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Atheismus als politisches Problem | APuZ 24/1979 | bpb.de

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APuZ 24/1979 Artikel 1 Atheismus als politisches Problem Nicht Wissenschaft und Atheismus sind inhuman, sondern dogmatische Ansprüche. Eine Stellungnahme zu dem Beitrag von Hugo Staudinger Einige Anmerkungen zu der Stellungnahme von Felix v. Cube Die ausgebliebene Legitimationskrise

Atheismus als politisches Problem

Hugo Staudinger

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Max Horkheimer hat einmal herausfordernd formuliert, daß eine moralische Politik ohne Theismus nicht möglich sei. Angesichts dieser These ist eine Untersuchung der politischen Folgen des Atheismus mehr als überfällig. Als Grundlage einer notwendigen Diskussion werden folgende Thesen vorgelegt: 1. Der moderne Atheismus hat seine Wurzeln in der Konzeption der neuzeitlichen Wissenschaften. 2. Der Atheismus des Ostens erhält seine besondere Prägung durch eine ideologische Aufarbeitung der neuzeitlichen Wissenschaften. 3. Die Konzeption der westlichen Industrienationen ist durch methodischen Atheismus geprägt. 4. In beiden Ausprägungen schafft der Atheismus eine Tendenz zu einer posthumanen Gesellschaft. 5. Die ursprüngliche Konzeption der Bundesrepublik ist eine Absage an den Atheismus und der Versuch neuer Wertorientierung. 6. Die gegenwärtige Spannung zwischen Tendenzen der Gesetzgebung und Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes signalisiert eine Krise unseres Staates. 7. Gerade eine pluralistische Konzeption der Gesellschaft bedarf einer Entscheidung über die Basis ihrer Toleranz. Angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen führenden Politikern und Angehörigen des Bundesverfassungsgerichts gewinnt die These 6 besondere Bedeutung, in der diese Spannung aus einer Differenz zwischen den Intentionen des Grundgesetzes und den Tendenzen der gegenwärtigen Gesetzgebung hergeleitet wird. Die These 7 führt diese Differenz wiederum auf eine Prioritätenfrage zwischen der Garantie von Grundrechten und der Volkssouveränität als Grundlage der politischen Ordnung zurück: Jeder Atheismus führt zwangsläufig dazu, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen wird. Das bedeutet jedoch, daß die Volkssouveränität allenfalls den Beschränkungen unterliegt, die sie selbst festgelegt hat und die sie dementsprechend auch selbst wieder ändern kann. Eine Begründung von Grund-oder Menschenrechten, die unabänderlich gelten, läßt sich daher vom Atheismus her nicht finden. Damit wird nicht in Abrede gestellt, daß es humane Atheisten gibt. Es wird jedoch behauptet, daß der Atheismus im Gegensatz zum Christentum nicht aus eigener Konsequenz zu einer menschenwürdigen Ordnung hin tendiert.

Noch im vorigen Jahrhundert äußerte Lord Acton nahezu unwidersprochen, daß die Religion der Schlüssel zur Weltgeschichte sei. Bis in unsere Tage gibt es keine geschichtliche Darstellung von Rang, die nicht über religiöse Überzeugungen und Kultgemeinschaften berichten würde, da sonst viele politische Einrichtungen und Gepflogenheiten nicht verstanden werden könnten. Erstaunlicherweise ist jedoch nach der politischen Bedeutung des Atheismus bislang wenig gefragt worden. Diese Feststellung gilt sogar für politische Systeme wie die kommunistischen Staaten, in denen der Atheismus Teil der offiziellen Ideologie ist.

Einer der wenigen Denker, der die politischen Folgen des Atheismus erkannt hat, ist Max Horkheimer. Herausfordernd hat er formuliert, daß eine moralische Politik ohne Theismus nicht möglich sei Allerdings hat man dieser These kaum Beachtung geschenkt. Daher habe ich als letzter Gesprächspartner Horkheimers dessen Anliegen aufgenommen und im August 1978 eine Untersuchung „Der Atheismus als politisches Problem — ein Beitrag zur Klärung der gegenwärtigen Situation" vorgelegt. Als Ergebnis dieser Untersuchung möchte ich die folgenden sieben Thesen zur Diskussion stellen:

1. Der moderne Atheismus hat seine Wurzeln in der Konzeption der neuzeitlichen Wissenschaften. 2. Der Atheismus des Ostens erhält seine besondere Prägung durch eine ideologische Aufarbeitung der neuzeitlichen Wissenschaften. 3. Die Konzeption der westlichen Industrienationen ist durch methodischen Atheismus geprägt. 4. In beiden Ausprägungen schafft der Atheismus eine Tendenz zu einer posthumanen Gesellschaft. 5. Die ursprüngliche Konzeption der Bundesrepublik ist eine Absage an den Atheismus und der Versuch neuer Wertorientierung.

6. Die gegenwärtige Spannung zwischen Tendenzen der Gesetzgebung und Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes signalisiert eine Krise unseres Staates.

7. Gerade eine pluralistische Konzeption der Gesellschaft bedarf einer Entscheidung über die Basis ihrer Toleranz.

Diese Thesen sollen im folgenden erläutert werden:

Zu These 1: Der moderne Atheismus hat seine Wurzeln in der Konzeption der neuzeitlichen Wissenschaften. Die moderne Konzeption der Wissenschaften bedeutet gegenüber dem antiken und dem mittelalterlichen Denken einen Kontinuitätsbruch. Entscheidend dafür ist nicht die viel-berufene kopernikanische Wende, sondern der Versuch der Begründung „autonomer", d. h. von der. Theologie unabhängiger Wissenschaften samt einer Spezialisierung der wissenschaftlichen Fragestellung.

Die neue Konzeption bedeutet zunächst keinen Abfall, sondern nur ein Absehen von Gott. Klassisches Beispiel ist die Begründung des modernen Völkerrechts: Der persönlich gläubige Hugo Grotius sucht ein allgemein verbindliches Völkerrecht zu begründen. Angesichts der Spaltung der Christenheit und zunehmender Kontakte mit anderen Kulturen schien ihm eine Berufung auf Gott nicht praktikabel. Daher verweist er auf ein allein mit der Hilfe der Vernunft erkennbares Naturrecht, von dem er versichert, daß es selbst Gott nicht zu ändern vermöge, ja daß es sogar dann bestünde, „wenn es keinen Gott gäbe". Man kann diesen Satz als klassische Formulierung des methodischen Atheismus betrachten. Ohne „Rückgriff" auf Gott suchen Menschen verschiedener Religionen ihre Beziehungen zueinander mit Hilfe autonomer Wissenschaften zu regeln. Im Gegensatz dazu vollzieht sich die Begründung des methodischen Atheismus in den Naturwissenschaften unausgesprochen, jedoch um so folgenschwerer. Repräsentant der neuen Denkweise ist Galilei.

In Weiterführung seiner Konzeption tat Newton im Jahre 1684 mit seinem Werke „Die mathematischen Prinzipien der Naturlehre" den letzten Schritt zur Grundlegung der klassischen Naturwissenschaften. Für das hier anstehende Thema entscheidend sind einige Sätze am Ende des dritten Buches: „Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht... Es genügt, daß die Schwere existiere, daß sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke und daß sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären imstande sei."

Diese Sätze dokumentieren die faktisch bereits von Galilei vollzogene Verlagerung des forschenden und darüber hinaus des geistigen Interesses überhaupt. Newton verzichtet — zumindest vorerst — auf die Frage nach dem Wesen der Schwerkraft, bzw. allgemein formuliert, auf die Frage nach dem Wesen, dem Grund und dem Sinn der Dinge. Statt dessen geht es ihm um die Erforschung der gesetzmäßigen Wirkweise der Kräfte der Natur, d. h. um die mathematischen Formeln, mit deren Hilfe man Veränderungen nach Ursachen und Wirkungen berechnen kann und mit deren Hilfe dann auch eine zweckdienliche Umgestaltung der Wirklichkeit möglich ist.

