Das Stichwort „Europawahl" ruft unterschiedliche, ja gegensätzliche Reaktionen und Assoziationen hervor: Hoffnungen bei den einen, Befürchtungen bei den anderen und Desinteresse bei den meisten. Verhalten sich alle wahlberechtigten EG-Bürger am 7. und 10. Juni so, wie das mit großer Übereinstimmung zahlreiche Wählerbefragungen der letzten Monate voraussagten, dann werden sich kaum 60 v. H.der 180 Millionen Wahlberechtigten an der „Jahrhundertwahl" beteiligen. Zum besseren Verständnis der so kontrovers bewerteten oder eben ignorierten ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments ist es sinnvoll, sich mit ihrer Vorgeschichte, die in die fünfziger Jahre zurückreicht und mit einem langen Zeitabschnitt europäischer Integrationsentwicklung zusammenfällt, aber auch mit den jetzigen Vorbereitungen der Direktwahl näher zu beschäftigen. Dabei kommt diesen Vorbereitungen — Ratifizierung des Direktwahlbeschlusses, gesetzliche Festlegung des Wahlmodus, programmatische Aussagen der Parteien bzw.der transnationalen Parteienzusammenschlüssen ideologisch verwandter nationaler Parteien — vor allem in solchen Ländern Bedeutung zu, in denen die Direktwahl, das Europäische Parlament, ja die Europäische Gemeinschaft umstritten sind. Im Mittelpunkt des aktuellen Interesses steht verständlicherweise die Frage nach der Höhe der voraussichtlichen Wahlbeteiligung und den mit ihr zusammenhängenden gemeinschaftsbezogenen Einstellungen, Kenntnissen etc. Gegenstand vielfältiger Spekulationen und „Hochrechnungen" (die natürlich keine sind!) ist die Zusammensetzung des Parlaments, also der Wählerstimmenanteil der Parteien. Ausgehend von den mit der Direktwahl verknüpften Erwartungen zielen weiterreichende Überlegungen auf die Auswirkungen der Direktwahl auf das Europäische Parlament, aber auch auf die nationalen politischen Systeme. Dabei steht seit langem die hoffnungsvolle Frage im Vordergrund, ob das direkt gewählte Europäische Parlament zur Politisierung und Demokratisierung der Gemeinschaft und darüber hinaus zu längst überfälligen umfassenden Strukturreformen imstande sein wird.
Zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments
Bürgerinitiativen und andere Protestgruppen, Bevölkerungsbefragungen und sozialwissenschaftliche Analysen machen immer wieder deutlich, daß Partei-, Parlaments-und Staats-verdrossenheit weit verbreitet sind. Wählen wird häufig als mehr oder weniger lästige staatsbürgerliche Pflichtübung aufgefaßt. Gilt dies auch für Europa, für die Europäische Gemeinschaft? Oder sind solch bedenkliche Symptome nur für die nationalstaatlichen Herrschaftssysteme bedeutsam?
Die zwischen dem 7. und 10. Juni zum ersten Mal in den neun EG-Ländern veranstaltete Direktwahl von 410 Abgeordneten des Europäischen Parlaments hielten im Herbst 1978 in einer europäischen Repräsentativbefragung 75 v. H.der Befragten für notwendig. Jedoch wird selbst von Optimisten mit einer wesentlich geringeren Wahlbeteiligung gerechnet. So ermittelte die EG-Kommission, daß im EG-Durchschnitt nur knapp über 60 v. H. „wahrscheinlich wählen" werden, 17 v. H. noch unsicher sind, ob sie dies tun, und 21 v. H. „wahrscheinlich nicht wählen" Bei den bundesdeutschen Wahlbürgern stellte das Hamburger Kehrmann-Institut in einer Repräsentativ-Umfrage Ende November 1978 eine noch größere Europa-Müdigkeit fest. Danach wollen nur 57 v. H. zur Europawahl gehen, während 20 v. H. entschlossen sind, die „Jahrhundertwahl" im Juni zu ignorieren
Dieser Widerspruch zwischen der abstrakten Einsicht in die Notwendigkeit der Direktwahl des Europäischen Parlaments und der Bereitschaft, sich tatsächlich an ihr zu beteiligen, wird unterstrichen — und dadurch vielleicht etwas verständlich —, wenn man sich die allgemeine Einstellung der Bevölkerung zur EG vergegenwärtigt: Im EG-Schnitt hielten zwar 56 v. H. im Herbst 1977 die Europäische Gemeinschaft für eine gute und nur 14 v. H. für eine schlechte Sache, aber immerhin mehr als
I. Vorbemerkung
ein Fünftel, nämlich 23 v. H., hatte keine Meinung und weitere 7 v. H. gaben erst gar keine Antwort. Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft tritt bei den Antworten auf die Frage: „Wie würden Sie reagieren, wenn die EG scheitern würde?" noch deutlicher hervor. Im EG-Durchschnitt würden das nur 45 v. H.sehr bedauern, während immerhin fast ein Drittel einem solchen Ereignis gleichgültig gegenüberstünde, weite-INHALT I. Vorbemerkung II. Zur Vorgeschichte der Direktwahl 1. Historisch-politische Aspekte des europäischen Integrationsprozesses 2. Von der Direktwahlblockierung zum Direktwahlbeschluß des Rates vom 20. September 1976 III. Vorbereitung der Direktwahl 1. Pro und contra Europawahl: Innenpolitische Auseinandersetzungen a) Großbritannien b) Dänemark c) Frankreich 2. Transnationale Parteienzusammenschlüsse: Europäisierung nationaler Parteiensysteme?
a) Der Bund der Sozialdemokraten b) Die Europäische Volkspartei c) Die Europäischen Liberalen Demokraten IV. Erste Direktwahl: Daten 1. Rechtsgrundlagen und Wahlmodus 2. „Wählt, wen ihr wollt, aber wählt"
— oder: Wie groß ist die Unlust an der Europawahl?
V. Erste Direktwahl: Spekulationen 1. „Hochrechnungen" auf das Wahlerergebnis 2. Politisierung und Demokratisierung versus Diplomatie und Bürokratie:
Kann das direkt gewählte Europäische Parlament eine Strukturreform der Gemeinschaft herbeiführen? re izv. H. erlelcntert waren und I I v. H. Keine Meinung haben
Geht man davon aus, daß diese Zahlen und Hinweise ein insgesamt zutreffendes Bild vermitteln, drängt sich die Frage auf, warum denn mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments einerseits große Hoffnungen, andererseits aber nicht minder große Skepsis verknüpft werden. Das gab es lange nicht: Ein europäisches Ereignis, das Zungen löst und Emotionen freisetzt. Werden die EG — sonst eher eine Institution der Langeweile und des Verdrusses — und das Europäische Parlament — sonst eher ein Ort zum Gähnen — nun doch noch populär?
Diese und ähnliche Fragen können hier we-der empirisch noch theoretisch zureichend beantwortet werden. Darstellungen von europäischen Vorgängen bleiben einstweilen spekulativ und vorläufig. Gleichwohl sind sie deshalb nicht schon überflüssig. Man sollte sich nur zuvor vergewissern, was sie zu leisten vermögen und was nicht.
Solange die erste Direktwahl noch nicht stattgefunden hat, ist nur ihre (allerdings lange und recht komplexe) Vorgeschichte einer empirischen Darstellung zugänglich. Immerhin lassen sich aber schon vor dem Wahltermin AusWirKungen der ersten Europawahl auf die Innenpolitik der Mitgliedsländer erkennen. Dazu gehört einmal das, was ich den Souveränitätsvorbehalt nennen würde. -Er hat vor allem in der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Direktwahl und Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments in Frankreich und Großbritannien eine Rolle gespielt Dazu gehört aber auch die besonders in Großbritannien stark umstrittene Frage des (bis auf weiteres noch nicht einheitlichen) Wahlverfahrens zum Europäischen Par-lament. Wahl und Wahlkampf sind schließlich auch in unmittelbarem Zusammenhang mit den transnationalen Parteizusammenschlüssen und europäischen Wahlprogrammen zu sehen.
Darüber hinaus enthält dieser Beitrag Daten und Spekulationen zur Europawahl selbst. Fragen nach dem erkennbaren bzw. mutmaßlichen Wählerverhalten und der voraussichtlichen Zusammensetzung des Parlaments, das noch keines ist, stehen im Mittelpunkt. Am Schluß wird dann die politisch wie politologisch gleichermaßen gewichtige Frage gestellt, ob es dieser Institution gelingen wird, gelingen kann, das Demokratiedefizit, die Stagnation und die Krisenerscheinungen der Gemeinschaft zu überwinden.
