Waffengeneration eher unbemerkt. Was sich heute verändert, sind häufig nur einzelne Elemente der Waffensysteme. Das sind außer den Sprengkörpern selbst u. a. die Mechanismen und Materialien zum Antrieb, zur Steuerung, zur Zielfindung und zur Aktionskontrolle der Waffe.

Die Perfektionierung der modernen Kriegs-geräte ist vor allem durch die militärische Nutzung der Elektronik, der Fernmeldetechnik, der Computertechnik und der Chemie möglich geworden. In die Waffen werden elektromagnetische Sensoren, Infrarotsucher, Laser-Vorrichtungen, Fernseher und Klein-Computer eingebaut. Um die Waffen herum gibt es ein umfangreiches Kommunikationssystem, das zur Überwachung und Lenkung der verschiedenen Systeme installiert wird und das bis in den Weltraum hineinreicht. Diese allgemeinen Trends gelten für nukleare Waffen ebenso wie für konventionelle.

Erst die Summe der Modernisierungen in den jeweiligen Einzelbereichen macht das Besondere der neuen Waffen aus und läßt die Veränderungen gegenüber früheren Kampfmitteln erkennen. Hierbei sind folgende Entwicklungen erkennbar: — Der Wirkungsgrad der Munitionen, d. h. das Verhältnis von Sprengkraft zu Gewicht, wurde erhöht. Dadurch war es z. B. möglich, kleine und leichte Bomben mit großer Explosionskraft zu entwickeln. — Die Wirkungsweise der Munitionen wurde auf die jeweils intendierten Zerstörungsziele hin präzisiert. Munition mit spezieller Druck-, Hitze-, Strahlungs-oder Splitterwirkung, Munition zur Punktzielbekämpfung oder zur Zerstörung von Flächenzielen soll eine konzentrierte Wirkungsweise ermöglichen. — Die Waffen sind treffsicherer geworden. Sowohl das Aufspüren feindlicher Ziele als auch die Vernichtung der Ziele vollzieht sich mit größerer Exaktheit. — Die Manövrierfähigkeit von Sprengköpfen und Trägersystemen wurde optimiert, so daß Flugbahnen und Zielvorgaben auch nach dem Abschuß noch korrigiert werden können. — Die Reichweite, Geschwindigkeit und Nutzlast der Trägersysteme ist angestiegen. — Die Verwundbarkeit einzelner Waffensysteme wurde durch „Härtung" der Abschußsilos oder eine erhöhte Beweglichkeit der Abschußsysteme, durch Stationierung von Waffensystemen auf See oder unter der Meeres-oberfläche verringert. — Nach den Weltmeeren wurde jetzt auch der Weltraum militarisiert. Von den 1957 Satelliten, die bis zum Dezember 1977 weltweit gestartet wurden, dienten 1480, d. h. rund 75 °/o, militärischen Zwecken. Neben der militärischen Aufklärung vom Weltraum aus eignen Satelliten sich zur Präzisionsnavigation, für Fernmeldezwecke, für direkte Kampfaufgaben und auch zur Bekämpfung anderer Satelliten mittels sogenannter Jagdsatelliten.

Zumindest die beiden Großmächte USA und UdSSR verfügen auch über chemische und bakteriologische Waffen, obwohl der Einsatz dieser Waffen durch das Kriegsvölkerrecht grundsätzlich verboten ist. Wie weit die Entwicklung von umweltverändernden, psychogenen und Strahlenwaffen bereits forgeschritten ist, ist nur bruchstückhaft bekannt.

Die Entwicklung dieser wie auch anderer Waffensysteme vollzieht sich unter weitgehender Abschirmung von der öffentlichen Diskussion, unter Abschirmung auch vor Parlamentariern und insofern faktisch auch unter Ausschluß der parlamentarischen Kontrolle.