Daß mit dieser Entscheidung geistesgeschichtlich zugleich die Weichen zum methodischen Atheismus gestellt sind, wird deutlich, wenn man die Darlegungen Newtons der Naturlehre des Aristoteles gegenüberstellt. Aristoteles erklärt, daß entsprechend der göttlichen Weltordnung das Feuer seinen Ort oben, dagegen der Stein seinen Ort unten habe; und da jedes Ding zu dem ihm zugewiesenen Ort strebe, züngele die Flamme nach oben, während der Stein nach unten falle.

Bei dieser alten Erklärung bleibt die Frage nach den eigentlichen Ursachen bzw. Bewegern — etwa dem göttlichen „unbewegten Beweger"

des Aristoteles — im Blick. Dagegen nimmt die moderne Naturwissenschaft Er-scheinungen wie die Schwerkraft als gegeben hin und beschränkt sich darauf, sie zu berechnen und auf diese Weise eine „Erklärung" zu geben.

Aus dieser Spezialisierung der Fragestellung auf das in mathematischen Funktionsgleichungen Erfaßbare folgt eine Trennung zwischen Naturwissenschaften und Philosophie sowie Theologie. Philosophische und insbesondere theologische Fragen sind aus dem Fragehorizont der Wissenschaften entschwunden.

Die Konsequenzen für das Weltverständnis insgesamt blieben solange belanglos, wie sich die neuen Wissenschaften auf die Erklärung mechanischer Vorgänge im Bereich der unbelebten Materie beschränkten und bei den Fragen nach Gott und Mensch die Antworten der Theologie und (christlichen) Philosophie achteten. Konflikte entstanden zunächst nur, wenn sich die Kirchen auch für Fragen zuständig fühlten, die im Allgemeinbewußtsein zunehmend als ausgesprochen naturwissenschaftlich betrachtet wurden und sich, wie beim Streit um das kopernikanische Weltbild, gegen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sträubten.

Bald jedoch dehnten die Naturwissenschaften ihrerseits ihr Forschungsgebiet aus und bezogen das Lebendige in ihre Überlegungen ein. Dabei wurden sie auch durch Spekulationen philosophischer Denker wie Descartes und Hobbes angeregt, die auch Lebewesen als komplizierte Maschinen betrachteten. Besonders folgenschwer’ wurde die Übertragung der Prinzipien der Naturwissenschaften auf die Erforschung der Gesellschaft. Repräsentativ dafür ist Auguste Comte. Er knüpft unmittelbar an die geistige Tat Newtons an und fordert „überall anstelle der unzulänglichen Bestimmung der eigentlichen Ursachen die bloße Forschung nach den Gesetzen, d. h. nach den konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Erscheinungen existieren" Im Gegensatz zu Newton, der die Frage nach dem Grund, dem Wesen und dem Sinn der Dinge zwar vorläufig zurückgestellt, jedoch deren eigene Berechtigung nie bezweifelt hatte, betrachtete Comte nunmehr jede Frage, die über die Erforschung von gesetzmäßigen Zusammenhängen hinaus-geht, als überflüssig und unsinnig: „Die Frage, was Anziehung und Schwere selbst und welches ihre Ursachen seien, gehört zu den unlösbaren und nicht in das Gebiet der positiven Philosophie, und wir überlassen sie mit Recht der Einbildungskraft der Theologen oder der Spitzfindigkeit der Metaphysiker."

Da nach Comtes Überzeugung alle Vorgänge, „organische und anorganische, körperliche wie geistige, individuelle wie soziale, streng unveränderlichen Gesetzen unterworfen" sind, hält er es für möglich, durch Erforschung der Gesetze des individuellen und des sozialen Lebens die Zukunft exakt vorauszuplanen und der Menschheit so den Weg zu ungeahnten Fortschritten zu sichern. Die von ihm neu konzipierte Wissenschaft der Soziologie, die er bezeichnenderweise Sozial-Physik nennt, soll es ermöglichen, die Vorgänge in der Gesellschaft genauso zu berechnen und zu beherrschen, wie die Physik die Vorgänge der unbelebten Materie zu berechnen und technisch zu beherrschen vermag.

Dabei soll sich entsprechend der neuen, allein an der Quantität orientierten Denkweise das Augenmerk auf die Menschheit insgesamt richten und nicht auf den einzelnen. Da Comte weiß, daß die Hochschätzung des einzelnen Menschen in der abendländischen Tradition auf religiösen Überzeugungen beruht, fordert er eine Reorganisation der Gesellschaft ohne Gott. Dabei soll der einzelne der Menschheit untergeordnet werden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte es scheinen, als seien Wissenschaft und Atheismus bereits unbestrittene Sieger im Kampf um das Denken und die Gestaltung Europas. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es sich auch bei den weniger gebildeten Bevölkerungsgruppen herumspräche, daß jeder Glaube an einen persönlichen Gott durch die Wissenschaft widerlegt sei. Viele Intellektuelle waren nicht nur überzeugt davon, daß — um eine bekannte Formulierung von Laplace aufzunehmen — die moderne Welterklärung der „Hypothese Gott" nicht bedürfe, sondern sie vertraten die Auffassung, daß das moderne naturwissenschaftliche Weltbild für Gott schlechthin keinen Raum lasse. Der methodische Atheismus der modernen Wissenschaften war weithin in einen wissenschaftlich begründeten Atheismus umgeschlagen

Zu These 2: Der Atheismus des Ostens erhält seine besondere Prägung durch eine ideologische Aufarbeitung der neuzeitlichen Wissenschaften. Dieser wissenschaftliche Atheismus erhielt durch Marx und Engels eine besonders geschichtsmächtige Prägung. Marx war der Überzeugung, daß „Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes ... die Förderung seines wirklichen Glückes" sei. Der Atheismus gehört zu den Fundamentalaussagen seiner Konzeption, da „die Kritik der Religion . .. Voraussetzung aller Kritik" sei.

Wissenschaftler der westlichen Welt neigen dazu, zwischen Wissenschaft und Ideologie scharf zu unterscheiden oder sie gar als Gegenpole hinzustellen. Dabei verkennen sie jedoch das Selbstverständnis moderner Ideologien, zu denen neben dem Marxismus mit einem unverkennbaren Qualitätsunterschied auch der Nationalsozialismus zählt. Beiden Ideologien ist gemeinsam, daß sie in ihrem eigenen Selbstverständnis wissenschaftliche Weltanschauungen sind. Beiden Ideologien ist auch der Atheismus gemeinsam, wobei allerdings nur der Marxismus seinen Atheismus offen ausspricht, während der Nationalsozialismus ihn aus demagogischem Opportunismus zumeist unter deistischen und pantheistischen Formulierungen verschleiert. Für sein tatsächliches Verhalten gilt jedoch die von Karl Marx klar ausgesprochene Überzeugung, „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen" sei.

Die Überzeugung einer wissenschaftlichen Begründbarkeit prägt den Marxismus von Anfang an. Karl Marx selbst betont, daß nur der ein Recht habe, sich mit Aktionsprogrammen an die Arbeiterschaft zu wenden, der sich auf eine wissenschaftliche Theorie stützt. Tatsächlich hat er nicht nur eine Analyse der ökonomischen Entwicklung, sondern — zusammen mit Friedrich Engels — eine Gesamt-sicht der Entwicklung von Welt und Gesellschaft erarbeitet, die alle damals anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse einzubeziehen suchte. Hierzu gehört vor allem die Auffassung, „daß die Welt ihrer Natur nach materiell ist".

Dementsprechend steht nach Überzeugung des Dialektischen Materialismus am Anfang nicht Gott, sondern die Materie. Sie befindet sich in einer ständigen Entwicklung, bei der an bestimmten kritischen Punkten quantitative Veränderungen in qualitative umschlagen, so daß auf diese Weise in dialektischen Sprüngen immer höhere Stufen der Wirklichkeit erreicht werden. Bei ihrer Theorie berufen sich Marx und Engels immer wieder auf die Wissenschaften. Das gilt für den Umschlag quantitativer Veränderungen in qualitative, für den Engels als klassisches Beispiel darauf hinweist, daß Wasser bei zunächst nur quantitativ erfaßbarer Abkühlung an einem bestimmten Punkte zu Eis erstarrt und dadurch eine andere Qualität bekommt. Es gilt aber auch für die Entwicklung vom Niederen zum Höheren, für die die Evolutionstheorie Darwins als eindrucksvolles Beispiel dient.