II. Zur Vorgeschichte der Direktwahl
Die Vorgeschichte der Direktwahl beginnt mit den Römischen Verträgen, erreicht mit dem Ratsbeschluß vom 20. September 1976 ih-iren Höhepunkt, und hat mit den Ratifizierungen der Europa-Wahlgesetze in den Parlaimenten der EG-Mitgliedstaaten ihr vorläufiges Ende gefunden. Will man zu einem historisch-politischen Verständnis der Direktwahlfrage kommen, die aus der Sicht ihrer Befürworter wie Gegner längst eine Schlüsselstellung für die europäische Integrationsentwicklung einnimmt und von nicht wenigen als Testfall für die Ernsthaftigkeit der europapolitischen Zielsetzungen und Absichten in den Gemeinschaftsländern angesehen wird, dann erweist es sich als sinnvoll, über diese Vorgeschichte im engeren Sinne hinaus auf die historisch-politischen Aspekte der europäischen Integrationsentwicklung einzugehen 1. Historisch-politische Aspekte des europäischen Integrationsprozesses Die Impulse, nach 1945 in Westeuropa außeroder überstaatliche Organisationen auf neuartiger politisch-institutioneller Grundlage zu errichten, sind zahlreich und vielfältig. -— Zunächst und vor allem ist die Erfahrung und Bilanz des Zweiten Weltkrieges mit sei-nen verheerenden Folgen für materielle Existenz, politisch-kulturelle Verfassung und internationale Geltung der europäischen Nationalstaaten zu nennen — Folgen, die aufs eng-ste mit den nationalistischen, imperialistischen und faschistischen Entwicklungen in Europa Zusammenhängen. Aus diesen Erfahrungen entstanden neue politische Ordnungsvorstellungen, die auf zwischenstaatliche Ko-operation und supranationale Integration und damit auf die sofortige oder graduelle Überwindung der europäischen Nationalstaaten abstellen. Was das zerstörte Deutschland anging, so war ein Ziel aller europäischen Einigungsbestrebungen, die Auflösung absoluter nationalstaatlicher Souveränität, bereits erreicht. Die Bundesrepublik Deutschland bzw. die damalige Regierung versprachen sich denn auch von der europäischen Einigung wenn schon keine Wiedererlangung staatlicher Einheit, so doch zumindest die Rückgewinnung internationaler Geltung und politischer Einflußmöglichkeiten, während gerade Frankreich die westeuropäische Eingliederung der Bundesrepublik aus sicherheitspolitischem Interesse verfolgte. Dies sei nur erwähnt, um deutlich zu machen, daß jenseits aller Europa-Euphorie und hinter allen integrationspolitischen Konzepten von Anfang an auch einzelstaatliche Interessenpolitik im Spiel war. — Die westeuropäische Kooperations-und Integrationsbereitschaft ist zweifellos auch durch den Ost-West-Konflikt verstärkt worden, insbesondere durch die als militärische und politische Bedrohung empfundene Rolle der Sowjetunion in Ost-und Südosteuropa. In der Bundesrepublik wurde diese Bereitschaft lange Zeit durch einen ideologisch aufgeladenen und durch das deutsch-deutsche Nichtverhältnis geprägten Antikommunismus gestützt. — Sie wurde auch durch die USA begünstigt, wobei verschiedene Faktoren zusammenwirkten: die Marshallplanhilfe (wenn auch die ERP-Mittel nicht für den Aufbau eines gemeinsamen Marktes investiert wurden, sondern zunächst der Wiederherstellung der nationalstaatlichen Volkswirtschaften dienten), die politisch wie ökonomisch erhebliche Abhängigkeit der westeuropäischen Staaten von den USA und der große Rückstand in wissenschaftlich-technologischer Hinsicht — Entwicklungsdefizite, die aus einzelstaatlicher Anstrengung nicht zu überwinden waren. — Gleichzeitig entwickelten sich wirtschaftspolitische Konzeptionen, die von einem großen und einheitlichen Wirtschaftsgebiet hohe Nachfrage, kostengünstigere und ertragreichere Produktion und damit die Anhebung des allgemeinen Lebensstandards und eine differenziertere Versorgung erwarteten. Da-mit gingen Überlegungen einher, die sich von gemeinschaftlichem Vorgehen bei der Lösung grenzüberschreitender öffentlicher Aufgaben, z. B. Regionalpolitik, Raumordnung, Umweltschutz, Infrastruktur usw., größere Effizienz versprachen. — Nicht zuletzt erfuhr die in den zwanziger Jahren entstandene europäische Einigungsbewegung, die während des antifaschistischen Widerstandes in den vierziger Jahren man-che Anstöße erhalten hatte, neuen Aufschwung und hat zumindest am Beginn der europäischen Einigungsbestrebungen nicht unerheblichen Einfluß gehabt
Nachdem nun trotz dieser historisch ungewöhnlich günstigen Ausgangssituation umfassende Föderations-bzw. Integrationskonzepte sich nicht realisieren ließen — was die Schaffung des Europarates (ER) das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) je auf ihre Weise dokumentieren — und die Montanunion noch relativ eng auf wenige Produktionssektoren zugeschnitten war, wird mit der späteren EG (EWG, EAG und EGKS) zum ersten Mal der Versuch gemacht, so etwas wie einen „Zweckverband funktioneller Integration" (Ipsen) zu schaffen, dessen Eigendynamik zu einer politischen Einigung Europas führen sollte (aktuell richtiger gesagt: führen soll, denn nicht wenige haben ja — gerade in Verbindung mit der Direktwahl — immer noch oder wieder die Hoffnung, daß auf dem bisherigen Weg eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa erreicht werden).
Auch Präambel und Aufgabenkatalog der Gemeinschaft machen dies deutlich. Entsprechend den Zielbestimmungen in Art. 2 EWGV soll die Gemeinschaft — eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der EG-Länder, — eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung,
— eine größere Stabilität, — eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und — engere Beziehungen zwischen den Staaten der Gemeinschaft fördern bzw. herbeiführen.
Den mit Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Organen der Gemeinschaft sind mit diesen allgemeinen Vertragszielen zugleich konkrete Tätigkeitsbereiche (Art. 3 EWGV), d. h. die Erfüllung bestimmter integrationspolitischer Aufgaben und die Ausgestaltung eines entsprechenden Instrumentariums, zugewiesen worden. Es handelt sich im einzelnen um die Beseitigung der Zölle, die Schaffung und Gewährleistung eines freien Waren-, Kapital-, Dienstleistungs-und Personenverkehrs (Freizügigkeit der Arbeitnehmer), die Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik, die Errichtung eines gemeinsamen Agrarmarktes, die Schaffung und Überwachung einer gemeinsamen Wettbewerbsordnung, die Angleichung einzelstaatlicher Rechtsnormen (z. B. steuerlicher Vorschriften) und schließlich auch die Einführung einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik
Hieraus wird erkennbar, daß die ansatzweise auf die sozialen, vor allem aber auf die öko-nomischen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten abzielende Teilintegration der Gemeinschaft einen doppelten Charakter hat: Aus der Perspektive der Mitgliedsländer stellt sie sich als „zielbezogene Begrenzung staatlicher Souveränitätsrechte''dar; aus der komplementären Sicht der Gemeinschaft selbst ist sie die „Ermöglichung einheitlicher Politik" und zwar intra-wie intergemeinschaftlich, d. h. innerhalb der Gemeinschaft wie gegenüber dritten Ländern. Daß mit dieser doppelten Zielsetzung die Option für eine politische Union verknüpft ist, lassen zuallererst die politischen Institutionen der Gemeinschaft erkennen. Sie orientiert sich zwar am Modell gewaltenteilender staatlicher Herrschaftsordnungen, entzieht sich aber allen juristischen oder politologischen Typologisierungen, weshalb es weiterhin sinnvoll erscheint, hier von „einer bislang unbekannten pluralistischen politischen Struktur" (Shocking/Anderson) zu sprechen.
Gerade von der Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments wird allerdings von nicht wenigen eine institutioneile Fortentwicklung der Gemeinschaft im Sinne einer Parlamentarisierung erwartet — und dieses nicht erst seit heute. Erste Bemühungen in diese Richtung reichen bis in das Jahr 1958 zurück.
2. Von der Direktwahlblockierung zum Direktwahlbeschluß des Rates vom 20. September 1976 Bald nach der Konstituierung des damals noch . Versammlung der drei europäischen Gemeinschaften' genannten späteren Europäischen Parlaments (EP) begann eine Gruppe von Abgeordneten entsprechend dem in Art. 138 (3) EWGV enthaltenen Auftrag mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für allgemeine, unmittelbare Wahlen 1960 erfolgte dazu ein Beschluß des Europäischen Parlaments über den Entwurf eines Direktwahl-Abkommens und seine Weiterleitung an den Ministerrat. Trotz schriftlich ergangener Mahnung durch Abgeordnete des Parlaments im Jahre 1963 blieb der Rat untätig. Erst ab 1969, als das EP gegen die Stimmen der Gaullisten per Mehrheitsbeschluß den Rat aufforderte, das im Vertrag vorgesehene Verfahren auf der Basis seines Direktwahl-Entwurfs ohne weitere Verzögerung in Gang zu bringen, und dem Rat gleichzeitig eine Organklage wegen Vertragsverletzung durch Untätigkeit gemäß Art. 175 EWGV androhte, zeigten sich Ansätze zu einer Überwindung der Direktwahlblokkierung. In Ausführung des Kommuniques der Haager Gipfelkonferenz der EG-Staats-und Regierungschefs vom Dezember 1969 forderte der Rat 1970 seine ständigen Vertreter auf, zusammen mit dem Europäischen Parlament einen Entwurf für den Vertrag über die Direktwahl auszuarbeiten. Wiederum vergingen mehrere Jahre, bis 1974 die Pariser Gipfelkonferenz direkte Wahlen für 1978 in Aussicht stellte. Doch erst am 20. September 1976 kam ein Beschluß des Rates über die Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen des EP zustande, dem langwierige Verhandlungen, insbesondere um die Gesamtzahl der Abgeordneten, vorausgegangen waren.
Die Frage drängt sich auf, welche Faktoren diesen Wandel in der politischen Bewertung und Behandlung verständlich machen können. Immer wieder wird darauf verwiesen, daß das entscheidende Hindernis auf dem langen und schwierigen Weg zur Direktwahl der Widerstand Frankreichs gewesen sei.
Frankreich habe durch die sogenannte „Politik des leeren Stuhls" und durch das Veto gegen den Beitritt Großbritanniens den Integrationsprozeß erschwert und verlangsamt, ja die Existenz der Gemeinschaft als Ganzes wiederholt gefährdet und aufs Spiel gesetzt. Dieser Widerstand gründet sich bekanntlich auf die Idee und die Politik der nationalen Souveränität Frankreichs. Dabei wird freilich übersehen, daß desintegrierende Faktoren und Tendenzen nicht auf Frankreich beschränkt blieben. In dem Maße, in dem die Schwierigkeiten und Kosten der Vergemeinschaftung offenbar wurden und zunahmen, gewann auch in anderen Mitgliedstaaten — gestärkt durch das französische Beispiel — das Bewußtsein nationaler Identität wieder an Stärke und Bedeutung. Mängelverwaltung und Desillusionierung traten an die Stelle von Europa-euphorie und Hoffnung in den Automatismus „funktionalistischer Integration."
Der Wechsel im Amt des französischen Staats-präsidenten im Frühjahr 1969 von de Gaulle auf Pompidou, dem 1974 Giscard d'Estaing folgte, hat die französische Europapolitik zweifellos verändert und sich positiv auf die Europäische Gemeinschaft ausgewirkt.
Weltpolitische Ereignisse und Entwicklungen wie die wachsende Unsicherheit über die internationale Rolle der USA, der Aufbruch Chinas zur dritten Großmacht, die Energiekrise und Rohstoffverknappung, aber auch innereuropäische Probleme wie Inflation, Arbeitslosigkeit und das Stagnieren der Wirtschafts-und Währungsunion bzw.der Europäischen Union traten hinzu. Dadurch erfuhren Idee und Motive europäischer Zusammenarbeit und Integration eine gewisse Wiederbelebung. Diese fand ihren ersten Niederschlag in der Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien, Irland und Dänemark, die Anfang 1973 wirksam wurde.
Aber noch ein anderer Gesichtspunkt verdient in diesem Zusammenhang Beachtung: Die seit den späten sechziger Jahren zu beobachtende Intensivierung und Differenzierung von Legitimations-und Demokratisierungsforderungen für politische Entscheidungsstrukturen und -prozesse haben ihre Wirkung auf die intragemeinschaftlichen politisch-institutionellen Verhältnisse nicht verfehlt. Auch bei politisch stagnierender Integration ist, gemessen an diesem Postulat, eine mit Hoheitsbefugnissen ausgestattete Europäische Gemeinschaft mit ihren Mammutbürokratien und „geheimen Rats" -sitzungen ohne parlamentarisch-demokratische Kontroll-und Mitwirkungsmöglichkeiten kaum zu akzeptieren. Auch der jahrelange, müßige, an Schriften inflationäre Streit über den Vorrang von Direktwahl oder Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments — selbst nur Ausdruck einer politischen Stagnation — fand in dem Direktwahlbeschluß des Rates vom 20. September 1976 sein Ende.
