Jugend und Militär Zur Sozialgeschichte militärischer Erziehungsinstitutionen in Deutschland
Jürgen-K. Zabel
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Zusammenfassung
Geschichte und Geschichtsdidaktik nehmen sich in steigendem Maße der Themen an, die bisher neben der „offiziellen" Geschichtsschreibung nur am Rande Beachtung gefunden haben. Insbesondere die Geschichte der Familie, der Kindheit, der Schule oder der Technik sind historische Felder, die erst jetzt allmählich von der historischen Forschung entdeckt werden und vereinzelt Eingang in die Geschichtsbücher finden. Die Militärgeschichtsforschung hat diesen Sprung noch nicht getan. Sie galt und gilt immer noch als ein Reservat von Spezialisten, die den historischen Gegenstand Militär nur allzuoft in den inhaltlichen und methodologischen Rahmen der Politikgeschichte zwängen. Unter sozialgeschichtlichem Aspekt jedoch, unter der Fragestellung nach den sozialen Strukturen, Schichten und Prozessen, nach den gesellschaftlichen Konflikten und Kooperationen müssen die Gegenstände militärhistorischer Forschung erweitert werden. So gehört sicherlich die Analyse von Sozialisationsprozessen in und um das Militär mit zu dieser Erweiterung. Militärhistorische Sozialisationsforschung leistet einen Beitrag zur Aufklärung über die Sozialisationsprozesse, die innerhalb und außerhalb der Armee insofern Bedeutung erlangt haben, als sie die Gesellschaft und den gesellschaftlichen Wandel beeinflußten. Die Frage nach den Hintergründen und Interessen dieser Beeinflussung kann historische Veränderungsprozesse unter neuen oder ergänzenden Gesichtspunkten erklären. Die Auseinandersetzung mit historischen Sozialisationsformen und -agenturen im Bereich des Militärs, mit ihren weitreichenden gesellschaftlichen Wirkungen und ihrer historischen Kontinuität erscheint zudem als ein didaktisches Problem, das seine höchst aktuelle Dimension im Horizont historischer Friedenserziehung findet. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Institutionalisierung militärischer Jugenderziehung in Preußen und im späteren Kaiserreich zu skizzieren: 1. Militärwaisenhäuser und Garnisonschulen als industrielle Arbeitsstätten für Kinder und Jugendliche, die durch ihre Einbindung in den militärischen Produktionsapparat gleichzeitig ein leicht verfügbares Rekrutierungspotential für das Heer bildeten. 2. Unteroffiziersschulen und Kadettenanstalten als militärische Nachwuchsorganisationen des Kaiserreichs. Schwerpunktmäßig werden dabei die Sozialisationspraktiken im preußischen Kadetten-korps behandelt, eine Institution, die bis 1918 bestanden hat und von nahezu alle höheren Offizieren des kaiserlichen Militärs durchlaufen wurde. Die Kenntnis der teilweise über Jahrhunderte tradierten Sozialisationstechniken in den Kadettenanstalten vermag vielleicht ein Licht zu werfen auf Sozialcharakter und Bewußtseinsstrukturen der wilheminisehen Militäreliten.
I. Zur geschichtsdidaktischen Begründung militärhistorischer Sozialisationsforschung
Die Beschäftigung mit historischen Sozialisationsprozessen im Bereich des Militärs bedarf der Begründung. Dabei ist auszugehen von dem Leitinteresse, das den historischen Gegenstand unter Berücksichtigung aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen provoziert. In aller gebotenen Kürze läßt sich dieses Interesse auf zwei Ebenen abhandeln: — Auf einer geschichtswissenschaftlichen Ebene, die das „Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte" in den Mittelpunkt historischer Forschung rückt, und — auf einer politikdidaktischen Ebene, die die Bedeutung militärischer Sozialisationsprozesse in unserer Geschichte in den Zusammenhang der Notwendigkeit historisch-politischer Lernprozesse stellt. 1. „Kontinuitätsproblem" und militärische Sozialisation Militärische Jugenderziehungsinstitutionen wie Militärwaisenhäuser, Garnisonschulen, Unteroffiziersschulen oder Kadetteninstitute sind vom heutigen Standpunkt aus, schon auf Grund der Tatsache, daß sie überwiegend bis ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Armee fielen, mit Recht diskreditiert. Es scheint jedoch, als ob ein solches Vorverständnis dazu beigetragen hätte, diese Form jugendlicher Erziehung aus dem Bereich historischer Sozialisationsforschung auszuklammern. Militärische und vormilitärische Jugenderziehung gehören bisher zu den ver-nachlässigten Randgebieten historischer und didaktischer Forschung. Sieht man einmal von der nationalsozialistischen Zeit ab, für die einige Arbeiten vorliegen, insbesondere über die Hitlerjugend und über die soge-nannten nationalpolitischen Erziehungsanstalten, die institutionell teilweise die Nachfolge der kaiserlichen Kadettenanstalten angetreten hatten so bleiben vor allem die wichtige Arbeit von Klaus Saul mit einem grundlegenden Überblick über die Militarisierung der wilhelminischen Jugendpflege und, aus der historischen Jugendliteraturforschung, als ein spezifischer Bereich historischer Sozialisationsforschung die Analyse von Marieluise Christadler über „Kriegserziehung im Jugendbuch" Doch wartet hier ein historisches Feld auf eine kritische Analyse, das bisher weitgehend von vaterländisch-affirmativer bis apologetischer Literatur beherrscht wurde. Gerade unter der Fragestellung nach der Entstehung des Nationalsozialismus, einer Frage, die kürzlich erst wieder durch „Holocaust" aktualisiert wurde, kommt den Sozialisationsbedingungen militärischer Erziehungsinstitutionen hohe Bedeutung zu.
Hans-Ulrich Wehler hat in seiner stark beachteten Arbeit über das deutsche Kaiserreich vor allem diesen Gedanken erkenntnis-leitend akzentuiert Er fordert einen Aufklärungsprozeß, der „nach den eigentümlichen Belastungen der deutschen Geschichte .. ., nach den schweren Hemmnissen, die der Entwicklung zu einer Gesellschaft mündiger, verantwortlicher Staatsbürger entgegengestellt worden sind" fragt, und er stellt zu Recht fest: „Ohne eine kritische Analyse dieser historischen Bürde, die namentlich im Kaiserreich immer schwerer geworden ist, läßt sich der Weg in die Katastrophe des deutschen Faschismus nicht erhellen"
Zwar räumt Wehler ein, daß die neuere deutsche Geschichte keineswegs ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Aufstieg und Untergang des Nationalsozialismus beurteilt werden sollte, gleichwohl sei es unausweichlich, „vorrangig von diesem Problem auszugehen"
Wenn Wehler dann in einem späteren Kontext anregt, daß es sinnvoll wäre, „Militärdienst und Sozialmilitarismus auch im Zusammenhang der Erziehungsinstitutionen als weitere Mittel der Disziplinierung und Absicherung der Herrschaftsverhältnisse zu erörtern" so ist damit genau die erkenntnisleitende Fragestellung umrissen, die hier herausgehoben werden soll. Sie läßt sich — etwas aufgefächert — auch wie folgt formulieren: In Anlehnung an das von Wehler artikulierte Interesse an Aufklärung über die Genese des 1 deutschen Nationalsozialismus, das ein Interesse an Aufklärung über den Anteil, den das Militär an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung gehabt hat, einschließt, stellt sich die Frage, welche Bedeutung militärische Erziehungsinstitutionen des Kaiser-reichs, auch in ihren historischen Bezügen, für Armee und Monarchie hatten. Welche geistige Grundhaltung, welche Einstellungen, welche Werte wurden unter welchem Interesse und mit welcher Absicht vermittelt?
Welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wurden durch das Festhalten der Monarchie und der sie unterstützenden militärischen Kreise an den überlieferten militärischen Erziehungsstrukturen verhindert und welche gefördert? Und schließlich: Welchen Einfluß nahm das Militär, z. B. in Form vormilitärischer Jugenderziehung, auf schulische und außerschulische Sozialisationsfelder mit der Folge eines bis dahin in der deutschen Geschichte nicht gekannten Ausmaßes an gesellschaftlichem Militarismus?
Diese Fragestellungen, und daran ist kein Zweifel zu lassen, haben neben ihrer sozial-geschichtlichen Relevanz vor allem eine hohe didaktische Bedeutung. A. Kuhn hat darauf hingewiesen, daß das hier von Wehler akzentuierte Interesse an historischer Aufklärung im Grunde ein pädagogisches Interesse ist, das auf die Erziehung „zum mündigen Bürger, zum demokratischen Traditionsbewußtsein und zum Widerstand gegen faschistische Tendenzen der Gegenwart" zielt 2. Geschichtsdidaktik, Jugendgeschichte und historisch-kritische Friedenserziehung Neben dieser grundsätzlichen pädagogischen Bedeutung bedarf ein weiterer Zusammen-hang aus geschichtsdidaktischer Sicht der Erläuterung. Zunächst muß mit A. Kuhn festgestellt werden, daß Geschichte bisher noch niemals vom emanzipatorischen Erkenntnisinteresse des Schülers her geschrieben worden ist: . die Geschichtswissenschaft hat sich nicht die Interessen der Schüler als Initiative für ihre Forschung zu eigen gemacht. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß der Geschichtsunterricht zunächst wenig Material für die Schüler bietet, das ihren Interessen entgegenkommt. Die durch die Geschichte er-schließbaren Erfahrungswelten der Schüler, wie etwa die Geschichte der Arbeiter, der Angestellten, der Frauen, die Geschichte der Schule, des Gefängniswesens, des Militärs, der Familie, der Jugendlichen usw., gehören nur zu den Randzonen der . eigentlichen'Geschichte." Dabei wäre z. B. eine Geschichte der Jugendlichen und Kinder, in didaktischer Absicht erarbeitet, von vornherein geeignet, das Interesse der Schüler zu gewinnen, weil gerade durch sie paradigmatisch Sensibilität für historisch bedingte und'aktuell erfahrene Emanzipationsdefizite herzustellen wäre.