Bundeskanzler Helmut Schmidt hat vor den Vereinten Nationen Vorschläge zur Kontrolle des Verzichtes auf die Produktion chemischer Waffen gemacht. Dieser Vorschlag ist vom Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Genfer Abrüstungsausschuß inzwischen präzisiert und wiederholt worden. Eine Einladung, in chemischen Betrieben der Bundesrepublik sich an Ort und Stelle über Methoden und Wirkungen der Kontrolle des Produktionsverzichtes zu informieren, wurde ausgesprochen. Dieser Vorschlag ist ein wichtiger Beitrag zur Rüstungskontrollpolitik. Er hat Bedeutung nicht nur für die Kontrolle des Verzichtes auf die Herstellung chemischer Waffen. Auch bei anderen Waffenarten müssen wir schrittweise über die Vereinbarung von Höchststärken bei Personen, Ausrüstungen und einzelnen Waffensystemen hinaus zur Kontrolle und Begrenzung der Waffenentwicklungen selber gelangen. Hiergegen bestehen nach wie vor starke Widerstände in Ost und West. Sie sind traditionell in der Sowjetunion stärker als in den USA. Es stünde der Bundesrepublik Deutschland gut zu Gesicht — und es würde ihre Friedenspolitik bereichern und ihren Sicherheitsinteressen entsprechen —, wenn sie in diesem Bereich der Rüstungskontrollpolitik den Ideenreichtum im westlichen Bündnis vergrößern und zusätzliche Impulse für Rüstungskontrollverhandlungen geben würde.

Sicherheitsgefährdende Wirkungen der neuen Waffen

Die technologischen „Fortschritte" der neuen Waffen enthalten erhebliche Risiken sowohl für die Zukunft der internationalen Beziehungen insgesamt als auch speziell für die Aufrechterhaltung der bisherigen militärischen Sicherheit, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Sie treiben das Wettrüsten voran. Die qualitativen Verbesserungen von Offensivwaffen ziehen fast zwangsläufig die Entwicklung wirksamer Defensivwaffen nach sich, worauf wiederum die Offensivpotentiale perfektioniert werden usw. Diese Prozesse erfordern immer mehr finanzielle und technische Ressourcen. Sie verringern auch die Wahrscheinlichkeit, daß alle — also auch die unterirdischen — Atom-Versuche eines Tages eingestellt werden könnten.

Seit Abschluß des teilweisen Test-Stop-Vertrages sind mehr Kernbomben explodiert als je zuvor. Von den 1 117 Atomtests, die insgesamt bis Ende 1977 durchgeführt wurden, entfallen 629 auf die Zeit nach dem Abkommen von 1963. Das bedeutet, daß fast alle zehn Tage irgendwo in der Welt neben den oberirdischen Versuchen Chinas, Frankreichs und Indiens vorwiegend unterirdisch eine Kernbombe gezündet wurde — ein Tatbestand, der unmittelbar mit der Entwicklung und Erprobung der neuen Waffen zusammenhängt: anfangs mit den inzwischen eingestellten Raketenabwehrprogrammen (ABM), dann mit der Einführung der MIRV-Technologie und heute mit der Herstellung von MARV-Sprengköpfen, MX-und SS-X-16-Raketen. 2. Die kontinuierlichen qualitativen Perfekttionierungen von Waffen und Ausrüstungen verändern zugleich auch die Bedingungen des militärischen Gleichgewichts und damit die Stabilität des bisherigen Sicherheitssystems.