Daraus seien die wesentlichen Bestimmungen genannt:
— In dem direkt gewählten EP werden 410 Abgeordnete sitzen; je 81 von ihnen kommen aus Frankreich, Italien, dem Vereinigten Königreich und der Bundesrepublik Deutschland, * 25 aus den Niederlanden, 24 aus Belgien, 16 aus Dänemark, 15 aus Irland und 6 Abgeordnete schließlich aus Luxemburg. Rechnet man diese Abgeordnetenkontingente auf die Einwohnerzahlen der jeweiligen Länder um, dann vertritt z. B. ein Abgeordneter aus der Bundesrepublik mehr als zwölfmal soviel Einwohner, nämlich über 750 000, wie sein Kollege aus Luxemburg, der rechnerisch nur etwa 60 000 Einwohner repräsentiert. Da man aber eine un-proportionierte Parlamentsgröße verhindern, die nationale Zurechenbarkeit von Abgeordneten nicht aufgeben wollte, war wegen der stark divergierenden einzelstaatlichen Bevölkerungsgrößen eine Begünstigung der kleineren Länder nicht zu vermeiden.
III. Vorbereitung der Direktwahl
1. Pro und contra Europa:
Innenpolitische Auseinandersetzungen um die Direktwahl Mit der Direktwahl des Europäischen Parlaments werden vor allem Befürchtungen verknüpft — bei ihren Gegnern ebenso wie bei ihren Befürwortern. Befürchten letztere, daß die Wahlbeteiligung zu niedrig sein könnte und der erhoffte Erfolg der ersten Direktwahl somit ausbleiben würde, so befürchten erstere gerade einen möglichen Erfolg, weil sie dadurch die Souveränität und Unabhängigkeit ihres Landes in Frage gestellt sehen.
Daß eine zu niedrige Wahlbeteiligung nur dort befürchtet wird, wo die Fortentwicklung der Gemeinschaft, wo vor allem die Stärkung des Europäischen Parlaments unumstritten ist, liegt auf der Hand. Dazu gehören traditionell die Benelux-Länder, aber auch Italien, Irland und die Bundesrepublik. Umstritten ist die Direktwahl des Europäischen Parlaments in drei EG-Mitgliedsländern: in Großbritannien, in Dänemark und in Frankreich. Sie hat hier bereits vor dem eigentlichen Wahlkampfbeginn zu innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt. Die Darstellung dieses Aspektes der Direktwahl beschränkt sich daher auf diese drei Länder.
a) Großbritannien Europa ist in England im besten Fall ein beliebtes Reiseziel, im Alltag weit weg und eher uninteressant, im schlechtesten Fall aber, als Europäische Gemeinschaft, eine ärgerliche oder gar bedrohliche Realität. Gewiß, die britischen Wähler haben sich 1975 mit einer Zweidrittelmehrheit für den Ver— Die Abgeordneten werden in allgemeiner, unmittelbarer Wahl gewählt; ihre Wahldauer beträgt fünf Jahre.
— Das schon bisher übliche sogenannte Doppelmandat, also die gleichzeitige Mitgliedschaft im Europäischen und im jeweilig nationalen Parlament, ist weiterhin zulässig, aber nicht mehr zwingend notwendig.
— Das Wahlverfahren wird von jedem EG-Mitgliedsland autonom festgelegt. Diese nationalen Wahlverfahren werden erst dann hinfällig, wenn ein vom EP auszuarbeitendes europa-einheitliches Wahlverfahren in Kraft tritt.
bleib in der EG entschieden. Und seit Juli desselben Jahres gehört auch eine vollständige Westminster-Delegation dem Europäischen Parlament an, nachdem der Ausgang des Referendums die Labour Party bewog, ihren EG-Boykott aufzugeben und ihre 18 Sitze im Straßburger Maison de L'Europe einzunehmen Allerdings wird man daraus nicht etwa folgern dürfen, daß die EG und das Europäische Parlament seitdem unumstritten sind oder sich gar besonderer Wertschätzung erfreuen. Das Gegenteil ist weiterhin eher der Fall, wobei das Interesse an der Gemeinschaft spürbar zurückgegangen ist. Während im Herbst 1978 im EG-Durchschnitt immerhin 60 v. H. die Mitgliedschaft ihres Landes in der Gemeinschaft für eine gute Sache hielten waren es in Großbritannien nur 39 v. H. (mit 36 v. H. lag nur noch Dänemark darunter) Ein differenziertes Bild der Distanz, ja des Widerstands gegenüber der EG in Großbritannien vermittelt aber erst die kontroverse Auseinandersetzung um die Direktwahl des Europäischen Parlaments Sie hat sich bisher allerdings auf das politische Establishment beschränkt. Daß das im Februar 1976 von der britischen Regierung vorgelegte Diskussionspapier (Greenpaper) zur Direktwahl keineswegs bloß technischen und organisatorischen Fragen gewidmet war, son-dem Problemaussagen mit erheblichem Konfliktstoff enthielt, so sibyllinisch sie auch formuliert sein mochten war von Anfang an offenkundig.
So stimmte das Unterhaus im Juli 1977 einem Gesetzentwurf für die Direktwahl zwar mit überwältigender Mehrheit zu. Doch zeigte sich, daß das Gesetz ohne die Unterstützung der damaligen konservativen Opposition scheitern würde, denn Premier James Callaghan hatte seiner Fraktion und seinen Ministern die Abstimmung freistellen müssen. Insgesamt votierten 124 Labour-Abgeordnete gegen das Gesetz, unter ihnen 32 Regierungsmitglieder. Aber auch 14 konservative Abgeordnete lehnten den Gesetzentwurf ab, obwohl hier Fraktionsdisziplin angeordnet worden war Der Gesetzentwurf empfahl das Verhältniswahlrecht, enthielt aber paradoxerweise gleichzeitig eine Ausweichklausel für das traditionelle Mehrheitswahlsystem, worin schon die eigentliche Schwierigkeit zum Ausdruck kam. Denn mit Rücksicht auf die Liberalen, die die Labour-Minderheitsregierung im Unterhaus unterstützten, mußte Callaghan die Verhältniswahl mit regionalen Listen empfehlen. über das Mehrheitswahlsystem würde kein liberaler Abgeordneter in das Europäische Parlament einziehen. Dieses — traditionell britische — Wahlsystem favorisieren aber nicht nur die Labour Party, sondern auch die Konservativen, deren Zustimmung die Regierung angesichts des Europa-Widerstands aus den eigenen Reihen ebenfalls brauchte. Darüber hinaus erklärte die Regierung bei der Vorlage ihres Gesetzentwurfes, daß sie der französischen Auffassung folge, wonach die Kompetenzen des direkt gewählten Europäischen Parlaments nur mit der Zustimmung der Parlamente aller EG-Mitgliedsländer erweitert werden dürften
Am 25. November 1977 mußte erneut über den Entwurf abgestimmt werden, da er während der Sitzungsperiode 1976/77 nicht mehr verabschiedet werden konnte Auch diesmal gab es eine klare Mehrheit: 283 Abgeordnete stimmten für die Direktwahl. Premier Callaghan hatte den Anti-Europäern lediglich Stimmenthaltung zugestanden und mit Entlassung aus der Regierung gedroht. So enthielten sich die sechs Anti-Marketeers der Labour-Regierung und ihre 26 Junioren-Mitglieder der Stimme.
Die besonders umstrittene und von der Zustimmung zur Direktwahl getrennte Abstimmung über den Wahlmodus am 14. Dezember 1977 ergab dann folgendes Ergebnis: Unter Aufhebung des Fraktionszwanges stimmten 319 Abgeordnete dagegen und 222 Abgeordnete dafür, daß die 81 britischen Parlamentarier für die „Europäische Versammlung", wie das Europäische Parlament hier genannt wird, nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt werden. 146 Labour-Abgeordnete — unter ihnen der Premierminister und der Unterhaus-Führer — stimmten für, 116 Labour-Abgeordnete gegen das Proporzsystem. Die Unterhausabstimmung machte indes deutlich, daß in der politischen Grundsatzfrage Mehrheitswahl versus Verhältniswahl zum Europäischen Parlament nicht nur die Labour Party, sondern auch die Konservativen gespalten sind. Während die frühere Oppositionsführerin Margaret Thatcher mit einer Gruppe von 196 Abgeordneten gegen das Verhältniswahlystem stimmte, votierte der frühere Premierminister Edward Heath mit 60 anderen Tories dafür. Die Konservativen konnten sich also ebenso-wenig dazu durchringen, das vertraute und „zuverlässige" Mehrheitswahlrecht zugunsten des „unwägbaren", aber demokratischeren Verhältniswahlrechts aufzugeben. Für Nordirland hingegen hatten beide Parteien das Verhältniswahlrecht als Ausnahme akzeptiert, da anders die katholische Minderheit kein Mandat bekommen würde. In England selbst haben sie dagegen diese minderheitsfreundliche Haltung gegenüber den Liberalen nicht eingenommen
Die Liberale Partei aber sah sich um den Lohn für ihre Unterstützung der Labour-Minderheitsregierung gebracht. Für sie stellte sich mit dem Abstimmungsverhalten von Labour auch deshalb die Frage einer Aufkündigung des „Lib-Lab-Paktes". Zudem hätte die Annahme der Verhältniswahl für die Europa-wahl die Durchsetzung dieses Wahlmodus für die Wahl zum britischen Unterhaus präjudiziert, in dem die Liberalen bei einem Stimmenanteil von zuletzt 18 v. H. nur über 2 v. H.der Abgeordnetensitze verfügen
Auf der Basis der Unterhaus-Wahl vom Oktober 1974 würden die 70 britischen Wahlkreise je zur Hälfte an die Konservativen und die Labour Party gehen. Doch wird damit gerecnnel, ddD Lapour nocnstens etwa 3 der 81 Europa-Mandate erringt. Die erwartete geringe Wahlbeteiligung dürfte eher den Konservativen zugute kommen, deren Wähler sich mehr für die EG interessieren und eine durchweg höhere Wahlbeteiligung aufweisen. Anti-EG eingestellte Labour-Wähler werden sich wahrscheinlich gar nicht erst oder nur wenig an der Wahl beteiligen, zumal dann, wenn der Labour-Kandidat ein Pro-Europäer ist
Solche Überlegungen dürften mit dazu beigetragen haben, daß sich die Konservativen über eine parteizentral genehmigte Liste von rd. 200 Kandidaten um eine „Aussiebung" der Anti-Europäer offenbar mit Erfolg bemüht haben. In der Labour Party hingegen verliefen die Wahlkampfvorbereitungen komplizierter und widerspruchsvoller. Nachdem die Labour-Regierung — gegen den erklärten Willen des Parteitages und des Parteivorstands — die für die Beteiligung Großbritanniens an der Europawahl erforderlichen Gesetze mit Hilfe der Opposition -über die parlamentari schen Hürden gebracht hatte, beschloß der Vorstand, doch noch eigene Kandidaten aufzustellen. Auch die Anti-Marketeers modifizierten ihre ursprünglich strikt ablehnende Haltung und bemühten sich nun, Abgeordnete des linken, Anti-EG-Flügels der Labour Party ins Europäische Parlament zu bekommen, indem sie entsprechende Kandidaten in allen Wahlkreisen aufstellen
Sie gehen davon aus, daß das direkt gewählte Europäische Parlament in einem gradualistischen Prozeß seine legislativen Kompetenzen erweitert; auf eine solche Entwicklung, die sie ja ablehnen, wollen sie ihren Einfluß nicht verlieren, weder im Parlament noch im Ministerrat. Mit der Frage der Kandidaten-aufstellung ist unmittelbar das Problem des Doppelmandats verknüpft. Zunächst gab es in den Parteien, gerade auch beim linken Flügel der Labour Party, Überlegungen, am Doppel-mandat festzuhalten, um auf diese Weise eine enge Verbindung zwischen Westminster und dem Europäischen Parlament sicherzustellen. Inzwischen haben sich aber die beiden großen Parteien nachdrücklich gegen das Doppelmandat ausgesprochen Kooperation, ja schon Kommunikation zwischen den beiden nach Tradition, Image und Macht so ungleichen Parlamenten ist somit fürs erste zumindest erschwert. Dabei war nach dem EG-Beitritt Großbritanniens von nicht wenigen die Hoffnung geweckt worden, daß „die Abgeoraneten aus dem Iutterland der rarlamente die abgeschlaffte Volksvertretung wieder in Schwung bringen würden" auch weil sie selbst entschlossen schienen, dem Europäischen Parlament einen neuen Stil und ein stärkeres Selbtsbewußtsein zu vermitteln. Doch ist der Fortschrittsoptimismus des Jahres 1973 längst „im langsamen Rhythmus der Routine" (D. Buhl) untergegangen oder in Mißtrauen umgeschlagen, das zusammen mit der seit langem virulenten Ablehnung gegenüber der institutioneilen Fortentwicklung der Gemeinschaft die Oberhand gewonnen hat.