Jüngere historische Forschungen lassen nämlich den Schluß zu, daß eine Geschichte der Jugendlichen, die immer auch Teil einer Erziehungsgeschichte ist, eher unter dem Aspekt zunehmender Disziplinierung geschrieben werden müßte als unter der Sicht fortschreitender Emanzipation. So bemerkt H. v. Hentig im Vorwort zu Aries" „Geschichte der Kindheit" daß die Darstellung der historischen Entwicklung der Familienerziehung und Schulbildung als eine fortschrittliche Entwicklung zu mehr Freiheit und sozialer Offenheit falsch ist: „Die Geschichte der von Aries untersuchten vier Jahrhunderte zeigt im Gegenteil eine Zunahme von Unfreiheit, sozialer Abschließung und Repression durch die Erwachsenen."
Desgleichen resümiert K. Rutschky einleitend zu ihrem Buch „Schwarze Pädagogik", das eine beeindruckende Sammlung grauenhafter Dokumente zur „Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung" enthält daß sich, historisch gesehen, die erzieherische Einstellung nicht funktional entlang der gestellten Aufgabe der Wissensvermittlung entwickelt habe, vielmehr sei sie aus dem Bedürfnis der Familien und Lehrer hervorgegangen, „die Lebensführung der Schüler außerhalb des Unterrichts zu kontrollieren" Dementsprechend stellt sie fest: „Erziehung und Disziplinierung sind seither fast identisch. In der traditionellen Gesellschaft sind die Fortschritte der Erziehung die Fortschritte der Disziplin."
Auch M. Foucault zeigt beispielsweise die erzieherischen Implikationen eines historischen Disziplinierungsprozesses, der, ausgehend vom Militär, alle die gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen erfaßte, in denen sich Sozialisation unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle vollzog
Unter diesen Voraussetzungen wäre militär-historische Sozialisationsforschung allgemein und die Geschichte militärischer Erziehungsinstitutionen im besonderen einzuordnen in eine durch emanzipatorisch-didaktisches Erkenntnisinteresse bestimmte Jugendgeschichte. Als materiale Aufarbeitung eines spezifischen Teils dieser Geschichte wäre demnach primär nach den Inhalten und Formen militärisch institutionalisierter Disziplinierung zu fragen. Es wäre aufzuzeigen, in welcher Weise staatliche Interessen in die institutionell vorherrschenden Erziehungs-und Sozialisationspraktiken eingingen und welche Ergebnisse diese Praktiken bewirkten.
Ein weiterer didaktischer Aspekt ergibt sich aus der Nähe der Thematik zur Militärgeschichte. Unter dieser Perspektive taucht die Frage nach der friedenserzieherischen Bedeutung einer Beschäftigung mit militärischen Sozialisationsprozessen auf. Allerdings ist der Zusammenhang von Friedensforschung und Friedenserziehung einerseits und Militär-geschichte andererseits eher vom gegenseitigen Mißtrauen der Wissenschaftler als von Kooperation geprägt. Den meines Wissens einzigen und leider bisher unaufgegriffenen Ansatz, der versucht, diesen Zusammenhang in seinen theoretischen Implikationen zu skizzieren und zu entwickeln, ist von W. Wette unternommen worden Dabei er-scheint es unverzichtbar, in einer Zeit zumal, in der das militärische Vernichtungspotential auf der Welt Dimensionen angenommen hat, die nur noch in „Overkill-Kapazitäten" zu messen sind, Frieden zum Gegenstand von Lernprozessen zu machen, und dies auf allen Ebenen historischer und politischer Vermittlungsprozesse.
Für den hier skizzierten Zusammenhang lassen sich mit A. Kuhn die Umrisse einer historischen Friedenserziehung etwa so anzeigen: Die Hindernisse des Friedens sind weder allein anthropologisch noch allein gesellschaftlich bestimmbar. Friedensbarrieren haben „eine historische Dimension und sind entsprechend nur mit Hilfe einer historisch-kritischen Aufklärung zu überwinden. Indem Geschichte in ihrer Funktion als eine unsere gegenwärtige Friedenspraxis hemmende bzw. fördernde Instanz erkannt wird, wird sie zu einem unumgänglichen Bestandteil einer kritischen Friedenserziehung." Das Lernziel des historisch-kritischen Lernprozesses Emanzipation fällt so mit dem Richtziel historischer Friedenserziehung zusammen. Historische Friedenserziehung wird demnach von Kuhn definiert als die „Erziehung zur kritischen Überwindung friedenshemmender Traditionen und zum Aufbau friedensfördernder Entscheidungsnormen und Wertkriterien" Dabei muß jedoch betont werden, daß ein bestimmter gesellschaftlicher Friedenszustand hier nicht normativ bestimmt werden kann. Erst an Hand konkreter Entscheidungssituationen im Lernprozeß wird der Friedensbegriff eingegrenzt, und — das bestimmt den prinzipiell offenen Ansatz dieser didaktischen Theorie — durch den Lernprozeß gleichzeitig auf seine Haltbarkeit hin befragt.
Bezogen auf die Sozialisation in militärischen Erziehungsinstitutionen wäre demnach konkret die Frage nach den hier vermittelten friedenshemmenden Einstellungen und Wert-kriterien zu stellen; zu analysieren wären beispielsweise die in der Kadettenerziehung zur Verfügung gestellten militärischen Normen auf ihre Bedeutung für Krieg und Frieden; und zu fragen wäre schließlich auch nach der Dauerhaftigkeit der Übertragung friedenshemmender Wertkategorien von der Armee auf militärische Erziehungsinstitutionen und umgekehrt.
Zusammenfassend läßt sich die geschichtsdidaktische Problemstellung militärhistorischer Sozialisationsforschung noch einmal wie folgt bündeln: 1. Im Rahmen der geschichtswissenschaftlich und geschichtsdidaktisch relevanten Fragestellung nach den Gründen für die antidemokratische Entwicklung der deutschen Geschichte, die im Nationalsozialismus kumulierte, ist der spezifisch antidemokratische Anteil militärischer Erziehungsinstitutionen an diesem Entwicklungsverlauf zu erschließen. 2. Im Rahmen einer Rekonstruktion der Geschichte militärischer Erziehungsinstitutionen als Teil einer in didaktischer und praktischer, auf Emanzipation angelegten Absicht zu referierenden Jugendgeschichte ist die spezifisch friedenshemmende und kriegsfördernde Tradition militärischer Erziehungsinstitutionen aufzuzeigen und zu begründen.
Im folgenden soll nun skizzenhaft versucht werden, Materialien zur Sozialisationsgeschichte militärischer Erziehungsinstitutionen im 18. und 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Sozialisationsbedingungen im preußischen Kadettenkorps des Kaiserreiches zur Verfügung zu stellen. Dies mit der Absicht, zu historisch-politischer Arbeit im Umfeld militärhistorischer Sozialisationsforschung unter den in Umrissen angedeuteten didaktischen Prämissen anzuregen.
II. Zur Institutionalisierung militärischer Jugenderziehung in Preußen
Die Gründungen militärischer Erziehungsinstitutionen etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts fanden ihre Erklärung weniger in der von der apologetischen zeitgenössischen Literatur propagierten sozialen Einstellung der regierenden Häuser vielmehr lagen ihr handfeste politische Interessen zugrunde. Zunächst stieg der Bedarf an militärischem Führungspersonal während der schlesischen Kriege enorm an. Die hohen Verluste in den zahllosen Gefechten zwangen Friedrich II., in vermehrtem Umfang auch Kinder und Jugendliche als Offiziere und Unteroffiziere einzusetzen; diese wurden zuvor in eigens dafür geschaffenen Militärschulen dazu erzogen
Zum anderen entwickelte sich die zunehmend wachsende Zahl der Kriegswaisen und -witwen zum Problem. Um diese kümmerte sich in der Regel niemand; sie zogen vagabundierend durchs Land und versuchten, von einem zum anderen Tag zu überleben, von der bürgerlichen Gesellschaft gemieden und erst allmählich mit der Gründung von Garnisonen seßhaft werdend.
Gustav Freytag schrieb in den Bildern aus der deutschen Vergangenheit: „Die Soldaten-frauen und -kinder zogen nicht mehr wie zur Landsknechtszeit ... ins Feld, aber sie waren eine schwere Last der Garnisonstädte. Die Frauen nährten sich kümmerlich durch Waschen und andere Handarbeiten, die Kinder wuchsen in wilder Umgebung ohne Unterricht auf. Fast überall waren ihnen die städtischen Schulen verschlossen, sie wurden von dem Bürger wie Zigeuner verachtet."
