Grenzlinien der Regierbarkeit 1974-1979. Fragen zum 30jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
Uwe Thaysen
/ 64 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
In der Bundesrepublik Deutschland ist das Geschäft des Regierens schwierig geworden. Auch das Opponieren ist hierzulande mit besonderen Problemen verbunden. Die derzeitige Parteienkonstellation erschwert der Opposition den Regierungswechsel und der Regierung das Regieren. Beide tragen an der Last, handlungsfähige Mehrheiten hervorbringen zu müssen. Bundesrat und Bundesverfassungsgericht schaffen auch nicht gerade Erleichterung, wenngleich ihr Wirken für die Regierungsmehrheit vorteilhafter ist, als deren Chefs in Exekutive und Fraktion öffentlich eingestehen können. „Die Definition der politisch handlungsfähigen Mehrheit ist weit komplizierter, als die Zahlenverhältnisse im Bundestag jeweils vermuten lassen. Sie ist von Fall zu Fall ungewiß und eben darum eine hohe politische Kunst." Die Darstellung des Autors läßt das hierzu erforderliche Augenmaß erahnen. Nicht genug, daß wir nicht wissen, welche Entscheidungen in den technischen Zukunftsfragen zu treffen sind; wir wissen nicht einmal, wie wir verfahren sollen, um die bestmöglichen Entscheidungen zu finden. Wer z. B. entscheidet über das Regierungsprogramm des Bundes, wer über das des Landes Schleswig-Holstein? Vergrößern die großtechnologischen Entwicklungen nicht ständig den Kreis Schutzbedürftiger? Muß dieser Kreis nicht von Entscheidungsmaterie zu Entscheidungsmaterie neu definiert werden? Verändert sich damit nicht auch von Fall zu Fall die Mehrheit? Die Grenzlinien zwischen Mehrheit und Minderheit — auch die Grenzlinien der Minderheiten innerhalb von Mehrheit und Minderheit — werden an den besonders brisanten Themen der letzten fünf Jahre dargelegt: am Umweltschutz, an der Extremistenabwehr und der Terrorbekämpfung. Die „Normalität" der Bundesrepublik kann nach Ansicht des Autors nicht voll derjenigen ihrer Nachbarn entsprechen.
Die Bundesrepublik Deutschland besteht 1979 dreißig Jahre. Ob und in welchem Umfange sich das parlamentarische System während der ersten fünfundzwanzig Jahre bewährt hat, versuchte der Verfasser 1974 zu beantworten Auf der Basis eines internationalen und eines historisch-nationalen Vergleiches mit der Weimarer Republik fiel das Urteil 1974 deutlich positiver aus als z. B. Alfred Grossers Zwischenbilanz von 1967 noch erwarten ließ. 1967 schrieb Grosser: ...... alle Pfeiler, auf die sich die Politik der Bundesrepublik theoretisch stützen könnte, erweisen sich heute als erschüttert" 1974, nachdem die Große Koalition 1969 beendet und die SPD erstmals im Wege eines demokratischen Regierungswechsels führende Regierungspartei geworden war, nachdem auch das erste konstruktive Mißtrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik — gegen Willy Brandt — in einem äußerst komplizierten Verfahren zu einer breiteren Parlamentsmehrheit und zu einer handlungsfähigen Regierung geführt hatte, schrieb der Verfasser dieses Beitrags: „So modisch die gegenteilige Auffassung auch sein mag: von einer faktischen Krise des Parlamentarismus kann in der Bundesrepublik keine Rede sein. Für die Zukunft wäre, die bisherige Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Entwicklungen vorausgesetzt, , business as usual', Alltagsarbeit also, keine schlechte, aber auch keine geringe Voraussetzung." Ich kann mich also in meiner folgenden Bilanz auf die fünf Jahre zwischen dem 25. und dem 30. Jubiläum der Bundesrepublik beschränken. Die generelle Frage lautet sodann: Bestand 1974 mehr Grund zum Optimismus als 1979? Sind fünf weitere Jahre der Existenz dieses politischen Systems nicht Grund genug für ein beruhigendes Urteil?
INHALT I. Die weiterhin stabile Substanz der Grundwerte II. Das keineswegs „alternierende" Parteiensystem III. Die Schwachstellen der Parteien-konstellation 1. Konstituierungsprobleme 2. Parteienzersplitterung?
3. Bürgerinitiativen und Okologistenbewegung 4. Protestpotential IV. Die ungewisse Mehrheit 1. Konsensdruck des Bundesrates 2. Zerfall der Gesetzgebungsmehrheit 3. Kontroverse Politikbereiche a) Ostpolitik b) Ökonomie kontra Ökologie c) Kernenergie und „Atomstaat“
V. Der schwierige Verfassungskonsens 1. Rolle des Bundesverfassungsgerichts 2. Verfassungsrechtliche Sicherung von Grundwerten?
3. Rechtsstaatliche Verfolgung von Terroristen?
4. Freiheitliche Bekämpfung von Extremisten?
5. Gefährdeter Rechtsstaat?
VI. Resümee Ich hätte diese Frage nicht gestellt, gäbe es für mich gegenwärtig nicht einige Bedenken hinsichtlich der Erfüllbarkeit eines zentralen Anspruchs demokratischer Systeme: Ich bin überzeugt, daß es in der Bundesrepublik wesentlich schwerer geworden ist, Mehrheiten zu „finden", zu erwerben und zu behalten. Diese These werde ich hier nur für fünf besonders einschlägige Themenkomplexe untersuchen können, obwohl sich ohne Schwierigkeiten weitere Bereiche benennen ließen: 1. Zunächst ist eine Antwort zu geben auf die fundamentale Frage, ob die Grundsubstanz der Orientierungen, in der Bundesrepublik „Grundwerte" genannt, aus denen zum Zwecke der Mehrheitsbildung zu schöpfen wäre, noch gegeben und hinreichend vorhanden ist. 2. Sodann sind die Entwicklungen insbesondere der Struktur und Stabilität des Parteien-systems zu ermitteln. Daran anknüpfend ist nach Gründen und Geschichte der „Bürgerinitiativbewegung" einschließlich des Protest-potentials in der Bundesrepublik zu forschen.
3. Engstens hiermit verbunden sind die ebenfalls darzustellenden Probleme, in der Umwelt-und Wachstumspolitik Mehrheiten zustande zu bringen.
Es wird zu prüfen sein, ob und inwieweit die Schwierigkeiten der Mehrheitenfindung auf institutionelle Fehlentwicklungen insbesondere zwischen Bundestag, Bundesrat und Bun-
desverfassungsgericht zurückzuführen sind.
Schließlich wird zu untersuchen sein, in welchen Bereichen der Verfassungskonsens der Bundesrepublik am deutlichsten umstritten war.
I. Die weiterhin stabile Substanz der Grundwerte
In den fünfziger Jahren gab es eine ästhetisch initiierte 4), schließlich theologisch, philosophisch und psychologisch geführte Diskussion um den „Verlust der Mitte." Analog dazu ist für die späten siebziger Jahre und erst recht im Blick auf die achtziger Jahre die Frage nach einem möglichen „Verlust der Mehrheit" zu stellen.
Die Fragen der fünfziger Jahre bestehen unvermindert in den siebziger Jahren fort. Ihre Dringlichkeit wird in der Bundesrepublik neuerdings als „Sinnverlust" des Daseins und der Politik umschrieben. Soweit von den politischen Parteien Antworten versucht werden, laufen die entsprechenden Auseinandersetzungen unter dem Stichwort der „Grundwertediskussion" 5). Diese Diskussion soll später in ihren streitbefangenen Bereichen wiedergegeben werden. Sie ist ein Indiz für gewisse Unsicherheiten hinsichtlich der ethi-sehen, philosophischen, kulturellen und psychischen Basis, auf der die Akteure des politischen Systems ihre Mehrheiten herzustellen haben. Insgesamt aber ist der „Gewißheitsverlust" keineswegs dramatisch. Mit Richard Löwenthal können folgende Grundwerte als in der Bundesrepublik weiterhin überwiegend „intakt" angenommen werden: Glaube an die Vernunft im Sinne des Glaubens an eine rationale Ordnung der Welt; Bejahung der Einzigartigkeit der menschlichen Person und damit der Menschenrechte des einzelnen; Anerkennung des bindenden Charakters freiwillig eingegangener — nicht nur blutsgegebener — Gemeinschaften; Notwendigkeit einer Rechtsordnung zur Grenzziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft; eine Auffassung der Arbeit als Sinnerfüllung des Lebens und nicht nur als notwendiges Übel; unbedingte Verpflichtung auf friedliche Mittel und Wege der Verfolgung politischer Ziele. Die Verpflichtung enthält nach Innen eine klare Absage an die Gewalt und nach außen eine eindeutige Absage an den Krieg. Noch ist das solchermaßen fundierte Wertsystem der Bundesrepublik soweit unstrittig, daß es primär darum ging und geht, wie diese Werte zu interpretieren und in gesetzliche Normen umzumünzen sind, wie also dafür auch politische Mehrheiten zu finden und zu behaupten sind. „Nur darin", so schrieb Theo Sommer zum Jahreswechsel 1978/79, „liegtRettung: daß wir der Vernunft politische Mehrheiten schaf-fen ... noch ist Zeit dazu, noch ist nicht Zeitenwende." überhaupt wird man sich vor den allenthalben Aufmerksamkeit sichernden Dramatisierungen hüten müssen. Dies gilt auch in bezug auf manche „Elite-Klischees" (Manes Sperber) über die Krisenhaftigkeit des „Spätkapitalismus in der BRD". Die nachfolgenden Ausführungen sind nur dann im Sinne des Verfassers gewichtet, wenn davon ausgegangen wird, daß es in der Bundesrepublik nicht darauf ankomme, eine Demokratie zu behaupten, die ihren Bürgern zu entgleiten drohe, sondern darauf, „etwas hinzuzuerwerben zu einer Ordnung, deren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind"
II. Das keineswegs „alternierende" Parteiensystem
Abbildung 2
Tabelle 2: Behandlung von Gesetzesbeschlüssen des Bundestages im Bundesrat 1949— 1979 1979
Legende: BR = Bundesrat, VA = Vermittlungsausschuß. Es ist bezeichnend, daß die hier wiedergegebene Zusammenstellung in einem Landtagswahlkampf veröffentlicht wurde. Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg wies auf der Basis dieser Zahlen „längst überholte Angriffe (der Koalition, U. Th.) gegen den Bundesrat" zurück. Vgl. Presseund Informationsstelle der Landesregierung Schleswig-Holstein. pdL 2— 4— 1979, Nr. 쌀ތ?
Tabelle 2: Behandlung von Gesetzesbeschlüssen des Bundestages im Bundesrat 1949— 1979 1979
Legende: BR = Bundesrat, VA = Vermittlungsausschuß. Es ist bezeichnend, daß die hier wiedergegebene Zusammenstellung in einem Landtagswahlkampf veröffentlicht wurde. Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg wies auf der Basis dieser Zahlen „längst überholte Angriffe (der Koalition, U. Th.) gegen den Bundesrat" zurück. Vgl. Presseund Informationsstelle der Landesregierung Schleswig-Holstein. pdL 2— 4— 1979, Nr. 쌀ތ?
Das insgesamt zufriedenstellende Urteil des Jahres 1974 fußte nicht zuletzt auf der Tatsache, daß sich erst nach 1969, deutlicher noch nach 1972, ein in der Bundesrepublik „alternierendes Parteiensystem" herausgebildet hatte, und zwar in einersGestalt, die nähezu dem britischen Muster zu entsprechen schien Grob gesprochen, gehörten als jeweils führender Regierungspartei die fünfziger Jahre parteipolitisch der Union aus CDU und CSU, die sechziger Jahre weder CDU/CSU noch der SPD (immer mehr aber der SPD), der Beginn der siebziger Jahre der SPD. Die langjährige „Asymmetrie" des westdeutschen Parteiensystems — bezogen auf die Wahlergebnisse zugunsten von CDU und CSU (1957 Vorsprung von 18, 4 Prozentpunkten) — war 1972 endgültig behoben. Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, als die Konzentration der Wählerschaft auf die nun schon traditionellen Parlamentsparteien weiter anhielt. Bei den Wahlen von 1972 und 1976 wurden jeweils 99, 1 Prozent der Stimmen für die im Bundestag vertretenen Parteien abgegeben — und dies bei einer Wahlbeteiligung von jeweils über 90 Prozent.
Im nachhinein, aus der Sicht des Jahres 1979, stellt sich jedoch die Frage, ob das Jahr 1972 wirklich den Beginn eines alternierenden Parteiensystems darstellt. Trat an die Stelle der bis Mitte der sechziger Jahre bestehenden Chancenlosigkeit der damaligen Opposition (SPD), einen Regierungswechsel herbeiführen zu können (= „Asymmetrie"), 1972 wirklich eine Parteienkonstellation, die einen Regierungswechsel (auf der Grundlage eines „alternierenden" Parteiensystems) ermöglichte? Kennzeichnet das Wahlergebnis von 1972 nicht vielmehr den Anfang einer neuen Asymmetrie (von 3 Prozentpunkten) 9), dies-mal zugunsten der SPD? Ist nicht die SPD als führende Regierungspartei bei steigender Bin-dung der FDP an die Kanzlerpartei zunehmend für CDU und CSU in Wahlen unschlagbar geworden? Hat sich aus der in dieser Frage angedeuteten Resignation nicht auch — geradeso wie in den Jahren 1966 bis 1969 — eine neue Opposition gegen das System der Parteien und des Parlamentarismus formiert, die keine Chance mehr sieht für Opposition im System? Wie kommt es, daß trotz der oben genannten statistischen Zahlen in der Bundesrepublik offensichtlich zunehmend von „Parteienverdrossenheit" die Rede ist?
Zwar war die zweite Regierung Brandt 1972 mit einem deutlichen Vorsprung (von 9, 3 Prozentpunkten) vor CDU und CSU aus den Wahlen hervorgegangen. Mit 54, 2 Prozent der Stimmen verfügte sie über eine eindrucksvolle Mehrheit von 48 Mandaten im Bundestag. Die Zeit von 1972 bis 1974 belegt jedoch einmal mehr, daß die Handlungsfähigkeit einer Regierung keineswegs proportional zur Zahl ihrer Mandate ansteigt. Nach 1972 wurde Willy Brandt immer häufiger Amtsmüdigkeit und Vernachlässigung der Innenpolitik vorgeworfen. Mit seinem Rücktritt übernahm er 1974 die Verantwortung für das Eindringen eines DDR-Spiones (Guillaume) in das Bundeskanzleramt. Die historische Bedeutung der Kanzlerschaft Willy Brandts ist zunächst einfach darin zu sehen, daß ein Mann seiner sozialen Herkunft und politischen Karriere in Deutschland überhaupt Kanzler werden konnte. Dies war ein Einbruch in das traditionell großbürgerlich-bildungsbürgerliche Politikmonopol in Deutschland. Wie umstritten auch immer die Ostpolitik Willy Brandts im Inland geblieben ist, seine Programmatik und Praxis der Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten, die manche Erfolge zeitigte, wird nach der Adenauerschen Westpolitik ebenfalls historische Verdienste für sich in Anspruch nehmen können. Aus der Sicht des Auslandes ist diese Wertung unbestritten.