Die Frage drängt sich schließlich auf, warum Probleme, die anderswo — z. B. in der Bundesrepublik — eher als technische und administrative Angelegenheiten angesehen und entsprechend unpolitisch geregelt werden, in Großbritannien nicht nur zwischen den Parteien, sondern sogar in den Parteien kontrovers sind.
Man kann gar nicht genug betonen, daß politische Veränderungen, die — wie die Einfüh -rung der Direktwahl des Europäischen Parlaments — in irgendeiner Weise Bedeutung und Rolle des „geheiligten" Westminster, des britischen Parlaments tangieren, den Nerv des politischen Institutionensystems und der politischen Kultur Englands treffen. Dabei wird — infolge der voraussichtlichen Konstituierung schottischer und walisischer Versammlungen — die Souveränität von Westminster gleich „von zwei Gefahren bedroht: von der föderalistischen Dezentralisierung und von der übernationalen Zentralisierung" Denn neben der kontroversen Frage des Wahlrechts, die hinsichtlich der Wahl der Parlamente von Schottland und Wales voraussichtlich anders beantwortet wird (Verhältniswahl) als bei der Wahl zum Europäischen Parlament, stellt sich ja vor allem das Problem der Rechte dieser Parlamente bzw. Versammlungen im Verhältnis zu Westminster. In Großbritannien ist aber Begriff und Wert der Souveränität — anders als bei Ländern des Kontinents — nicht mit dem Staat oder der Nation verbunden, sondern zuallererst mit der Existenz eines frei gewählten Parlaments. Diese Institution verkörpert das Recht jedes einzelnen Bürgers, an der Entscheidung über seine Angelegenheiten mitzuwirken. Und dies nicht zuletzt aufgrund des Mehrheitswahlrechts, über das er direkt entscheidet, welche Partei im Unterhaus die Regierung stellt.
Zu diesem Umstand tritt ein weiterer hinzu. Wenn sich auch die britischen Wähler 1975 mit einer Zweidrittelmehrheit für die EG ausgesprochen haben, ist ihr Interesse an der Gemeinschaft in den letzten Jahren doch eher zurückgegangen. Heute machen viele Briten die Gemeinschaft für wirtschaftliche Schwierigkeiten verantwortlich, deren Ursa-chen im britischen Wirtschaftssystem liegen und Ausdruck einer spezifisch „britischen Krise" sind oder einen weltwirtschaftlichen Hintergrund haben. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß die EG für Großbritannien, vor allem auf dem Agrarsektor, auch spürbare Nachteile gebracht hat. Nimmt man beide Faktoren zusammen, wird die Zerrissenheit in den Parteien, ihre widerspruchsvolle Haltung gegenüber der Gemeinschaft und der Direktwahl des Europäischen Parlaments verständlich.
b) Dänemark Ähnlich wie in Großbritannien hat auch in Dänemark die vor dem Referendum über die dänische EG-Mitgliedschaft von 1972 entbrannte Kontroverse nie ganz aufgehört. So sprachen sich bei einer Meinungsumfrage im Herbst des vergangenen Jahres nur 56 v. H.
für und 44 v. H. gegen die EG aus, gegenüber einem Verhältnis von immerhin 63 : v. H.
bei dem Referendum von 1972 37).
Man darf dabei aber nicht übersehen, daß im dänischen Folketing und im politischen Establishment die positive Haltung gegenüber der EG ausgeprägter ist als in der dänischen Bevölkerung. Die Direktwahl hat hier nun allerdings neuen Zündstoff geliefert, der die sogenannte . Volksbewegung gegen die EG'wieder belebt hat. Nachdem sie sich zunächst nicht an der Direktwahl beteiligen wollte, beschloß sie, eine eigene Kandidatenliste aufzustellen, die alle EG-Gegner, also auch die aus den bürgerlichen Parteien, zusammenfassen und möglichst viele von ihnen ins Europäische Parlament bringen sollte —ein Vorhaben, das sich wegen der ideologischen Differenzen der von Linksparteien beherrschten Anti-EG-Bewegung nicht realisieren ließ. Die 16 Abgeordneten, die Dänemark in das Europäische Parlament entsendet, können die dänischen Wähler aus mehr als 200 Kandidaten auswählen, die ihnen die zwölf im Folketing vertretenen Parteien und die Anti-EG-Bewegung auf ihren jeweils 20 Personen umfassenden nationalen Kandidatenlisten präsentieren. Wegen der ausgeprägten Europa-Gleichgültigkeit und der aktualisierten Ablehnung der Gemeinschaft ist die Wahlbeteiligung hier noch unvorhersehbarer als anderswo. Gerade deshalb und wegen der von der Volksbewegung wiederholt vorgebrachten Behauptung, daß beinahe die Hälfte der dänischen Bevölkerung nach wie vor eine Mitgliedschaft Dänemarks in der EG ablehnt, ist hier (wie eben auch in Großbritannien und in Frankreich) der Ausgang der Wahl und die Wahlbeteiligung von besonderem Interesse.
c) Frankreich Versucht man die innenpolitische Auseinandersetzung um die Direktwahl in Frankreich darzustellen und zu verstehen, sollte man sich vergegenwärtigen, daß Frankreich dem europäischen Integrationsprozeß zwar einerseits wesentliche Anstöße gegeben hat, beispielsweise durch den von Jean Monnet konzipierten Schumanplan, der zur Montanunion führte, ihn aber andererseits auch nicht selten verzögert oder gar verhindert hat, wie beispielsweise schon früh mit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft
Auch die Direktwahl stand lange Jahre unter dem französischen Vorbehalt gegen eine Aufwertung oder gar Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments. Erst Präsident Giscard d’Estaing versuchte diese Politik aufzugeben — gegen den erklärten Widerstand aus dem Lager der eigenen Gefolgschaft. Er ermöglichte zuächst die Unterzeichnung jener denkwürdigen Schlußerklärung auf der Europäischen Ratssitzung in Paris vom 10. Dezember 1974, in deren Ziffer 12 es heißt: „Die Regierungschefs haben festgestellt, daß das Vertragsziel der allgemeinen Wahl des Europäischen Parlaments so bald wie möglich verwirklicht werden sollte . . . Die Kompetenzen des Parlaments werden erweitert, insbesondere durch Übertragung bestimmter Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaften."
Doch hat sich diese Auf-fassung nicht durchsetzen können. Nicht nur wegen des Widerstands aus Westminster und dem Folketing, sondern eben auch wegen der ablehnenden Haltung von Gaullisten und Kommunisten, die in der Direktwahl-Frage gewissermaßen eine „Koalition" für nationale Einheit und Zuverlässigkeit gebildet haben.
Anfang 1976 billigte das Exekutivkomitee der gaullistischen U. D. R. („Union des Democrates pour la Republique") einen Entschließungstext, den der ehemalige französische Außenminister und damalige Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Nationalversammlung, Couve de Murville, verfaßt hatte. Darin heißt es: Mit einem direkt gewählten Europäischen Parlament würde die Gefahr heraufbeschworen, daß „nationale Streitfragen politischer Parteien künftig auf europäischer Ebene ausgetragen werden". Da ein solches Parlament zudem dazu tendiere, seine Zuständigkeiten zu erweitern, würden zwangsläufig „die alten Zänkereien über die Supranationalität wieder zum Leben erweckt werden" Zu den profiliertesten Gegnern gehören der Erzgaullist und frühere Ministerpräsident Michel Debre, der die mögliche Aufwertung des Europäischen Parlaments als „ein Verbrechen an der Nation" brandmarkte, der ehemalige Gaullisten-Generalsekretär Sanguinetti („Das Europäische Parlament ist der Anfang vom Ende unserer Nation") und — seit er nicht mehr Regierungschef ist — auch Jacques Chirac. Ebenso wie sie sprechen und argumentieren die Kommunisten, die vor allem befürchten, daß ein direkt gewähltes Parlament zum Instrument der amerika-und NATO-freundlichen Parteien werden könnte, wodurch die deutsch-amerikanische Vorherrschaft in Europa gefestigt würde. Auf dem Parteikongreß im Mai dieses Jahres hat der Generalsekretär der KPF, G. Marchais, diese Haltung erneut bestätigt.
Nur die kleineren Parteien, also die giscardistischen Unabhängigen Republikaner (neuerdings:
Republikanische Partei/PR), die Radikalsozialisten um Servan-Schreiber und die Zentristen um Lecanuet, die sich in der „Union pour la Democratie franaise" (UDF) zusammengefunden haben, sowie ein kleiner Kreis der Gaullisten um Chaban-Delmas ha-ben die Haltung des französischen Staatspräsidenten unterstützt.