Friedrich Meinecke registrierte für das Berlin der 1780er Jahre bei etwa 17 000 Soldaten rund 6 000 Soldatenfrauen und 7 300 Soldatenkinder, und er spricht treffend in diesem Zusammenhang von den Soldatenfamilien als dem Vorläufer des modernen Proletariats R. Koselleck vermerkt für das Jahr 1786 in Berlin sogar 60 000 Soldaten mit Angehörigen bei einer Einwohnerzahl von 150 000, und er stellt weiter fest: . von den Soldaten waren im Durchschnitt rund die Hälfte zur Arbeit beurlaubt, manche Fabrik konnte wörtlich als Kaserne und umgekehrt angesehen werden, Frauen und Kinder waren zumindest mit Spinnen beschäftigt"
Angesichts dieser Bedingungen erhalten die Gründungen militärischer Erziehungsinstitutionen einen anderen als einen sozialfürsorgerischen Stellenwert. Waisen-und Soldatenkinderhäuser und Garnisonschulen wurden sowohl zur Sicherung des militärischen Nachwuchses aufgebaut als auch zu dem Zweck, die Heere vagabundierender Kinder durch die disziplinierende Wirkung militärischer Sozialisation in den Griff zu bekommen.
III. Militärische Sozialisation in Beispielen
1. Das Militär-Waisenhaus Potsdam Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wurden von den Landesherren fast überall in Deutschland Militärwaisenhäuser gegründet. Die bekanntesten waren: das Militärknabenerziehungsinstitut Annaburg, das königliche Militärkinderhaus Stralsund, die Erziehungsanstalt für Soldatenkinder zu Struppen und schließlich das „Königliche Potsdamsche Große Militär-Waisenhaus" mit der seit 1829 in Schloß Pretzsch/Elbe bestehenden Mädchenabteilung, in der weibliche Soldatenwaisen zu Dienstboten erzogen wurden.
Kennzeichnend für die hier vorgestellten Institutionen war, daß in ihnen militärische Sozialisation und die disziplinierende Funktion industrieller Arbeit als gezielte Mittel militärischer Subordination eingesetzt wurden.
Anhand des Potsdamschen Militärwaisenhauses hierzu einige skizzenhafte Ausführungen:
Die preußischen Militärwaisenhäuser wurden von aktiven Offizieren geleitet und standen unter militärischem Regulativ. Die Kinder, auch die Mädchen, waren uniformiert und die Jungen hatten für jedes im Waisenhaus verbrachte Jahr zwei Jahre in der Armee zu dienen, mindestens jedoch neun Jahre
Militärische durch -Erziehung wurde regelmä ßige Drill-und Exerzierübungen, eine dem Heer angeglichene hierarchische Struktur und die Unterwerfung unter das Militärrecht festgeschrieben. Der Schulunterricht beschränkte sich lange Zeit auf „Christentum, Lesen, Schreiben und Rechnen"
Die Hauptarbeit der Waisen bestand jedoch in der industriellen und manufaktureilen Produktion. So unterhielt man in der Mädchen-abteilung des Potsdamer Waisenhauses vor der Verlegung nach Pretzsch eine ausgedehnte Klöppelspitzenproduktion, die teilweise acht Säle umfaßte und in der auch kleinere Jungen beschäftigt wurden. Die Erzeugnisse, so heißt es, haben mit Brüsseler Fabrikaten konkurrieren können
Die Kinder wurden jedoch nicht nur in den militärischen Produktionsbetrieben eingesetzt, sondern in vermehrtem Maße auch an Berliner Betriebe verliehen Für das Jahr 1778 wird die Zahl von 1 950 arbeitsfähigen Kindern des Potsdamer Militärwaisenhauses angegeben Mit den Meistern der umliegenden Manufakturen wurden in der Regel Kontrakte abgeschlossen, die eine gewisse handwerkliche Ausbildung sichern sollten. Dafür zahlten diese wenige Groschen monatlich an das Waisenhaus Die Chronik des Potsdamer Militärwaisenhauses beschrieb diesen Zustand wie folgt: „Es war kein Fabrikant christlicher oder jüdischer Religion, welcher sich in Potsdam, ja selbst in Berlin niederließ, der nicht Kinder aus dem Potsdamer Waisenhaus zum Betrieb seiner Industrie verlangt hätte. Die offerierten Bedingungen waren wie aus einer Form gegossen und liefen dahin hinaus: das Waisenhaus gibt die Kinder und die Unterhaltungskosten her; die Entrepreneurs wollen dagegen aus Patriotismus die Kinder ohne weiteres Gehalt . .. mit der betreffenden Kunstfertigkeit versehen"
Die Beschäftigung der Waisen in der gewerblichen Produktion wurde bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts beibehalten, wobei die Jungen neben der handwerklichen Tätigkeit noch ein fest umrissenes militärisches Programm zu absolvieren hatten. Die einzelnen Abteilungen: Kinderhaus, Knaben-haus und Militärschule für die 15-bis 18jährigen waren in Kompanien eingeteilt, denen Soldaten als Vorgesetzte vorstanden. Tägliche Drill-und Turnübungen gehörten zur Routine. Das Ziel dieser Erziehung wurde wie folgt umrissen: „Gewöhnung zu schnellem Gehorsam, an gute Haltung, Reinlichkeit und Ordnung, Beförderung der körperlichen Entwicklung, endlich Ausführung der Schulbewegung eines Bataillons ohne Gewehr." Kennzeichnend ist das militärische Disziplinierungssystem: „Als Erziehungsmittel gelten die Hausordnung .. ., das Beispiel der Vorgesetzten, die Einteilung der Knaben in vier Sittenklassen ..., die militärische Organisation, Ermahnung, Lob, Tadel, Lohn und Strafe .. . Bestraft wird durch teilweise oder gänzliche Entziehung einer Mahlzeit, Arrest, Versagung des Urlaubs, Versetzung in eine niedere Sitten-klasse mit entehrenden Abzeichen. Körperliche Züchtigung tritt nur für Vergehen des Diebstahls und grobe Renitenz auf Entscheidung des Direktors ein."
Daß jedoch Körperstrafen im Gegensatz zu dieser Äußerung wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellten, zeigt folgendes Zitat: „Die Disciplinarstrafen selbst für kleinere Fehler bestanden meist in körperlichen Züchtigungen, ausgeführt mittels einer Ruthe oder des sogenannten . Aales', eines mit Leder überzogenen biegsamen Instruments. Letzteres war bei der großen Kinderzahl nicht nur den Lehrern, sondern allen mit den Kindern zu thun habenden Personen, den Handwerksmeistern, Spinnfrauen und Gesindeleuten in die Hände gegeben. Grobe Vergehungen wurden auf Anzeige von einem Administrationsmitgliede gewöhnlich nach dem Essen im Speisesaal öffentlich untersucht und bestraft. Die Strafen wurden durch Gesindepersonen vollzogen." ’
Der Schulunterricht geht erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts über den notdürftigsten Elementarunterricht hinaus, zu einem Zeitpunkt im übrigen, der zusammenfällt mit einem starken Ausbau der Armee und einem durch die zunehmende Technisierung der Bewaffnung immer größer werdenden Bedarf an Spezialisten. In dem Maße, in dem die systematische Vorbereitung für den Militärdienst stieg, verringerte sich auch die industrielle Ausnutzung der Kinder. Doch noch im Jahre 1834 wurden 114 Jungen des Militärwaisenhauses zu Arbeitsleistungen bei Schneidern, Schuhmachern, Sattlern, Büchsenmachern und Steindruckern abgestellt, die Militäruniformen, Schuhwerk, Waffen und Gerät für die Armee fertigten Bis 1868 wurden Jungen in anstaltseigenen und privaten Strickstuben beschäftigt, in der Bürstenbinderindustrie, in Korbflecht-und Strohflechtwerkstätten 2. Garnisonschulen Sieht man die Institutionalisierung militärischer Jugenderziehung in Preußen auch unter spezifisch schulgeschichtlichem Aspekt, so darf der Hinweis auf die Garnisonschulen nicht fehlen. Diese erfüllten etwa ab der Wende zum 19. Jahrhundert ähnliche Funktionen wie die Militärwaisenhäuser und waren zunächst mit unterschiedlicher Intention und Initiative der in Altpreußen noch relativ autonom regierenden Regimentskommandeure entstanden. Die zunehmende Proletarisierung der in den Garnisonstädten lebenden Soldatenfamilien, die in der Regel für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen hatten, sowie die Massen von unversorgten Invaliden, Soldatenkindern und -waisen bildeten einen ständigen sozialen Unruheherd, ein gesellschaftliches Konfliktpotential, das leicht außer Kontrolle geraten konnte. Deshalb entstanden in nahezu allen Garnisonstädten Unterrichtsanstalten, die offensichtlich wenigstens zum Teil mit der gleichen Absicht wie die Volksschulen gegründet wurden: „Dieselben sind da, wo sie bestehen, das Analogon der Volksschule für die Kinder der Soldaten. Sie sollen daher nichts anderes sein und geben, als die Volkschule . .."
Dieser Grundsatz, wie ihn etwa auch Boyen vertreten hatte wurde jedoch schon bald zugunsten eines obrigkeitsstaatlich gelenkten Disziplinierungsprozesses aufgegeben: Kinder und Jugendliche wurden, wie in den Militär-waisenhäusern auch, in den kapitalistisch-industriellen Verwertungsprozeß einbezogen. In einer königlichen Zirkularverordnung vom 31. August 1799 wurde den Regimentskommandeuren befohlen, „den Eifer einzelner Chefs und Lehrer in der Ausdehnung des Unterrichts zu mäßigen und sie eindringlich zu warnen, die Kinder mehr zu lehren, als sie in ihrer künftigen Sphäre als gemeine Soldaten unbedingt brauchten, denn sonst nähre man nur . Stolz, Eigendünkel und Abneigung gegen körperliche Arbeiten 1 in einer Zeit, wo alle Menschenklassen ohnehin schon strebten, sich über ihren Stand zu erheben"
Die Garnisonschulen wurden zu reinen Industrieschulen. Die bekanntesten der Zeit waren die Schulanstalten beim Regiment Prinz Ferdinand in Neuruppin, die der Regiments-kommandeur Oberst von Tschammer organisiert hatte. Hier wurden 209 Soldatenkinder zu Arbeitsleistungen im ‘Spinnen, Stricken, Nähen und Klöppeln eingesetzt Das Regiment arbeitete für den Berliner Kaufmann Eichstädt, der Material, Geräte und Lehrmeisterinnen bereitstellte. Der Verdienst der Kinder lag bei halbtäglicher Arbeit zwischen vier und sechs Talern im Monat Die Allgemeine Königliche Order vom 9. Februar 1797 sowie die Allgemeine Zirkularverordnung von 1799 schufen die Grundlage ür die Institutionalisierung des Industrieschulunterrichts bei fast allen Regimentern, die in modifizierter Form bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bestanden haben (z. B. die königlichen Arbeitsschulen in Potsdam, Neuruppin oder Stralsund).