Kennzeichnend für die Rechtfertigung der Ideologie durch Wissenschaft ist z. B. das alte Geleitwort Walter Ulbrichts zu dem in der DDR weit verbreiteten Schulungsbuch „Weltall — Erde — Mensch": „In dem vorliegenden Buch wird, ausgehend von den Erkenntnissen der fortgeschrittensten Wissenschaft, der Sowjet-Wissenschaft, die Entwicklung in Natur und Gesellschaft dargelegt. . . Gleichzeitig wird der Kampf gegen Aberglauben, Mystizismus, Idealismus und alle anderen unwissenschaftlichen Anschauungen geführt." Das gleiche Selbstverständnis findet sich auf höchster Ebene im Parteiprogramm der KPdSU in der Forderung: „Der Dialektische und Historische Materialismus als Wissenschaft von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens muß weiterentwickelt und standhaft verteidigt und ausgebreitet werden."

Vergegenwärtigt man sich die wissenschaftliche Fundierung des Dialektischen Materialismus, so wird verständlich, daß die meisten Wissenschaftler in den kommunistischen Staaten eine positive Haltung zu ihrem System einnehmen und daß auch zahlreiche Wissenschaftler der westlichen Welt in Forschung und Lehre eine Neigung zu marxistischen Auffassungen erkennen lassen.

Es ist zwar nicht die ganze Wahrheit, aber es ist — zumindest im theoretischen Ansatz — richtiger, als viele Vertreter des Westens zugeben möchten, wenn der Staatssekretär für das Hochschulwesen in der Deutschen Demokratischen Republik einmal pointiert feststellte: „Der einzige Staat, der seinem inneren Wesen nach nicht im Widerspruch zur Wissenschaft steht und stehen kann, ist der, der sich selbst auf wissenschaftlicher Grundlage konstituiert. . .der sozialistische Staat." Wissenschaft, Dialektischer Materialismus und Atheismus bilden im marxistischen Denken eine unlösbare Einheit, und es ist nicht möglich, sie voneinander zu trennen, sofern man das Selbstverständnis kommunistischer Denker auch nur einigermaßen ernst nimmt.

Es signalisiert die Grundstruktur moderner Ideologien, daß sowohl im kommunistischen wie im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich nicht die Wissenschaftler, sondern die bereits vom Begründer der positiven Wissenschaften Comte bekämpften Kirchen die eigentlichen Gegenspieler bzw. „Feinde" des Systems sind, da sie unter Berufung auf Gott gegen den absoluten Herrschaftsanspruch totalitärer Führungen auftreten. Umgekehrt erweisen sich theologische Richtungen, die Gott zu einer bloßen Chiffre entpersonalisieren, als anfällig für wissenschaftliche Ideologien.

Zu These 3: Die Konzeption der westlichen Industrienationen ist durch methodischen Atheismus geprägt.

Will man die geistige und gesellschaftliche Situation der modernen Industrienationen westlicher Prägung verstehen, so stellt sich auch hier die Frage nach dem Atheismus. In der Form des methodischen Atheismus prägt er das Denken und Handeln vieler westlicher Industrienationen ebenso wie der ideologische Atheismus das der kommunistischen Staaten. Er ist eine Folge der Schlüsselstellung, die die Wissenschaften im modernen Denken einnehmen.

Der moderne Mensch glaubt weithin, daß theologische und philosophische Feststellungen jeweils von hypothetischen Vorentscheidungen oder auch von unbegründbaren Glaubensüberzeugungen abhängen, daß dagegen allein die unterbewußtem Absehen von Gott arbeitenden Wissenschaften Ergebnisse zeitigen, die jederzeit beweisbar und damit in ihrem Wahrheitsanspruch für alle verbindlich seien.

Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Privatisierung religiöser Überzeugungen bzw. eine Abdrängung Gottes in das politisch Unverbindliche. Dieser Vorgang findet auch in theoretischen Überlegungen führender Denker ihren Ausdruck. So betont z. B. Helmut Schelsky, daß in der modernen Welt allein die Wissenschaft Basis allgemeiner Kommunikation sein könne, während „Glaubenssysteme mit Ausschließlichkeitsanspruch ... geistigen Provinzialismus" begründen, was ebenso für echte Religionen wie für politische Pseudoreligionen gelte.

Derartige, in den westlichen Industrienationen weitverbreitete Auffassungen setzen voraus, daß ein „Rückgriff" auf Gott im gesellschaftlich-politischen Bereich überflüssig sei. Diese Voraussetzung ist formal erfüllt, seit der Gedanke der Volkssouveränität eine rein innerweltliche Begründung von politischer Herrschaft ermöglicht hat.

Dabei geht es nicht nur um einen neuen Träger der Souveränität, sondern es entsteht zugleich ein tieferes Problem: Die alte Auffassung der „Herrschaft von Gottes Gnaden" enthielt zugleich das Eingeständnis, daß die Herrschaft des Menschen keine eigenständige und absolute Herrschaft ist. Daher gab es nach der Überzeugung des Mittelalters ein legitimes Widerstandsrecht, wenn der Herrscher entweder gegen Gebote Gottes oder gegen verbürgtes Recht handelte und mit anderen Mitteln nicht zum Einlenken zu bringen war.

Erst die Theoretiker des Absolutismus haben Widerstand gegen die Herrscher für illegitim erklärt, da der König nur Gott Rechenschaft schulde. Aber auch sie haben keine absolute Souveränität in dem Sinne proklamiert, daß der König an Gebote Gottes und vorgegebene Rechte nicht gebunden sei. Eine solche Theorie hätte eine Selbstaufhebung des Gottesgnadentums bedeutet und dem Herrscher seine Legitimationsbasis entzogen.

Dieser Auffassung von der unaufhebbaren Rechtsgebundenheit des Herrschers wird durch die Volkssouveränität der Boden entzogen. Es wird nunmehr weithin die Überzeugung vertreten, daß das Volk aus eigenem Recht der „natürliche" Inhaber aller Souveränität sei und daß daher die Ausübung von Herrschaft nur dieser Legitimation bedürfe. Das bedeutet jedoch: Wenn die Theorie der Volkssouveränität absolut gesetzt wird, legitimiert sie — auch ohne ideologische Überformung — in einer ihr eigenen Weise eine absolute Herrschaft, in der der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob die Volkssouveränität streng an das Mehrheitsprinzip geknüpft wird, oder ob man im Sinne Rousseaus zwischen dem Gemeinwillen und dem Mehrheitswillen unterscheidet und auf diese Weise Tür und Tor dafür öffnet, daß sich Minderheiten zu eigentlichen Trägern des Volkswillens hochstilisieren.

Angesichts dieser Problematik hat man wiederholt betont, daß die Anerkennung der Volkssouveränität nicht das ausschließliche Kriterium eines Rechtsstaates sei, daß es vielmehr auch auf den Schutz von Minderheiten und die Anerkennung legitimer Rechte des einzelnen ankomme.

Zu diesen Rechten gehört nicht zuletzt die Religionsfreiheit. Ihre Voraussetzung ist nach dieser Konzeption allerdings ein Staat, der sich selbst auf keine Religion festlegt, und der daher zumindest dahin tendiert, den öffentlichen Bereich „weltanschaulich-neutral"

zu gestalten. Symptome dieser Tendenz sind die Zurückdrängung konfessioneller Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten und Pflegeheime zugunsten allgemeiner Einrichtungen sowie die Überführung noch bestehender konfessioneller Institutionen in private Träger-schäft; aber auch die Entfernung von Kreuzen aus Schulen und Gerichtssälen und die Ausschaltung religiöser Argumente bei politischen Diskussionen.