Demgegenüber setzte sich der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, F. Mitterrand, von der Anti-EG-Koalition ab, distanzierte sich aber auch von Giscard d'Estaing, Unmißverständlich stellte er fest, daß das Europäische Parlament existiere und es nicht mehr um das Für und Wider dieser Institution gehe, sondern allein darum, wie es gewählt werde. Die Sozialisten würden ihre Zustimmung zur Direktwahl deshalb von zwei Bedingungen abhängig machen: 1. Müsse das Europäische Parlament nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden und 2. dürfe diese außenpolitische Entscheidung innenpolitisch nicht mißbraucht werden, denn Frankreichs Linke werde durch das Mehrheitswahlsystem mit ihren bevölkerungsstarken Wahlkreiszentren regelmäßig gegenüber den dünnbesiedelten ländlich-konservativen Wahlkreisen benachteiligt
Eine europapolitische Grundsatzdebatte hat es in dieser von parteitaktischen Manövern und nationalistischen Obertönen bestimmten Auseinandersetzung allerdings genausowenig gegeben wie in Großbritannien und in Dänemark, „so daß paradoxerweise die Gaullisten ein von ihnen nicht gewolltes Zustimmungsgesetz passieren ließen, die Kommunisten sich zur Teilnahme an der Europa-Wahl bereit erklärten, deren erklärtes Ziel und mögliche Folgen sie verurteilten, und die Regierung und die Pro-Europäer ihrerseits vor der Aufgabe standen, eine zunehmend verwirrte Öffentlichkeit zu mobilisieren, indem man ihr gleichzeitig klarmachte, daß die parlamentarische Versammlung . . . keinerlei neue Befugnisse erhalten dürfe" Dieses „Paradoxon" läßt sich jedoch insofern erklären, als es den Gaullisten ja nicht dar-um ging, über ihre — noch nicht einmal einheitliche — Ablehnung der Direktwahl die Regierungskoalition zu Fall zu bringen, weshalb sich RPR-Führer Chirac auch um eine Verzögerung dieser Entscheidung bemühte Auch die Kommunistische Partei machte Zugeständnisse, so daß Anfang 1977 zwischen Gaullisten, Kommunisten und Sozialisten, die sich für ein bedingtes „Ja" zuerst ausgesprochen hatten, ein Konsens be-stand, der in der Formel zum Ausdruck kam: * „Die Römischen Verträge voll und ganz, aber nicht darüber hinaus."
Um jedoch weitere Verzögerungen zu vermeiden, vor allem aber, um sich gegen den „Hausarrest" zu wehren, unter den die Gaul-listen die Regierung mit ihrer „Zustimmung von Fall zu Fall" gestellt hatten, setzten der Präsident und die französische Regierung unter Premierminister Barre die Parlamentsmehrheit ihrerseits unter Druck, indem Barre das Zustimmungsgesetz zum Brüsseler Direktwahlbeschluß mit der Vertrauensfrage verband, die so kurz vor den Parlamentswahlen niemand zu stellen wagte Das Ratifizierungsgesetz passierte daraufhin ohne Abstimmung die Nationalversammlung, „doch für Europa kann sich dieser Erfolg noch als Pyrrhussieg erweisen", wie ein Kommentator meinte
Dies wurde bereits im Beschluß selbst sichtbar. Er nahm die vom Europäischen Rat 1974 vorgesehene Übertragung von Legislativkompetenzen zurück und zugleich als Zusatzartikel eine Entscheidung des Verfassungsrates auf, wodurch der Übertragung nationaler Hoheitsrechte an jedwede internationale Organisationen sehr enge Grenzen gezogen werden Die zunächst umstrittene Frage des Wahlverfahrens wurde schließlich so geregelt, daß sich die Parteien auf das Verhältniswahlrecht einigten — ein Verfahren, das den Linken wie den Rechten entgegenkam.
Doch war damit der Konflikt keineswegs beigelegt, weder zwischen noch in den Parteien;
er hielt auch nach den Parlamentswahlen vom März 1978 unvermindert an: „Direktwahl als Schönheitswettbewerb?" So hielt beispielsweise die KPF den Sozialisten vor, ein „Europa des Doppelspiels" zu verfolgen, als diese Anfang November 1978 in Lille dem gemeinsamen Wahlprogramm der sozialdemokratischen EG-Parteien zustimmten, was der KPF selbst prompt den Vorwurf einbrachte, eine „chauvinistisch-kleinbürgerliche" Haltung einzunehmen Zudem hatte sich ihr Parteiführer, Marchais, im Juli 1978 in dem monatlich erscheinenden gaullistischen Blatt L'Appel zusammen mit Gaullisten zur Direktwahl geäußert. Dies ist in einem Land, das durch die Konfrontation zwischen Linken und Rechten geprägt ist, gewiß ein ungewöhnliches Ereignis Bei dem gaullistischen „Europa-Kongreß" wurde auch der Gegensatz zwischen Zentristen und Gaullisten erneut sichtbar.
Zu einem weiteren Höhepunkt in der Auseinandersetzung um die Direktwahl kam es im Dezember des vergangenen Jahres aus Anlaß der Debatte über die Verwendung von EG-Geldern für den Europawahlkampf. Wiederum stimmten Gaullisten und Kommunisten zusammen und lehnten mit 246 gegen 124 Stimmen der giscardistischen UDF die Verwendung von Brüsseler EG-Geldern im französischen Europawahlkampf ab. Damit erlitt die Regierung innerhalb kurzer Zeit ihre zweite Abstimmungsniederlage, nachdem sie kurz zuvor bei der Verabschiedung einer Brüsseler Novellierungsvorlage für die Harmonisierung der Mehrwertsteuer bereits zum ersten Mal überstimmt worden war.
Diese zweite Abstimmungsniederlage hat empfindliche Folgen. Nun dürfen weder die politischen Parteien noch Presse, Rundfunk und Fernsehen für den am 29. Mai beginnenden Wahlkampf die finanziellen Mittel aus Brüssel in Anspruch nehmen. „Wir sagen nein zur Korrumpierung unseres Geistes durch ausländisches Geld, das ist unerträglich", rief Debre während der Debatte in der Nationalversammlung Die Sozialisten unter Francois Mitterrand, die ja die Direktwahl befürworten, hatten sich der Stimme enthalten, da sie weder die Regierung stützen wollten noch sich der „Koalition" von Gaullisten und Kommunisten anschließen konnten. Ohne Erfolg blieb zuletzt auch der Vorschlag von Präsident Giscard d'Estaing, alle politischen Parteien sollten sich in einer Art nationalem Pakt gegen die Erweiterung der Befugnisse des direkt gewählten Europäischen Parlaments vereinigen. Während Mitterrand diesen Vorschlag für überflüssig erachtet, da keine Partei in Frankreich je das Gegenteil verlangt habe, geht er Chirac nicht weit genug. Die Gaullisten wollen verhindern, daß die Römischen Verträge verändert werden
2. Transnationale Parteienzusammenschlüsse: Europäisierung nationaler Parteiensysteme? Bereits vor dem Wahltermin hat die Direktwahl innenpolitische Folgen gehabt. Dabei ist ihre Rückwirkung auf die nationalen Partei-ensysteme möglicherweise noch bedeutsamer als jene, die in der zuvor dargestellten innenpolitischen Auseinandersetzung um die Europawahl und ihre nationale Ausgestaltung sichtbar geworden ist, zumal diese Kontroversen im wesentlichen auf nur drei EG-Länder beschränkt blieben. Es überrascht deshalb nicht, daß schon in kurzer Zeit die einschlägige Literatur einen bemerkenswerten Umfang erreicht hat
Ansätze zur EG-orientierten Zusammenarbeit ideologisch verwandter Parteien reichen in die sechziger Jahre oder weiter zurück. Doch erst aus Anlaß der Vorbereitung des Europa-Wahlkampfes, der Durchführung der Direktwahl und im Hinblick auf die zukünftige (ja seit langem in Fraktionen organisierte) Zusammenarbeit der Parteien im Europäischen Parlament haben sich diese Ansätze organisatorisch gefestigt und programmatisch profiliert.
a) Der Bund der Sozialdemokraten Noch bevor die europäischen Regierungschefs im Dezember 1974 in Paris den Weg für die Direktwahl grundsätzlich freigegeben hatten, wandelten die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien ihr seit den Anfängen der EWG und des Europäischen Parlaments bestehendes „Verbindungsbüro''im April 1974 in den „Bund der Sozialdemokratischen Parteien in der EG" um. Ihm gehören heute zehn Parteien aus allen EG-Ländern an:
die Belgische Sozialistische Partei mit ihren beiden Sprachgruppen: der wallonischen „Parti Socialiste Beige" (PSB) und der flämischen „Belgische Socialistische Partij" (BSP), die dänische „Sozialdemokratiet" (S), die SPD, die „Parti Socialiste" (PS) Frankreichs, die britische „Labour Party" (Lab.) sowie die nordirische „Social Democratic and Labour Party" (SDLP), die irische „Labour Party"
(Lab.), die „Partito Socialista Italiano" (PSI) und die „Partito Socialista Democratico Italiano" (PSDI), die „Parti Ouvrier Socialiste Luxembourgeois" (POSL) und die niederländische „Partij van de Arbeid" (PvdA).
Im Januar 1976 beschloß die Konferenz der sozialistischen/sozialdemokratischen Parteivorsitzenden, eine Europawahl-Plattform auszuarbeiten und setzte zur Vorbereitung vier Arbeitsgruppen ein, die die europapolitischen Arbeitsschwerpunkte markierten: Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Außenbeziehungen sowie Demokratie und Institutionen. Wie kaum anders zu erwarten, stieß der im Mai 1977 vorgelegte Entwurf auf Widerspruch. Trotz der nicht unerheblichen ideologischen Differenzen kam es am 24. Juni 1978 im Brüsseler Egmont-Palais immerhin zur Unterzeichnung einer „Politischen Erklärung der Parteivorsitzenden". Dieser Kompromiß stellte die Grundlage für den während des 10. Kongresses des Bundes der sozialdemokratischen Parteien am 10. /12. Januar 1979 in Brüssel verabschiedeten „Wahlaufruf" dar
Im Mittelpunkt dieses Programmes, das von einer Analyse der Fehlentwicklungen des kapitalistischen Wirtschaftssytems ausgeht, ste-hen Forderungen wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Einführung der 35-StundenWoche und weitere Strukturreformen der Lebens-und Arbeitsbedingungen, insbesondere: Demokratisierung der Wirtschaft, qualitatives, bedürfnisorientiertes Wirtschaftswachstum, Verbraucherschutz, Kontrolle multinationaler Konzerne sowie für den Agrarmarkt Strukturreformen und Ausgleich zwischen Produktion und Verbrauch. Umweltschutz, Beseitigung der Diskriminierung (besonders der Frauen), Erweiterung und Verteidigung der Menschenrechte und nicht zuletzt die quantitative und qualitative Verbesserung der Entwicklungshilfe sind weitere programmatische Zielsetzungen.