Zusammenfassend läßt sich zunächst festhalten, daß die Institutionalisierung militärischer Erziehung in Militärwaisenhäusern, Garnison-schulen und Knabenerziehungsinstituten der Armee weniger sozialfürsorgerischer Intention des Staates entsprang, sondern vor allem in der Absicht begründet lag, den potentiellen Gefahren einer zunehmenden Proletarisierung der Soldatenkinder entgegenzuwirken und sie gleichzeitig so in den industriell-militärischen Produktionsapparat zu integrieren, daß sie nach Ableistung der Arbeitsschulzeit der Armee als Soldaten zur Verfügung standen. Im Alter von 14 Jahren wurden die männlichen Zöglinge dann direkt in die Armee eingestellt und bildeten den Unterführernachwuchs im preußischen Heer. 3. Militärische Nachwuchsorganisationen im deutschen Kaiserreich: Unteroffiziers-schulen und Kadettenkorps (1) Unterofiiziersschulen und -vorschulen Die zunehmende Technisierung von Waffen und Gerät der Heere im 19. Jahrhundert und die damit verbundene Veränderung taktischer und strategischer Konzeptionen verlangte auf die Dauer auch eine Verbesserung des militärischen Ausbildungssystems, ohne auf die bewährten militärischen Disziplinierungstechniken verzichten zu müssen.
So ging man etwa ab 1824 dazu über, Lehr-Infanterie-Bataillone bei den wichtigsten Regimentern zu schaffen. Aus diesen entstanden bis um die Jahrhundertwende Unteroffiziers-schulen, die in mehrjähriger Ausbildung (zwischen zwei und drei Jahren) für die Laufbahn des Unteroffiziers vorbereiteten. Es wurden nacheinander die folgenden Institutionen gegründet: Potsdam (1846), Jülich (1860), Bieberich (1867), Weißenfels (1869) und Ettlingen (1871)
Der Schwerpunkt der Arbeit in diesen Schulen lag auf der militärpraktischen Erziehung, „Gewöhnung an Disziplin, militärische Ordnung und Zucht" wie es hieß, sowie „praktische Erlernung des Dienstes", Schulunterricht, Handwerkerunterricht, Scharfschießen und Feldexerzieren Der Schulunterricht beschränkte sich auf die für den praktischen Gefechtsdienst ungünstigen Wintermonate. Das Aufnahmealter betrug in der Regel 17 Jahre. Die soziale Zusammensetzung der Schüler konzentrierte sich auf das deutsche Kleinbürgertum und das traditionelle preußische Rekrutierungspotential: Kleinbauern und Landarbeiter
Der starke Andrang jüngerer Bewerber machte nach der Gründung des Reiches eine Altersdifferenzierung notwendig. Ab 1877 wurden Unteroffiziersvorschulen gegründet, die Bewerber ab dem 14. Lebensjahr aufnahmen: Weilburg (1877), Annaburg (1880), Neubreisach (1888), Jülich und Wohlau (1891) und Bartenstein (1896). Mit der zusätzlich 1879 eröffneten Unteroffiziersschule Marienwerder verfügte die Armee des deutschen Reiches über insgesamt zwölf Institute mit einer Kapazität von etwa 3 000 jugendlichen Soldaten. Damit konnten jedes Jahr ca. 1 000 Unteroffiziere dem Heer zur Verfügung gestellt werden, womit z. B. für das Jahr 1885 der Bedarf zu 58 Prozent gedeckt werden konnte (2) Das preußische Kadettenkorps Von eminent höherer politischer Bedeutung waren die Kadettenschulen des deutschen Kaiserreiches, die sich aus dem 1717 gegründeten „königlich-preußischen Kadettenkorps" entwickelt haben Aus der Tradition der Ritterakademien entstanden, fiel die Gründung des Kadettenkorps in eine Zeit, in der das gesellschaftliche Wiedererstarken des niederen Adels, sichtbar in einer durch die stehenden Heere beschleunigten Institutionalisierung des Offizierstandes, zusammenfiel mit einer in ganz Europa eingeleiteten Militarisierung der Gesellschaft In Preußen, wo die soziale Militarisierung von Anfang an konstituierendes Moment der hohenzollernschen Machtpolitik war, konnte der Ausbau des Landes ohne eine funktionierende Armee nicht erfolgreich sein. Wenn, wie es der „Soldatenkönig" ausdrückte, die Souveränität „wie ein rocher von Bronce" stabilisiert werden sollte, so ging das nur über ein adeliges Offizierskorps, das in treuer Ergebung an den Landesherrn, unter Anknüpfung an altritterliche Vasallentreue, den souveränen Willen über die Institution der Armee nach unten durchsetzte.
Friedrich Wilhelm I. hat frühzeitig erkannt, daß dies vorrangig eine Erziehungsaufgabe war. In seinem politischen Testament heißt es: „Mein Successor muß das vor eine Politik halten . .., daß aus allen seinen Provinzen ... die von Adel und Grafen in die Armee employiert und die Kinder unter die Kadetts gepresset werden ... Ist formidable vor seinen Dienst und Armee und ruhiger in seinen Ländern . . ." Bereits hier wird die Funktion von Bildungsinstitutionen als ein Herrschaftsinstrument der preußischen Krone qualifiziert: Das Interesse der preußischen Landesherrschaft an der militärischen Erziehung junger Adeliger ist zu konstatieren als das Interesse an einem quantitativ ausreichenden und qualitativ verläßlichen Offiziersnachwuchs für die Armee. Dadurch sollte gleichzeitig der Adel an die Krone gebunden werden, um so die obsolutistische Herrschaft des Landesherrn zu stabilisieren.
Das preußische Kadettenkorps, zunächst mit dem Stammhaus in Berlin gegründet, bildete adelige Jungen ab dem 8. Lebensjahr aus, die häufig mit Gewalt und teilweise unter erheblichem Widerstand des preußischen Land-adels in das Korps geschafft wurden.
Unter der Regentschaft Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. wurde die Institution erheblich ausgebaut und durch sogenannte Voranstalten in Potsdam, Stolp, Culm und Kalisch ergänzt. Trotz des im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker werdenden bürgerlichen Widerstandes gegen die militärische Standeserziehung in den Kadettenschulen konnte das Offizierspotential durch laufende Neugründungen von Institutionen ständig erhöht werden: Hinzu kamen die Kadettenvoranstalten Wahlstatt (1838), Bensberg (1840), Plön und Oranienstein (1868). Nach der Reichsgründung existierten somit sieben Anstalten mit knapp 2 000 Plätzen 1892 kam das Kadettenhaus Karlsruhe und 1900 das in Naumburg/S. hinzu. Zuvor war das Stammhaus Potsdam in die neu gegründete und um mehr als das Doppelte erweiterte Hauptkadettenanstalt Lichterfelde (1878) umgezogen. (3) Adel und Bürgertum im Kadettenkorps Dieser Ausbau seit Mitte des Jahrhunderts war jedoch nur möglich unter der zunehmend großzügiger angewandten prinzipiellen königlichen Genehmigung, die Kadettenanstalten auch bürgerlichen Bewerbern zu öffnen.