Besonders nachhaltige Wirkung hätte es auf die Struktur des Regierungssystems der Bundesrepublik gehabt, wäre der unter Willy Brandt mit viel Einsatz verfolgte Versuch gelungen, im Bundeskanzleramt ein Instrument für umfassende integrierte „politische Planung" zu institutionalisieren. Das Unternehmen scheiterte jedoch Aus der Sicht des Nachfolgers im Kanzleramt nimmt sich die solchermaßen angestrebte Systematisierung der Politik vermutlich aus wie der untaugliche Versuch einer Substituierung der Richtlinienkompetenz, die Kanzler Brandt nicht mehr sicher auszuschöpfen vermochte. Der Versuch wurde in der Ära Schmidt nicht entschieden weiterverfolgt. Dennoch wird, wer die Reformmöglichkeiten der Regierungsapparatur der Bundesrepublik analysieren will, die damals angestellten umfangreichen Überlegungen studieren müssen.
Helmut Schmidt folgte Willy Brandt 1974 als fünfter Kanzler der Bundesrepublik. Er wurde 1976 wieder gewählt. Mit nur fünf Kanzlern und zwölf Kabinetten innerhalb von 30 Jahren erweist sich die Bundesrepublik in ihrer Regierung beträchtlich stabiler als die Weimarer Republik, auch deutlich beständiger als fast alle anderen westeuropäischen Staaten.
Nach Adenauer hat Schmidt das Kanzleramt inzwischen am längsten inne. Man wird sagen können, daß mindestens drei, vielleicht sogar vier der bislang fünf Bundeskanzler durchaus historisches Format für sich in Anspruch nehmen können. Insofern hat sich das politische System der Bundesrepublik weiterhin in der Lage erwiesen, handlungsfähige Regierungen zu bestellen. Das gilt auch für die Zeit nach 1976, obwohl Helmut Schmidt nach der Bundestagswahl von 1976 mit einer wesentlich verkleinerten Mehrheit von nur zehn Sitzen regieren muß. SPD (42, 6 Prozent) und FDP (7, 9 Prozent) verloren 1976 gegenüber dem Wahlergebnis von 1972 zusammen 3, 7 Prozent ihrer Stimmen. Die Asymmetrie, die sich 1972 mit 9, 3 Prozentpunkten zugunsten der SPD andeutete, wurde bis auf 1, 9 Prozentpunkte abgebaut. Vielen, nicht nur der CDU nahestehenden Beobachtern, deutete sich in diesem Wahlergebnis ein „Vorspiel zum Wechsel" an.
Obgleich die beiden Unionsparteien im Bundestag die stärkste Fraktion stellten, mußten sie sich mit der Oppositionsrolle begnügen. 1978 begann eine neue Serie von Landtagswahlen. Während die Union im Durchschnitt aller vier Landtagswahlen von 1978 gegenüber der Bundestagswahl 1976 einen leichten Stimmengewinn (0, 76 Prozentpunkte) erzielen konnte, verlor sie Stimmen im Vergleich zu den Landtagswählen von 1974 (minus 1, 62 Punkte). Hinzu kam im Januar 1979, ausgelöst durch ein Memoranaum von Kurt Biedenkopf zur allgemeinen und personellen Lage der Union eine schwere Führungskrise der CDU. Schon nach der Wahl von 1976 setzte in der CDU ein Führungsverfall ein, von dem Helmut Kohl sich bis zu Beginn des Jahres 1979 nicht erholte. Helmut Schmidt dagegen erzielte um den Jahreswechsel 1978/79 demoskopische Zahlen der Wertschätzung, die selbst Willy Brandt 1972 nicht erreicht hatte. Schmidt und sein Kabinett wurden im Dezember 1978 von 64 Prozent eines repräsentativen Querschnittes befragter Bundesbürger mit „gut" und „sehr gut" beurteilt
Für die CDU ergibt sich gegenüber der SPD — bezogen auf die Landtagswahlen 1974, die Bundestagswahl 1976 und die Landtagswahlen 1978 — eine spiegelbildlich entgegengesetzte Entwicklung. Die SPD verlor von 1972 auf 1974 und 1976, befand sich aber 1978 in einem deutlichen Aufwind. Die CDU dagegen gewann von 1972 auf 1974 und erst recht auf 1976, verzeichnete aber leichte Verluste im Jahre 1978. Die Zuwachsraten der CDU von 1972 und 1974 sowie 1976 waren 1978 dahin, die 1976 hochgespannten Erwartungen waren 1978 und schon gar zu Beginn des Jahres 1979 verflogen. Für die FDP unterschied sich die Situation eingangs der neuen Serie von Landtagswahlen im Jahre 1978 deutlich von derjenigen des Jahres 1974. 1974 zeigte die SPD massive Schwächen, während die FDP als die in sich gefestigtere der beiden Koalitionsparteien galt. 1978/79 war die politische Lage genau umgekehrt. Einige Beobachter begannen im Sommer 1978 nach den Wahleinbußen der FDP in Hamburg und Niedersachsen (kein einziges Mandat in den Landesparlamenten) sogar eine dritte Konzentrationsphase des Parteiensystems der Bundesrepublik in Richtung auf ein „reines" alternierendes Zweiparteiensystem (ohne FDP) für möglich zu erachten. Genauere Analysen lassen jedoch erkennnen, daß die FDP ihr Stimmenpotential insgesamt halten konnte Damit ist rein quantitativ und aus der Sicht der Koalitionsmöglichkeiten der Parteien für die Bundesrepublik weiterhin von einem Zweieinhalbparteiensystem zu sprechen. Es gibt weiterhin drei „etablierte" Parlamentsparteien, von denen jedoch nur zwei den Kanzler stellen können. Sah es 1976 noch nach einem „Vorspiel zum Wechsel" aus, so ist bei Extrapolation der Wahl-und Demoskopenzahlen aus 1978/79 für das Wahljahr 1980 kein Regierungswechsel in Bonn zu erwarten.
23 falls nicht BT oder BReg. bis zum Ende der Wahlperiode ein VA-Verfahren einleiten. Außerdem ist das Wehrpfrichtgesetz vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden, nachdem es trotz Zustimmungsversagung 쌀ތ?
23 falls nicht BT oder BReg. bis zum Ende der Wahlperiode ein VA-Verfahren einleiten. Außerdem ist das Wehrpfrichtgesetz vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden, nachdem es trotz Zustimmungsversagung 쌀ތ?
Die Schnelligkeit, mit der sich Tendenzen der Wählergunst wandeln können, wird ersichtlich, wenn man vergleicht, wie positiv der Wähler die Regierung Brandt 1972 und wie negativ er diese Regierung 1974 beurteilte; man vergleiche ferner, wie sich die Einschätzung der Regierung Schmidt von 1976 auf 1978 in entgegengesetzter Richtung positiv veränderte. Bis zur Bundestagswahl 1980 können bei dem geringen Vorsprung der sozialliberalen Koalition vor der Opposition politische Fehler der Regierung und der sie tragenden Parteien (wie der Rentenbeschluß von 1976) massive Wählerreaktionen zur folge haben. Zudem ist zu bedenken, daß auch Mehrheiten in pluralistischen Gesellschaften nichts anderes als Konglomerate von Minderheiten sind. Uber ihre tatsächliche Stabilität muß — im Anschluß an die vorangegangene quantitative Analyse — die folgende qualitative Untersuchung ihrer inneren Struktur und der Verträglichkeit der in ihr vertretenen Positionen Genaueres ermitteln.
1. Konstituierungsprobleme Wenn mit Gerhard Loewenberg davon ausgegangen wird, daß ein parlamentarisches System gerade in der Nachwahlphase seine Stabilität bzw. Anfälligkeit erweist, so ist für die Zeit unmittelbar nach 1976 eine ernsthafte Schwächephase des Parlamentarismus in der Bundesrepublik zu diagnostizieren. Denn allenthalben wurden Konstituierungsprobleme der neuen Konstellation offenkundig.
Sowohl die Regierungsbildung als auch — und erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik — die Oppositionsbildung vollzogen sich äußerst schwierig. Mindestens drei Mandatsträger der Regierungskoalition (253 Sitze) verweigerten Schmidt bei der Kanzlerwahl ihre Stimme. Wahlkampfaussagen des Kanzlers bezüglich der Rentenpolitik erwiesen sich nach der Wahl als ebenso unhaltbar wie der zuständige Minister (Walter Arendt) selbst. Im Gegensatz zum Wahlversprechen wollte die Regierung die nächste Rentenerhöhung hinausschieben. Der Kanzler wurde von seiner Fraktion politisch gezwungen, diesen Plan fallenzulassen. Er mußte der Öffentlichkeit vor dem Bundestag einen politischen Fehler eingestehen. Sein Kanzler-Image dürfte nie schlechter als zu diesem Zeitpunkt gewesen sein.
2. Parteienzersplitterung?
Auch die Opposition hatte Mühe, sich zu formieren. Zum einen, weil sie zunächst nicht bereit war, sich mit der Oppositionsrolle abzufinden; der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl erhob am Tage nach der Wahl beim Bundespräsidenten Anspruch auf seine Nominierung als Kanzlerkandidat. Zum anderen, weil Erwägungen der CSU auftauchten, ihre Par-teiorganisation auf Bundesebene auszuweiten. Am 18. /19. November 1976 entschieden die CSU-Abgeordneten in Wildbad Kreuth, künftig als eigenständige Fraktion im Bundestag anzutreten. Die Entscheidung richtete sich nicht zuletzt gegen den CDU-Vorsitzenden Kohl. Die CSU wollte Kohl als zwar nur zweitbesten Mann der Unionsparteien wohl für das Kanzleramt, nicht aber als Oppositionsführer gelten lassen. Da Strauß — unausgesprochene, aber unzweifelhafte „Nummer eins" der CSU — für das Kanzleramt aus arithmetischen (gegenüber der CDU) und politischen Gründen (gegenüber der möglicherweise im Laufe der Wahlperiode noch zu gewinnenden FDP) als Kanzlerkandidat nicht in Betracht kam, mußte die CSU Kohl als Kanzlerkandidaten akzeptieren. Da Kohl die Kreuther Entscheidung mit der Androhung einer CDU-Konkurrenz in Bayern beantwortete, mußte Strauß ferner auf die Gründung einer bundesweiten CSU und einer CSU-Fraktion im Bundestag verzichten. So gingen am Ende beide Spitzenpolitiker der Opposition lädiert aus der Konstituierungsphase des 8. Deutschen Bundestages hervor.
Die Verwundbarkeit der gegenwärtigen Opposition blieb offensichtlich. Sie ist zum einen strukturell darin begründet, daß der Vorsitzende der Oppositionsfraktion diese nicht zugleich als Oppositionspartei anführen kann. Die Opposition aus CDU und CSU ist eine duplexe Einheit. Helmut Kohl ist zwar Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, aber „nur" Vorsitzender einer der beiden Parteien, aus denen sich diese Opposition zusammensetzt. Die Verwundbarkeit der Opposition ist zum anderen aktuell darin begründet, daß diese schwierige Einheit entweder nur durch das Innehaben des Kanzleramtes oder durch eine unbestritten überragende Führungspersönlichkeit aus den Reihen der stärkeren der beiden C-Parteien problemlos zusammengehalten werden kann, beide Bedingungen aber in der Wahlperiode seit 1976 nicht erfüllt sind. Derzeit weiß sich mindestens der Vorsitzende der CSU dem Vorsitzenden der CDU politisch überlegen, und auch aus der CDU selbst wurden Zweifel an der Kanzlerqualifikation des Oppositionsführers für die Öffentlichkeit un-überhörbar.
Die Schwäche der gegenwärtigen Opposition wurde auch in der unterschiedlichen Strategie von CDU einerseits und CSU andererseits gegenüber der FDP ersichtlich. Kohl ging davon aus, die Regierung Schmidt werde wegen ihrer 1976 besonders deutlich gewordenen Mängel nicht bis 1978 regieren und ein Wechsel noch in der laufenden Wahlperiode vor 1980 vollzogen. Entsprechend sei die Strategie — wie vor 1972 — auf Wechselwähler und potentielle Fraktionswechsler der FDP abzustellen. Strauß dagegen wollte und will eine Offensive, die auf eine absolute Mehrheit der CDU/CSU abzielt und daher auch die FDP nicht schont.
Die Strategie von Kohl überzeugte nach 1976 immer weniger. Zunehmend wurde der Vorwurf erhoben, SPD und FDP seien so eng miteinander verbunden, daß insbesondere die Unabhängigkeit der FDP von der SPD nicht mehr gewährleistet sei. Es handle sich bei diesen Parteien um einen geschlossenen Block, also um „Blockparteien". Das Zweieinhalbparteiensystem sei faktisch ein Zwei-Lager-System. Der Vorwurf der Blockparteien veranlaßte folgende Überlegungen: Die SPD könne als dominierende Regierungspartei nur abgelöst werden, wenn eine deutlich konservativ orientierte, bundesweite CSU mit einer liberal-sozialen CDU koaliere. Nur eine solche Konstellation könne 50 Prozent des Wählerreservoirs ausschöpfen. Dies wiederum werde zur Abtrennung einer linkssozialistischen Partei von der verbleibenden gemäßigt reformerischen SPD führen. Eine derartige Fragmentierung und die damit verbundene Polarisierung in bezug auf einzelne Politikbereiche könne auch die traditionsgemäß nahe-liegende Spaltung der Liberalen in National-und Linksliberale verursachen. Von diesem Trend ermutigt, könnten schließlich noch eigenständige politische Gruppierungen entstehen wie die „Grüne Liste Umweltschutz" (GLU) der ökologisten oder die „Bürgerpartei" der Steuermüden, deren Gründung tatsächlich am 1. Mai 1979 erfolgte.
Erst aus dieser Vielfalt und „Bewegung in der Parteienlandschaft" würden sich Möglichkeiten der Ablösung der „Blockparteien" SPD und FDP ergeben: eine Mitte-Rechts-Regierung aus CDU und CSU, wenn nötig unter Einschluß der „Nationalliberalen", würde denkbar, ebenso eine große Mitte-Mitte-Koalition aus CDU und SPD, aber auch eine Mitte-Links-Koalition aus SPD und Linkssozialisten. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU, Kurt Biedenkopf, wollte jüngst nicht ausschließen, daß . eine anhaltende Mehrheitsunfähigkeit der Unionsparteien zur Spaltung der CDU führen könne, und zwar selbst dann, wenn es nach der Bundestagswahl 1980 zu keiner sonstigen vierten Partei käme.
Den Regierungsparteien mag eine schwache Opposition zwar willkommen sein; eine allzu schwache Opposition muß sie indessen beunruhigen. Die Mehrheitsfähigkeit des Regierungslagers ist auf vielfache und komplizierte Weise abhängig auch vom Zustand des Oppositionslagers. Erreichen die Schwächen der Opposition ein Ausmaß, welches die Opposition als Alternative zum Regierungslager außer Betracht stellt, so ist dies ein alarmierendes Zeichen für das Regierungssystem insgesamt, welches auch die Regierenden langfristig mehr fürchten müssen als ihre zeitweilige Verbannung auf die Oppositionsbänke.