Daß dieser Wahlaufruf von den 350 Delegierten aus den neun EG-Staaten einstimmig verabschiedet wurde, kann nicht über die auch weiterhin bestehenden Spannungen hinwegtäuschen. Der als Präsident wiedergewählte Sekretär der französischen Sozialistischen Partei, Robert Pontilion, betonte zwar, daß der Bund in der Gemeinschaft drei Millionen Mitglieder und rund 50 Millionen Wähler repräsentiere, doch offenbarte schon die Wahl zum Vorstand, in den auf Betreiben der britischen Labour Party der frühere Industrieminister und Anti-Marketeer, Tony Benn, aufgenommen werden mußte, die Kluft zwi-sehen Anspruch und Wirklichkeit. Auch die politischen Gegensätze in so zentralen Fragen wie Wirtschaftswachstum und Investitionslenkung waren nicht zu übersehen
Während die nationalen Interessen und Zielsetzungen, die hinter diesen ideologischen Differenzen sichtbar werden, auch weiterhin erhebliche Bedeutung behalten und insofern einer Europäisierung der nationalen sozialistischen Parteiorganisationen enge Grenzen setzen, ist auf europäischer Ebene eher mit einer Stärkung zu rechnen, zumindest solange das Europäische Parlament ohne entscheidende Kompetenzen auskommen muß. Immerhin sind die Sozialististen schon heute die stärkste Fraktion und dürften das — den meisten Prognosen zufolge — auch nach der Wahl bleiben; sie verfügen über eine gute Organisation und finden zudem bei etwa der Hälfte der EG-Kommission aufgrund politischer Übereinstimmung Unterstützung
b) Die Europäische Volkspartei (EVP)
Die am 29. April 1976 von zehn christlich-demokratischen bzw. Zentrumsparteien aus sieben EG-Staaten gegründete „Europäische Volkspartei" ist aus der weiterhin bestehenden „Europäischen Union christlicher Demokraten" (EUCD) hervorgegangen, die ihrerseits Nachfolgerin der schon in den späten vierziger Jahren entstandenen „Nouvelles Equipes Internationales" (NEI) war. Als korporative Mitglieder gehören der EVP folgende Parteien an: aus Belgien die flämische „Christlijke Volkspartij" (CVP) und die wallonische „Parti Social-Chretien" (PSC), die CDU und CSU, aus Frankreich das „Centre des Democrates Sociaux" (CDS) (seit 1976 wiedervereinigt mit dem „Centre Democratie et Progres"), die irische „Final Gael" (FG), aus Italien die „Democrazia Christiana" (DC) und die „Südtiroler Volkspartei" (SVP), aus Luxemburg die Chretien (PCS) „Parti Social und schließlich die niederländische „Christlich-Demokratischen Allianz" (CDA), der seit 1973 bestehenden konfessionellen Sammlungspartei. Weder die konservativen Parteien Großbritanniens und Dänemarks noch die französischen Gaullisten sind der EVP beigetreten, woran auch der Verzicht auf die Kennzeichnung „christlich" im Parteinamen nichts änderte
Auf Initiative von CDU und CSU kam es dann am 24. April 1978 in Salzburg mit der Gründung der „Europäischen Demokratischen Union" (EDU) zu einem weiteren Zusammenschluß christlich-konservativer Parteien. Als Mitglieder trugen sich neben den bundesdeutschen Unionsparteien, die Gaullisten (RPR), die britischen (Cons.), dänischen (KF) Und norwegischen Konservativen (Hoyre), die österreichische Volkspartei (ÖVP), die Nationale Sammlungspartei Finnlands (KOK), die Gemäßigte Sammlungspartei Schwedens (M) und das Soziale Demokratische Zentrum Portugals (GDS) ein, während die französischen Zentristen wie auch die christlich-demokratischen Parteien Belgiens, der Niederlande und Italiens jede Mitarbeit ablehnten — wegen innenpolitischer Rücksichten und nicht zuletzt aufgrund der betont antikommunistischen und antisozialistischen Zielsetzung der EDU. Zentrale Punkte im Programm der EVP sind das Bekenntnis zum „personalen Menschenbild", zu den bürgerlichen Freiheitsrechten, zur pluralistisch-repräsentativen Demokratie und zur europäischen Kultur. Im wirtschaftlichen Bereich soll die soziale Marktwirtschaft „Kapitalismus ebenso wie Kollektivismus überwinden“. Hinsichtlich der institutioneilen Fortentwicklung der Gemeinschaft fordert die EVP: „Die Befugnisse des Europäischen Par-laments müssen erweitert werden. Es muß uneingeschränkte Haushalts-und Kontrollrechte und zunehmend auch legislative Rechte erhalten." c) Die Europäischen Liberalen Demokraten (ELD) Am 26. /27. März 1976 vereinigten sich in Stuttgart zunächst neun der damals vierzehn anwesenden liberalen Parteien zur „Föderation der Liberalen und Demokratischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft", wie der offizielle Geburtsname lautet. Zu den Gründungsmitgliedern, die die Satzung und die programmatischen Grundsätze („Stuttgarter Erklärung") sofort unterzeichneten, gehörten aus Belgien die „Parti Liberal" (PL) (Brüssel), die wallonische „Parti de la Liberte et du Progres" (PLP) und die flämische „Partij voor Vriheid en Vooruitgang" (PVV), die dänische „Venstre" (V), die F. D. P., aus Frank-reich die „Parti Republicain Radical et Radical-Socialiste", die „Partito Liberale Italiano" (PLI), die luxemburgische „Parti Democratique" (PD) sowie die niederländische „Volks-» partij voor Vrijheid en Demokratie (VVD). Auf dem ersten Kongreß der ELD traten vier weitere Parteien bei: die dänische „Radikale Venstre" (RV), die britische „Liberal Party" (Lib), die „Partito Republicano Italiano" (PRI) und die giscardistische Republikanische Partei (PR).
Gerade an ihrem Beispiel zeigt sich, wie schwierig es für die bürgerlichen Mitteparteien ist, innerparteiliche, palamentarisch-nationale und transnational-europäische Inter-essen und Zielsetzungen miteinander zu vereinbaren. Während die PR auf europäischer Ebene der ELD angehört, bildet sie seit den französischen Parlamentswahlen vom März 1978 in der „Union pour la Democratie Francaise"
eine Fraktionsgemeinschaft mit den rechtsliberalen Radikalsozialisten, die gleichfalls der ELD angehören, und dem Demokratischen Zentrum (CDS), das Mitglied der EVP ist. Der Austritt der „Bewegung der linken Radikalsozialisten" (MRG) und der „Radikalen Venstre" macht deutlich, daß auch andere Parteien Schwierigkeiten haben mit ihren europäischen Wahlverwandtschaften.
Auf ihrem 2. Kongreß im November 1977 in Brüssel hat die ELD für die Direktwahl ein Wahlprogramm verabschiedet, das sich insbesondere für die weltweite Durchsetzung und Sicherung der Menschen-und Bürgerrechte sowie den Ausbau der EG zu einer „echten Union" ausspricht.
IV. Erste Direktwahl: Daten
1. Rechtsgrundlagen und Wahlmodus Allgemeine Rechtsgrundlage ist der am 20. September 1976 vom Rat der Außenminister der EG-Staaten unterzeichnete Beschluß und Akt „Zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung" Er ist die verbindliche Grundlage für die Festsetzung von nationalen Wahlgesetzen, da zumindest die erste Europawahl noch nicht nach einem EG-einheitlichen Wahlverfahren abgewickelt wird.
Es ist im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich, auf die nationalen Wahlgesetze bzw. auf die Europa-Wahlgesetzgebung in den EG-Ländern einzugehen Für die Bundesrepublik ist dies zudem schon mehrfach geleistet worden Wenn es auch noch kein einheitliches Europa-Wahlrecht gibt, haben doch die nationalen Europa-Wahlgesetzgebungen in den Jahren 1977/78 eine gewisse Annäherung gebracht, die die zukünftige Entwicklung präjudizieren können. Großbritannien war kurz davor, angesichts der innenpolitischen Abhängigkeit von den Liberalen, das traditionelle Mehrheitswahlrecht zugunsten der Verhältniswahl aufzugeben. Frankreich hingegen hat sein gewohntes Wahlsystem, die absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl in einem zweiten Wahlgang, nicht beibehalten und wendet nun die Verhältniswahl an, wobei — wie in der Bundesrepublik — nach der 5°/0-Sperrklausel verfahren wird. Es spricht daher einiges dafür, daß bei der für die zweite Direktwahl in fünf Jahren angestrebten Vereinheitlichung des Wahlmodus die Verhältniswahl die besten Aussichten hat 2. „Wählt, wen ihr wollt, aber wählt" — oder: Wie groß ist die Unlust an der Europa-Wahl?
Doch fürs erste hat man sich nicht einmal auf einen einheitlichen Wahltermin einigen können: In vier Ländern — Großbritannien, Irland, Dänemark und Niederlande — wird der Sonntag noch so geheiligt, daß er für die Durchführung von Wahlen nicht in Frage kommt. Dort findet die Wahl bereits am Donnerstag, dem 7. Juni 1979, statt. An diesem Tag können 55 Millionen wahlberechtigte Bürger ihre Stimme abgeben. In den anderen fünf EG-Ländern mit zusammen etwa 125 Millionen Wahlberechtigten wird erst am darauffolgenden Sonntag (10. Juni) gewählt. Die Wahlergebnisse werden am gleichen Tag in allen Ländern bekanntgegeben, weil man befürchtet, daß sich andernfalls die Ergebnisse der Teilwahl vom Donnerstag auf die vom Sonntag auswirken könnten.
Groß ist der organisatorische Aufwand, erheblich der finanzielle Einsatz in diesem ersten Euro-Wahlkampf, der den beiden Wahltagen vorausgeht. Die EG-Kommission hat 17 Millionen „Europäische Rechnungseinheiten'1 (ERE — 1 ERE z. Z. 2, 50 DM) Wahlkampf-kosten bereitgestellt. Legt man diesen Betrag auf die zu wählenden 410 Abgeordneten um, dann ergibt sich ein „Wahlkampfkosten-Beihilfesatz" von rund 110 000 DM pro Abgeordnetenmandat. Dazu kommen in unterschiedlicher Höhe weitere Gelder aus den nationalen Haushalten. So hat der Bundestag beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit mit der Verabschiedung des Europawahlgesetzes (EUWG) im März 1978 für die Europa-wahl — wie bei Bundestagswahlen auch — eine Wahlkampfkosten-Erstattung von 3, 50 DM pro Wahlberechtigten bewilligt Das sind rund 147 Mio. DM. Da die Europawahlkampfkosten wahrscheinlich deutlich darunter bleiben, fließen nicht unerhebliche Mittel in die Parteikassen, deren Löcher durch Spendenrückgang in den vergangenen Jahren größer geworden sind.
Ob allerdings mit Wahlslogans wie „Freiheit statt Volksfront" (CSU), „Politik für die Freiheit — Glück für die Menschen" (CDU) oder Apellen: „Deutsche, sagt ja zu Europa" (SPD)
und „Liberale für Europa" (FDP) das wichtigste Wahlziel, die von allen Parteien gleichermaßen erhoffte hohe Wahlbeteiligung erreicht wird, erscheint recht zweifelhaft.