Bis 1800 war das Kadettenkorps ausschließlich adeligen Zöglingen vorbehalten gewesen. Die Einhaltung dieses Prinzips wurde streng überwacht. Friedrich II. forderte beispielsweise in einer Verfügung an die westpreußische Regierung vom l. Juni 1776, daß „der Adel aller gegenwärtig zu Culm befindlichen Kadetten genau zu untersuchen, und jeder in diesem Bezüge nicht legitimierte Zögling sofort zu entlassen und durch einen echt Adeligen zu ersetzen sei; daß auch künftig kein Knabe ohne vorherige Adelslegitimation aufzunehmen wäre"
Auch unter Friedrich Wilhelm II. hatte jeder Aspirant auf eine Kadettenstelle neben Taufzeugnis und Gesundheitsattest einen Adels-nachweis zu erbringen und noch 1799 wurde mit der Kabinettsorder vom 7. April die Pflicht zur Adelslegitimation für alle Kadettenbewerber erneuert. Besonders galt dies für den „unbekannten und unregulierten Adel der neuen Provinzen Süd-und Neu-Ostpreußen", von dem nur Söhne solcher Väter in das Kadettenkorps aufgenommen werden durften, die, „bei einem gerichtlichen Nachweis eines jährlichen Einkommens von 150 Thlr., in jedem einzelnen Falle durch die competenten Kammern als adelig legitimiert würden" Bewerbungen des ausländischen Adels wurden durch das Kabinett geprüft und blieben der königlichen Entscheidung vorbehalten. Erst mit der Kabinettsorder vom 9. November 1800 wurde bestimmt, daß „ausnahmsweise und durch den W g königlicher Gnade, auch die Söhne bürgerlicher Offiziere Eingang finden sollten"
Im Dezember desselben Jahres bezogen die ersten zwölf bürgerlichen Kadetten die Potsdamer Anstalt. Später wurde dann im Zuge der preußischen Reformen festgelegt, daß die Aufnahme in das Kadettenkorps grundsätzlich allen Offizierssöhnen offenstehen sollte, auch den bürgerlichen
Diese Bestimmung bewirkte jedoch bis weit in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein keine Änderung der sozialen Zusammensetzung des Kadettenkorps, da die Offiziere, die im Jahr 1809 Söhne im kadettenfähigen Alter hatten, schon vor der Jahrhundertwende Offizier geworden sein mußten zu jenem Zeitpunkt bestand jedoch nahezu das gesamte Offizierskorps aus Adeligen
Erst nach den Einigungskriegen erzwang der Offiziersmangel im Heer eine wenn auch nicht grundlegende, so doch signifikante Erhöhung des bürgerlichen Anteils in den Kadettenanstalten. Im Kadettenhaus Culm beispielsweise pendelte er sich auf ca. 50 Prozent ein um erst nach der Jahrhundertwende auf nahezu 70 Prozent zu steigen. (4) Erziehung und Sozialisation in den Kadettenschulen des Kaiserreiches a) Ausbildung und Unterricht Die zukünftige militärische Berufsbestimmung des Kadetten stand im Zentrum der pädagogischen Bemühungen im Kadettenkorps vor und während des Kaiserreiches. Zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr trat der junge Kadett in eines der Provinzialinstitute ein, um nach drei Jahren an die Hauptkadettenanstalt Lichterfelde zu wechseln. Mit Kabinetts-order vom 18. Januar 1877 wurde der Lehrplan der Kadetteninstitute mit dem einer Realschule erster Ordnung gleichgesetzt; die Vorinstitute vermit Prozent zu steigen. (4) Erziehung und Sozialisation in den Kadettenschulen des Kaiserreiches a) Ausbildung und Unterricht Die zukünftige militärische Berufsbestimmung des Kadetten stand im Zentrum der pädagogischen Bemühungen im Kadettenkorps vor und während des Kaiserreiches. Zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr trat der junge Kadett in eines der Provinzialinstitute ein, um nach drei Jahren an die Hauptkadettenanstalt Lichterfelde zu wechseln. Mit Kabinetts-order vom 18. Januar 1877 64) wurde der Lehrplan der Kadetteninstitute mit dem einer Realschule erster Ordnung gleichgesetzt; die Vorinstitute vermittelten den Lehrstoff bis zur Obersekunda, die Hauptkadettenanstalt bestand aus der Unter-und Oberprima sowie einer für herausragende militärische Leistungen eingerichteten Militärklasse „Selecta". Die Versetzung von dem Hauptinstitut in das Heer erfolgte in der Regel im 17. Lebensjahr, bei gut bestandener Offiziersprüfung als Secondelieutenant, sonst als Portepeefähnrich.
Allerdings mag das der Verwendung in der Armee vorgeschaltete Prüfungssystem darüber hingwegtäuschen, daß im allgemeinen den Schulfächern keine besonders große Bedeutung beigemessen wurde. Der spätere Soziologe Leopold von Wiese stellte in seinen Erinnerungen an seine Kadettenjahre fest, daß die Unterrichtsanforderungen gering waren: „Es war viel wichtiger im Turnen als im Latein oder Mathematik etwas zu leisten ..." 65), und Ernst von Salomon konstatierte, daß bei sonst guter militärischer Qualifikation auch schlechte schulische Leistungen im Kadettenkorps kein Grund dafür waren, von einer besonderen Förderung ausgeschlossen zu werden; eine Versetzung an die Hauptkadettenanstalt war für diese Zöglinge die Regel, wo sie dann in besonderen Klassen gefördert wurden 66).
Andererseits wurden auch bei guten schulischen Leistungen die als nicht oder weniger militärisch befähigt angesehenen Kadetten gar nicht erst nach Berlin überwiesen. Sie traten nach der Tertia oder Sekunda, je nach militärischem Prüfungsabschluß, als Fähnriche, Unteroffiziere oder einfache Soldaten in das Heer 67). Gehorsam und Anpassungsfähigkeit, militärisches Auftreten und standesgemäßes Denken wurden höher bewertet als Kenntnisse und Bildung, die nur zu häufig als bürgerliche Werte abqualifiziert wurden und von denen man befürchtete, daß sie den „Geist der Armee" verändern könnten 68). Diese Grundhaltung blieb bestimmend für die Bildungskonzeption im Kadettenkorps, wie aus einem Schreiben des Militärkabinetts vom 24. März 1909 hervorgeht.
Auf die Klage der Generalinspektion des Militär-, Erziehungs-und Bildungswesens über die geringe Allgemeinbildung des preußischen Offiziers im Vergleich mit anderen Ständen und mit dem Ausland 69) antwortete das Militärkabinett u. a. wie folgt: „Gewiß ist es erwünscht, daß unser Offizierersatz möglichst gute Schulkenntnisse erwirbt; wir müssen aber mit den Verhältnissen rechnen und uns damit abfinden, daß man, solange eine erhebliche Zahl unserer Leutnantsstellen unbesetzt ist, nicht die Anforderungen erhöhen kann. Für ein großes Unglück halte ich dies auch nicht, wenn es uns nur nicht an Charakteren fehlt." 70)
Diesen Grundsätzen entsprechend nahm die militärische Ausbildung einen herausragenden Stellenwert im Leben der Kadetten ein. Der Tagesablauf bestimmte „ 4— 5 Stunden zu militärischen und Leibesübungen" und schon in den Provinzialinstituten wurden das Einüben einer militärischen Haltung, die „Ausführung der verschiedenen Marschbewegungen" und die „Kenntniß und Handhabung des Infanterie-Gewehrs" als militärische Ausbildungsziele vorgesehen. Fest in den Dienstbetrieb integriert war auch die tägliche Parade, die als militärisches Zeremoniell nach dem „Exercir-Reglement für die Infanterie" abgehalten wurde
Einen besonderen Schwerpunkt bildete die militärpraktische Ausbildung im Hauptinstitut Lichterfelde. Sie bestand vor allem in der „Einübung der Evolution eines Infanterie-Bataillons und des Tiraillements, sowie in praktischer Anleitung zum Garnison-und Feld-dienste" Diese Form militärischer Kriegsübungen fand seine Ergänzung in standesgemäßen Exerzitien wie Voltigieren, Rappierund Bajonettfechten und täglichen Paraden mit anschließendem Wachaufzug, somit ein volles militärisches Ausbildungsprogramm, bei dem die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten. b) Erziehungsziele und -grundsätze Soweit sich in der Kadettenerinnerungsliteratur aus dem Konglomerat unterschiedlich gewichteter und pathetisch artikulierter Forderungen an Gesinnung und Charakter zukünftiger Offiziere systematisch als Eziehungsziele erkennbare Elemente herauskristallisieren lassen, ranken sich diese um die Begriffe Gehorsam, Ehre und Pflicht. Dabei erscheint als übergeordneter Erziehungsgrundsatz die religiöse Verankerung in den göttlichen Geboten. So verlangte Wilhelm II., das Gewicht der Erziehung darauf zu legen, „daß die Zöglinge in Gottesfurcht und Glaubensfreudigkeit zur Strenge gegen sich, zur Duldsamkeit gegen andere erzogen und in der Überzeugung befestigt werden, daß die Bethätigung der Treue und Hingabe an Herrscher und Volk gleich wie die Erhaltung aller Pflichten auf göttlichen Geboten beruht" Dieser in religiöses Pathos gekleidete Gehorsamsanspruch war der Kern, auf den sich die Erziehungsbemühungen im Kadettenkorps richteten und an den die Elemente Ehre und Pflicht unabdingbar geheftet waren. Damit waren die monarchischen Entscheidungen in die Nähe göttlicher Verfügungen gerückt, irdischen Maßstäben und damit auch der Kritik entzogen. Schlimmer: Der Militärdienst erhielt den Charakter christlicher Pflichterfüllung, der Kriegszug das Gewicht eines religiösen Opfergangs: „Das Kadettenkorps muß seine Zöglinge für die Armee, diese von Gottesfurcht durchwehte Schule, in der religiösen Über-zeugung von einem Leben nach dem Tode erziehen, in welchem auch ungesehene Treue ihren Lohn findet, und in ihr das Hauptmotiv finden, welches den Soldaten am sichersten zur äußeren Erfüllung seiner Kriegspflichten treibt."
Stellvertretend für das göttliche Gebot stand die Pflichterfüllung gegenüber dem Vorgesetzten: „Die allgemeine Erziehung leitet den Zögling hauptsächlich dahin, seinen Willen, dem im Gebote seiner Vorgesetzten ausgedrückten göttlichen Willen überzeugungsvoll unterzuordnen."