Dadurch wird der methodische Atheismus in aller Konsequenz zum Gestaltungsprinzip der politisch-gesellschaftlichen Ordnung: Um sich nicht auf bestimmte „partikuläre Wertvorstellungen" festzulegen, wird das gesamte öffentliche Leben so gestaltet, „als ob es keinen Gott gäbe". Ungewollt wird dadurch der Atheist zum privilegierten Staatsbürger: Der gesamte politisch-gesellschaftliche Bereich wird entsprechend seinen atheistischen Auffassungen eingerichtet, während gläubige Menschen mit ihrem Gestaltungswillen auf den privaten Bereich abgedrängt sind.

Zu These 4: In beiden Ausprägungen schafft der Atheismus eine Tendenz zu einer posthumanen Gesellschaft.

Als ich mit Max Horkheimer in den letzten Jahren vor seinem Tod die Frage des Zusammenhanges von Religion und Humanität erörterte, schrieb er zu einem meiner Vorträge, dem er insgesamt zustimmte: „Das einzige Problem, über das wir vielleicht einmal sprechen sollten, bildet die Aussage, daß die Gesellschaft inhumaner wird, je mehr das wissenschaftlich-technische Denken . . . das gesamte Denken des Menschen beherrscht.

Auch als anstelle der Wissenschaften noch das religiöse Denken die europäische Gesellschaft kennzeichnete, war sie nicht weniger inhuman." In einem späteren Brief fügte er ergänzend hinzu: „Technokratisches Denken ist mir wahrlich nicht sympathischer als Ihnen. Die Perioden von Inquisition und Hexenverbrennungen, wie andererseits die modernen des Links-und Rechtsfaschismus scheinen mir jedoch in ähnlicher Weise furchtbar zu sein."

In meiner Antwort an Horkheimer habe ich zunächst zugestanden, daß die Auswirkungen für die Betroffenen in den Perioden von Inquisition und Hexenverbrennungen nicht minder furchtbar gewesen sind als die in atheistisch-ideologischen Systemen. Sodann habe ich jedoch zwischen einer bekehrbaren und einer ihrer Struktur nach unbekehrbaren Unmenschlichkeit unterschieden.

Ketzerverbrennungen, Hexenverfolgungen und ähnliche „christliche" Perversitäten entspringen nicht den christlichen Grundüberzeugungen als eine ihnen konsequente Praxis, sondern stehen — häufig entgegen der subjektiven Überzeugung eifernder Christen — zu ihnen in einem unaufhebbaren Widerspruch. Daher waren es nicht zuletzt Vertreter christlicher Kirchen selbst, die die vermeintlich frommen Unmenschlichkeiten der Kirchen überwanden und sie aus dem Geist echten Christentums als das entlarvten, was sie sind. Aber auch die außerkirchliche Kritik an inhumanen Praktiken der Kirche konnte nur deshalb eine Betroffenheit auslösen und eine Korrektur bewirken, weil sie bei den Repräsentanten der Kirchen eigene bislang verdrängte oder nicht aktualisierte Einsicht weckte.

Im Gegensatz dazu ist die in der Theorie ausdrücklich oder implizit begründete Unmenschlichkeit ideologischer Systeme und wissenschaftlich-atheistischer Technokratien unbekehrbar. Denn hier entspringt die Unmenschlichkeit der Notwendigkeit bzw.

Zweckmäßigkeit und dient der Erreichung vorgegebener Ziele.

Entgegen weitverbreiteten Auffassungen werden zumindest in konsolidierten ideologisch-totalitären Staaten die Menschenrechte nicht primär willkürlich verletzt. So unbestreitbar Willkürakte dieser Art vorkommen, so wenig sind sie — hierin den Untaten der Kirchen vergleichbar — im System selbst begründet.

Oft werden sie auch von zuständigen Instanzen des Systems selbst abgelehnt und über kurz oder lang bedauert. Im Gegensatz zu solchen Willkürakten kennen diese Systeme jedoch Gründe, die es aus ihrer Sicht legitim machen, sich im Interesse der Gesamtentwicklung bzw.der Gesamtheit über den einzelnen Menschen hinwegzusetzen, ihn instrumentell zu gebrauchen oder auch zu vernichten. So gibt es nach der nationalsozialistischen Ideologie Parasitenrassen, deren Vernichtung im Interesse der Menschheit liegt, sowie lebensunwertes Leben, dessen schmerzlose Beendigung als „wohltätig" auch für die Betroffenen selbst hingestellt wird. Außerdem rechtfertigt die Parole „Du bist nichts, Dein Volk ist alles" eine instrumentelle Verfügung auch über die eigenen Volksgenossen.

Aber auch der Marxismus hat in der Ideologie wurzelnde Gründe für eine absolute Ver-fügung über den Menschen. Die Freiheit des einzelnen besteht für ihn in der sittlich geforderten Einsicht in die Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gesamtentwicklung mit dem Endziel der klassenlosen Weltgesellschaft. In der Praxis erfährt der einzelne den jeweils von ihm geforderten Beitrag durch die technokratischen Planungen der kommunistischen Gewalthaber bzw. durch Zuweisung von Aufgaben in den revolutionären Aktionsprogrammen der Parteileitungen. Wer trotz entsprechender Belehrungen seine Freiheit nicht im Sinne der geforderten Einsicht nutzt, sondern Fortschritt und Zukunft gefährdet, dem kann u. U. auch eine wohlwollende politische Führung nicht helfen. Uber ihn schreitet die Entwicklung hinweg.

Bezeichnenderweeise hat Chruschtschow in seine historische Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 die verständnisvollen Sätze eingefügt: „Stalin war überzeugt, daß dies alles im Interesse der Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die Anschläge der Feinde und gegen die Angriffe des imperialistischen Lagers notwendig gewesen sei. Nach seiner Ansicht lagen diese Handlungen im Interesse der Partei, der werktätigen Massen, der Sicherung der Errungenschaften der Revolution. Hierin liegt die ganze Tragödie."

Die Fehlleistung Stalins besteht nach dem Urteil Chruschtschows also nicht darin, daß er Brutalität und Härte, Mord und Unterdrükkung angewandt hat, sondern allein darin, daß er diese Mittel in einem Ausmaß eingesetzt hat, wie es nicht notwendig, ja im Endeffekt schädlich war. Als noch im Jahre des XX. Parteitages Ungarn das kommunistische System abzuschütteln versuchte und damit die „Notwendigkeit" zu Infanterie-und Panzereinsatz, Standgerichten und Erschießungen, Wortbruch und politischer Täuschung gegeben war, hat auch Chruschtschow nicht gezögert, das Nötige zu tun. Das gleiche gilt für seine Nachfolger bei den dramatischen Ereignissen in Prag.

Man neigt in der westlichen Welt dazu, die Untaten ideologischer Staaten entweder allein aus der spezifischen Ideologie herzuleiten oder sie mit jeweils besonderen Konstellationen zu begründen. Dabei kommt jedoch der übergreifende Zusammenhang, aus dem diese Untaten insgesamt verstanden werden müssen, nicht in den Blick. Die wesentlichen Komponenten dieses Gesamtzusammenhanges sind Atheismus und Wissenschaft. Der Atheismus schafft die Voraussetzung für eine absolute Verfügung des Menschen über den Menschen, und die Wissenschaft rechtfertigt die herrschende Ideologie, nach deren dann je besonderen Kriterien diese Verfügung erfolgt. Daher kann es hier grundsätzlich keine Bekehrung bzw. keine Abwendung von der Unmenschlichkeit geben, es sei denn, daß dem ideologisch-wissenschaftlichen System insgesamt eine Absage erteilt wird.

Daß diese Feststellungen die Lage angemessen treffen, wird deutlich, wenn man nunmehr auch die Entwicklung der westlichen Industrienationen und ihre jeweilige Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit unter den Gesichtspunkten Wissenschaft und Atheismus betrachtet. Dabei muß freilich berücksichtigt werden, daß sich hier der Übergang zum Atheismus fließend und schillernd vollzieht. Er erfolgt-nicht durch eine klar datierbare Machtergreifung von Vertretern einer wissenschaftlichen Ideologie, sondern als vorerst noch unabgeschlossener Prozeß, in dem auch retardierende Kräfte wirksam sind.