Bürgerinitiativen und ökologistenbewegung Zahl und Wirkung der Bürgerinitiativen wurden in der Bundesrepublik häufig als Beweis für die Schwäche der politischen Parteien angeführt. Nicht selten wurde eine „Bürgerinitiativbewegung" als grundsätzliche (extrakonstitutionelle) Opposition gegen das repräsentative System, mindestens aber als Indiz für dessen Krisenhaftigkeit angenommen. Tatsächlich ist die Zahl der Bürgerinitiativen in den letzten zehn Jahren kräftig angewachsen.
In Zielsetzung und Zusammensetzung, in Struktur und Strategie waren die Bürgerinitiativen jedoch so heterogen, daß von einer „Bewegung" nicht gesprochen werden kann nicht einmal, wenngleich dort noch am ehesten, im Umweltschutz. Es waren tatsächliche Repräsentationsdefizite, die notwendigerweise Bürgerinitiativen auf den Plan riefen. Bürgerinitiativen sind wesentliche Bestandteile des pluralistischen Vorsorgestaates.
Eher zufällige, geschichtliche Umstände
kamen hinzu, daß die Zahl der Bürgerinitiativen von 1969 an beständig anwuchs. Im Frühjahr 1977 erreichte sie einen ersten Höhepunkt.
Im Sommer 1977 wurden 50 000 Bürgerinitiativen und mehr Initiativals Parteimitglieder (1, 7 Millionen) angenommen
Die meisten Bürgerinitiativen entsprachen höchst alltäglicher Interessenwahrnehmung ge-gen Verwaltungsvorhaben der verschiedensten Art. Sie waren zeitlich, räumlich und thematisch begrenzt. In anderem Zusammenhang habe ich diese Selbsthilfeaktionen idealtypisch als Bürgerinitiativen erster Genera-tion gekennzeichnet Hinzu kamen zunehmend seit 1972 Bürgerinitiativen der zweiten Generation. Diese waren weder zeitlich noch räumlich noch thematisch so eng begrenzt wie die der ersten Generation und traten vornehmlich im Bereich des Umweltschutzes auf. In einer Repräsentativerhebung erklärten 1977 ganze 11 Prozent der Befragten, daß sie bei Umweltinitiativen „mitmachen"; nur 6 Prozent rechneten sich jedoch zu Mitgliedern der Bürgerinitiativen. 48 Prozent der Bevölkerung vertraten die Auffassung, daß von Bürgerinitiativen innerhalb der nächsten fünf Jahre am ehesten ein wirksamer Beitrag zum Umweltschutz zu erwarten sei. Im Umweltschutz registrierte das Umweltbundesamt 1978 nahezu 850 Organisationen Ein erster deutlich nachweisbarer Einbruch in die Zuwachsraten der Bürgerinitiativen erfolgte im Frühjahr 1977 (zweite Brokdorfdemonstration), ein zweiter im Herbst 1978. 1977/78 entstanden aus verschiedenen Umweltinitiativen Wahlkampforganisationen mit eigener Programmatik. Als „Grüne Liste Umweltschutz" (GLU) nahmen diese Parteien ganz neuen Typs an den Wahlen teil. 1978 hatten 48 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik die Chance, ihre politische Einschätzung der Grünen Listen im Vergleich zu den Parteien zu bekunden. Die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein und Bayern sowie die Landtagswahlen in Hamburg, Niedersachsen, Hessen und Bayern gaben hierzu Gelegenheit. Ihren bisherigen wahlpolitischen Höhepunkt erreichten die Grünen — in Hamburg zusammen mit den „Bunten" (3, 5 Prozent) — im Sommer 1978. Zwar verfehlten sie die Mandatsquote von 5 Prozent der Stimmen für die Landtage. In Hamburg und Niedersachsen aber erreichten sie beachtliche Stimmenanteile bei der Landtagswahl, in Schleswig-Holstein und in Hamburg errangen sie Sitze in kommunalen Vertretungskörperschaften. Die Wahlen in Hamburg und Niedersachsen wurden vielfach als Gefährdung des Parteiensystems der Bundesrepublik gewertet, weil die FDP ihre Sitze in den Landesparlamenten verlor.
Bei den „Oktoberwahlen" des gleichen Jahres in Hessen (2 Prozent) und Bayern (1, 8 Prozent) konnten verschiedene „grüne" Wahlorganisationen die Erfolge des Sommers jedoch nicht wiederholen. Zu deutlich wurde dem Wähler ihre programmatische Widersprüchlichkeit und ihre organisatorisch-personelle Zerstrittenheit.
Insgesamt haben sich die Parteien der Bundesrepublik gegenüber den Bürgerinitiativen und gegenüber der ökologischen Bewegung als recht anpassungsfähig erwiesen. Insbesondere die 1975 veröffentlichten kommunalpolitischen Programme sämtlicher Parteien kündigten den Bürgerinitiativen der ersten Generation reichlich Mitwirkungsrechte — von der Anhörung und Mitwirkung in Gemeinderatsausschüssen sowie deren Öffentlichkeit bis zum Bürgerentscheid — an. Viele davon — in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz auch das Bürgerbegehren — wurden im Zuge landesgesetzlicher Novellierungen von Kommunalverfassungen verwirklicht. Bedeutsame Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet das Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976, Je mehr die Parteien sich jedoch den Okologisten und anderen Bürgerinitiativen der zweiten Generation als Wahlkonkurrenten gegenüber sa-hen, desto mehr schränkten sie ihre ursprüngliche Bereitschaft zur Einräumung von Mitwirkungsrechten ein. Das gilt vornehmlich für SPD und FDP; CDU und CSU hatten wenig „Reformeuphorie" zurückzunehmen.
Die allgemeine Rücknahme von Beteiligungsrechten ist beispielhaft an der Willensbildung um die Verbandsklage nachweisbar.
Angesichts der Bürgerinitiativen der zweiten Generation nahmen die Parteien Zusagen an Bürgerinitiativen auch der ersten Generation zurück. Die Gefahr eines pathologischen, weil lernunfähigen Verhältnisses zwischen Bürgerinitiativen und Parteien war damit durchaus gegeben. Gleichzeitig begannen die Parteien jedoch, der ökologischen Bewegung mit einer zunehmenden Zahl von Gesetzen zum Umweltschutz das politische „Wasser abzugraben" Besonders wirksam dürfte das jüngste Gesetz zur Verschärfung der Umweltkriminalität sein: Mit beträchtlichem Pathos wurden Umweltsünder im Bundestag von Justizminister Vogel auf eine Stufe mit Betrügern, Brandstiftern, Dieben und Gewalttätern gestellt. Wirksam demonstrierte der Staat seinen Anspruch auf das Monopol eines sanktionierbaren Umweltschutzes — wie wenig wirksam die Maßnahmen tatsächlich auch sein mögen. Die Strategie der sozialliberalen Koalition — insbesondere der Liberalen (siehe Kalkar) — geht dahin, Bürgerinitiativen keine neuen Mitwirkungsrechte und damit organisatorische Profilierungsmöglichkeiten einzuräumen, sich aber gleichzeitig ihrer politischen Themen wenigstens soweit anzunehmen, daß die Okologisten nicht zur Wahlkonkurrenz werden. Eine breite Institutionalisierung der Willensbildung zum Umweltschutz — vom Umweltbundesamt und Umweltministerien in den Ländern bis zum Benzinblei-, Chemikalienschutzoder Wasserhaushaltsgesetz — hat begonnen. Die traditionellen Parteien haben sich ein nicht mehr ganz neues Thema offiziell „zu eigen" und damit wenigstens vergleichsweise beherrschbar gemacht. Noch bleibt allerdings festzustellen, daß die Umweltgesetzgebung von der „Umweltbewegung" kaum wahrgenommen wird
4. Protestpotential In der Bundesrepublik wird in ernst zu nehmenden Analysen ein wachsendes Protestpotential vermutet. Einige Autoren rechnen schon die Okologisten — vornehmlich GLU und GAZ (Grüne Aktion Zukunft) — hierzu. In Hamburg und zur Wahl des neuen Abgeordnetenhauses in Berlin sammelten sich zahlreiche „bunte" K-Gruppen (KBW, KPD und KPD/ML) zur Wahl. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung bekundete, seine Interessen nicht durch die Parteien repräsentiert zu sehen Das Ansehen der Abgeordneten erreichte einen Tiefpunkt Die nachfolgenden Daten zeigen, daß die Zuwachsrate der Parteien rückläufig sind. Bei den etablierten, schon in den sechziger Jahren voll ausgebauten „Mitgliederund Apparatsparteien" SPD und CSU ist sogar erstmals in deren Geschichte ein absoluter Rückgang der Mitglieder ersichtlichen (Tabellen 1) 27). Am 1. Mai 1979 gründete Hermann Fredersdorf (ehemals SPD) eine Steuerprotestpartei, genannt „Bürgerpartei". Mögen die Parteien die Okologisten wahltaktisch bereits weitgehend im Griff haben (der Grundkonflikt Ökologie kontra Ökonomie ist damit keineswegs gelöst, siehe unten), so meldet sich mit der „Bürgerpartei" eine noch weitgehend unkalkulierbare Bewegung an. Noch ist offen, ob sich der dänische „GlistrupErfolg" in der Bundesrepublik wiederholen läßt. Hier ist ein Potential von Unzufriedenen, die offensichtlich davon ausgehen, daß die traditionellen Parteien die Probleme der Gegenwart nicht begreifen und nicht lösen können. Werner Kaltefleiter schätzt dieses Potential auf 20 Prozent der Wahlbürger. Er verortet es in der Mitte des Parteiensystems:
„Nicht von der Peripherie her droht ein Ausfransen des Parteiensystems, sondern aus dem Potential der Wechselwähler, die von der Regierung enttäuscht, der Opposition nichts zutrauen." So gesehen wäre gerade die Stabilität bzw. Erstarrung des Parteisystems der Bundesrepublik ein Gefahrenmoment, das die Destabilisierung der Bundesrepublik auslösen könnte. Der quantitativ eindeutige Fortbestand des Zweieinhalbparteiensystems ist also qualitativ gar nicht so gesichert, wie die Wahlergebnisse vermuten lassen. Jüngstes Indiz für die Labilität: der Gründungsversuch einer „Liberal-konservativen Aktion" im Februar 1979.
Wird das System zerbrechen? Eine Antwort kann von folgenden, einigermaßen gesicherten Zusammenhängen ausgehen:
1. Die CSU wird das Risiko der vierten Partei scheuen müssen, weil die Einbrüche einer dann in Bayern auftretenden CDU gegenüber der CSU zu groß sein würden (bis zu 30 Prozent wurden hochgerechnet), weil die noch auf dem rechten Terrain zu erzielenden Ge-winne(bei 1976 weniger als 0, 5 Prozent rechtsextremistischen Wählern) zu gering sind und weil die bundespolitische Position von Strauß seit der Kreuther Tagung im November 1976 und erst recht nach der bayerischen Landtagswahl 1978 geschwächt ist
2. Die bisherige Anpassungsund Aufnahmefähigkeit der traditionellen Parlamentsparteien vorausgestzt, werden die Okologisten partei- und wahlpolitisch nicht weiter vorankommen können.
3. Das gleiche ist nicht so sicher für die Bürgerpartei zu sagen.
4. Aufgrund fast schon traditionellen Widerstandes des sozialen Flügels der CDU gegen Spaltungsdrohungen von der Rechten ist eine Abspaltung der Linken in der CDU von ihrer Mutterpartei wenig wahrscheinlich; auch die SPD besitzt eine mittlerweile historische Integrationstradition zur Erhaltung einer demokratischen Linken
So ist also die Wahrscheinlichkeit eines massiven Wandels der politischen Konstellation Ler Bundesrepublik vor 1980 gering. Auf der Grundlage der Trends zu Beginn von 1979 ist 1980 nicht einmal ein Regierungswechsel zu erwarten. Eine auch nur wenig unter die Oberfläche gehende Analyse zeigt jedoch, daß es unter der geschlossenen Decke des Parteiensystems beträchtliche Bewegung gibt, die Gewißheiten nicht zuläßt. Weitere Ungewißheiten ergeben sich daraus, daß es schwieriger geworden ist, den Begriff der Mehrheit politisch zu definieren. Die einfache Vorstellung, daß in Demokratien die Mehrheit entscheidet, ist in der Wirklichkeit $immer schwieriger umzusetzen bzw. immer weniger zu erkennen. Wieviel Verunsicherung ist in dieser Frage überhaupt erträglich?
1. Konsensdruck des Bundesrates In der Bundesrepublik werden Gesetze vom Bundestag und vom Bundesrat beschlossen.
Die Entscheidungen des Bundesrates können in einigen Materien vom Bundestag zurückgewiesen werden, in anderen ist der Bundestag an die Zustimmung des Bundesrates gebunden. Hier ergeben sich Analogien zu den Problemen der in Frankreich für die politische Handlungsfähigkeit erforderlichen „doppelten Mehrheit" (für den Präsidenten einerseits und die Regierung/Nationalversammlung andererseits). Seit 1969 hat die sozialliberale Koalition im Bundestag und die christ-demokratische Union im Bundesrat eine Mehrheit — immer vorausgesetzt, die Parteizugehörigkeit der jeweiligen Vertreter entscheidet über die Stimmabgabe. Obwohl diese Konstellation nunmehr bald zehn Jahre besteht, konnte regiert werden. Diese Feststellung allein sollte vor Vereinfachungen und Dramatisierungen über die Konfrontation „Bundesrat kontra Bundestag" warnen. Erstens ist die Behauptung nicht ganz zutreffend, der Bundesrat früherer Jahre habe sich in seiner parteipolitischen Zusammensetzung in Übereinstimmung mit dem Bundestag befunden. Zweitens ist die Situation nach 1969 — wegen der CDU/FDP-Koalitionen im Saarland und in Niedersachsen (seit 1977) — nicht so gewesen, wie die Konfrontationsthese häufig behauptet. Drittens folgte der reformorientierten Regierung Brandt 1974 eine von vornherein stärker pragmatisch auf Stabilisierung zielende Regierung Schmidt, für deren Pro-grammatik der Bundesrat eine wesentliche geringere Hürde darstellte. Gewiß wäre eine entschiedenere Reformpolitik gegen den Willen von CDU/CSU am Bundesrat gescheitert. Eine solche Politik lag jedoch nicht im Willen der Regierung Schmidt.