Damit erschien jeder Befehl eines Vorgesetzten als Ausdruck göttlichen Willens, Insubordination gleichsam als Sünde, die streng bestraft werden mußte
Ein wesentlicher Gesichtspunkt darüber hinaus war, daß der geforderte Gehorsam nur dann dem höchsten Willen entsprach, wenn er aus „klarer Erkenntniß und aus Überzeugung" entsprang. Die Durchsetzung des Gehorsams war somit nur die eine Seite des Erziehungsanspruchs, die andere war, bei den „Zöglingen ... dahin zu trachten ..., ihre Einsicht und ihr Urtheil zu entwickeln ..." das heißt, zu erziehen war nicht al-lein zu Gehorsam, zu erziehen war zu „willigem" Gehorsam. Nicht mechanistisch ausgerichtete Befehlsempfänger, wie sie die Militärstrategie des Absolutismus benötigte, sollten herangezogen werden, sondern überzeugte, gehorsam bis in den Tod sich verleugnende Soldaten. Es galt nicht einfach Erziehungsziele durchzusetzen, sondern es galt, einen neuen Menschen, einen neuen Soldatentypus zu schaffen.
Gehorsamsprinzip und Pflichtbestimmung waren unmittelbar mit dem Begriff der Ehre verknüpft, die als Ziel „der sittlichen Entfaltung bei der Erziehung" betrachtet wurde: „Wahre Ehre kann ohne Treue bis in den Tod, ohne unerschütterlichen Muth, feste Entschlossenheit, selbstverleugnenden Gehorsam, lautere Wahrhaftigkeit ... wie ohne aufopfernde Erfüllung selbst der anscheinend kleinsten Pflichten nicht bestehen."
Aus dem bisher Ausgeführten kann zusammenfassend gefolgert werden, daß Unterricht und Erziehung im Kadettenkorps eindeutig und übergewichtig von militärischen Präferenzen diktiert waren. Die vorgegebenen Erziehungsgrundsätze wurzelten in einem religiösen Pathos, aus dem ebenso einseitig der militärische Gehorsamsanspruch abgeleitet wurde. Die Verklammerung des Herrscher-willens und der Vorgesetztenbefehle mit dem göttlichen Willen rechtfertigten ein breites Spektrum von Sanktionsmechanismen, um den Erziehungsprozeß an den Kadetten gleichsam als neuen Menschwerdungsprozeß zu vollziehen. Diese Mechanismen waren Teil eines Sozialisationsprozesses, der die jungen Menschen in ihrer Totalität erfaßte und sie entweder erdrückte oder zu willenlosen Werkzeugen des militärischen Herrschaftsapparates machte. c) Sozialisation in „totaler Institution"
Ein Erziehungsprozeß, an dessen Ende ein neuer Mensch stehen sollte, machte die völlige Umstülpung Individuums notwendig.des Die Identität des Kadetten mußte zerstört werden, bevor eine Neuausrichtung gelingen konnte. Dies geschah mit Hilfe von Sozialisationstechniken, die mit denen totaler Institutionen identisch waren.
Goffman hat totale Institutionen mit den folgenden vier Merkmalen charakterisiert: „ 1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus ... 3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, . .. und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln ... vorgeschrieben. 4. Die verschiedenen ... Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen."
Diese Kriterien stimmen mit den vorherrschenden Bedingungen im Kadettenkorps überein. Es erscheint daher gerechtfertigt, in diesem Sinne von Kadettenanstalten als totalen Institutionen zu sprechen. Hierbei sind zwei Sozialisationsebenen zu unterscheiden. Einerseits ergeben sich bestimmte Anpassungsmechanismen aus der planvoll organisatorischen Festlegung militärisch reglementierter Strukturen und Prozesse. Diesen als formal zu bezeichnenden Sozialisationsbedingungen stehen die informellen gegenüber, die sich gleichsam außerhalb der offiziellen Ebene gruppenspezifisch für die Kadetten bildeten.
Untersucht man beide Bereiche an Hand von autobiographischem Material, so lassen sich in Anlehnung an Goffman im formellen Sozialisationsbereich der Kadetteninstitute drei maßgebende Bedingungsfaktoren unterscheiden: ein Katalog festgelegter Aufnahmeprozeduren, ein Bündel von Maßnahmen, die den Identitätsverlust des Kadetten bewirken sollten, und schließlich ein Privilegiensystem, in welchem die Sanktionsmechanismen zur Durchsetzung des normierten Verhaltens festgelegt waren.
Im informellen Bereich wurde die Sozialisation unter den Kadetten durch die hierarchische Sozialstruktur und die hohe Bedeutung der physischen Gewalt im Umgang miteinander bestimmt. Am Ende stand der „sozialisierte Kadett",, der Offiziersanwärter, der schon als Jugendlicher die psychosozialen Dispositionen erlangt hatte, die er als Offizier des kaiserlichen Deutschland in vollem Ausmaß zu erfüllen hatte. Auf die hier skizzierten Punkte soll im folgenden kurz eingegangen werden. — Aufnahmeprozeduren Der Sozialisationsprozeß, der auf die jungen Kadetten einwirkte, setzte mit brutaler Härte und ohne Rücksicht auf die physische Konstitution, die psychische Belastungsfähigkeit oder die außerhalb der Anstalten gemachten Erfahrungen ein. Der Neuling kommt, wie Goffman festgestellt hat, mit einem bestimmten Bild von sich selbst, das durch bestimmte soziale Bedingungen seiner heimischen Umgebung ermöglicht wurde, in die Anstalt Beim Eintritt wird er sofort der Hilfe beraubt, die diese Bedingungen ihm boten: Er durchläuft einen Prozeß von Aufnahmeriten in Form von Degradierungen, Erniedrigungen und Entwürdigungen seines Ich, die zum Teil zu einer Art Initiation verfeinert wurden. In der Anfangsphase der Kadetten-zeit mußte der Neuankömmling weitere Prozeduren über sich ergehen lassen. Hierzu gehörten die ärztliche Untersuchung, die Abgabe der Zivilkleider und die Uniformierung sowie die Einweisung in die örtlichen Räumlichkeiten der Anstalt — Vorgänge, die in den auto-biographischen Aufzeichnungen ehemaliger Kadetten eine große Rolle spielen Neben der ärztlichen Untersuchung nahm meist die Uniformierung einen breiten Raum der Schilderungen ein. Charakteristisch bei der Uniformierung als Form der Aufnahmeprozedur war, daß damit in der Regel nicht eine Stärkung des Selbstgefühls hervorgerufen werden sollte, etwa durch eine schneidige, farbenfrohe Uniform. Die Anstaltsuniform war vielmehr in den meisten Fällen schon häufig getragen worden, machte einen schäbigen Eindruck und war trist und farblos. Salomon schilderte seine Einkleidung wie folgt: „. . . das Hemd schien etwas grau und die Unterhose war einfach scheußlich, unten mit Bändeichen zum Zubinden, Weste, schwarze Halsbinde ... Die blaue Litewka, einfach blau, ohne Schmuck, fast zivil, das weiße Drillichzeug, ein paar Lederhausschuhe, ein paar Kommißbotten, halbschäftig und genagelt . . Wie gesagt, sollte die Uniform zunächst nicht das Selbstbewußtsein des Zöglings heben, sondern diente allein der Förderung des Identitätsverlustes. Daher wurde oft bewußt auf eine gute Paßform der Uniform verzichtet: „Beim Einkleiden stellte sich heraus, daß mir . . . alle Röcke zu groß waren.
Dieses Manko wurde aber nicht etwa durch Abänderung der Montur behoben, sondern man ließ mich einfach in den zu großen Rock hereinwachsen."
Am Ende des Aufnahmegeschehens stand in der Regel die Ansprache des Kompaniechefs, die gleichsam den Höhepunkt des Verfahrens bildete. In Salomons Erinnerungen liest sich das so: „Oberleutnant Kramer sagte: . Meine Herrn!'Er machte eine Pause, ging das Glied entlang und sah jeden einzelnen der zehn-, elf-, zwölfjährigen Kadetten mit durchbohrenden Augen an: Er sagte: . Meine Herren! Sie haben den schönsten Beruf erwählt, den es auf dieser Erde gibt. Sie haben das höchste Ziel vor Augen, das es auf Erden nur geben kann. Wir lehren Sie hier dies Ziel zu erfüllen. Sie sind hier, um das zu lernen, was ihrem Leben erst die letzte Bedeutung verleiht. Sie sind hier, um Sterben zu lernen. . . Dies zu lernen, fangen wir jetzt, zu dieser Stunde an. Wir fangen ganz von vorne an. Alles, was Sie bisher erlebten, sahen und begriffen, haben Sie zu vergessen. Alles, was Sie nun erleben, sehen und begreifen, geschieht, Sie würdig zu machen für das Ziel, das Sie sich_vorgesetzt. Sie haben von nun an keinen freien Willen mehr; denn Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können. Sie haben von nun an nichts anderes zu wollen, als was Sie zu wollen haben." — Identitätsverlust Indem der junge Kadett seine persönliche Habe und seine Kleidung gegen militärische Ausrüstung und Uniform einzutauschen gezwungen war, gab er auch seine äußere „Identitäts-Ausrüstung" auf, die zur Aufrechterhaltung seiner persönlichen Fassade gedient hatte Gleichzeitig war mit der Einlieferung ins Kadettenkorps ein völliger Bruch der bisherigen sozialen Beziehungen verbunden, ohne daß eine neue Rollendisposition bereits ausgeprägt gewesen wäre. In dieser Situation vollzog sich nun in der „eigentlichen Erziehungsarbeit" der Abbau des inneren Identitätsgerüstes, ein Vorgang, der sich als Verlust aller bisher erworbenen Persönlichkeitsmerkmale deuten läßt. Dies begann mit der sonst im Alltagsleben nicht üblichen Anredeform „Sie", einem anstaltseigenen Benamungssystem und einer Sprache, die in ihren Formen und ihren Kürzeln dem militärischen Reglement entstammte und die die allein mögliche Kommunikationsform zwischen dem Vorgesetzten und dem Kadetten bestimmte. Der Selbstschutz von Gefühlsäußerungen war dem Zögling verwehrt: Vorgesetzten gegenüber hatte er Haltung anzunehmen, Demütigungen und Schmähungen hatte er mit unbewegter Haltung entgegenzunehmen und seine Gefühle zu verbergen. Sentimentalitäten wie Heimweh waren verpönt, Bestrafungen wurden mit starrer Miene entgegengenommen, und es war ehrenrührig, bei Prügeln zu schreien
Als wirkungsvollstes Mittel erschien jedoch die totale Reglementierung des Tagesablaufes, was durch das folgende Beispiel verdeutlicht werden mag: „Am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag beginnt im Sommer um 6 Uhr, im Winter gleich nach dem Frühstück Arbeitsstunde, die bis 7. 15 Uhr dauert, nach derselben reinigen die Kadetten ihre Kleidungsstücke, marschieren 5 Minuten nach 1/2 8 Uhr nach dem Stellplatz der Kompanie. . . zum Revidieren des Anzugs und von hier in den Betsaal zum Morgengebet. .. Um 8 Uhr beginnt der Unterricht und dauert den Mittwoch und Sonnabend bis 11 Uhr, an den anderen Werktagen bis 12 Uhr; nach jeder Stunde ist eine Zwischenzeit von 8 Minuten zur Bewegung der Kadetten auf dem Spielhofe."