Zwar haben auch früher schon Verbesserungen in der Rüstungstechnik das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der einen oder anderen Seite verschoben. Aber im Unterschied zu den Entwicklungen in den fünfziger und sechziger Jahren ist heute die sicherheitspolitische Relevanz dieser technologischen Neuerungen weit schwerer eindeutig einzuschätzen und zu bewerten. Der komplexe Charakter moderner Waffen läßt frühere Vergleichsmaßstäbe immer unbrauchbarer werden. So verliert z. B. die gängige Aufrechnung von Soldaten gegen Soldaten, Panzer gegen Panzer, Mega-Tonnen gegen Mega-Tonnen, Raketen gegen Raketen zunehmend im Ost-West-Verhältnis an Bedeutung. Trotzdem würde auch hier eine vertragliche Vereinbarung der Begrenzung und Verringerung der Potentiale z. B. im Rahmen der MBFR-Verhandlungen von positiver Relevanz für die Friedenssicherung, Rüstungsbegrenzung und Vertrauensbildung sein.

Demgegenüber spielen heute für die Beurteilung des militärischen Gleichgewichts immer mehr qualitative Aspekte eine Rolle. Es geht um die Funktionstüchtigkeit elektronischer Leitsysteme, um die Optimierung des Verhältnisses von Größe, Gewicht, Geschwindigkeit, Antriebskraft, Schlagkraft und Zielgenauigkeit bei verschiedenen Waffen sowie um die Fähigkeit zur militärischen Verwertung von modernem Know-how.

Diese qualitativen Momente des Wettrüstens lassen sich jedoch kaum exakt messen und vergleichen. Sie sind offen für subjektive Beurteilungen und erschweren deshalb militärtechnisch vertragliche Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzungen und Rüstungsverringerungen. Um so mehr gewinnt die politische und militärische Vertrauensbildung zwischen Ost und West als Voraussetzung für Rüstungskontroll-und Rüstungsbegrenzungsabkommen an Gewicht. 3. Durch die Veränderungen im Bereich der taktischen Nuklearsprengköpfe kann die „Schwellenangst" gemindert werden, die bislang die Einsatzplanung von Kernwaffen begleitet hat.

Daß sie kleiner und leichter geworden sind, heißt auch, daß sie handhabbarer werden und daß mit ihnen flexibler auf einem Gefechts-feld operiert werden kann. Dadurch sind Über-gänge in der Eskalation von einem konventionellen zu einem nuklearen Krieg militärtechnisch gleitender geworden.

Bisher beschränkt sich die öffentliche Diskussion über mögliche Gefahren der miniaturisierten Nuklearwaffen auf das Risiko der Senkung der atomaren Schwelle bei einem potentiellen militärischen Konflikt zwischen Ost und West in Europa. Langfristig dürfte aber das Risiko des tatsächlichen Einsatzes miniaturisierter nuklearer Waffen in anderen Regionen der Welt weitaus größer sein, wenn es erst einmal zur Proliferation dieser nuklearen Waffensysteme oder zur Proliferation der Technologien, die zu ihrer Herstellung erforderlich sind, gekommen ist. Die Zahl der militärischen Konflikte außerhalb Europas ist groß, die Einübung in das Prinzip der friedlichen Austragung von Konflikten dagegen noch gering. Hemmschwellen, die in Europa nach zwei Weltkriegen schrittweise gegen eine grausame Kriegführung und grausame Kriegswaffen errichtet wurden, haben sich in anderen Regionen der Welt erst wenig im Bewußtsein verankern können.

Die Schwelle zwischen miniaturisierten Nuklearwaffen und konventionellen Waffen verwischt sich auch aufgrund der größeren Sprengwirkung neuer konventioneller Waffen. Dies führt zu einer Verwischung des potentiellen Einsatzspektrums von konventionellen und miniaturisierten Nuklearwaffen. Würde die Idee verwirklicht, konventionelle Bomben und Gefechtsköpfe zu konstruieren, die durch Einsetzen zusätzlicher Komponenten in Nuklearwaffen verwandelt werden können, dann wäre tatsächlich die Grenzziehung zwischen nuklearen und konventionellen Waffen nahezu unmöglich geworden. 4. Neue Waffensysteme verwischen auch die Grenze zwischen taktischen und strategischen Rüstungssystemen.