Ganz im Gegensatz zu den üblichen Lamentos der Konfrontationsthese ist meines Erachtens zu fragen, ob die Regierung Schmidt nicht letztlich von dem vom Bundesrat ausgehenden Konsensdruck profitierte: Wenn durch diesen Druck tendenziell ein Allparteienprogramm realisiert wurde, so erreichte die Politik der Bundesrepublik damit ein sehr hohes Maß demokratischer Legitimität und die Regierung Schmidt ein sehr hohes Maß an Wählerzustimmung. (In Frankreich wird die Opposition weder institutionell noch programmatisch auch nur annähernd derjenigen der Bundesrepublik berücksichtigt.) Diese Art der Politik fordert allerdings ein äußerst präzises Augenmaß zur Sichtung der jeweiligen „Allparteienmehrheit" und ein beträchtliches Maß an politischem Geschick, mit welchem die Regierung die Themen der Politik dominiert und in der Lage bleibt, die Opposition öffentlich im politischen Zustimmungszwang gegenüber Vorlagen der Regierung zu halten. Selbst dort, wo Vorlagen am Bundesrat scheitern — was kaum geschieht —, kann die sozialliberale Koalition — solange es selten vorkommt — dies noch zur Integration ihres linken Flügels für sich positiv ummünzen. Insgesamt ist klar, daß die Mehrheitsbeschaffung unter den Bedingungen des Föderalismus in der Bundesrepublik ganz besonders schwierig ist. Die Definition der politisch handlungsfähigen Mehrheit ist weit komplizierter als mathematische Konstellationen im Bundestag jeweils vermuten lassen. Sie ist von Fall zu Fall ungewiß und ihre Beschaffung eben darum eine hohe politische Kunst.
2. Zerfall der Gesetzgebungsmehrheit Die Demokratisierungsdiskussionen und die technologischen Entwicklungen in den letzten Jahre haben gezeigt, daß es immer schwieriger wird, diejenige Mehrheit im voraus zu bestimmen, die über eine Angelegenheit entscheiden soll. Erfordernisse des Minderheitenschutzes wie der politischen Integration verlangen die Delegation bzw. Ausdifferenzierung von Mitwirkungs-und/oder Beschlußkompetenzen. Aufgrund der tiefgreifenden Einwirkungen moderner technologischer Entwicklungen in Freiheit, Leben und Eigentum des einzelnen wird es notwendig, den Minderheitenschutz gegenüber dem Bedürfnis nach integrationsfähigen Mehrheitsentscheidungen von Gesetzgebungsmaterie zu Gesetzgebungsmaterie neu zu definieren. Dieser Zusammenhang ist für die kommunale Politik aufgrund der dort seit längerem üblichen Ersetzung des herkömmlichen generell abstrakten „Gesetzes" bzw. „Beschlusses" durch den politischen „Plan" bekannt. Er ist aber auch in der Bundespolitik wirksam. Dort wurde er besonders sichtbar in dem heftigen Streit um den „Schnellen Brüter" (Uranium 238/239), der in Kalkar entstehen soll. Hier mußte erst verfassungsgerichtlich geklärt werden, ob der Bundesgesetzgeber (in § 7 des Atomgesetzes) die Entscheidungsbefugnis und damit auch die Mehrheitsinstanzen verfassungsrechtlich angemessen definiert hatte. Die Problematik kann hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Ihre Aktualität kann nur mit Hinweis auf die in der Bundesrepublik besonders brisanten Auseinandersetzungen um die Kernkraftwerke in Wyhl, Brokdorf und Grohnde sowie die geplante Endlagerungsstätte für Atommüll in Gorleben angedeutet werden. Ihre Dimension in bezug auf die Abgrenzung von Minderheitenschutz und Mehrheitsbedürfnis soll hier nur verallgemeinert, grundsätzlich und beispielhaft veranschaulicht werden:
Will man den unmittelbar Betroffenen/Betei-ligten ein Entscheidungsrecht einräumen, so mag die Gemeinde A einem Kernkraftwerk in ihren Grenzen durchaus zustimmen, z. B. aus Überlegungen hinsichtlich der damit anfallenden Vorteile aus Gewerbesteuer, Infrastruktur und dgl. Die Kosten-Nutzen-Analyse des Ringes der nächstumliegenden drei Gemeinden B, C und D fällt negativ aus, weil in diesem Ring sowohl die Umweltbelastung als auch das Risiko besonders negativ zu Buche schlagen. Vielleicht entscheidet auch noch der zweite Ring aus den neun Gemeinden E bis M gegen den Bau eines Kernkraftwerkes in der Gemeinde A. Der dritte Ring von 27 Gemeinden aber sieht sich unter Umständen nicht mehr unmittelbar bedroht, sondern in seiner Energieversorgung besser gesichert. Das gilt erst recht für alle noch weiter von der Gemeinde A entfernten Ringe. Nach unserem Beispiel überstimmen rein quantitativ die Gemeinden A plus 27 Gemeinden des dritten Ringes die neun Gemeinden des zweiten Ringes. Ist dem Anspruch der neun Gemeinden auf Minderheitenschutz Genüge getan? Noch dringlicher wird diese Frage im Falle etwa einer Mülldeponie, die auch von der Gemeinde A nicht akzeptiert wird. Andere Materien, z. B. Industrie-Emissionen, begründen nicht weniger schwer definierbare Bedürfnisse des Minderheitenschutzes.
Hier wird deutlich, daß die Mehrheiten aufgrund der technologischen Entwicklungen zunehmend nicht mehr a priori verfassungsrechtlich fixierbar sind. Sie definieren sich immer häufiger von der Entscheidungsmaterie her. Damit aber ergibt sich die schwierige Aufgabe, für inkommensurable Zusammenhänge — hie die zur Entscheidung anstehende Materie, da das demokratische Recht der Mehrheit wie des Minderheitenschutzes — politische Entscheidungsvoraussetzungen zu garantieren und die für diese je unterschiedlichen Entscheidungsstrukturen jeweils anderen Konsensmengen zu mobilisieren. Die föderalistische Konstruktion der Bundesrepublik bietet hierzu Differenzierungsmöglichkeiten.
Stichworte wie Brokdorf, Grohnde, Gorleben, Kalkar und Wyhl sowie die Aktivitäten der vielen Bürgerinitiativen lassen erkennen, daß sich auch hierzulande zunehmende Ungewißheit über das Verständnis eines scheinbar so klaren Begriffes wie „Mehrheit" und der
daraus abzuleitenden Konsequenzen verbreitet. Neue Legitimationsfragen sind damit gestellt.
3. Kontroverse Politikbereiche Mit Blick auf den ausländischen Leser wird ein Wort zur Außenpolitik zu sagen sein, obwohl diese nicht zu den besonders kontroversen Politikbereichen zählt. Danach bleibt nur noch Raum für die beiden nach meiner Einschätzung umstrittensten Themen, nämlich die Deckung des Energiebedarfes bei gleichzeitiger Abwehr des „Atomstaates". Die Energiepolitik ist weniger zwischen den Parteien als zwischen diesen und den Okologisten umstritten. Das Ausmaß an law and Order sowie die Methoden zu deren Gewährleistung stehen hingegen eher zwischen den Parteien als in der Bevölkerung der Bundesrepublik zur Diskussion. Insbesondere mit der inneren Sicherheit ist der Verfassungskonsens angesprochen, der in einem eigenen Abschnitt V inhaltlich genauer zu behandeln ist. Im nachfolgenden Abschnitt kommt es nur darauf an, die Auswirkungen der Kontroversen auf die Mehrheitsfindung bzw. -Sicherung zu skizzieren.
a) Ostpolitik Die Ostpolitik der Bundesregierung ist zwar immer noch zwischen den Koalitionsund Oppositionsparteien umstritten. Vor allem in bezug auf die „Friedfertigkeit" der Sowjetunion und in bezug auf die „Vorleistungen" der Bundesrepublik für Gegenleistungen der östlichen Länder einschließlich der DDR gehen die Meinungen auseinander. Das Wahlergebnis von 1972 hat die Kontroverse um die Ostpolitik jedoch weitgehend entschärft: Die deutliche Option des Wählers für Willy Brandt hatte plebiszitäre Züge. Sie nahm der 1972 gerade in diesem Punkt in sich zerstrittenen Opposition die Hoffnung, den Wähler durch die Präsentation alternativer ostpolitischer Prämissen überzeugen zu können. Der verbliebene Streit gilt den Modalitäten einer einhellig bejahten Politik des Friedens und der Aussöhnung. In keinem Jahrhundert zuvor hat es für die Deutschen — und damit auch für viele Bürger anderer Staaten — eine so lange Periode vergleichsweise gesicherten Friedens gegeben.
b) Ökonomie kontra Ökologie
Die Studien des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums sind auch in der Bundesrepublik heftig diskutiert worden. Der Ol-preisschock von 1973 verbreitete das Bewußtsein der Umweltschützer, an einem historischen Wendepunkt zu stehen. Die Breitenwirkung dieses Bewußtseins ist in unzähligen Kommentaren der veröffentlichten Meinung und im oben dargestellten Zulauf der ökologischen Bewegung dokumentiert. Auch einzelne Parteifunktionäre und Abgeordnete formulierten dieses Bewußtsein „von einem Zeitalter der Grenzüberwindung zu einem Zeitalter der Grenzbestimmung, von einem Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten zu einem der möglichen Begrenzung, von einem Zeitalter partiellen Überflusses zu einem Zeitalter, wo wir erkennen, was überflüssig ist"
Nachdem die Parteien sich die Thematik der Okologisten wenigstens soweit „zu eigen" gemacht haben, daß ihnen daraus keine einschlägigen Wahleinbußen erwachsen sollen, ergeben sich zweierlei Fragen. Wird es ihnen überhaupt möglich sein, diese Absicht zu realisieren? Wenn ja: welche Folgen hat die Integration dieses Themas für die Integration der Parteien? Der erste Fragenkomplex wurde in unserer bisherigen Darlegung für die Vergangenheit bereits beantwortet: Die Parteien der Bundesrepublik haben die Umweltpolitik soweit zu „ihrem" Thema gemacht, daß sie die Okologisten als Wahlkonkurrenz bislang abschlagen konnten. Dem zweiten Fragenkomplex soll im folgenden nachgegangen werden.
SPD und FDP waren durch die Thematik der Umweltschützer besonders gefährdet. Beide Parteien hatten den Bürgerinitiativen und Okologisten besondere Avancen gemacht. Sie mußten sich nun als Regierungsparteien an ihren eigenen Postulaten messen lassen.
Die SPD hatte — Willy Brandt mit seinem Slogan vom „blauen Himmel über der Ruhr" bereits 1961 — die „Verbesserung der Lebensqualität" 1969 zum Regierungsprogramm erhoben. Diese Zielvorstellung blieb, das konnte nach dem Godesberger Programm nicht anders sein, zwar vage. Sie weckte jedoch Hoffnungen auf SPD-Alternativen gegenüber einer Wirtschaftspolitik unter den Imperativen der möglichst hohen Wachstumsraten und des gesteigerten Konsums. Innerhalb der SPD wurden diese Hoffnungen besonders auf dem linken Flügel — siehe oben auch das Zitat Erhard Epplers — gehegt. Der Nachfolger Willy Brandts im Bundeskanzleramt enttäuschte die Linken: Schmidt verschaffte der Ökonomie wieder einen relativ höheren Rang gegenüber der Ökologie. Dennoch hat diese Entwicklung für die SPD keine ernsthaften Zerreißproben heraufbeschworen: Zu stark ist ihre bereits historische Akzeptanz der ökonomischen Dynamik (Entwicklung der Produktivkräfte) als Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts; zu stark auch ihre gewerkschaftliche Basis, die sich aus den Strategien der ökologisten vermehrte Arbeitslosigkeit errechnet — wenigstens bis heute noch.
FDP und SPD hatten, wie gesagt, den Bürgerinitiativen zunächst stärkere Mitwirkungsrechte eingeräumt. Willy Brandt hatte angekündigt, „mehr Demokratie" wagen zu wollen. Die FDP galt als besonders „bürgerinitiativfreundlich". Erstaunlicherweise hat die Präzisierung bzw. Eingrenzung und teilweise Rücknahme der Demokratisierungs-und Partizipationsfreundlichkeit beider Parteien diese nicht in akut krisenhafte Entwicklungen hineingeführt. Die wohl wichtigste Erklärung hierfür liegt in den durch den ölpreisschock von 1973 breitenwirksam ausgelösten Befürchtungen um die ökonomische Zukunftssicherung. Bundeskanzler Schmidt und Wirtschaftsminister Lambsdorff sind weithin überzeugende Exponenten wachstumsorientierter Politik. Die Prioritätenverschiebung zwischen den Polen „Ökonomie kontra Ökologie" sowie „Gesellschaftspolitische Stabilisierung kontra Demokratisierung des (bewährten) Status quo" erfolgte jeweils zugunsten des überkommenen Vorranges. Gegenüber der Ära Brandt brachte die Ära Schmidt insgesamt eine Wiederannäherung an politische Grundorientierungen der CDU. Darin liegt gewiß auch ein Grund für die schwierige Ausgangslage der CDU/CSU zu Beginn des Wahlkampfes 1980.
Dennoch bleibt in den Politikbereichen zwischen den genannten Polen Zündstoff für den inneren Zusammenhalt von SPD und FDP und damit für die Stabilität der sozialliberalen Regierung. Der Zündstoff scheint aber seit 1974 eher gemindert und zu Beginn des Jahres 1979 einigermaßen unter Kontrolle. Das heißt aber nicht, daß die Gefahr der Zerreißprobe in diesem Sektor gebannt wäre. Dazu sind die Möglichkeiten der Aktualisierung grundlegender Konflikte durch technische Entwicklungen (z. B. Harrisburg)), technologische Einsichten (z. B. Gorleben-Anhörung) und politische Alltagsanforderungen (z. B. Landtagswahl in Schleswig-Holstein) viel zu groß.
a) Kernenergie und „Atomstaat“
In dem Maße nun, wie die Wachstumspolitik auf der Grundlage eines Ausbaues der Kernenergie, einschließlich sogenannter „Schneller Brüter", realisiert werden soll, sammelt sich der Zündstoff der sozialliberalen Koalition in zwei anderen zentralen Politikbereichen. Gegenwärtig sind es vor allem Abwägungen der rechtsstaatlichen („Atomstaat" ) und technologischen Risiken (risk assessment) gegenüber der Atomenergie, die den Zusammenhalt der beiden Regierungsparteien und damit die Regierung gefährden. Stark vereinfacht kann man sagen: Die Opposition gegen rechtsstaatliche Gefährdungen durch Atomenergie hat sich vor allem auf dem linken Flügel der SPD, die Opposition gegen technologische Risiken der Atomenergie vor allem auf dem linken Flügel der FDP gezeigt. Zusammengenommen ist die offenkundige Opposition in den Bundestagsfraktionen von SPD und FDP gegen den Weiterbau des Schnellen Brüters SNR 300 in Kalkar so zahlenstark, daß sie der Regierung die Parlamentsmehrheit verweigern könnte. Schwerwiegende Gefährdungen der Regierungsmehrheit durch Minderheiten des eigenen Lagers gab es auch vor 1974. Die mehrheitsgefährdenden Minderheiten sind seit 1974 jedoch andere geworden. In den Jahren 1969 bis 1972 waren es gleichsam die „Rechten" des Regierungslagers, die in Fragen der Ostpolitik die Handlungsfähigkeit der Regierung bis zu deren Auflösung im Frühjahr 1972 bedrohten. Seit 1974 waren es zunehmend „Linke" aus SPD und FDP, die die Durchsetzbarkeit des Regierungswillens schwerer kalkulierbar machten. Dennoch droht im Unterschied zu 1972 für die verbleibende Legislaturperiode kein Verlust der Gesetzgebungsmehrheit. Faktisch haben die Linksabweichler eine nur eingeschränkte, keine absolute Veto-macht. Denn im Unterschied zu ihren Vorgängern auf der Rechten können die Linksabweichler nirgendwo hin. Für sie gibt es keine Alternative zur sozialliberalen Koalition. Die-tionsführungen eine Stärke, die arithmetisch nicht hinreichend erfaßt werden kann; liegt es doch bei ihnen, notfalls mittels Rücktrittsdrohung von Ministern, zu definieren, in welcher Materie und von welchem Moment an sich die „Koalitionsfrage" stellt.