Dieser Tagesausschnitt demonstriert die totale Reglementierung der Zeit. Der Verlust der Möglichkeit eigener Zeitdisposition ging einher mit der völligen Bevormundung von Handlungen, die Goffman als Verlust der „persönlichen Ökonomie des Handelns" bezeichnet; so bedurfte zum Beispiel das Aufstehen vom Arbeitstisch schon der Erlaubnis des Stubenältesten.
Erschwerend kam hinzu, daß der Zögling in der Kadettenanstalt nie völlig allein war; stets war er in Sicht-und Hörweite anderer Personen, selbst die Toiletten hatten keine Türen. Diese totale soziale Kontrolle war es, die das Individuum allmählich in seiner Identität zerstörte, wie das auch aus der Schilderung Reitzensteins hervorgeht: „Bei Tage und bei Nacht war er umgeben von der unruhigen Genossenschaft. Nie gab es auch nur eine Stunde, wo diese abschleifende, nivellierende Last einmal ausgesetzt hätte. Keine Bewegung, kein Atemzug, kein Widerspiel eines Gedankens, ja, nicht einmal der Gedanke selbst ohne die Kontrolle einer kritikwachen Schar fremder Augen."
Die soziale Kontrolle war nicht nur Verstärker, sondern gleichzeitig die notwendige Voraussetzung der beabsichtigten Selbstzerstörung. Aus ihr gab es allenfalls die Flucht in innere Wunschphantasien, wie L. v. Wiese das beschrieben hat: „Obwohl das tägliche Leben so eingerichtet war, daß man in beständiger Aufmerksamkeit nach außen leben mußte, Knöpfe zu putzen, Linien zu ziehen, die Älteren zu bedienen, Ehrenbezeigungen zu machen hatte, obwohl es bei Tage und bei Nacht keinen Winkel des Alleinseins gab, obwohl man ohne Erlaubnis des Stubenältesten nicht vom Tisch zum Schranke gehen durfte — wuchs das innere Leben mit seinen unverwirklichten Gesichten ins überirdische hinein."
Zerstörung der Identität, um ein neues Individuum aufzubauen — diese Sozialisationstechnik war tragendes Moment des gegenseitigen Umgangs in der Kadettenerziehung. Sie wurde unterstützt durch ein Bündel von Sanktionsmechanismen, Strafen und Belohnungen, die das vordergründige Erziehungshandeln bestimmten. — Sanktionen und Privilegien In der Tat stellten Belohnungen und Strafen die einzige Art offizieller erzieherischer Reaktion in den Kadettenanstalten dar. Dies geht u. a. aus dem überaus exakten Spektrum der Strafmöglichkeiten hervor. „Die verschiedenen Strafarten sind folgende: 1. Entlassung . . eines Zöglings aus dem Kadettenkorps, 2. Körperliche Züchtigung . . ., 3. Degradation, 4. Suspendierung von einer Charge, 5. Zurückstufung ... in eine niedere Censurklasse, 6. Corps-arrest, 7. Kompanie-arrest, 8. Stubenarrest, 9. Entbehrung einer ganzen Mahlzeit, 10. Entbehrung eines Teils derselben, 11. Ur-laubsversagung an Sonn-, Feier-und Festtagen, 12. Urlaubsversagung auf längere Zeit, 13. Strafarbeitsstunde . . ., 14. Verweis .. ., 15. Versagung der Rechte der betreffenden Censurklasse . . ., 16. Strafmeldungen."
Diesem Strafsystem war ein besonders ausgeklügeltes Privilegiensystem gegenübergestellt: die Einteilung in Sittenklassen. Mit diesem Prinzip war neben der formellen Einteilung in Jahrgangs-bzw. Leistungsklassen eine moralische Klassifizierung über alle Jahrgänge hinweg institutionalisiert worden, die es erlaubte, neben der äußerlich meßbaren Leistung auch den der Grad inneren Hin-wendung des einzelnen zum System faßbar zu machen. Jeder neuangekommene Kadett wurde in die dritte Sittenklasse eingereiht. Aus dieser rückte derjenige, „welcher pflichttreu seine Schuldigkeit thut, in die zweite und erste auf, deren jede ihm eine größere Freiheit und Selbständigkeit gewährt" Verfehlungen der kleinsten Art hatten dagegen schon eine Zurückstufung in eine niedere, die vierte oder fünfte Sitten-klasse zur Folge. Ein Aufstieg in der Sitten-klasse war die Voraussetzung für eine Beförderung zum nächsthöheren Dienstgrad oder für das Erreichen einer höheren Charge, z. B. Stubenältester oder Kompanieführer. Darüber hinaus war man gegenüber den anderen Kadetten durch besondere öffentliche Ehrungen ausgewiesen: „überall, auf den Anciennitätstafeln im Korridor, auf den Heften in der Schule, in den Büchern im Spind zeigte eine rote Unterstreichung des Namens mein höheres sittliches Niveau . . . ich brauchte beim Mittagsappell, wenn der Hauptmann . . . die Briefe verteilte, nicht mehr meinen Brief zu öffnen und unter Vorzeigung der Unterschrift laut den Absender zu melden, sondern ich durfte mit dem geschlossenen Brief stumm kehrt machen und ins Glied zurücktreten. Solche und ähnliche Prärogativen waren mit der Zugehörigkeit zur zweiten Sittenklasse verbunden."
Dieses Aufsteigen in der Kadettenhierarchie bedeutete auch gleichzeitig, daß die mit der niederen Position verbundenen Demütigun-gen durch die Kameraden ihr Ende fanden. Bis dahin jedoch wurde die Führung des einzelnen Kadetten genau registriert: die im Sinne des Systems positiven Haltungen wie die Verfehlungen. Ihren Niederschlag fanden die Verhaltensbewertungen in einem jährlichen Führungszeugnis, das wiederum Grundlage für eine Rangliste war, die, wie im Offizierskorps, die Reihenfolge der Wertigkeit der Kadetten festhielt. Es erscheint bemerkenswert, daß in dieser Rangliste, die die Grundlage der militärischen Karriere bildete, schulische Leistungen, gleich ob positiv oder negativ, nicht mitberücksichtigt wurden — Hierarchie und physische Gewalt unter den Kadetten Unabhängig von dieser offiziellen Rangliste existierte unter den Kadetten eine inoffizielle Rangfolge des sozialen Status, äußerlich sichtbar an einem über Jahrzehnte gleich gebliebenen Benamungssystem mit dem eine genau eingehaltene Hierarchie von Privilegien verbunden war.
Im ersten Jahr richtete sich der Druck der Gruppe mit aller Härte gegen die neu eingetretenen Kadetten; sie stellten die Zielscheibe aller nur erdenkbaren Schikanen dar, f-stnur mit Schlägen und körperlichen Quälereien verbunden. Die Kadettenerinnerungsliteratur ist voll solcher sadistischer Beschreibungen. Jeder Kadett hatte diese unterste Stufe der Torturen zu durchlaufen, bevor er es nach einer gewissen Zeit der Initiation als sein Recht ansehen konnte, die an ihm ausgeübten Grausamkeiten wiederum auf die Neuankömmlinge zu übertragen
Höhepunkt und Initiationsritual zugleich war die sogenannte „glatte Lage", ein Prügelzeremoniell, bei dem der Abzuurteilende sich einer mehr oder weniger freiwilligen Prügel-strafe durch die anderen Kadetten zu unterwerfen hatte. Wiese spricht von einem „Überbleibsel der mittelalterlichen Tortur mit einer Abschattung ins Massenpathologische" und schildert die Prozedur wie folgt: „Der Delinquent wird über einen Quer-baum gezogen; jedes Mitglied der Kompanie ist berechtigt und moralisch verpflichtet, mit einem beliebigen Instrument den Körper des Verbrechers aus Leibeskräften zu bearbeiten. Es kommt darauf an, daß die Hiebe auf Rükken, Gesäß und Beine in schnellster Folge fallen. Die Prozedur darf sich, da sie sonst zu sehr auffällt, nicht über fünf Minuten erstrekken."