Zunächst bedeutet die Privatisierung der Religion und ihre Abdrängung in das politisch Unerhebliche in den westlichen Industrienationen zugleich einen Verzicht bzw. eine Privatisierung der Frage nach Sinn. Der Sinn wird in der vom funktionalen Denken beherrschten und gestalteten Welt konsequenterweise auf den Zweck reduziert. Alles was getan wird, muß einen nachweisbaren Effekt haben. Die Frage, ob etwas sinnvoll sein kann, ohne zugleich zweckmäßig zu sein, wird vom funktionalen Denken nicht gestellt. Denn der modernen Vernunft ist, wie Max Horkheimer einmal formuliert hat, der Gedanke fremd, „daß ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann — auf Grund von Vorzügen, von denen Einsicht zeigt, daß das Ziel sie enthält — ohne auf irgendeine Art subjektiven Gewinns oder Vorteils sich zu beziehen"

In dieser nach Zwecken orientierten Welt gerät auch der Mensch unter diesen Maßstab. Nicht nach dem Sinn seines Daseins, sondern nach seiner registrierbaren Leistung wird gefragt. Daher kann sein Wert — im Gegensatz zur christlichen Überzeugung vom unermeßlichen Wert jedes einzelnen — in DM angegeben werden: 657 199 für den Durchschnitts-mann, 366 714 für die Berufstätige und 216 006 für die Hausfrau Bei Kindern und Rentnern fallen die Wertindexziffern noch stärker ab, da die den gesellschaftlichen Wert bestimmende funktionale Leistungsfähigkeit gering ist. Daher haben in dieser Gesellschaft insbesondere ältere Menschen das Gefühl, nichts wert zu sein.

Wohlfahrt und Fortschritt als rein weltimmanente Größen werden zur höchsten Norm des gesellschaftspolitischen Handelns. Während es früher gläubige Christen als sinnvoll betrachteten, ihr ganzes Leben der Pflege von Geschädigten und unheilbar Kranken zu widmen und darin von der öffentlichen Meinung bestärkt und anerkannt wurden, halten heutige philanthropische Vorkämpfer eines rein innerweltlichen Humanismus auch Abtreibungen und Euthanasie für zweckmäßige Maßnahmen, um die Menschheit von Not und Leid zu entlasten und dadurch Wohlfahrt und Fortschritt zu fördern.

Im Interesse von Wohlfahrt und Fortschritt arbeiten auch die undurchschaubaren bürokratischen Organisationsapparate. Sie ermöglichen es, den einzelnen in einer höchst subtilen Weise zu reglementieren und eine kaum erkennbare Zwangsherrschaft aufzurichten, die gegenüber klassischen Tyranneien nur den einen unbestreitbaren und darum um so verhängnisvolleren Vorteil hat: auf den ersten Blick höchst vernünftig zu erscheinen. Denn alle Planungen und aller Dirigismus scheint um des optimalen Funktionierens der Gesellschaft willen notwendig zu sein, und dieses Funktionieren bleibt nach der Privatisierung der Religion als höchster allgemein-verbindlicher Wert, an dem alles andere gemessen wird.

Diesen, unter dem Maßstab wissenschaftlicher Rationalität zweckmäßigen, aber zutiefst sinnlosen Planungen wird der Mensch bedenkenlos ausgeliefert. Es kennzeichnet die Verachtung des Menschen, daß er im öffentlichen Sprachgebrauch zunehmend unter Nummern registriert und von politischen Instanzen zum Objekt von „Experimenten" degradiert wird. Dabei ist das Mißlingen eines Teils der Experimente offensichtlich einkalkuliert. In diesem Zusammenhang braucht nur auf die Schäden hingewiesen zu werden, die Tausende von Kindern in den letzten Jahren durch staatlich subventionierte „Kinderläden" sowie durch prämierte „Kindertheater" oder aber auch durch sogenannte emanzipatorische Unterrichtsmittel und Schulexperimente erlitten haben. Die gleiche problematische Entwicklung zeigt sich im Leistungssport: Der registrierbare Erfolg ist wichtiger als der Mensch. Auch hierbei gehen die ideologischen Staaten als besonders forschrittliche voran. Aber auch in westlichen Industrienationen werden bereits Kinder in unmenschlicher Weise auf Höchstleistungen abgerichtet, ohne daß man nach ihrer menschlichen Würde fragt.

Auf der gleichen Ebene der Verachtung des Menschen liegen biotechnische Forschungen. Dies gilt insbesondere auf dem Gebiete der Embryologie. Die rein wissenschaftlich höchst beachtenswerten Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeugen unübersehbar von der Ambivalenz dieses Fortschritts. Diese Forschungsergebnisse selbst — es geht also nicht nur um eine gute oder schlechte Anwendung — sind erkauft mit Versuchsreihen, die eine hemmungslose instrumentelle Verfügung über menschliches Leben bedeuten. Durch Vereinigung von Ei-und Samenzellen wird außerhalb des Mutterleibes menschliches Leben geschaffen, um für Experimente zur Verfügung zu stehen und dann als Zellmaterial verbraucht zu werden oder in den Abfalleimern der Laboratorien zu enden Im Mutterleib wird menschliches Leben wachgerufen, um im Rahmen der Entwicklung von abtreibenden Medikamenten als Testmaterial wieder ausgelöscht zu werden. In einzelnen Fällen wurden sogar bereits lebensfähige Kinder für Experimente verwendet und schließlich „abgetötet" Nachdem die Wissenschaft seit geraumer Zeit das Recht beansprucht, über Tiere absolut zu verfügen und sie auch ohne Not jedem Experiment und jeder Qual auszusetzen, dehnt sie dieses Recht zunehmend auf Menschen aus. Die heutige medizinische Forschung beweist, daß die tödlichen Experimente, die in der Zeit des Dritten Reiches an KZ-Häftlingen durchgeführt wurden, nicht primär der spezifischen Ideologie des Dritten Reiches, sondern der Menschenverachtung der vom methodischen Atheismus geprägten modernen Wissenschaften zugeschrieben werden müssen.

Die bereits vorprogrammierte absolute Unmenschlichkeit wird erreicht sein, wenn es gelungen ist, Menschen ohne Vater und Mutter allein aus Zellen„material" herzustellen. Diese Menschen werden der absoluten Verfügungsgewalt derer anheimgegeben sein, die sie „produziert" haben. Schon jetzt liegen Überlegungen darüber vor, welche Typen man entwickeln sollte, um im Gesamtprozeß der Gesellschaft ein optimales Funktionieren zu gewährleisten. Es kennzeichnet die zweck-orientierte Brutalität wissenschaftlicher Expertengremien, daß man dabei einerseits auch an einen besonders stupiden Standardtyp gedacht hat, der für grobe und stumpfsinnige Arbeiten gebraucht wird, sowie andererseits an eine Reihe von Spezialtypen wie etwa Menschen ohne Beine, die man bei der Weltraumfahrt einzusetzen gedenkt.

Insgesamt ist unübersehbar, daß auch in vom methodischen Atheismus geprägten westlichen Industrienationen der Mensch als das höchste Wesen eine absolute Verfügungsgewalt über den Menschen beansprucht, wobei freilich vorerst noch Gegenkräfte wirksam sind.

Zu These 5: Die ursprüngliche Konzeption der Bundesrepublik ist eine Absage an den Atheismus und der Versuch neuer Wertorientierung. Die nach dem Zusammenbruch von 1945 geschaffene politische Ordnung der Bundesrepublik stellt gegenüber der gekennzeichneten allgemeinen Entwicklung ein retardierendes Moment dar. Nach der Kapitulation von 1945 sahen die westlichen Alliierten in den Kirchen die einzigen großen gesellschaftlichen Gebilde, die — abgesehen von den dem NS-

Staat hörigen „Deutschen Christen" und einigen Einzelgängern — die Zeit des Nationalsozialismus aufs Ganze gesehen ohne allzu ungutes Paktieren durchgestanden hatten. Im Gegensatz zu den Weimarer Parteien sowie den Gewerkschaften und freien Verbänden, deren Kontinuität durch „Gleichschaltung"

oder Auflösung, durch Untergrund oder Emigration gestört war, standen sie für den Aufbau einer neuen Ordnung sofort zur Verfügung. Dazu kam, daß in den ersten Jahren nach der Niederlage — vor Beginn der Wohlstands-mentalität — in weiten Kreisen der Bevölkerung eine geistige Besinnung einsetzte. So wurden diese Jahre durch eine Renaissance kirchlichen Einflusses und religiösen Lebens geprägt. Die Aufführung religiöser Theater-stücke und Filme war selbstverständlicher Bestandteil damaliger Programme. Vorträge über religiöse Themen fanden allgemeines Interesse. In Speiseräumen von Hotels und Gaststätten war das Tischgebet nichts Außergewöhnliches. Fast vergessenes religiöses Brauchtum — etwa die Martinszüge — wurde neu belebt. Auch Persönlichkeiten und Gruppen, die den Kirchen nicht direkt verbunden waren, unterstrichen die Bedeutung des Christentums und der Kirchen für den Wiederaufbau und waren bei öffentlichen Gesprächen bereit, sich zu einem „christlichen Humanismus" zu bekennen, ohne daß allerdings völlig klar war, was die einzelnen darunter verstanden.