Im 8. Deutschen Bundestag hat es, nicht zuletzt wegen des knappen Vorsprungs von nur zehn Parlamentssitzen für die Regierung, scharfe Sanktionen gegen Fraktionsmitglieder gegeben. Die SPD-Fraktion erteilte — institutionell eine Einmaligkeit — einem Fraktionsmitglied (Karl-Heinz Hansen) am 7. März 1978 eine formelle Rüge. Die sechs Opponenten der FDP-Fraktion gegen die weitere Errichtung eines Schnellen Brüters in Kalkar sahen sich durch Rücktrittsdrohung der FDP-Minister politisch genötigt, am 16. Dezember 1978 im Bundestag Stimmenthaltung zu üben, statt — wie ursprünglich beabsichtigt — gegen den Weiterbau zu stimmen. Ähnliche Situationen ergaben sich — wie die Darstellung zum Verfassungskonsens noch zei-cherheit (Terrorbekämpfung und Extremistenabwehr). Aufschlußreich ist eine ex-post-Erklärung des Bundeskanzlers zur Willensbildung der FDP in der Frage des Schnellen Brüters. Schmidt erklärte, daß er „bei einer Abstimmungsniederlage im Bundestag bei der Entscheidung über den Weiterbau des Schnellen Brüters die Vorlage unmittelbar danach wieder zur Entscheidung hätte stellen müssen" Dies alles, obwohl die Stimmenmehrheit der Koalition auch nach Abzug der sechs Voten der Fraktionsabweichler nicht gefährdet gewesen wäre. Es zeigt, wie sehr die Fraktionsführungen und die Regierung bedacht sein müssen, keine Präzedenzfälle zu schaffen, die eine Erosion der Regierungsmehrheit einleiten könnten.
Insgesamt wird deutlich, daß die Regierung Schmidt innenpolitisch zwar hart um ihre Mehrheiten kämpfen mußte ihre Mehrheitsfähigkeit aber doch einigermaßen gesichert blieb.
V. Der schwierige Verfassungskonsens
Abbildung 4
Tabelle 4: Zahl der Anfragen beim Verfassungsschutz und Zahl der Ablehnungen wegen mangelnder Gewähr der Verfassungstreue 1973— 1975
Quelle: Peter Frisch, Extremistenbeschluß, 4. Aufl. Leverkusen 1977, S. 214.
Tabelle 4: Zahl der Anfragen beim Verfassungsschutz und Zahl der Ablehnungen wegen mangelnder Gewähr der Verfassungstreue 1973— 1975
Quelle: Peter Frisch, Extremistenbeschluß, 4. Aufl. Leverkusen 1977, S. 214.
Drei Institutionen bzw. Gruppierungen wurde der Vorwurf gemacht, ihr jeweils eigenes Wertverständnis mit der Behauptung zur Geltung bringen zu wollen, es sei dasjenige des Grundgesetzes und deshalb vom Gesetzgeber — konkret also von der SPD und FDP — auch dann zu realisieren, wenn die Mehrheit — gestellt von eben diesen beiden Parteien — von einem gegenläufigen Wertverständnis ausgehe. Das Bundesverfassungsgericht geriet in diese Kritik, aber auch die CDU/CSU und die katholische Kirche. Wegen der in der Bundesrepublik umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit ist es unumgänglich, daß das Bundesverfassungsgericht überall dort mindestens in Rechnung zu stellen ist, wo es dar-um geht, in hochgradig umstrittenen Fragen des Verfassungskonsenses Mehrheiten zu sichern. Dies war in besonderer Weise der Fall in der Regelung des Schwangerschaftsabbruches, der Terrorbekämpfung und der Extremistenabwehr. Nur diese können hier beispielhaft berücksichtigt werden
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts vermutete mit anderen, daß in bezug auf den Verfassungskonsens „gewisse Unsicherheiten" aufgetreten sind, die u. a. auch vom Gericht abgetragen werden müßten.
1. Rolle des Bundesverfassungsgerichts
Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wurde vorgeworfen, es schwinge sich zum „Obergesetzgeber" zugunsten der parlamentarischen Opposition auf, indem es die sozialliberale Reformpolitik durch verfassungsrechtliche Zurückweisung bzw. Auflagen blockiere Erstmals in der Bundesrepublik sähe sich die Regierung nicht nur einem parteipolitisch oppositionell zusammengesetzten konservativem Bundesrat gegenüber, sondern obendrein noch einem konservativen Bundesverfassungsgericht. Beide Organe würden die gewählte Mehrheit zu einer Art präventiven Normenkontrolle gegenüber allen ihren einschlägigen Gesetzesvorhaben zwingen: Von der sozialliberalen Koalition würden nur sol-ehe Gesetzesentwürfe vorgelegt, die eine Chance hätten, diese beiden Institutionen zu passieren. Dadurch werde der Wille der Mehrheit verfälscht.
Diese Kritik geht von einigen falschen Voraussetzungen aus. Aufgrund der historischen Erfahrung mit der nationalsozialistischen Willkürherrschaft ist die Mehrheit nach der Verfassung der Bundesrepublik eben nicht souverän, über ihr „steht" die Verfassung und über diese wacht — in anhängigen streitigen Zweifelsfällen — das BVerfG. Umstritten kann legitimerweise nur die Frage sein, ob das BVerfG seiner Wächterfunktion in gebotener Verantwortlichkeit und Selbstbeschränkung (judicial selfrestraint) nachkommt. Der Bundeskanzler hat dies mit anderen im September 1978 öffentlich bestritten Gleichzeitig aber mahnte er zum Gehorsam gegenüber den Entscheiden des Gerichts. Der Oppositionsführer wertete Schmidts Kritik als „Strategie der Einschüchterung" gegen-über dem Gericht. Der Streit ist legitim. Er hat bereits historische Dimensionen. Nur wenn diese berücksichtigt werden, ist die inhaltliche Kritik der gesamten Auseinandersetzung angemessen zu würdigen.
Selbst der gegenwärtige Bundesjustizminister war 1978 nicht bereit, unterschiedliche parteipolitische Präferenzen des Bundesverfassungsgerichts vor und nach Bildung der sozialliberalen Koalition zu erkennen Die Zahlen sprechen tatsächlich gegen die Annahme einer solchen parteipolitischen Präferenz des BVerfG.
Die Tabellen 2 und 3 müssen genügen, die erstaunliche Konstanz in den Beziehungen von Bundestag und Bundesrat für die Geschichte der Bundesrepublik insgesamt und für den Untersuchungszeitraum insbesondere zu belegen.
Vor 1966 gab es ganze 109 Fälle, in denen das BVerfG Gesetze der CDU/CSU dominierten Mehrheit wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig erklärte. Damals war es die SPD, die gegen massive Kritik, auch aus den eigenen Reihen, ihre „Opposition über das BVerfG verlängerte". Sie hat das Gericht zweifellos extensiv und über weite Strecken erfolgreich — z. B. Fernsehurteil und BVerfG-Entscheide zur Parteienfinanzierung — gegen die Mehrheit in Anspruch genommen, „über allen Gipfeln ist Karlsruhe", dieser Satz stammt aus der Regierungszeit Konrad Adenauers, der selbst und dessen Justizminister, insbesondere Thomas Dehler, mit dem Gericht weit weniger zimperlich umsprangen als der gegenwärtige Kanzler und schon gar dessen Justizminister. Dennoch scheint die Spruch-praxis des BVerfG wie nie zuvor in Widerspruch zum Willen der Mehrheit geraten zu sein. Das allein spricht noch nicht gegen das BVerfG. Es ist aber durchaus bemerkenswert, daß das alle sonstigen Institutionen überragende demoskopische Renommeee des BVerfG im Widerspruch gegen die CDU/CSU-geführten Regierungen aufgebaut und in der gegenwärtigen Phase des Widerspruchs gegen die SPD-geführte Mehrheit seinen bisherigen Tiefstpunkt erreichte Diese Konstellation im Verhältnis von politischer Mehrheit, BVerfG und öffentlicher Meinung war neu.
2. Verfassungsrechtliche Sicherung von Grundwerten
Die oben genannten Grundwerte umfassen inhaltlich gewiß mehr als die Grundrechte (Menschen-und Bürgerrechte) der westdeutschen Verfassung. Letztere sind unumstritten mindestens dazu da, * individuellen und kollektiven Grundwerte-Optionen einen freien Entfaltungsraum zu garantieren. Insbesondere seit der strafrechtlichen Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruches (§ 218 StGB) und der Homosexualität (§ 175 StGB) sowie der zivilrechtlichen Liberalisierung des Eherechts wird dieses — in seinen Grundlinien vom Bundeskanzler, von der SPD und erst recht von der FDP geteilte — Verständnis des Verhältnisses von Grundrechten und Grundwerten angefochten: Vor allem die katholische Kirche sowie CDU und CSU gehen davon aus, der Verfassung der Bundesrepublik (besonders Art. 1 GG: Würde des Menschen) liege eine ethische Wertordnung zugrunde, welcher der Gesetzgeber in stärkerem Umfange materiell rechtliche Geltung verschaffen müßte, als SPD und FDP offensichtlich bereit seien. Zugespitzt läßt sich der Konflikt in folgender Formel verkürzen: Während CDU und CSU davon ausgehen, daß SPD und FDP grundrechtlich vorgegebenen Grundwerten staatlich nicht Genüge tun wollten, halten SPD und FDP den Unionsparteien vor, diese wollten ihre ethische Wertorientierung zum Bestandteil des staatlich zu sanktionierenden Verfassungskonsenses machen. Aus der Sicht des westlichen Auslandes dürfte es sich hier um eine „typisch deutsche" Kontroverse handeln. Der Ausländer wird aber z. B. in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch auch die besonderen ethisch-normativen Skrupel würdigen müssen, die sich in einem Lande ergeben, in welchem noch vor einer Generation „lebensunwertes Leben" vernichtet wurde.
Principiis obsta! Wehret den Anfängen!
Die Grundwertediskussion in der hier wiedergegebenen Dimension entflammte im Wahlkampf 1976. Sie hat dann parteipolitische Vehemenz verloren, obgleich oder gerade weil die Parteien zu dieser Thematik eigene Kommissionen eingesetzt haben. Zwei andere Themenkomplexe der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik — die Terrorbekämpfung und die Extremistenabwehr — rückten in den vergangenen Jahren in den Vordergrund.
Auch diese sind nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu verstehen, und auch bei diesen beiden Themen geht es darum, in einem Lande, in dem Minderheiten verfolgt und vernichtet wurden, den Anfängen zu wehren. Die hohe Aufmerksamkeit, die diese beiden Themen in der ausländischen und deutschen Diskussion gefunden haben, ist durchaus nicht zufällig. Für wertende Analysen der hier angestellten Art liegt ihre Bedeutung in ihren historischen Bezügen — zumal deshalb und in dem Maße, weil und wie der zweite deutsche Versuch mit einem parlamentarischen Rechtsstaat immer auch daran gemessen werden muß, ob und inwieweit er Fehler der ersten Republik vermeidet. Weimar endete in Willkür anstelle des Rechtsstaates, in Extremismus und Terror. Die Folgen waren katastrophal. Was haben die Bonner daraus gelernt? Wo sehen sie heute die Anfänge, denen es zu wehren gilt? Ob ihre Analyse und Bewertung der Vergangenheit „stimmt", ist nicht zuletzt aus den Konsequenzen zu ersehen, die sie aus den Weimarer Jahren und aus der Zeit des Nationalsozialismus für die Gegenwart ziehen. Uber die Themen „Extremismus" und „Terrorismus" vollzieht sich — mehr oder weniger bewußt — zugleich jene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die über die Zukunft mitentscheidet. 3. Rechtsstaatliche Verfolgung von • Terroristen?
Für Jean Genet ist der Terror der Roten Armee Fraktion (R. A. F.) ein Pfahl im allzu fet-ten deutschen Fleische. Genet kam zu diesem Urteil, indem er sämtliche Zwänge von der Architektur des sozialen Wohnungsbaues bis zum Rolls-Royce unter dem Begriff „Brutalität" subsumierte und dieser Brutalität die notwendige „Gewalt" der R. A. F. gegenüberstellte Zwei Begriffe, die, wie er selbst sagt, fast Synonyme sind, wurden zu Freund-Feind-Kategorien umgedeutet, aufgeladen und auseinandergezerrt. Dafür gibt es parallele Beispiele in der Bundesrepublik (Mescalero-Flugblatt).
Wer in Antinomien und Freund-Feind-Kategorien ä la Jean Genet denkt, der wird die Spannungen des Rechtsstaates nicht ertragen können. Kann er den Preis des Rechtsstaates — nämlich die Eingrenzung des Individuums den anderen Individuen und gegenüber der Gemeinschaft — überhaupt erbringen? Nein: Wer präziser sehen will, wer die Freiheit westlicher Demokratien wirklich meint, der muß in anderen Kategorien als Jean Genet denken. Er muß, so schwer es auch fällt, den Preis des Rechtsstaates nicht nur erkennen, sondern prinzipiell auch anerkennen und gleichzeitig so gering wie nur irgend möglich halten. War dies in der Bundesrepublik der Fall?
Genet wird sich nicht gegen seine eigene Methode, den Kampf mit den Mitteln der Sprache, wehren: Er wird sich zuallererst vorhalten lassen müssen, daß die R. A. F. mit den Kugeln in 29 Leichen, deutschen wie ausländischen, gleichzusetzen ist. Der Brutalität welchen Systems entsprechen die Kugeln in den Leichen der „Hingerichteten" Ex-Kombatanten, der „Verräter"? In der Bundesrepublik wurden 29 Personen durch terroristische Gewalttaten getötet; davon waren vier Ausländer, elf Polizisten, drei Diplomaten, vier Angehörige der Justiz 108 Personen wurden Opfer von Mordversuchen, 97 Personen verletzt, 163 als Geiseln genommen. Daß die Bundesrepublik in der Bekämpfung des Terrorismus die Rechtsstaatlichkeit verletzt habe, ist ein allseits bekannter massiver Vorwurf.
Er wird ebenso entschieden bestritten.