Die Hervorhebung solcher Rituale ist nur deshalb bemerkenswert, weil sie sich in der Literatur bis zu den Anfängen der Kadetten-ausbildung verfolgen lassen. Die starke Abgeschlossenheit der Institute, die Homogenität ihrer sozialen Strukturen sowie die restriktive Anwendung korporativer Normen ließen formelle und informelle Sozialisationsmechanismen über Jahrhunderte gleich bleiben.
So wurden beispielsweise Meinungsverschiedenheiten unter den Kadetten stets in Form von Zweikämpfen ausgetragen, und dies auch zu dem Zweck, eine informelle Rangordnung zu erhalten. „Beleidigungen . . . können nur mit der Waffe in der Hand gesühnt werden. Woher eine Waffe nehmen? Wenn Ihr keinen hölzernen Kindersäbel habt, so nehmt einen Stecken, vielleicht mit Dornen — denn. . . Blut muß fließen . . ."
Wiese schreibt: „Richtig aufgenommen in den Kreis der rechten Kadetten war man erst dann, wenn man sich mit Erfolg... . gedroschen'hatte. Das , Dreschen'war ein Zweikampf mit Fäusten. Erfordernis war, daß Blut fließen mußte. Das Ziel der Schläge war die Nase oder der Mund. Jedenfalls schlug man ins Gesicht. Durch das . Dreschen'sollte festgestellt werden, wer von beiden . strammer’ war. Im Laufe des Jahres ergab sich eine ziemlich genaue Reihenfolge der Strammheit, der dem Grad der persönlichen Geltung entsprach."
Dies waren exakt die Verhaltensmuster, die den Duellformen in der Armee entsprachen. Daher erscheint es auch nicht ungewöhnlich, daß trotz der schon in Altpreußen verbotenen Duelle der fest eingeprägte korporative Kodex des Zweikampfes unter Offizieren bis hoch ins 20. Jahrhundert hinein wirksam blieb. Duellanten wurden im allgemeinen recht schnell begnadigt, während ein Offizier, der einen Zweikampf verweigerte, seinen Abschied nehmen mußte. Noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden Weigerungen aus religiösen Gründen nicht anerkannt — Der „sozialisierte" Kadett Welches Ergebnis stand nun am Ende des Sozialisationsprozesses im Kadettenkorps, welche Veränderungen haben die Kadetten bei sich verspürt, welche Einstellungen haben sich verfestigt, welche Bewußtseinsstrukturen wurden ausgeprägt?
Im Laufe der Ausbildung war die Zielbestimmung der Kadetten immer deutlicher geworden. Salomon schrieb: „Was als tolles Spiel des Körpers begann, endete in bitterlichstem Ernst, drängte nach den äußersten Grenzen zweckbewußten Handelns." Und folgerichtig später: „Wer sollte ertragen können, daß Übung immer Übung bliebe?"
Als der Erste Weltkrieg schließlich ausbrach, kannte der Überschwang der Gefühle keine Grenzen mehr. „Junge, was freu ich mich über den schicken Krieg", läßt Salomon seinen Erzieher sagen und die Kadetten, die bereits mit 17 Jahren eingezogen worden waren, wurden heftig beneidet: „. . . dort standen die Untersekundaner in erregten Gruppen herum . .. zehn oder zwanzig Kadetten, die schon das siebzehnte Lebensjahr erreicht hatten und nun fiebernd und lachend, mit geröteten Gesichtern, mit fuchtelnden Händen sich irre Worte der Freude zuriefen ..." Selbst die Rückkehr schwerverletzter Erzieher aus den ersten Kämpfen des Krieges und die im Laufe der Zeit immer häufiger eintreffenden Gefallenenmeldungen konnten die verkrusteten Bewußtseinshaltungen nicht mehr aufbrechen: „Oberleutnant Planer erklärte uns ganz genau, wie das sei, wenn man einen Lungenschuß kriegte. . . Er übersetzte, was er zu sagen hatte, in eine Sprache, die uns verständlich war. . . Doch blieb es sonderbar, daß gerade die Art, in der Planer uns berichtete... in uns die Scham weckte, nicht fünf Jahre älter zu sein. Von den Kadettenkameraden, die zu Beginn des Krieges ins Feld gezogen waren, blieb kaum einer am Leben. Von ihnen sprachen wir nur gelegentlich, es war selbstverständlich, daß sie fielen, und wir neideten es ihnen."
So spricht alles dafür, daß die Erziehungsmittel gegriffen haben. Die Normen und Wertvorstellungen wurden internalisiert, die Vorstellung vom Sterben als der eigentlichen Lebensbestimmung so verfestigt, daß der Sozial-charakter der Kadetten sich nicht einmal graduell von dem der kaiserlichen Offiziere unterschied
Es erscheint wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinzuweisen, daß dies gleichermaßen für Adel und Bürgertum galt. Unterschiede des Standes waren hier verwischt. Waren die Bürgerlichen erst einmal ins Kadettenkorps aufgenommen, durchliefen diese ohne Unterschied die gleichen Stufen des Sozialisationsprozesses. Hier vollzog sich der bürgerliche Anpassungsprozeß im kleinen, der auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zur Herausbildung des von Wehler so genannten Sozialmilitarismus führte und der, wie Alff im Zusammenhang mit dem Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte feststellte, „die freiheitlichen Kräfte Deutschlands dezimiert und korrumpiert" hat
IV. Schlußbemerkung
Die Institutionalisierung militärischer Jugenderziehung unter dem Aspekt militärhistorischer Sozialisationsforschung hat in der hier vorgelegten skizzenhaften Darstellung zwei Ergebnisse deutlich gemacht. 1. Die Gründung von Erziehungsanstalten unter militärischer Leitung und Kontrolle im 18. und 19. Jahrhundert war ein spätabsolutistisches Herrschaftsmittel, das einen nicht unerheblichen Beitrag zur sozialen Militarisierung leistete. Garnisonschulen und Militär-waisenhäuser erlaubten im Zusammenhang mit manufaktureller Produktion einerseits Disziplinierung und industrielle Nutzung und andererseits die Rekrutierung eines soliden Unteroffizierstammes.
Dieses System militärischer Jugenderziehung wurde mit den Unteroffiziersschulen und Kadettenanstalten des Kaiserreichs übernommen. Hier wurden junge Menschen systematisch auf ihre künftige militärische Lebensaufgabe vorbereitet. Mit den Mitteln einer totalen Erfassung des Individuums in seiner physischen und psychischen Ganzheit wurde die bedingungslose Hingabe an ein System bewirkt, das Krieg, Kampf, elitäres Machtbewußtsein und romantisch verklärte Vasallentreue gegenüber einem gottähnlichen Monarchen zu den Hauptelementen seiner Ideologie gemacht hat. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß insbesondere im Kadettenkorps die angewandten Sozialisationsmechanismen tief-sitzende und überdauernde Wirkung zeigten. Unter der Perspektive einer zu referierenden Jugendgeschichte stehen somit die Erziehungs-und Sozialisationspraktiken in militärischen Institutionen in einer historischen, allerdings erst noch herauszuarbeitenden Kontinuität, in welcher Erziehung als Machtanspruch über Leben und Lebensbestimmung junger Menschen begriffen wird. Der vorliegende Versuch, und darin liegt seine didaktische Absicht, sollte dazu beitragen, für die historischen und gegenwärtigen Dimensionen einer solchen Auffassung kritische Sensibilität zu entwickeln. 2. Folgerungen und Ergebnisse unter der Fragestellung historischer Friedensforschung ergeben sich hieraus von selbst. Die Ideologisierung von Kampf und Krieg als das tragende irrationale Element militärischer Sozialisation begründete insbesondere bei den Absolventen der Kadettenschulen im Kaiserreich ein Bewußtsein, das nicht die Kriegs-verhinderung suchte, sondern die kriegerische Auseinandersetzung gerade als höchste Lebenserfüllung ansah. Daß damit kriegerische Auseinandersetzungen programmiert schienen, liegt auf der Hand. Und wenn man zudem bedenkt, daß vermutlich der weitaus größte Teil der Stabsoffiziere und Generale der Weimarer Reichswehr durch die Kadetten-anstalten geprägt worden war, kann die abstinente Haltung des Militärs gegenüber der jungen Demokratie eigentlich nicht verwundern.
Die Sozialisation in militärischen Erziehungsinstitutionen war jedoch nur die eine Seite der kriegsfördernden Strategie im Kaiserreich. Die andere Seite zielte auf die gesellschaftliche Anpassung des Bürgertums an das militär-adelige Wertsystem. Die Militarisierung des Alltagsbewußtseins des Bürgertums im kaiserlichen Deutschland, das u. a.seinen Ausdruck in dem übertriebenen Reserveoffizierwesen, in den Kriegervereinen, in dem Drang nach Nobilitierung oder im studentischen Verbindungswesen fand, war bedingt auch durch Militarisierungstendenzen im Bereich primärer und sekundärer Sozialisation. Denkt man nur an die militärische Begründung des Schulsports oder an die Etablierung einer Unzahl paramilitärischer Jugendverbände wie Jungdeutschlandbund, Wehrkraftvereine, Pfadfinder oder Jugendwehren, so wird deutlich, welchen Beitrag militärhistorische Sozialisationsforschung zur Erklärung unserer Vergangenheit leisten kann und noch leisten muß.
Jürgen-K. Zabel, Dipl. -Päd., geb. 1940; Studium der Erziehungswissenschaft, Geschichte, Soziologie und Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abt. Köln und Bonn; seit 1978 Lehrstabsoffizier an einer Fachschule der Bundeswehr. Veröffentlichung: Das preußische Kadettenkorps. Militärische'Jugenderziehung als Herrschaftsmittel im preußischen Militärsystem, Frankfurt/M. 1978.