Im Januar 1979 hat die EG-Kommission zum letzten Mal vor dem Wahltag ihre als „Eurobarometer" bekannt gewordene Meinungsumfrage veröffentlicht. Zwischen dem 15. und 21. November des vergangenen Jahres wurde in den neun EG-Ländern durch acht im „European Omnibus Survey" zusammengefaßte Fachinstitute ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt befragt, insgesamt 8 702 Personen Gegenstand der Befragung waren Einstellungen zur Europäischen Gemeinschaft und das voraussichtliche Wählerverhalten bei der Europawahl. Da die gleichen Fragen bereits mehrfach gestellt worden sind, lassen sich die jeweils aktuellsten Befragungsergebnisse mit früheren vergleichen und Veränderungen feststellen.
Fragt man zunächst allgemein, welches Interesse die Europäische Gemeinschaft in der Öffentlichkeit findet dann zeigt sich, daß der Anteil der Personen, die nach eigenen Angaben sehr an den Problemen der Gemeinschaft interessiert sind, zwischen 1973 und 1978 in fast allen Ländern zurückgegangen ist. Dabei interessieren sich Männer im Alter von 40 Jahren und darüber mehr für die Gemeinschaft als Frauen. Aber in allen Altersgruppen und bei den Männern wie bei den Frauen zeigen jeweils mehr als die Hälfte der Befragten ein nur geringes Interesse an der Gemeinschaft. Für die Herausbildung einer Einstellung zur Direktwahl und das damit zusammenhängende Wählerverhalten ist neben dem allgemeinen Interesse an der Gemeinschaft die Information der Wahlberechtigten über das Europäische Parlament und die Europawahl eine notwendige Voraussetzung. Nimmt man nur den EG-Durchschnittwert, dann scheint der Bekanntheitsgrad des Parlaments leicht zugenommen zu haben. Der Länder-Vergleich zeigt jedoch, daß sich nur in Belgien, Dänemark, der Bundesrepublik, Irland, Italien und den Niederlanden der Informationsstand verbessert hat. Demgegenüber hat in Frankreich und insbesondere in Großbritannien in den vergangenen 18 Monaten die Zahl derer leicht oder deutlich zugenommen, die in letzter Zeit über das Europäische Parlament weder etwas gehört noch gelesen haben. Das ist um so erstaunlicher, weil gerade in diesen beiden Ländern — wie oben dargestellt — seit Monaten über die Direktwahl eine kontroverse Diskussion geführt wird, die auch in den Medien umfassend dokumentiert und gewürdigt wurde.
Was nun die konkrete Einstellung zur Direktwahl selbst angeht, hat die Befragung im Herbst 1978 im wesentlichen das Umfrageergebnis vom Mai 1978 bestätigt. Im EG-Durchschnitt sind v. H. für die Direktwahl, 11 v. H. dagegen, und fast ein Fünftel hat ein Dreivierteljahr vor der ersten Europawahl noch keine Meinung. Die Niederlande erreichen mit 82 v. H.den höchsten Pro-Direktwahl-Anteil, Dänemark mit 54 v. H.den niedrigsten 70). Dabei ergibt sich der scheinbar paradoxe Tatbestand, daß die Zahl der Befürworter größer ist als die derjenigen, die überhaupt über die Direktwahl Bescheid wissen. Aber auch hier gilt die geläufige Einsicht, daß die Europa-Wahl prinzipiell, also formal und abstrakt (Institution der Wahl), Zustimmung findet, als solche aber kaum attraktiv ist. Außerdem sind zur Bildung eines Tendenzindikators für die Wahlbeteiligung die von den Befragten der Wahl subjektiv zugeschriebene Bedeutung und die Bereitschaft, für eine Partei zu stimmen, wesentlich.
Im EG-Durchschnitt wertet die Hälfte der Befragten die Europawahl seit zwei Jahren als ein bedeutendes Ereignis, während fast ein Drittel die Wahl als Ereignis geringer politischer Bedeutung einstuft und immerhin ein Fünftel nicht antwortet. Dem Euro-Barometer ist zu entnehmen, daß ein Zusammenhang besteht zwischen der Befürwortung der Wahl und der ihr zugeschriebenen Bedeutung. Demgegenüber war ein Zusammenhang zwischen letzterem Merkmal und der subjektiven Zuordnung zur ideologischen Links/rechts-Dimension nicht nachzuweisen
Von allen in der Gemeinschaft befragten Wahlberechtigten geben durchschnittlich 52 v. H. an, daß sie „bestimmt" und 25 v. H., daß sie „wahrscheinlich" wählen werden. Aus dieser Absichtserklärung zu folgern, daß sich im ungünstigsten Fall an der Wahl wenig mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten, im günstigsten Fall aber mehr als Dreiviertel, also rd. 140 Mio. EG-Bürger an der Wahl beteiligen, erscheint jedoch nicht gerechtfertigt. Durch eine ergänzende Zusatzfrage („wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament abgeschlossen sind, interessiert es Sie dann, wie die Sitzverteilung für die einzelnen Parteien in diesem Parlament ausgefallen ist oder nicht?) läßt sich allenfalls indirekt etwas über die Zuverlässigkeit dieser Antworten aussagen. Danach interessieren sich v. H.der „Wähler" auch für die Wahlergebnisse, während eine nicht unerhebliche „Wähler" -Minderheit von 26 v. H. wenig oder gar nicht interessiert ist. Umgekehrt sind 14 v. H.der „Nicht-Wähler" interessiert und 81 v. H. wenig oder gar nicht interessiert. 72) Es ist gewiß bemerkenswert festzustellen, daß mit Ausnahme von Belgien, Luxemburg und der Bundesrepublik die Zahl derer, die am Wahlergebnis interessiert sind und feste Wahlabsichten haben (72 v. H.), in jedem Land unter der Gesamtzahl der Befragten liegt, die erklärten, „bestimmt" oder „wahrscheinlich" zu wählen.
Ein Zusammenhang besteht auch zwischen Parteizugehörigkeit bzw. -affinität und Wahlbeteiligungsbereitschaft. Je stärker sich die befragten Personen einer politischen Partei verbunden fühlen, desto größer ist ihre Wahlbereitschaft. Im EG-Durchschnitt gaben 36 v. H.der Befragten an, mit einer Partei „sehr" oder „ziemlich verbunden" zu sein
V. Erste Direktwahl: Spekulationen 1. „Hochrechnungen" auf das Wahlergebnis Zwar sind konkrete innenpolitische Auswirkungen der Europawahl, zumindest in einigen Ländern, längst offenkundig, zwar lassen sich die EG-und Direktwahleinstellung der Bevölkerung und ihre Wahlbeteiligungsbereitschaft mehr oder weniger zuverlässig ange-ben, das Europäische Parlament selbst aber ist einstweilen nur Gegenstand von Vermutungen. Das gilt bereits für seinen Sitz mehr noch für seine Zusammensetzung nach der Wahl und erst recht für sein zukünftiges politisches Gewicht. *
Verständlicherweise richten sich die Spekulationen vor allem auf die mögliche Zusammensetzung, d. h. auf die Verteilung der Mandate auf die Parteien, bzw. ihren Stimmenanteil. Auf der Grundlage der im Herbst 1978 von der EG-Kommission veranlaßten Umfrage, die hier schon mehrfach zitiert worden ist, wurde Anfang dieses Jahres eine solche Schätzung vorgenommen. Gewiß ist dies keine „Hochrechnung" im eigentlichen Sinne. We-gen ihres aber zweifellos gegebenen Informationswertes und zum Vergleich sowohl mit bisherigen nationalen Wahlergebnissen als auch mit dem tatsächlichen Ergebnis der Europawahl im Juni sei sie dem Leser dieses Beitrages nicht vorenthalten. 2. Politisierung und Demokratisierung versus Diplomatie und Bürokratie: Kann das direkt gewählte Europäische Parlament eine Strukturreform der Gemeinschaft herbeiführen?
Wenn hier von Politisierung geredet wird, dann in dem Sinne, daß sich Individuen der wechselseitigen Abhängigkeit aller gesell-schaftlichen Lebensbereiche und der damit verbundenen Interessenkonflikte bewußt werden, Politik also nicht mehr auf den staatlichen Bereich beschränkt sehen, und das auch in ihrem Verhalten zum Ausdruck bringen. Von Politisierung gesellschaftlicher Handlungsfelder ist dort die Rede, wo politische Ideen und Formen der Willensbildung in gesellschaftliche Einrichtungen wie z. B. Hochschulen und Betriebe oder eben auch in überstaatliche Institutionen wie die Europäische Gemeinschaft eindringen und Interessenkonflikte sichtbar gemacht werden. Wünschenswert erscheint also eine Politisierung im Sinne dieser Definition überall dort, wo Interessengegensätze, Abhängigkeitsverhältnisse etc. bestehen, ohne daß dies bereits den Betroffenen bewußt wäre bzw. ihr Verhalten bestimmen würde. Insoweit gewinnt Politisierung auch unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle politisch-gesellschaftlichen Handelns an Bedeutung. Daß dies längst auch für den Be-reich überstaatlicher Politikverflechtung zutrifft, wird am Beispiel der EG offenkundig. Ihre Organe sind mit hoheitlichen Regelungsbefugnissen ausgestattet, deren Anwendung sich unmittelbar innerstaatlich (Gemeinschaftsrecht) und damit für den einzelnen Bürger (als Verbraucher, Arbeitnehmer etc.) auswirkt. über die primär auf Bewußtseins-und Verhaltensänderung abzielende Politisierung hinaus gehen Zielsetzungen und Strategien, die unter dem Begriff der Demokratisierung zusammengefaßt werden. Historisch gesehen stellt Demokratisierung zunächst in einem besonderen, weil begrenzten Sinne die Durchsetzung von Formen und Prinzipien der Volksherrschaft dar. Wenn man davon ausgeht, daß Herrschaft von Menschen über Menschen historisch bedingt ist, dann kommt es in einem demokratischen Staatswesen darauf an, daß diejenigen, die staatlich-autoritative Entscheidungsmacht ausüben, ihre Herrschaftsausübung legitimieren, d. h. sie als rechtmäßig und anerkennenswürdig ausweisen, ihr also soziale Geltung verschaffen können. Umgekehrt kommt es für das von der unmittelbaren Herrschaftsausübung ganz oder doch weitgehend ausgeschlossene, aber betroffene Volk darauf an, an diesem Prozeß mittelbar (repräsentative Demokratie) oder unmittelbar (plebiszitäre Demokratie) beteiligt zu werden — sei das nun über das Parlament, die Öffentlichkeit, Wahlen, Parteien, Volksentscheid, Bürgerinitiativen etc.