Der Vorwurf bezieht sich u. a. darauf, daß 16 der terroristischen Gewalttäter nicht mehr am Leben sind: Einige wurden bei der Verfol-gung getötet, andere nahmen sich in den (Un-
tersuchungs-) Gefängnissen das Leben. Der Vorwurf bezieht sich ferner auf das rechtliche Verfahren gegen (mutmaßliche) Gewalttäter und auf den Strafvollzug (z. B. Isolierung):
Bis zum September 1978 ergingen 182 rechtskräftige Urteile, gegen Personen bestanden Urteile in erster Instanz, gegen 113 Personen waren Anklagen anhängig, 98 befanden sich in Haft. Der Vorwurf bezieht sich schließlich auf Verschärfungen der Strafprozeßordnung, z. B. durch das umstrittene Kontaktsperregesetz vom September/Oktober 1977.
I Die Neufassung der Strafprozeßordnung (StPO) im Jahre 1978 hatte zur Folge: die Erweiterung des Rechtes zum Durchsuchen von Wohnungen und Gebäuden (§ 103); das Recht zur Einrichtung von Kontrollstellen auf öffentlichen Plätzen und Straßen (§ 111); das Recht zum Ausschluß von Verteidigern, so-fern begründeter (!) Verdacht vorliegt, daß sie an terroristischen Taten beteiligt waren oder den Zugang zum Mandanten zu Straftaten mißbrauchen (§ 138 a); das Recht auf vorübergehende Festhaltung zum Zwecke der Identitätsfeststellung; das Recht auf richterliche (!) Überwachung des schriftlichen Verteidigerverkehrs;, das Recht auf „Vorrichtungen (Trennscheiben), die die Übergabe von Schriftstücken und anderen Gegenständen ausschließen" (§ 148).
Die Differenz zwischen dem SPD/FDP-Entwurf zur Änderung der StPO und den darüber hinausgehenden Vorschlägen der Opposition 52) offenbart den Umfang des Dissenses darüber, was rechtsstaatlich angemessen gegen den Terrorismus unternommen werden darf. Die Opposition will den terroristischen Morden und Gewalttaten mit härteren Maßnahmen begegnen. Sie beantragte: den Tatbestand der Bildung terroristischer Vereinigungen als Verbrechen einzustufen und die Strafe nur unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung auszusetzen; das Recht auf Sicherungsverwahrung für Ersttäter (nach Strafverbüßung); Heraufsetzungen des Strafmaßes; das Durchsuchungsrecht nicht nur von Wohnungen und Gebäuden, sondern einem „ganzen Bezirk", wenn „aufgrund von Tatsachen anzunehmen ist, daß sich der Beschuldigte in ihm aufhält"; im Falle von Verteidigerbesuchen bei Terroristen eine Überwachung dieser Besuche durch Richter. Die sozialliberale Koalition verwarf die Oppositionsentwürfe als rechtsstaatlich bedenkliche „Überreaktion". Aber auch gegenüber den Regierungsentwürfen blieben vier Abgeordneten aus den Reihen der SPD „erhebliche Bedenken". Sie stimmten gegen „ihre" Regierung. Die Schlußabstimmung der dritten Lesung im Bundestag ergab 245 (später gegen den Einspruch des Bundesrates 252) gegen 244 Stimmen für die Gesetzesfassung der Koalitionsmehrheit. Die SPD-Abweichler gerieten unter harten öffentlichen und fraktionsinternen Druck. Die Opposition warf der Regierung vor, sie traue sich nicht, entschiedenere Maßnahmen gegen den Terror vorzulegen, weil die Regierung Schmidt Rücksicht auf tatsächliche und weitere mögliche Linksabweichler nehmen müsse. Ein Wortführer der SPD-Linken war Coppik. Spöttisch sprach und spricht die Opposition von der „Regierung Schmidt/Coppik".
Der Verlauf der politischen Frontlinien gegenüber der Opposition einerseits und der innerparteilichen Opposition andererseits offenbart den Spielraum der sozialliberalen Koalition in Fragen der inneren Sicherheit. Der Spielraum ist äußerst begrenzt: zum einen durch die Selbstbeschränkung der Regierung gegenüber den weitergehenden Forderungen der Opposition, zum anderen durch Beschränkungen der innerparteilichen Opposition. Nach unbedenklichem, willkürlichem, gar präfaschistischem Umgang mit Freiheitsrechten sieht mir eine solche Situation und auch das Verfahren, nach dem dieses Gesetz zustande kam, nicht aus.
Angesichts der genannten Zahlen über die durch Terror ums Leben gebrachten ver und -letzten Menschen bleibt die Skrupelhaftigkeit des Parlaments festzuhalten: Der Bundetag beschloß einstimmig einen Entschließungsantrag wonach die Bundesregierung bis zum 31. Dezember 1979 über Erfahrungen beim Vollzug des Anti-Terror-Gesetzes berichten soll.
Tatsächlich wurde mit den Gesetzen die Möglichkeit eröffnet, bisher unantastbare Freiheitsrechte gegenüber Terroristen (und nur diesen gegenüber) einzuschränken. Ob diese Möglichkeiten dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegenüber gnadenlosen Killern, auch gegenüber deren Opfern, gerecht werden, ist vorerst nur rechtstheoretisch entscheidbar. Hier gibt es bereits starke Vorbehalte. Auch Amnesty International (A. I.) sieht die Freiheit der Bundesrepublik durch die Anti-Terrcr-Gesetze eingeschränkt. Nach Vorlage des geforderten Berichtes im Dezember 1979 wird besser entscheidbar sein, ob diese Gesetze nicht ausreichten (CDU), ob sie halfen, die Freiheit zu sichern (SPD/FDP) oder ob sie die Freiheit in der Bundesrepublik abbauten (SPD-Fraktionsopponenten und viele Stimmen des Auslandes). Auch Amnesty International sah sich bis zum Februar 1979 noch nicht zur Betreuung irgendeines akuten Falles der'Freiheitsbeschränkung in der Bundesrepublik veranlaßt. Es ist unbedingt erforderlich, daß die Skrupel aufrechterhalten bleiben: principiis obsta!
Bei der Verabschiedung der Anti-Terror-Gesetze stand Innenminister Werner Maihofer unter dem Druck einer extremen Steigerung der terroristischen Brutalität. Gemordet wurde der Ausländer genauso wie der deutsche Bankier, der Fahrer genauso wie der Generalbundesanwalt, der Polizist genauso wie der Spitzenmann der Unternehmer. Der Staat reagierte mit den dargestellten Einschränkungen der Freiheitsrechte. Bedrohung oder Sicherung der Freiheit — oder beides zugleich? Der Terror ist seither nicht in gleicher Schärfe akut geworden. Zu Beginn des Frühjahres 1979 wird (entsprechend?) unter dem Nachfolger Werner Maihofers im Innenministerium, Gerhart Baum, daran gearbeitet, die Anti-Terror-Gesetze, vor allem das Kontaktsperrengesetz, zu „entschärfen". Das Bundeskriminalamt wurde im gleichen Zeitraum durch die Presse, das Innenministerium selbst und durch das Parlament in Schranken gewiesen. Es wurde deutlich gemacht, daß hierzulande der Terror nicht dazu verführen darf, nolens oder volens den Orwellschen Überwachungsstaat zu etablieren.
Bei allem Respekt vor der demokratischen und rechtsstaatlichen Integrität sowie dem persönlichen Format des Innenministers Maihofer hält der Verfasser dieser Zeilen die Ablösung eines Ministers, der sich gegen das Trauma behaupten muß, die Ermordung Hanns Martin Schleyers nicht verhindert haben zu können, für eine gute Voraussetzung zur Findung der Angemessenheit/Verhältnis-mäßigkeit der staatlichen Terrorbekämpfung.
Es ist richtig und wichtig festzustellen, daß einige Freiheitsrechte in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren eingeschränkt wurden. Kann man es bei dieser Feststellung bewenden lassen? Muß nicht im gleichen Argumeptationszug nach dem Grund gefragt werden und danach, ob im Verhältnis zu diesem Grund zuviel getan wurde? Man kann nicht einzelne Aspekte verschiedener Zeiträume miteinander vergleichen, ohne deren vollen Hintergrund mitzubedenken. Nur wo dies in Rechnung gestellt wird, ist die dringliche Frage nach dem Mehr oder Weniger an Freiheit historisch angemessen beantwortet.
4. Freiheitliche Bekämpfung von Extremisten?
Kaum ein anderes Thema ist während unseres Berichtszeitraumes so umstritten gewesen wie die Überprüfung der Verfassungstreue von Bewerbern in den öffentlichen Dienst Am westdeutschen Umgang mit Terroristen, erst recht aber mit Extremisten, scheiden sich die Geister. Die Diskussion fußt auf einem nunmehr ziemlich genau sieben Jahre alten Beschluß. Am 28. Januar 1972 vereinbarten Bundeskanzler Brandt und die Ministerpräsidenten „Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen" (Extremistenbeschluß). Danach sollte bestehendes Beamtenrecht einheitlich angewandt werden. Neues Recht kam nicht hinzu.
Warum dann ein Extremistenbeschluß? 1969 verfehlte die NPD nur äußerst knapp den Einzug von mindestens 26 Abgeordneten in das Bundesparlament. Sie erreichte 4, 3 Prozent der Stimmen und scheiterte damit um nur 0, 7 Prozentpunkte an der Fünf-Prozent-Klausel. In einigen Landtagen war sie zuvor erfolgreich. Am 12. /13. April 1969 wurde die DKP gegründet, die personell und programmatisch teilweise in der Nachfolge der 1956 verbotenen KPD stand bzw. steht. In ihrem Programm setzte die DKP an die Stelle der „sozialistischen Revolution" und der „Diktatur des Proletariats" das Ziel der „sozialistischen Umgestaltung". Im Saarland, in Berlin und Bremen erzielte die DKP bei den Landtagswahlen 1970/71 Erfolge zwischen 2, 7 und 3, 1 Prozent. Die Zeit der Großen Koalition brachte ferner eine außerparlamentarische Opposition (APO) von nie dagewesener Breite und Vehemenz hervor. Die APO kündigte den „langen Marsch durch die Institutionen" an. Nie war die Bundesrepublik Deutschland gefährdeter als im Moment ihrer breitesten Bundestagsmehrheit (Große Koalition aus CDU/CSU und SPD): Im Rückblick auf das Jahr 1969 stelle man sich für einen Moment die möglichen Konsequenzen eines Einzuges der NPD in den Bundestag vor.
In dieser Situation sollte der Extremistenbeschluß sicherstellen, daß seit langem geltendes Recht auch tatsächlich und konsequent angewandt werde. Der Beschluß sollte weiterhin garantieren, daß nur solche Bewerber in den öffentlichen Dienst berufen werden, welche die Gewähr bieten, „jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" einzutreten (§ 7 Abs. 1, Ziff. 2 des Bundesbeamtengesetzes). Der Beschluß verfehlte seine Absicht.
Er wurde uneinheitlich angewandt und brachte zum Teil heftige Kritik an den Verfahren und Ergebnissen einzelner Fälle Mit einem 1974 vorgelegten Gesetzentwurf wollte die Bundesregierung Unklarheiten beseitigen.
Der Entwurf wurde vom Bundesrat abgelehnt, weil die CDU-bzw. CSU-regierten Länder schärfere und eindeutigere Kriterien der Überprüfung für Bewerber in den öffentlichen Dienst anlegen wollten. SPD und FDP machten daraufhin den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Grundlage in den von ihnen regierten Ländern. Sie kündigten damit die bis dahin wenigstens in der Absicht gemeinsame Basis des Extremistenbeschlusses von 1972 auf; CDU und CSU erklären den Extremistenbeschluß von 1972 noch immer als Grundlage ihres Verfahrens zur Prüfung der Verfassungstreue für Bewerber in den öffentlichen Dienst. Für den Bereich des Bundes wurde der seit dem 28. Januar 1972 geltende Extremistenbeschluß hinfällig durch die am 19. Mai 1976 von der Bundesregierung beschlossenen „Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue." Nur die beiden besonders umstrittenen Passagen des Extremistenbeschlusses, welche die Bundesregierung zu einer Neuregelung veranlaßten, sollen hier wiedergegeben werden: Der Beschluß verlangt, daß „jeder Einzelfall , . . für sich geprüft und entschieden" werde. „Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages"
(Hervorhebungen durch den Verfasser).
Die Zahl der abgelehnten Bewerber blieb zwar gering (vgl. Tabelle 4). In den Jahren 1972 bis 1977 waren es in dem besonders gefährdeten Berlin 0, 4 Prozent, in dem bevölkerungsstärksten Land der Bundesrepublik, Nordrhein-Westfalen, nur 0, 05 Prozent der Bewerber. Die Zahl der Abgelehnten hat in den letzten Jahren eher abnehmende Tendenz (siehe Aufstellung auf dem neuesten Stand in Tabelle 5). Die hier abgedruckten Zahlen des Bundesministeriums des Innern geben aber nicht die politischen Wirkungen des Extremistenbeschlusses wieder. Sie werden zudem von den Kritikern der Extremistenabwehr in ihrer Zuverlässigkeit bestritten. Der Streit um die Zahlen verbirgt ein äußerst schwierig zu entwirrendes Knäuel von evidenten Tatsachen, die nachprüfbare Wirkungen (z. B. die aufgeführten Statistiken) hervorbringen, von kaum sichtbaren Tatsachen (z. B.der „Aufwertung" des Verfassungsschutzes), die ebenfalls Wirkung erzeugen, von mehr oder weniger falschen Behauptungen, die schwer wahrnehmbare, aber durchaus tatsächliche Wirkungen zur Folge haben (z. B. politische Einschüchterung). Der Extremistenbeschluß und die Überprüfung der Extremisten wird von verschiedensten Positionen aus und von unterschiedlichen Gruppierungen im ganzen und im einzelnen kritisiert. Zunächst wird die Legitimation und die Zweckmäßigkeit einer so hohen Loyalitätsforderung (§ 7 Abs. 1, Ziff. 2 Bundesbeamtengesetz) des Staates und der Gesellschaft gegenüber Beamten überhaupt bestritten. Muß wirklich jeder Beamte die Gewähr bieten, „jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" einzutreten? Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage in einem Beschluß vom 22. Mai 1975 bejaht. Die Ausführungen des Gerichtes wurden in der Bundesrepublik teilweise als Rückkehr zu obrigkeitsstaatlichem Staats-und Beamtenverständnis gewertet. Es ist klar, daß die möglicherweise von der Überprüfung Betroffenen schon hier ansetzen und zusammen mit anderen liberalen Kritikern fragen, ob hier nicht vom Staat über die berufliche Tätigkeit hinaus eine Treue verlangt wird, die mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und in der Konsequenz auch mit dem Gleichheitssatz in Konflikt gerät. Abhilfe könnte hier nur durch eine grundlegende Änderung des deutschen Beamtenrechtes geschaffen werden. Hinter der Schwelle seiner Einstellung ist der deutsche Beamte ungemein sicher, geradezu privilegiert. Daher wollen selbst viele Kritiker des Extremistenbeschlusses wie des Verfassungsgerichtsbeschlusses an diese Reform nicht herangehen. Sodann werden viele Modalitäten des Verfahrens bemängelt und angegriffen.