Somit war die Bundesrepublik in ihrer Aufbauphase nicht vom methodischen Atheismus, sondern eher von einem teils entschiedenen, teils säkularisierten Christentum geprägt. Die Präambel des Grundgesetzes versicherte unter breitester Zustimmung, daß sich das deutsche Volk diese politische Ordnung „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott" gegeben habe. Die Verfassungen mehrerer Länder bestimmten „Ehrfurcht vor Gott" als Erziehungsziel. Aus den Artikeln 1 und 6 des Grundgesetzes, die den Staat zum Schutz von Würde und Leben des Menschen sowie von Ehe und Familie verpflichten, wurden damals auch praktische Konsequenzen gezogen: Pornographie wurde ebenso bekämpft wie eine die Würde der Frau kränkende Werbung. Gegen grobe Verunglimpfung von Ehe und Familie in den Massenmedien schritten die entsprechenden Gremien ein. Auch dem ungeborenen Leben galt der Schutz der Rechtsordnung.

Bei der Gestaltung von Staat und Gesellschaft herrschte die Tendenz, „natürliche" Ordnungen und Vorgegebenheiten anzuerkennen und den verschiedenen besonderen Überzeugungen und Wünschen einzelner Bevölkerungsgruppen gerecht zu werden. Hiervon zeugt beispielhaft die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, die lapidar erklärte:

„Das natürliche Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, bildet die Grundlage des Erziehungsund Schulwesens." Die maßgeblichen Politiker dieses größten Bundeslandes richteten — unter Hintanstellung anderer Gesichtspunkte — ihr Hauptaugenmerk darauf, das Elternrecht zu respektieren und jeder einigermaßen gewichtigen Minderheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Votum von nur zwanzig bis dreißig Eltern reichte aus, um ihren Kindern die von ihnen gewünschte Schulart zu sichern. Dabei waren nicht nur katholische und evangelische Bekenntnisschulen sowie Gemeinschaftsschulen, sondern ausdrücklich auch Weltanschauungsschulen vorgesehen, in denen „die Kinder im Geiste der betreffenden Weltanschauung erzogen und unterrichtet" werden sollten.

Das bedeutet, daß man damals dem Elternrecht und dem Minderheitenschutz eindeutig Priorität gegenüber anderen Gesichtspunkten, wie etwa einer organisatorischen Perfektion, einräumte.

Im Bereich der Jugendpflege, der Sozialbetreuung und der Krankenversorgung gab die durch das Subsidiaritätsprinzip geprägte damalige Gesetzgebung allen Gruppen der Gesellschaft eine faire Chance zur Gründung und zum Unterhalt eigener Einrichtungen.

Man betrachtete es weithin unausgesprochen als „natürlich" und angemessen, daß im so-

zial-caritativen Bereich primär die der Nächstenliebe besonders verpflichteten christlichen Kirchen und andere sozial engagierte Einrichtungen tätig wurden und der Staat sich direkt jeweils nur dann einschaltete, wenn deren Angebote unzulänglich waren.

In allen Bereichen war der Staat bestrebt, vorgefundene Rechte zu achten und zu schützen und den freien Gruppierungen der Gesellschaft eine angemessene Entfaltungsmöglichkeit zu geben, um auf diese Weise berechtigten Wünschen von Mehrheiten und Minderheiten in gleicher Weise Rechnung zu tragen. Zu These 6: Die gegenwärtige Spannung zwischen Tendenzen der Gesetzgebung und Urteilen des Bundesverfassungsgerichts signalisieren eine Krise unseres Staates.

Die Väter des Grundgesetzes haben zweifellos gehofft, daß kraft der verfassungsmäßigen Anerkennung der Menschenrechte und insbesondere der Grundrechte die Achtung vor der menschlichen Person unwiderruflich gesichert sei. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht voll erfüllt. Die von religiöser Besinnung geprägte Anfangsphase der Bundesrepublik war nicht von Dauer. Bald setzte sich erneut eine einseitige Wissenschaftsorientierung samt dem damit verbundenen methodischen Atheismus als bestimmende Komponente durch.

• Insbesondere gewann die von den Sozialwissenschaften entwickelte funktionale Auffassung von der Gesellschaft an Boden. Je mehr sie das politische Denken beherrschte, desto spürbarer begannen sich die Prinzipien gesellschaftlicher Gestaltung zu ändern. Die neuen Tendenzen spiegeln sich bis in den politischen Sprachgebrauch wider: die Familie erscheint als „Sozialisationsagentur", die Mutter wird zur „ständigen Bezugsperson", der Ehe werden „eheähnliche Verbindungen" als ebenso achtbar zur Seite gestellt Bezeichnenderweise wird trotz der Präambel des Grundgesetzes bei diesen Neugestaltungen und Neuformulierungen von einer „Verantwortung vor Gott" kaum gesprochen. Ebensowenig ist bei den Diskussionen um die Schulreformen von dem in den Verfassungen mehrerer Bundesländer enthaltenen Erziehungsziel „Ehrfurcht vor Gott" die Rede. Weder der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates noch andere große Reformprogramme machen sich darüber Gedanken. Statt dessen betonen sie mit Nachdruck die Wissen-schaftsorientiertheit der Bildung.

Auch bei der Frage der Schulorganisation haben sich die Prioritäten deutlich verschoben. Eine bessere Gestaltung der Lernmöglichkeiten und eine Gesamtplanung werden im Interesse der Kinder — insbesondere im Interesse ihrer Chancengleichheit — für wichtiger gehalten als die Möglichkeit einer realen Ausübung des Elternrechts und die Berücksichtigung der Wünsche von Minderheiten bei der Schulwahl. Unüberschaubare Großsysteme erscheinen als das organisatorische Optimum. Auch im Gesundheitswesen wurden — zum Teil unter enormem Kostenaufwand — Groß-systeme eingerichtet. In ihnen können zwar die Apparaturen optimal ausgenützt werden, die Kranken jedoch fühlen sich in vielen Fällen hilflos einem a-personalen System ausgeliefert und menschlich vernachlässigt, zumal da nachweislich das Gefühl der Verlorenheit mit der Entfernung von der Wohnung wächst. Viele kleine ortsnahe Krankenhäuser — insbesondere in kirchlicher Trägerschaft — wur-den durch einseitige Bezuschussungssysteme zur Auflösung gezwungen.

Auf dem Gebiet der Jugendpflege bedeutet der kürzlich bekanntgewordene Referenten-entwurf für ein Jugendhilfegesetz eine volle Absage an den Gedanken der Subsidiarität und gibt dem Staat erheblich größere Möglichkeiten, die Eltern auszuschalten oder sich zumindest faktisch über deren Wünsche hinwegzusetzen

Diese Entwicklung bedeutet zugleich ein Vordringen des methodischen Atheismus, der infolge der Wissenschaftsorientiertheit der Politik immer mehr zum Gestaltungsprinzip der Gesellschaft geworden ist. Der religiös-weltanschauliche Pluralismus wird nicht mehr als positiver Faktor in die Gestaltung der Gesellschaft eingebracht, sondern in den privaten Raum vörwiesen. Es ist symptomatisch, daß konfessionelle Einrichtungen, insbesondere im Bildungsbereich, die in der Anfangsphase der Bundesrepublik weithin auch in staatlicher Trägerschaft errichtet wurden, nunmehr — sofern man sie nicht durch organisatorische Auflagen unmöglich macht — zunehmend in private Trägerschaft abgedrängt werden.