Im Verlauf der letzten einhundertfünfzig Jahre haben wissenschaftlich-technische Revolution, Industrialisierung und Bevölkerungsentwicklung einen tiefgreifenden sozialen Wandlungsprozeß bewirkt und zugleich einen Staat neuen Typs hervorgebracht. Einen Staat „mit umfassenden Planungsfunktionen auf allen Sektoren, der vornehmlich Dienstleistungen zu erbringen, individuelle und kollektive Daseinsvorsorge zu regulieren und permanent Entwicklung und sozialen Wandel institutionell zu antizipieren hat, einen per definitionem initiativen Interventionsstaat also" In dem Maße nun, in dem die Staatstätigkeit quantitativ zunimmt, sich aber auch qualitativ (z. B. Planung) verändert und in immer mehr Lebensbereiche gestaltend eingreift, in dem Maße nimmt auch das Problem der demokratischen Legitimation des politisch-administrativen Systems an Bedeutung zu. Daß und in welchem Umfang sich während dieser Zeit die Legitimationsanforderungen gewandelt haben, läßt sich besonders gut an der Entwicklung des Wahlrechts ablesen. War es anfangs von Geschlecht, Rasse, Besitz, Stand u. a. abhängig, also vielfältig eingeschränkt, ist es heute praktisch nur noch durch eine einzige Bedingung begrenzt: ein bestimmtes Mindestalter. Dieser Vorgang selber hat schon einen umfassenden Demokratisierungsprozeß eingeleitet, der über die Entstehung eines Parteiensystems zur Demokratisierung des Parlaments geführt hat
Der geschichtliche Prozeß der Demokratisierung ist inzwischen längst über den staatlichpolitischen Bereich hinausgegangen mit der Zielsetzung, den Widerspruch von politischrechtlicher Gleichheit und sozialökonomischer Ungleichheit zu überwinden und zugleich überkommene hierarchische Leitungssysteme und oligarchische Entscheidungsstrukturen in gesellschaftlichen Institutionen durch neue Formen der Willensbildung und inhaltliche Orientierung an individuellen wie gesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen zu ersetzen. Demokratisierung in diesem allgemeinen, erweiterten Sinne stellt heute eine gesellschaftspolitische Aufgabe und Herausforderung dar. Demokratisierung in dem zuvor genannten besonderen, weil engeren Sinne ist im Hinblick auf den staatlich-politischen Bereich kein bereits gesicherter Prozeß, muß aber heute zugleich auf die überstaatlichen Herrschaftssysteme bezogen werden.
Der bürokratische Charakter der EG ist längst sprichwörtlich geworden Die weitaus meisten der hier anfallenden Probleme gelten als „unpolitische Sachfragen" und werden auf Expertenebene behandelt und auch entschieden. Wen wundert es, daß in diesem kaum noch überschaubaren, geschweige denn durchschaubaren bürokratischen Apparat (allein die Kommission beschäftigt weit mehr als 8 000 Beamte) Verantwortliche schwer zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen sind. Die „politischen Nötigungen und Möglichkeiten zur Korrektur einmal getroffener Entscheidungen sind außerordentlich gering" Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß diese heute gern als „Eurokratie" gescholtene supranationale Bürokratie von den Anfängen europäischer Integration vorgezeichnet war. Sie geht zurück auf den am 9. Mai 1950 von dem damaligen französischen Außenminister verkündeten und nach ihm benannten Schuman-Plan, der die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) anregte. Durch die Zusammenlegung der Grundstoffindustrien und die Errichtung einer hohen Behörde, deren Entscheidungen die Mitgliedsländer unmittelbar binden würde, sollte der Grundstein zu einer europäischen Föderation gelegt werden. Da die „parlamentarische Versammlung", die diesen Namen nicht verdiente, weder den Ministerrat noch die Behörde als die beiden eigentlichen Entscheidungsorgane wirksam kontrollieren konnte, war hier das Übergewicht bürokratischer und industrieller Interessen von vornherein etabliert. Im Gegensatz zum EGKS-Vertrag, der alle in den Bereich der Montanunion fallenden Angelegenheiten detailliert aufführt und regelt, ist der EWG-Vertrag als Rahmenvertrag gestaltet, der durch politische Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane ausgefüllt werden muß. Diese Organe wurden allerdings analog zu denen der EGKS geschaffen und verhalfen auch der EWG zu einem pseudodemokratischen Anstrich: eine Legislative (das Europäische Parlament), die keine Gesetze beschließt, keine Wahlfunktion hat und praktisch keine Kontrollrechte besitzt, eine Behörde (die Kommission), bei der die Initiative wie die Ausführung der Gesetze liegt, und nicht zuletzt ein in seiner Zusammensetzung wechselnder Ausschuß von nationalen Regierungsmitgliedern (Ministerrat), der — sieht man von den nationalen Parlamenten ab — niemandem verantwortlich ist, aber über die eigentlichen rechtsetzenden Kompetenzen verfügt
Die damit vorgegebene institutionelle Struktur hat sich bis heute — wie manche meinen — eher zurückentwickelt statt fortgebildet denn — das Europäische Parlament — mit dem Abschluß des EWG-Vertrages als gemeinsame parlamentarische Versammlung von Montanunion, EWG und Euratom eingesetzt — erhielt erst ab 1975 ein begrenztes Budget-recht, während die von Anfang an vorgesehene Direktwahl in diesem Jahr erstmalig durchgeführt wird;
— die durch ihr Vorschlagsrecht begründeten umfassenden legislativen Mitwirkungsmöglichkeiten der Kommission sind durch die zunehmende Bedeutung des intergouvernementalen Ausschusses der ständigen (diplomatischen) Vertreter (der Mitgliedstaaten) faktisch eingeschränkt worden; — die entsprechend der stufenweisen Verwirklichung der EG für eine zunehmende Zahl von Regelungsbereichen vorgesehene Mehrheitsentscheidung im Ministerrat ist durch die sogenannte Luxemburger Übereinkunft (28. /29. Januar 1966) durch den Grundsatz der Einstimmigkeit faktisch ersetzt worden.
Der Ausschuß der ständigen Vertreter ist lange vor Luxemburg, seitdem allerdings sichtbarer, in der Vorbereitung der Ministerratssitzungen neben — manche meinen: an die Stelle der — die Kommission getreten. Jedenfalls hat sich dadurch die Tendenz zur öffentlichkeitsfernen Willensbildung und Entscheidung, bei denen ein Diplomat neuen Typs, der internationale Sachverständige, dominiert und zumeist Strategien des kleinsten gemeinsamen Nenners verfolgt werden, noch verstärkt. Die vertraglich aus guten Gründen vorgesehene Trennung zwischen Initiative durch die Kommission und Entscheidung durch den Minister-rat ist zunehmend von dem mehr und mehr bürokratisierten Beratungs-und Beschlußfassungsprozeß überlagert und aufgehoben worden. Zudem haben die supranationalen Bürokratien mit den mitgliedstaatlichen Regierungen und Verwaltungen längst ein verzweigtes, enges Netz intragemeinschaftlicher Steuerung gebildet — freilich auf Kosten der Parlamente und des politisch-demokratischen Elements 84).
Wird nun die Direktwahl daran etwas ändern? Mir scheint: Ebensowenig wie eine direkt gewählte Versammlung allein dadur
Wird nun die Direktwahl daran etwas ändern? Mir scheint: Ebensowenig wie eine direkt gewählte Versammlung allein dadurch schon zum Parlament wird, wird das demokratische Defizit der EG beseitigt, wenn ein Gemeinschaftsorgan unmittelbare Legitimation erhält Sind nicht zuallererst die hoheitlichen Maßnahmen, die differenzierten Rechtsetzungsakte des gemeinschaftlichen Herrschaftssystems, legitimationsbedürftig? Wird also für die politisch gewichtigen Organe Rat und Kommission nicht erst dann wenigstens eine indirekte, vom Europäischen Parlament abgeleitete Legitimation erreicht, wenn das Parlament für alle bedeutsamen Entscheidungen Mitentscheidungskompetenz erhält? Der Direktwahlbeschluß hat allerdings an der innergemeinschaftlichen Kompetenzverteilung nichts verändert, und der von Frankreich und Großbritannien artikulierte Souveränitätsvorbehalt macht diese Frage nicht leichter lösbar. Ist aber nicht zu befürchten, daß die erhoffte Demokratisierung der Gemeinschaft wirkungslos bleibt, wenn dem Europäischen Parlament Herrschaftsbefugnisse versagt bleiben?
Daß von der Direktwahl ein gewisser Politisierungseffekt ausgeht, erscheint indes weniger zweifelhaft. Die Abgeordneten werden nun stärker als bisher durch ihre Parteizugehörigkeit mit ihrer jeweiligen nationalen/regionalen Besonderheit in Erscheinung treten. Die Akzentuierung z. B. regionalspezifischer Interessengegensätze oder die Thematisierung richtungspolitischer Gegensätze und kontroverser ordnungspolitischer Vorstellungen können allerdings nur den schrecken, der ein unpolitisches Integrationskonzept vertritt und einem harmonistischen Europaverständnis anhängt. Mit diesem Denken ist zumeist die Vorstellung verbunden, die Direktwahl sei ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union. Dem sei mit Dahrendorf entgegengehalten, „daß formale Prozesse, institutionelle Änderungen, am Ende nur Randerscheinungen sind. Institutionen schaffen nicht viel Realität; sie sind eher Ausdruck gewachsener Realitäten. Es gibt keine institutionellen Tricks, mit denen man Europa zusammenleimen könnte, ob sie Währungsunion heißen oder Erweiterung oder eben Direktwahl." 86)
Auf die hier gestellten Fragen kann schließlich nur eine ebenso kurze wie unbefriedigende Antwort gegeben werden: Für die dringend notwendige Strukturreform — vor allem des Agrarmarktes -für die überfällige Demokratisierung der anachronistischen politischen Strukturen ist die Direktwahl keine ausreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung. Aber: „Nur ein Schelm gibt mehr als er hat. Fragen sind billig, Antworten lassen vielleicht lange auf sich war-ten." (O. Kirchheimer)
Peter Reichel, Dr. phil., geb. 1942 in Rendsburg; Ausbildung und langjährige Tätigkeit als Buchhändler; Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren Geschichte und Philosophie; 1972/73 als Assistent des Kuratoriumsvorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung in Bonn und Saarbrücken tätig; seit Winter 1973/74 wiss. Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Bundestagsabgeordnete in europäischen Parlamenten. Zur Soziologie des europäischen Parlamentariers, Opladen 1974; zusammen mit W. D. Eberwein: Friedens-und Konfliktforschung. Eine Einführung, München 1976; Die Europäische Gemeinschaft: Politische Stagnation und literarische Inflation? Ein Literaturbericht, in: Zeitschr. f. Parlamentsfragen, H. 2/1976; zusammen mit P. Massing als Herausgeber: Interesse und Gesellschaft. Definitionen — Kontroversen — Perspektiven, München 1977; Interesse und Interessenbegriff aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, in: Offene Welt, H. 104, Frankfurt/M. 1978.