Die strategischen Potentiale sind längst nicht mehr allein zur Abschreckung geeignet. Ihre technologisch veränderten Eigenschaften, ihre Präzision, Zuverlässigkeit und Steuerbarkeit haben ihnen ein deutlich erweitertes Spektrum denkbarer Anwendungsmöglichkelten eröffnet, die denen taktischer Waffensysteme immer näher kommen. Der Erweiterung der Anwendungsmöglichkeiten passen sich die militärischen Doktrinen an. Mit der Erweiterung des Anwendungsspektrums dieser neuen Waffen wachsen die Schwierigkeiten, die mit den Waffen tatsächlich verbundenen militärstrategischen Intentionen eines potentiellen Gegners eindeutig einzuschätzen. Dies schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Rüstungskontrollverhandlungen. Die Diskussion über die sogenannten Grauzonenwaffen verdeutlicht die wachsenden Schwierigkeiten, bestimmte Waffensysteme eindeutig dem strategischen oder dem taktischen Bereich zuzuordnen. Aus diesen aus der Entwicklung von Waffentechnologien erwachsenen Schwierigkeiten drohen Mißtrauen und Bedrohungsängste zu erwachsen, die verhandlungstechnisch nur durch eine größere Bereitschaft zur politischen Vertrauensbildung und zur kooperativen Rüstungssteuerung überwunden werden können.

Nur die Bereitschaft, eigene technologische Möglichkeiten aufgrund von Absprachen nicht in jedem Falle voll zur Geltung zu bringen, macht überhaupt erst Rüstungskontrollpolitik und eine gewisse Stabilität im sicherheitspolitischen Dialog zwischen Ost und West möglich. Unter diesem Gesichtspunkt ist die gelegentlich geäußerte Kritik an der beabsichtigten vertraglichen zeitweiligen Selbstbeschränkung der USA in bezug auf die Cruise Missile im SALT-Abkommen zurückzuweisen. 5. Die neuen Waffen würden auf längere Sicht das Risiko eines Kriegsausbruches erhöhen, wenn die Friedenssicherung sich nur auf ein System wechselseitiger Abschreckung beschränken würde:

Das Abschreckungssystem basiert auf der Fähigkeit der Atommächte zur wechselseitigen Vernichtung. Dies setzt voraus, daß ein Angreifer in jedem Fall mit einem vernichtenden nuklearen Gegenschlag bedroht werden kann. Wenn sich aber die Tendenz zur Präzisierung und „Härtung" der strategischen Zerstörungsmittel fortsetzt, dann könnte eine Situation entstehen, in der eine Seite mit einem ersten Nuklearschlag das Potential des Gegners auszuschalten imstande ist, so daß ein Angriff wieder militärisch erfolgversprechend erscheinen könnte.

Lohnend würde ein Angriff für einen potentiellen Gegner natürlich nur im Rahmen einer sehr verengten militärischen Kalkulation sein. Diese Überlegung ließe außer acht, daß politische, ökonomische und moralische Gesichtspunkte für Entscheidungen über Krieg und Frieden ebenso maßgeblich sind wie militärische und daß diese Gesichtspunkte zu ganz anderen Ergebnissen führen können. Dennoch dürfen die stabilitätsgefährdenden Folgen der fortgesetzten Waffenentwicklung nicht verharmlost werden. Sie erinnern daran, daß eine auf Abschreckung beschränkte Sicherheitspolitik statt zur Garantie auch zur Gefährdung unserer Sicherheit beitragen kann. 6. Die neuesten Waffenentwicklungen haben aber nicht nur einen technologischen und militärstrategischen, sondern auch einen politischen Aspekt. Sie haben zu einer Situation geführt, in der in starkem Maße nicht mehr politische und militärpolitische Konzeptionen die Einführung neuer Waffensysteme festlegen. Neue Technologien bereiten heute im Gegenteil vielfach den Weg für neue militärische Aufgaben und Doktrinen. Damit aber wird die fehlende Kontrolle über die Waffenentwicklung selbst — und nicht etwa die politischen Ziele, Interessen, Konflikte u. ä. — zu einer entscheidenden Triebkraft des Wettrüstens. Die strategischen Doktrinen und politischen Konzeptionen erscheinen im Lichte dieser Triebkraft häufig nur noch als nachträgliche Rationalisierungen, die mit politischer Vernunft und rationalem Zweck-Mittel-Kalkül nur wenig zu tun haben.