Das bedeutet insgesamt: je mehr im Sinne technokratischer Planungen die funktionale Komponente Priorität gegenüber anderen Gesichtspunkten gewinnt, desto konsequenter wird der methodische Atheismus zum Gestaltungsprinzip des Staates und die Religion zu einer rein privaten Angelegenheit. Und seither verbreitet sich auch im Hinblick auf Grundrechte und Menschenrechte Unsicherheit. Sie dokumentiert sich nicht zuletzt darin, daß in den letzten Jahren Gesetze verabschiedet worden sind, die dann vom Bundesverfassungsgericht als mit den Grundrechten nicht in Einklang stehend annulliert wurden.

Aber diese zum Teil spektakulären Differenzen zwischen gegenwärtigen Gesetzgebungstendenzen und den vor drei Jahrzehnten formulierten Menschen-bzw. Grundrechten, wie sie vor allem bei der Frage der Abtreibung zutagetraten, sind nur die Spitze eines Eisberges. Wer die Tendenzen der Zeit realistisch einzuschätzen sucht, muß die Frage stellen, was in der heutigen Verfassungswirklichkeit der im Grundgesetz garantierte Schutz von Ehe und Familie, das im Grundgesetz garantierte natürliche Erziehungsrecht der Eltern oder auch die im Grundgesetz geforderte Treue zur Verfassung bei Lehrveranstaltungen faktisch noch bedeuten. Schließlich muß auch die Frage gestellt werden, ob die praktische Handhabung der sogenannten „sozialen" Indikation vielerorts der vom Verfassungsgericht verworfenen Fristenlösung gleichkommt. Daß hier von den ursprünglichen Intentionen des Grundgesetzes mehr oder weniger lautlos erhebliche Abstriche gemacht worden sind und gemacht werden, läßt sich kaum bestreiten. So zeigt sich an vielfältigen Symptomen eine unterschwellige, aber tiefgreifende Krise unseres Staates. Die Urteilsschelte und die massi-

ver Versuche, die Richter des Bundesverfassungsgerichtes durch öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen, erhalten ihre besondere Schärfe dadurch, daß es für einen Teil der Politiker nicht mehr einsehbar ist, warum der Wille des im Parlament repräsentierten souveränen Volkes jeweils dann nicht zum Zuge kommen darf, wenn er sich mit den Intentionen eines vor über dreißig Jahren beschlossenen Grundgesetzes nicht in Einklang bringen läßt. Denn nachdem Gott aus der offiziellen Argumentation gestrichen ist, läßt sich kein zwingender Grund dafür angeben, weshalb bestimmte Grundrechte auch unabhängig von Mehrheitsverhältnissen des Parlaments als in ihrem Wesensgehalt unveränderlich respektiert werden müssen. Ein Grundgesetz, das durch eine Mehrheit beschlossen ist, kann nach Ansicht vieler Politiker „selbstverständlich" auch durch eine entsprechende Mehrheit wieder geändert werden.

Zu These 7: Gerade eine pluralistische Konzeption der Gesellschaft bedarf einer Entscheidung über die Basis ihrer Toleranz.

Die gegenwärtige Spannung zwischen dem Gesetzgebungswillen der Bundestagsmehrheit und den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes beruhen letzten Endes auf der Spannung zwischen der Theorie der Volks-souveränität und dem Gedanken der Menschenrechte. Hierbei geht es um eine Prioritätsfrage von größter Bedeutung. Die Bill of Rights von Virginia, die älteste Gesamtkonzeption des neuzeitlichen Rechtsstaates, hat hier eine klare Entscheidung getroffen. Sie stellt zunächst im Artikel 1 fest, daß alle Menschen von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig sind und gewisse angeborene Rechte besitzen, „deren sie, wenn sie den Status einer Gesellschaft annehmen, durch keine Abmachung ihre Nachkommen berauben oder entkleiden können ..." Erst der Artikel 2 erklärt dann, daß alle Macht dem Volke zukommt und folglich von ihm her geleitet wird. Vergleichbares gilt von anderen Menschenrechtserklärungen und insbesondere auch von unserem Grundgesetz.

Diese Prioritätsentscheidung beruht geschichtlich auf der christlichen Grundüberzeugung, daß jeder einzelne Mensch einen unaufwägbaren und unverrechenbaren Wert hat, da er in seiner je personalen Besonderheit und Einmaligkeit von Gott bejaht ist. Daher ist es verständlich, daß diese Prioritätsentscheidung überall dort als mehr oder weniger selbstverständlich akzeptiert wird, wo christliche Grundüberzeugungen direkt oder indirekt nachwirken.

Dagegen ist es unmöglich, diese Prioritätsentscheidung für die Menschenrechte gegen die Volkssouveränität rein weltimmanent überzeugend zu begründen. Selbstverständlich gilt es bei uns zum Beispiel als allgemein anerkannt, daß der Staat dem einzelnen Menschen die persönliche religiöse Entscheidung nicht abnehmen darf. Angesichts dieser, zumindest vorerst bei uns noch allgemeinen Überzeugung, wird zumeist die Frage nicht mehr gestellt, auf welchen Vorentscheidungen der Grundsatz dieser freien geistigen Selbstbestimmung des einzelnen beruht. Sobald man diese Frage jedoch stellt, muß man erkennen, daß es sich keineswegs um eine Selbstverständlichkeit handelt.

Dies wird sofort klar, wenn man den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse in den verschiedensten Systemen unserer heutigen Welt lenkt. Der Grundsatz der Religionsfreiheit bedeutet eine klare Absage an alle Systeme und Deutungen des Menschen und der Welt, die es für angemessen und notwendig halten, dem einzelnen Menschen die Entscheidung über sein Selbst-und Weltverständnis abzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie diese Einschränkung der persönlichen Freiheit mit einer grundsätzlichen Priorität kollektiver Entscheidungen begründen oder ob sie versichern, nur im Interesse der bevormundeten Einzelnen selbst zu handeln, die sonst infolge mangelnder Einsicht oder auch eines falschen Bewußtseins ihren eigenen Fortschritt und ihr eigenes Glück verspielen würden. Wie aber soll diese Absage begründet werden gegenüber Menschen, die mit Marx davon überzeugt sind, daß die Aufhebung als des illusionären Glückes des Förderung seines wirklichen Glückes sei? der Religion Volkes die Angesichts dieser Problematik kann man die paradoxe Formulierung wagen: Die Überzeugung, daß der Staat Religionsfreiheit zu gewähren habe, beruht — ebenso wie die Menschenrechte insgesamt — letztlich auf einer bestimmten religiösen Überzeugung: auf der christlichen Überzeugung, daß für den einzelnen Menschen das Gewissen die höchste subjektive Norm des Handelns ist und daß der Mensch den liebenden Anruf Gottes nur in Freiheit in angemessener Art und Weise erwidern kann.

So ist es kein Zufall, daß überall dort, wo christliche Grundüberzeugungen völlig fehlen, auch die Achtung vor den Menschenrechten gefährdet ist. Dies gilt sowohl für die realen Erfahrungen in ideologischen wie auch in vom methodischen Atheismus geprägten Staaten. Die ideologisch-atheistischen Staaten gehören auch nach den Feststellungen neutraler internationaler Organisationen — wie etwa Amnesty International — zu den Staaten, in denen die Menschenrechte besonders schwer verletzt werden. Aber auch in den wissenschaftsorientierten westlichen Demokratien wächst die Gefährdung des Menschen als Menschen ständig. Denn der Fortschritt, den die durch methodischen Atheismus geprägten Wissenschaften erreichen, ist wertblind und entpuppt sich in vielen Fällen selbst als neue, bisher kaum vorstellbare Bedrohung. Hier sei nochmals an die Ausführungen zu These 4 erinnert. Die Menschenrechte werden dann zwar in der Regel nicht offen bestritten, jedoch neu interpretiert oder so gegeneinander — etwa Kindesrecht gegen Elternrecht oder Persönlichkeitsrechte gegen Sozialverpflichtungen — ausgespielt, daß sie sich faktisch gegenseitig aufheben und den jeweilig Regierenden im konkreten Fall freie Hand lassen.