Hier können nur die beiden umstrittensten Punkte angesprochen werden: a) die Routine-anfrage beim Verfassungsschutz und b) die Bedeutung der Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation. a) Bislang wurde in aller Regel in jedem Falle eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst beim Verfassungsschutz angefragt, ob gegen den Bewerber irgend etwas vorläge, was auf mangelnde Verfassungstreue schließen ließ. Bei dieser Anfrage handelte es sich fast ausnahmslos um eine bloße Routine. Der Staat wollte in bezug auf die Verfassungstreue der Bewerber sichergehen, möglicher-weise beim Verfassungsschutz vorliegende Erkenntnisse über einen Bewerber nicht bei der Einstellungsbeurteilung auszuschließen. In mehr als 99 Prozent der Bewerbungsfälle bestand die einzige Einbeziehung des Verfassungsschutzes darin, zurückzumelden, daß beim Verfassungsschutz nichts gegen den Bewerber vorlag. Der Verfassungsschutz hatte weder den Auftrag, im Falle von Bewerbungen mit Recherchen über den Bewerber zu beginnen, noch hatte er selbst den Bewerber zu überprüfen. Hier sind — weil der Verfassungsschutz sich der Transparenz entzieht — viele Verdächtigungen möglich. Skepsis ist in der Tat angebracht. Denn Mißbrauch ist nicht auszuschließen, gewiß auch vorgekommen. Wer sich aber die Einzelfälle der Ablehnung genauer anschaute, konnte in fast jedem Falle die Berechtigung mindestens der Zweifel —• im Sinne der hohen Anforderungen des Beamtengesetzes — in bezug auf die Verfassungstreue nachvollziehen. Den von einer Absage Betroffenen stand und steht der Rechtsweg gegen die Einstellungsbehörden offen. In diesem Punkt unterscheidet sich die deutsche Praxis positiv von derjenigen anderer Länder. Der Rechtsweg wird aber bezeichnenderweise von den weniger als ein Prozent der abgelehnten Bewerber fast ausnahmslos nicht ausgeschöpft.
Dennoch: Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz wurde und wird verantwortlich gemacht für eine tatsächlich begründete oder auch nur herbeigeredete, jedenfalls als faktisch angenommene politische Einschüchterung insbesondere eines Teiles der jüngeren Generation. Die Regelanfrage habe den Verfassungsschutz aufgewertet, ihm zuviel unkontrollierbare Möglichkeiten des Rechtsmißbrauches gegeben. Sie habe die Bundesrepublik schließlich in den Augen des Auslandes „unansehnlicher" (Innenminister Gerhart Baum) gemacht. Am 17. Januar 1979 beschloß das Bundeskabinett für den Bereich des Bundes und in der Erwartung, daß sich die Bundesländer, jedenfalls die SPD-regierten, dem anschließen: Auf die routinemäßige Anfrage beim Verfassungsschutz wird zukünftig verzichtet.
Mit Beschluß vom 17. Januar 1979 bekräftigte die Bundesregierung eine bereits früher (8. November 1978) bekundete Auffassung zur Bewertung der Mitgliedschaft in verfassungsfeindlichen Organisationen. Gemäß der am 17. Januar 1979 beschlossenen und am 1. April 1979 in Kraft tretenden Neufassung der Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue (BT-Drucksache 8/2481 und 8/2482 vom 22. Januar 1979) begründet die bloße Mitgliedschaft in einer Partei mit verfassungsfeindlichen Zielsetzungen für die Bundesrregierung nicht mehr (wie noch im Extremistenbeschluß) in der Regel Zweifel an der Verfassungstreue des Bewerbers. Die Mitgliedschaft in einer solchen Partei kann für das von den Beamtengesetzen und der Verfassung geforderte prognostische Urteil über die Eignung des Bewerbers für den öffentlichen Dienst bedeutsam sein, sie muß es aber nicht. Die Bundesregierung beruft sich — genau wie die Opposition — auf das BVerfG, das mit seinem Beschluß vom 22. Mai 1975 jeden Ablehnungsautomatismus für unzulässig erklärt hat. Die Bundesregierung sieht daher von jeglicher Aufstellung förmlicher Beurteilungskriterien ab, mit denen einzelnen Beurteilungselementen besonderer Rang oder besonderes Gewicht beigemessen würde.
Hier setzt die Kritik von CDU und CSU an. Da es auch in den von den Unionsparteien regierten Bundesländern keine einheitliche Praxis der Extremistenabwehr gibt, können die nachfolgenden Ausführungen auch nur die Grundtendenz der Oppositionsparteien wiedergeben, soweit diese in den beiden hier zur Diskussion stehenden Punkten kontrovers ist gegenüber der Regierungskoalition.
Gemäß ihrer Ausgangsbasis, dem Extremistenbeschluß, sehen die Unionsparteien in der Neuregelung vom 17. Januar 1979 eine Unterbewertung der Mitgliedschaft in extremistischen Organisationen, die vornehmlich, aber unstatthafterweise der DKP zugute kommt. CDU und CSU haben zwar auch bisher die Ablehnung eines Einstellungsantrages nicht automatisch von der Mitgliedschaft in verfassungsfeindlichen Organisationen abhängig gemacht. Auch CDU und CSU legten Wert auf die (zusätzliche) Feststellung verfassungsfeindlicher Aktivitäten. Die Unionsparteien haben der Organisationszugehörigkeit aber a priori stärkeres Gewicht beigemessen, als dies die neue, nach dem 1. April 1979 gültige Regelung der Bundesregierung tut. Der Dissens zwischen Koalition und Opposition wird besonders deutlich in der unterschiedlichen Einschätzung der DKP. Daß die Mitgliedschaft in linksextremistischen K-Gruppen (KWB, KPD und KPD/ML) bereits gewichtige Zweifel an einem Bewerber und damit in der Regel dessen Ablehnung für den Staatsdienst begründe, ist noch einhellige Meinung aller Parlamentsparteien — so sehr insbesondere SPD und FDP auch jede formale Ablehnungsautomatik vermeiden wollen. Die von den totalitären K-Gruppen gegenüber ihren Mitgliedern geforderte und kontrollierte Aktivität ist nach Auffassung aller Parlamentsparteien mit der Treuepflicht öffentlich Bediensteter gegenüber ihrem Staat nicht zu vereinbaren. Daß dies prinzipiell mit gleichem Gewicht auch für die DKP gelten müsse, wird von CDU und CSU vertreten, von FDP und SPD aber zurückgewiesen — so sehr auch CDU und CSU gemäß BVerfG-Be-Schluß die Ablehnung eines Einstellungsantrages nicht nur von der Parteimitgliedschaft, sondern von zusätzlichem Verhalten des Bewerbers abhängig machen wollen. Es ist nicht auszuschließen, daß die DKP von allen Parteien letztlich gleich eingeschätzt wird, daß aber die Koalition im Gegensatz zur Opposition aufgrund außen-und innenpolitischer Rücksichten der DKP einerseits und den K-Gruppen andererseits unterschiedlich zu begegnen bereit ist.
Entsprechend ihrer unterschiedlichen Bewertung der Mitgliedschaft in verfassungsfeindlichen Organisationen verfahren Koalition und Opposition tendenziell unterschiedlich in bezug auf die Beweislast. Während CDU und CSU dem Mitglied einer verfassungsfeindlichen Organisation — mithin auch DKP-Mitgliedern — ihre Mitgliedschaft als so gravierend entgegenhalten, daß nur die betroffenen Mitglieder selbst Zweifel an ihrer für den Staatsdienst erforderlichen Verfassungstreue ausräumen können, verlangen FDP und SPD vom Staat gegenüber einem abgelehnten Bewerber den gerichtsverwertbaren Nachweis seiner Verfassungsfeindlichkeit. Gemessen an dem bisherigen Verfahren nach dem Extremistenbeschluß liegt in der neuen Koalitionsregelung eine Umkehrung der Beweislast. Analog zu Strafverfahren muß nach den Vorstellungen von SPD und FDP nunmehr der Staat sowohl die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation als auch die politisch extremistische Aktivität nachweisen. CDU und CSU bestreiten, daß damit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit wirklich gedient ist. Die Unionsparteien weisen darauf hin, daß der Bewerber für den öffentlichen Dienst sich nicht in der Situation eines Angeklagten, sondern in der eines Antragstellers befindet.
Insofern sei die Umkehrung der Beweislast, wie sie jetzt von der Regierung vorgenommen werde, kein Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Wo der Staat, so argumentieren die Unionsparteien, sich künstlich dumm stelle, indem er auf die Routineanfrage beim Verfassungsschutz verzichtet, wo er darüber hinaus der Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei ein so geringes Gewicht wie FDP und SPD beimesse, wo der Staat sich obendrein für den Fall der Ablehnung eines Be47 Werbers selbst zum Nachweis zusätzlicher extremistischer Aktivitäten (neben der Mitgliedschaft des Bewerbers) zwinge, da werde die Prüfungspraxis erstens den Möglichkeiten der Denunziation (bei kraß verringertem Stellenangebot z. B. durch konkurrierende Bewerber oder durch den möglicherweise wissenden Verfassungsschutz) stärker ausgeliefert, zweitens der Beurteilungswillkür stärker anheim gegeben, als dies nach den Regeln des Extremistenbeschlusses von 1972 gegeben war. Die Überprüfung werde nunmehr vom objektiv Nachprüfbaren in den Bereich des Subjektiven verschoben. Gerade die von SPD und FDP jetzt empfohlene Überprüfungspraxis provoziere Zufälligkeiten, mithin Willkür und Gesinnungsschnüffelei.
Wenn ich Alfred Grosser anläßlich zweier Vorträge in der Bundesrepublik (Markthalle Hamburg und Münchener Residenz) richtig verstanden habe, so fußen seine Ausführungen zur Extremistenthematik auf dreierlei gerade im Ausland, aber nicht nur dort, immer wieder anzutreffenden Axiomen, die ich in meinen eigenen Worten folgendermaßen bewußt zuspitze: 1. Der Extremistenbeschluß von 1972 gehe in seinen Loyalitätsanforderungen von einem tendenziell „stalinistischen" Menschenbild aus. Er setzte den Gedanken bzw. das Programm (des Bewerbers) bereits gleich mit der vorweggenommenen, geplanten, gar nicht vollbrachten, nicht einmal individuell angekündigten Tat, so als sei diese bereits begangen. Ein solches undifferenziert monistisches Menschenverständnis aber sei mit einem freiheitlichen Menschenbild in pluraler Gesellschaft nicht zu vereinbaren. Insofern passe der Extremistenbeschluß nicht in einen freiheitlichen Staat. Gleiches gelte, mutatis mu-tandis, von dem deshalb ebenfalls heftig bekämpften § 88 a StGB, der u. a. literarische Aufforderungen zur Gewalt unter Strafe stellt. 2. Die deutsche KP sei — anders als etwa die französische und italienische KP — eine Partei, deren Programmatik und Verfahren (Grosser verweist dabei besonders auf den letzten Parteitag) durchaus nicht mit den Verfassungen der Bundesrepublik und anderer westlicher Demokratien in Einklang zu bringen sei. 3. Die Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst müsse erstens von der Regelanfrage beim Verfassungsschutz absehen. Sie dürfe zweitens nicht davon ausgehen, daß jedes Mitglied der DKP in der Regel vom Staatsdienst auszuschließen sei.
Ich will hier nur Grossers Ausführungen in bezug auf das von ihm so charakterisierte, tendenziell „stalinistische" Menschenverständnis des Extremistenbeschlusses berücksichtigen, einschließlich der Konsequenzen, die Grosser daraus zieht.
In der Tat: der Extremistenbeschluß geht davon aus, daß Mitglieder totalitärer Organisationen jener Pluralität, man könnte auch sagen: jener Rollendifferenzierung zwischen Verhalten im Staatsdienst einerseits und außerhalb des Staatsdienstes andererseits, nicht zu entsprechen vermögen, die für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Demokratie Mindestvoraussetzung ist. Aufgrund geltenden Rechts und aufgrund von Verfassungsvorschriften ist für einen öffentlich Bediensteten der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik jedoch nicht einmal eine solche Rollendifferenzierung zulässig. Wer die Differenzierung ermöglichen will — und dies erscheint zumindest für Teilbereiche des öffentlichen Dienstes wünschenswert —, der muß das Beamtenrecht ändern, was äußerst schwierig werden dürfte. Die Extremistenabwehr geht ferner davon aus, daß nach den Erfahrungen mit den Nationalsozialisten und nach dem Hitler-Stalin-Pakt Grund genug besteht, organisierte Parteien rechtzeitig bei ihrem Wort zu nehmen. Wenn diese Annahmen richtig sind, müßte Alfred Grosser aufgrund seiner Axiome einem DKP-Mitglied den Zugang zum öffentlichen Dienst verwehren. Grosser bestreitet aber einige hier eingeflossene Annahmen. Er sagt erstens: nicht alle Mitglieder der DKP meinen es so ernst und buchstabengetreu mit ihrem Programm, daß sie dieses auch in die Tat umsetzen wollen, nicht alle werden es zweitens überhaupt kennen oder umsetzen können.
Das dem Extremistenbeschluß zugrunde liegende Bild des Verfassungsfeindes wird der Wirklichkeit nicht in jedem Einzelfalle gerecht. Darin ist Grosser wohl zuzustimmen, und die nunmehr von SPD und FDP beschlossene Gleichstellung der Mitgliedschaft in verfassungsfeindlichen Organisationen mit anderen Beurteilungskriterien für die Einstellung im öffentlichen Dienst entspricht dieser Sicht Alfred Grossers, der mit seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1977 selbst zur „Libe-ralisierung" der Praxis der deutschen Extremistenabwehr einen Anstoß gab.
Nicht zuzustimmen vermag ich jedoch der Kennzeichnung des Extremistenbeschlusses von 1972 und damit der CDU/CSU-Praxis als tendenziell „stalinistisch". Hier liegt, ähnlich wie oben bei Jean Genet, eine Wortaufladung vor, die die Wirklichkeit extrem verzeichnet. Auch den auf der Grundlage des Extremistenbeschlusses abgelehnten Bewerbern der DKP in CDU-oder CSU-regierten Bundesländern wird „nur" eine wesentliche Qualifikation für den angestrebten Beruf (Beamter) bestritten. Die Verfassungstreue ist eines von mehreren Eignungskriterien, wie z. B. die ebenfalls sorgfältig geprüfte gesundheitliche Eignung. Ist diese nicht gewährleistet, so erfolgt hier ebenfalls eine Ablehnung des Einstellungsantrages.