Wichtigstes Ziel einer Rüstungskontroll-und Abrüstungspolitik wird es damit, eine uneingeschränkte politische Kontrolle über die Entwicklung neuer Waffensysteme wiederzugewinnen und sich nicht darauf zu beschränken — so wichtig auch dies ist —, vertragliche Vereinbarungen und politische Kontrollen über bereits entwickelte bzw. sogar bereits dislozierte Waffensysteme anzustreben. Deshalb muß Rüstungskontrollpolitik zukünftig darauf drängen, daß schrittweise Waffensysteme in Abrüstungs-, Rüstungsbegrenzungs-und Rüstungskontrollverhandlungen bereits dann eingeführt werden, bevor sie disloziert und auch möglichst bevor sie fertig entwickelt werden. Zu den Zielen der Rüstungskontrollpoltik muß zunehmend das Ziel der Kontrolle der Entwicklung von Blaupausen von Waffenentwicklungen und die Kontrolle von Forschungseinrichtungen und Forschungsmitteln, die militärischen Zwecken dienen sollen, gehören.

Es wird zu Recht bezweifelt, daß das ungehinderte Wirken der Kräfte des Marktes, der Konkurrenz in der Wirtschaft, zu sozialen Strukturen der gesellschaftlichen Entwicklung führt. Diese Kritik am Konkurrenzprinzip gilt auch für eine Politik der Friedenssicherung. Die ungesteuerte, unkontrollierte Konkurrenz der Großmächte und Bündnissysteme mit Hilfe militärischer Mittel macht auf längere Sicht militärische Krisen und kriegerische Konflikte wahrscheinlicher. „Bisher war es unmöglich, über die Beseitigung von Waffensystemen zu verhandeln, die die andere Seite noch nicht besitzt. Was immer technisch möglich war, wurde entwickelt, was immer entwickelt wurde, wurde genutzt. Das überleben der Menschheit hängt jedoch von unserer Fähigkeit ab, diesen Teufelskreis zu durchbrechen" (Alfons Pawelczyk). Deshalb brauchen wir als Mittel der Friedenspolitik zusätzliche und wirksamere Vereinbarungen und Instrumente einer die Großmächte und auch die anderen relevanten Mächte und die Bündnissysteme einbeziehenden Rüstungskontroll-, Rüstungsbegrenzungs-und Abrüstungspoltik.

Diese bündnisübergreifende Rüstungskontrollpolitik ist gerade für Europa zunehmend ein notwendiges Element der Sicherheits-und Friedenspolitik. Sie soll dazu führen, daß aus gegeneinandergerichteten Bündnissen Partner in der Sicherung des Friedens werden. Aus diesem Grunde kann kooperative Rüstungssteuerung nur erfolgreich sein und das Ziel der Rüstungsbegrenzung und Rüstungsverminderung nur erreicht werden, wenn auch bei der Lösung noch so großer technischer Schwierigkeiten die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kooperation stärker als das noch vorhandene Mißtrauen ist und wenn der Wille zur Vertrauensbildung Dämme gegen das Ausufern der System-und Machtkonkurrenz errichtet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karsten D. Voigt, geb. 1941 in Elmshorn; Mitglied des SPD-Parteirates und des Ausschusses für internationale Beziehungen der SPD; von 1969 bis 1972 Bundesvorsitzender der Jungsozialisten; seit 1976 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis 140 Frankfurt-Main-Taunus.