Eine dauerhafte Respektierung der Menschenrechte und des Grundgesetzes läßt sich anscheinend bei einer völligen Privatisierung der Religion und einer faktisch atheistischen Konzeption der Gesellschaft nicht sichern. Daher ist — so paradox es für den ersten Augenblick klingen mag — eine solche Konzeption nicht nur für den Christen, sondern letzten Endes auch für den durch eine solche Konzeption zunächst . privilegierten Atheisten problematisch, ja gefährlich, da auch er einer absoluten Verfügbarkeit ausgesetzt wird. Auch der Atheist muß — sofern er die Dinge realistisch sieht — heute fragen, wie eine ideologisch oder technokratisch konzipierte atheistische Gesellschaft wirkungsvoll dazu gebracht werden kann, den Menschen als Menschen auch dann zu achten, wenn eine Verfügung über ihn oder im Extremfall seine schmerzlose und hygienisch einwandfreie Beseitigung im Interesse des „Glücks" anderer oder einer fortschrittlichen allgemeinen Entwicklung wünschenswert oder gar geboten erscheint. Eine befriedigende Antwort steht bis heute aus.

Daß die positive Orientierung an der Verantwortung vor Gott und an von ihm vorgegebenen Grundordnungen nicht mit einer Intoleranz gegenüber Atheisten und anders Denkenden verbunden sein muß, bezeugt geradezu symbolisch die Eidesformel im Artikel 56 des Grundgesetzes: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde.

So wahr mir Gott helfe." Im unmittelbaren Anschluß an diese Formel, die die Anrufung Gottes einschließt, steht die Bestimmung:

„Der Eid kann auch ohne religiöse Beteue-rung geleistet werden."

Diese Regelung des Grundgesetzes steht im bewußten Gegensatz zur Regelung der Weimarer Republik. Dort heißt es im Artikel 42 nach der Eidesformel des Reichspräsidenten, in der Gott nicht angerufen wird: „Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig." Eine Gegenüberstellung dieser beiden Regelungen zeigt einerseits, daß weder die eine noch die andere als untolerant bezeichnet werden kann. Sie zeigt jedoch deutlich den Unterschied zwischen einer grundsätzlich atheistischen Regelung, die eine Toleranz gegenüber Christen und anderen Gläubigen praktiziert, und einer Verfassung, die sich grundsätzlich Gott verpflichtet weiß, jedoch gegenüber Atheisten und anders Denkenden tolerant ist.

Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, daß sich aus der christlichen Grundüberzeugung die Forderung nach Toleranz gegenüber den Nicht-Christen mit innerer Notwendigkeit ergibt, während es umgekehrt für den Atheisten keine innere Notwendigkeit gibt, Toleranz gegenüber Christen und anderen Gläubigen zu üben. Für ihn ist die Entscheidung für oder gegen Toleranz eine zusätzliche Frage.

Diese theoretischen Feststellungen werden durch die geschichtlichen Erfahrungen bestätigt. Nach allen Erfahrungen, die bis heute gemacht worden sind, scheint es nicht möglich zu sein, eine menschenwürdige gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn dabei von Gott völlig abgesehen wird. Es scheint sich in einer folgenschweren Entwicklung ein Wort zu bestätigen, das Karl Jaspers bereits vor Jahrzehnten ausgesprochen hat: „Es ist unmöglich, daß dem Menschen die Transzendenz verlorengeht, ohne daß er aufhört, Mensch zu sein." Wenn es nicht gelingt, den methodischen Atheismus unserer wissenschaftlich-technischen Welt zu überwinden, dann sind die Weichen zu einer post-humanen Gesellschaft bereits gestellt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Hamburg 1970, S. 60.

  2. ibw-Journal, August 1978 (Sonderheft), ibw-Verlag, Paderborn, Busdorfwall 16.

  3. I. Newton, Die mathematischen Prinzipien der Naturlehre, 3. Buch, 5. Abschn., hrsg. v. J. Wolfers, BerIlin 1872, S. 511.

  4. A. Comte, Discours sur 1'esprit positif., dtsch. übers., Einleitung und Herausgabe: I. Fetscher, Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg 1956, S. 27.

  5. A. Comte, Systeme de politique ou traite de sociologie instituant la religion de l'humanite, Paris 1851— 1854/Paris 1924, Appendice, S. 77, Prospectus des travaux scientifiques necessaires pour reorganiser la societe, April 1822, Comte, Positive Philosophie, dtsch. zitiert nach: Texte der Philosophie, hrsg. v. E. Hunger u. a., München 1961, S. 17 bis 20 passim.

  6. Inzwischen hat sich die Lage in dieser Hinsicht allerdings grundlegend geändert, vgl. Hugo Stau-dinger, Die Glaubwürdigkeit Gottes in unserer modernen Welt, in: ibw-Sonderdruck zu Heft 12/1978.

  7. 1843 in: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 375.

  8. Ebd„ S. 378.

  9. Weltall-Erde-Mensch, Geleitwort von W. Ulbricht, Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur u. Gesellschaft, Leipzig 1956.

  10. Parteiprogramm der KPdSU, eing. u. kommentiert von Thomas, Köln 1962, S. 118.

  11. Diese Feststellung gilt trotz der beachtlichen Anzahl von Systemkritikern aus dem Bereich der Wissenschaften; denn rein zahlenmäßig stellen diese Systemkritiker trotz allem eine Minderheit dar, und zudem ist in den wenigsten Fällen die Wissenschaft das entscheidende Motiv ihrer Kritik, sondern zumeist die innere Empörung über die Behandlung von Menschen. Es ist beachtenswert, daß sich kaum einer der Systemkritiker zum Atheismus bekennt, daß sich dagegen die meisten ausdrücklich auf religiöse Überzeugungen berufen.

  12. W. Girnus, Zur Idee der sozialistischen Hochschule, Berlin 1957, S. 37.

  13. Zu diesem Problem vergleiche: Staudinger/Behler, Chance und Risiko der Gegenwart. Eine kritische Analyse der wissenschaftlich-technischen Welt, Paderborn 1976.

  14. Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, rde Nr. 171/172, S. 303.

  15. Brief vom 24. September 1971, vgl. Hugo Staudinger/Max Horkheimer, Humanität und Religion. Briefwechsel und Gespräch, Würzburg 1974, S. 53.

  16. Brief vom 24. Oktober 1971, ebd., S. 55.

  17. Vgl. Archiv der Gegenwart 1956, Essen/Wien/Zürich; vgl. auch H. Hilgenberg u. a., Unsere Geschichte — Unsere Welt, Bd. 3, S. 241.

  18. Max Horkheimer, Zur« Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1967, S. 15.

  19. ADAC-Motorwelt, Heft 11/1978, S. 12 f.

  20. Bekanntlich wurden die ersten Retortenbabys in Italien gezüchtet, um keimfreie Haut für Transplantationen zu gewinnen, der „Rest der Kinder" war Abfall.

  21. Vgl. Staudinger/Behler, a. a. O., S. 200.

  22. Vgl. hierzu ibw-Journal, Heft 12/1975.

  23. Vgl. hierzu ibw-Journal, Heft 4/1978.

  24. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Fischer Bücherei 91, S. 212.

Weitere Inhalte

Hugo Staudinger, geb. am 5. Juli 1921 in Dresden; seit 1962 o. Professor an der Gesamthochschule Paderborn; Leiter des Instituts für wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung der Forschungsstelle des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen. Veröffentlichungen: Mensch und Politik, Trier 1967; Gott: Fehlanzeige?, Trier 1968; Mensch und Staat im Strukturwandel der Gegenwart, Paderborn 1971; Die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien, Würzburg 19774; Mitautor des dreibändigen Werkes Unsere Geschichte — Unsere Welt, München 1967— 692; Humanität und Religion. Briefe und Gespräche mit Max Horkheimer, Würzburg 1974.