Da der Staat in einigen Ausbildungsbereichen und Berufen (z. B. Lehrer an öffentlichen Schulen) das Monopol innehat, wurde und wird die Ablehnung als „Berufsverbot" gegeißelt, obwohl die nur teilweise bewußte, teilweise aber gezielt angestrebte Assoziierung mit Verfolgungsgesetzen der deutschen Geschichte wie den Sozialistengesetzen gegen Sozialdemokraten (1878) und, schlimmer noch, den Nürnberger Gesetzen gegen Juden (1935) die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland von 1972 bis 1979 kraß verzeichnet. Das gilt ebenfalls für das Beiwort „stalinistisch" in bezug auf das Menschenbild des Extremistenbeschlusses. Selbst wenn man der CDU-bzw. CSU-Praxis der Extremistenabwehr kritisch gegenübersteht, wird man deutlich machen müssen, daß Stalin seine politischen Feinde nicht nur anders sah, sondern auch anders behandelte als der Extremistenbeschluß die Feinde der Verfassung der Bundesrepublik. Nach den Erfahrungen mit der NSDAP, aber eben auch mit stalinistischen KPs, wird man zumindest von der Berechtigung jener kämpferischen Position ausgehen müssen, die nicht mehr bereit ist, Parteiprogrammatik, welche auf die Zerstörung von Demokratie und Freiheit hinausläuft, nicht zur Kenntnis, das heißt also zum Anlaß ebenso entschiedener Konsequenzen zu nehmen.
So gesehen, stehen Koalitions-und Oppositionslager vor derselben Frage: Wieviel Freiheit ist den Feinden der Freiheit zu gewähren? Beide Lager antworten auf der Basis der historischen Mahnung: principiis obsta! Die einen sehen gefährliche Anfänge ä la Weimar in der lässigen Nachgiebigkeit gegenüber kommunistischen Organisationen, die anderen sehen gefährliche Anfänge ä la NS-Regime in einer staatlich-autoritären Intoleranz, hinter der sich erneut totalitäre („stalinistische" bzw. „neo-faschistische") Praxis ankündigt. Ein britischer Autor, James Fenton, sah für beide Sichtweisen keinen Anlaß, keine Entsprechung in der westdeutschen Wirklichkeit. Die Bundesrepublik Deutschland werde weder — wie die Weimarer Republik — durch Terrorismus oder Extremismus bedroht, noch seien Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gefährdet. Wenn die Gegenwartsprobleme der Bundesrepublik dennoch aus historischer Perspektive ohne Entsprechung in der Wirklichkeit behandelt würden, so sei dies die spezifische „Demokratie-Neurose der Deutschen". Die Bundesrepublik sei zu einem „Schlachtfeld der rivalisierenden Halluzinationen" geworden.
Demgegenüber halten in der Bundesrepublik die Verfechter beider Sichtweisen daran fest, daß es keine Neurose sei, wenn — trotz aller Skepsis gegenüber den entsprechenden politischen Möglichkeiten — wenigstens der Versuch unternommen werde, aus der Geschichte zu lernen — trotz aller Schwierigkeit, zu erkennen, was denn nun für die konkrete Gegenwartssituation zu lernen sei. 5. Gefährdeter Rechtsstaat?
Wird der Rechtsstaat dadurch gefährdet? In der Bundesrepublik Deutschland besteht die Gefahr einer Überreaktion insbesondere der älteren Generation aufgrund Weimarer Erfahrungen, die zu einer rigiden Extremistenabwehr führt. Die hier liegenden Gefahren erhalten jedoch — wenigstens noch und insbesondere in der jüngeren Generation — ein mindestens vierfaches Gegengewicht. Da ist erstens jene Mehrheit demokratischer Antifaschisten, die eine Wiederholung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates befürchtet und verhindern will. Im Ausland tut man, meine ich, gut daran, deren Existenz nicht zu bezweifeln. Da sind zweitens kommunistische Antifaschisten (DKP), die vor dem Wieder-aufwachen des Nationalsozialismus warnen, auch um sich selbst wirkungsvoller zu legitimieren, neue Anhänger und Mitglieder zu gewinnen sowie trotz ihrer Nähe zur DDR, Teil des demokratischen „Verfassungsbogens" der Bundesrepublik zu werden. Da sind drittens die Stimmen des Auslandes, die überwiegend und begreiflicherweise, eher davon ausgehen, daß die Weimarer Republik nicht in erster Linie an der Permissivität der Demokraten, viel eher an der Repressivität der Nationalisten und ihrer autoritären Wegbereiter zugrunde ging. Da ist viertens — als Reaktion auf die Willkür des SS-Doppelstaates — in der Bundesrepublik ein perfekter (auch schon wieder übertriebener?) Rechtswegestaat, der den gefürchteten Anfängen eines erneuten Abgleitens in den Unrechtsstaat . wehren kann. Dieser Rechtswegestaat gestattet ein Mindestmaß an Nachprüfbarkeit der Extremistenabwehr, das in den westlichen Nachbar-staaten der Bundesrepublik nicht erreicht sein dürfte. Wie sähen analoge Statistiken zu Tabelle 4 und 5 in Frankreich aus? Wird die westdeutsche Extremistenabwehr im Unterschied zur Praxis anderer Länder nicht geradezu auf dem offenen Markte auszutragen?
Und immer wieder: Ist der Rechtsstaat gefährdet? Soweit die Antiterrorgesetze, der Ausbau der Polizei, des Bundeskriminalamtes und des Bundesgrenzschutzes gemeint sind, ist, nachdem 29 Menschen getötet sind, zu fragen, ob nicht jeder weitere verhinderte Mord den bisherigen Einsatz des Staates rechtfertigt, dessen Aufgabe es ist, Leben und Freiheit zu schützen. Man stelle sich die Frage unter der hypothetischen Konstruktion, in Mogadischu seien alle entführten Geiseln Opfer des Terrorismus geworden. Die Heftigkeit und Dauerhaftigkeit der Diskussion um die Antiterrorgesetze ist — wie diejenige um die Extremistenabwehr — eher ein Indiz für streitbares Rechtsbewußtsein als für den Untergang des Rechtsstaates in der Bundesrepublik. Der Streit markiert die Grenzlinien des Verfassungskonsenses über das Konzept der wehrhaften Demokratie. Es ist deshalb eher erstaunlich, daß er erst nach 1972 aufbrach, und eher ein ermutigendes Indiz für wache demokratische Skepsis, daß er auf der Tagesordnung steht. Im Zusammenhang der Extremistenabwehr wurde dieser Streit durch die Einzelfallprüfung in Verbindung mit der Ablehnungsautomatik zur permanenten Wiederkehr geradezu institutionalisiert. Jedenfalls dürften diejenigen enttäuscht werden, die noch immer hoffen, mit der Liberalisierung der Extremistenabwehr ein lästiges Thema endgültig „vom Tisch zu haben". Es wird sich angesichts der Gefahren der Gesinnungsschnüffelei in der Tat überhaupt erst noch herausstellen müssen, ob es sich bei der von der Bundesregierung jetzt beschlossenen Methode — ungeachtet der Absichten — tatsächlich uni eine Liberalisierung handelt. Die Bundesrepublik stellt sich der konfliktreichen Herausforderung, die darin liegt, Demokratie und Freiheit gegen deren Feinde bewahren zu müssen.
Hat sie sich der politischen Belastung gewachsen erwiesen? Sie hat nicht nur die teilweise geschärften Instrumente der Wehrhaftigkeit genutzt, sondern auch dort reagiert, wo diese Instrumente mißbraucht wurden.
Am 17. März 1978 wurde ein Gesetz zur besseren parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste verabschiedet. Es bleibt doch erwähnenswert, daß die Gefährdung der Bundestagsmehrheit bereits an jenen Grenzlinien der inneren Sicherheit aufbricht, die oben voller Bedacht in den Antiterrorgesetzen im einzelnen dargestellt wurden. Festzuhalten bleibt, daß zwei ansonsten verdiente Minister dieser Republik zurücktreten mußten, weil sie für Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit politisch verantwortlich waren. Sie mußten gehen, weil in ihrer Zuständigkeit die rechtsstaatlich gesicherten Methoden der Abwehr von Spionen (Georg Leber am 2. Februar 1978) oder Terroristen (Werner Maihofer am 6. Juni 1978) „überdehnt" bzw. überschritten wurden. Der erste hatte „Abhörwanzen" gegen seine unter Spionageverdacht stehende Sekretärin, der zweite „Lauschangriffe" auf einen Atomphysiker sowie vor allem die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und jenen Grenzschützern zu verantworten, welche Reisende anhand von Listen mit (angeblich) linksextremen Vereinen und Schriften überprüfen sollten. Die Rücktritte wurden insbesondere deshalb erzwungen, weil beide Minister den von ihnen zu verantwortenden Tatbestand zunächst verharmlosten und unklar darauf reagierten. In den vergangenen fünf Jahren war die Herausforderung des Rechtsstaates durch den Terrorisimus sowie durch (aufgedeckte) Spionage besonders dringlich und auffällig. Die Ministerrücktritte demonstrieren für diesen Zeitraum die politischen Grenzen des unter diesen Umständen in der Bundesrepublik rechtsstaatlich Zumutbaren.
Die Grenzen des politisch Zumutbaren wurden erkennbar im Streit um die politische Position Hans Filbingers. Aufgrund von massi-vem öffentlichen Druck, auch aus seiner eigenen Partei, trat Filbinger am 7. August 1978 als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurück. Der Grund: Zunächst seine für viele unglaubwürdige Vergeßlichkeit gegenüber seiner Tätigkeit als Jurist unter dem NS-Regime. Filbinger bestritt einzelne Mitwirkungen an Todesurteilen gegenüber Deserteuren solange, bis die Beweislage eindeutig gegen ihn sprach. Sodann seine auf viele unverändert mitleidlos wirkenden Äußerungen und seine selbstgerechte Haltung gegenüber den Betroffenen seiner (juristisch nicht anfechtbaren!) Tätigkeit als Jurist unter dem NS-Re-gime. Filbinger blieb aber Vorsitzender der baden-württembergischen CDU und stellvertretender Bundesvorsitzender seiner Partei — ein Umstand heftiger Kritik in der Bundesrepublik. Am 24. März 1979 wurde Filbinger zwar nicht wieder in das Präsidium, wohl aber mit hoher Stimmenzahl in den Bundesvorstand seiner Partei gewählt. Am 30. April 1979 trat er vom Amt des Landesvorsitzenden der baden-württembergischen CDU zurück. Er war zuvor, am 29. April 1979, bei der Benennung der sechs Delegierten der südbadischen CDU für die CDU-Parteitage auf dem Bezirksparteitag in Lahr nicht wiedergewählt worden. Damit wird fraglich, ob er auf Platz eins der Landesliste seiner Partei für die vor der Bundestagswahl 1980 noch ausstehende Landtagswahl nominiert wird.
VI. Resümee
Abbildung 5
Tabelle 5: In der Bundesrepublik Deutschland eingestellte bzw. wegen mangelnder Gewähr der Verfassungstreue abgewiesene Bewerber für den Öffentlichen Dienst 1976 u. 77
Quelle: Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/2481 vom 22. 1. 79, S. 7.
Tabelle 5: In der Bundesrepublik Deutschland eingestellte bzw. wegen mangelnder Gewähr der Verfassungstreue abgewiesene Bewerber für den Öffentlichen Dienst 1976 u. 77
Quelle: Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/2481 vom 22. 1. 79, S. 7.
Mit Blick auf die deutsche Geschichte und die politischen Systeme Westeuropas weist die Bilanz der dreißig Jahre ihres Bestehens für die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ein beträchtliches Maß an politischer Konsolidierung auf. Der Vergleich mit dem anderen deutschen Staat und mit den Vorgängerstaaten fällt so eindeutig zugunsten der Bundesrepublik aus, daß man ihn kaum mehr wiederholen mag. Die Bundesrepublik ist erwachsen geworden. Sie hat bereits ihre eigene Geschichte und muß sich daher nicht mehr „nur" mit ihren Nachbarn und Vorgängern vergleichen lassen. Verschiedene Phasen ihres Daseins sind mittlerweile gegeneinander abzuwägen. Daraus ergeben sich zusätzliche Kriterien der Bewertung. Sieht man die Geschichte der Bundesrepublik in Perioden von jeweils fünf Jahren, so läßt sich grob verallgemeinernd sagen: die Stabilität überhaupt ermöglichenden Grundstrukturen der Bundesrepublik wurden in den beiden ersten Phasen (1949 bis 1959) aufgebaut. In der dritten Phase (1959 bis 1964) wurde die erworbene Stabilität unsicherer, in der vierten Phase (1964— 1969) nur mühsam behauptet. Nie war sie stärker gefährdet als 1969. Gegenüber der Ära 1964 bis 1969 kann der erstmalige Wechsel der führenden Regierungspartei und die Ara Brandt (fünfte Phase: 1969— 1974) bereits als Phase des Eintritts der Bundesrepublik in die Normalität demokratischer Staaten bezeichnet werden. Die letzten fünf Jahre (sechste Phase:
1974— 1979) brachten eine Konsolidierung dieser Normalität.
Zuweilen wird, auch hierzulande, gefordert, in der Bundesrepublik möge man den politischen Alltag so selbstverständlich nehmen, wie die ausländischen Nachbarn den ihren. Es ermangele der Bundesrepublik noch an jener Gelassenheit, die Normalität erst wirklich ausmache. Daran ist soviel gewiß zutreffend, daß den politischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik etwas ungewöhnlich Angestrengtes eigen ist. Aber: kann dies anders sein angesichts einer Geschichte, die eben nicht „zu bewältigen" ist, sondern immer neue Einsichten und Konsequenzen für die Gegenwart erfordert? Kann dies anders sein gegenüber Herausforderungen, die Antworten hierzulande wesentlich schwieriger machen in bezug auf die Aufforderung, den Anfängen zu wehren? So sehr auch die Fundamentalansprüche an Demokratie, Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit international unteilbar anzulegen sind: muß nicht die „Normalität" der Bundesrepublik Deutschland eine andere sein als die ihrer Nachbarn?
Die in der vorgelegten Analyse deutlich gewordenen Probleme bestätigen einen Befund der international vergleichenden Demoskopie: Die Bürger der Bundesrepublik sind konfliktfreudiger geworden Die Analyse läßt eine gestiegene Bereitschaft erkennen, in den oft genug tragischen Konflikten zwischen Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Demokratie auszuharren und um die bestmögliche Erfüllung der vielen, einander häufig widerstrebenden Ansprüche zu streiten. Einfache Pauschallösungen sind nicht zu haben, so wenig, wie selbst die einfache Mehrheit in der Bundesrepublik nicht mehr einfach zu haben ist. Das gilt analog für zusammenfassende Pauschalurteile über den politischen Befund in der Bundesrepublik. Ich empfehle Einzelfallprüfung.
Uwe Thaysen, Dr. rer. pol., geb. 1940, Professor für politische Wissenschaften an der Hochschule Lüneburg; Chefredakteur der Zeitschrift für Parlamentsfragen. Veröffentlichungen u. a.: Parlamentsreform in Theorie und Praxis, Opladen 1972; Parlamentarisches Regierungssystem in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1972 2; (zus. m. Frank Grube und Gerhard Richter) Politische Planung in Parteien und Parlamentsfraktionen, Bd. 122 der Kommission für wirtschaftlichen und'sozialen Wandel, Göttingen 1976; zahlreiche Beiträge in verschiedenen Publikationen.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).