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Der Weg in den Krieg. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik | APuZ 34-35/1979 | bpb.de

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APuZ 34-35/1979 Der Weg in den Krieg. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik Kampf um Lebensraum". Karl Haushofers „Geopolitik" und der Nationalsozialismus Zum Verhältnis von Geschichts-und Politikunterricht. Politische Bildung im Fächerverbund

Der Weg in den Krieg. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik

Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette Wolfram Hans-Erich Volkmann Manfred Messerschmidt Wilhelm Deist Wette

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Zusammenfassung

In einem Überblick versuchen die vier Autoren des Bandes „Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik“ (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. I, Stuttgart 1979) die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zur ideologischen, politischen, ökonomischen und militärischen Entwicklung im Deutschland der Zwischenkriegszeit zusammenzufassen — einer Entwicklung, die am 1. September 1939 zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges geführt hat. Ausgangspunkt ist dabei die Reaktion auf die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg, auf die Revolution und den Versailler Vertrag. Im Zuge der allgemeinen „revisionistischen" 'Politik vermochten sich in der Endphase der Weimarer Republik — auch unter dem Eindruck der Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise — Kräfte in der öffentlichen Meinung, in Kreisen des Militärs und der Wirtschaft sowie in der allgemeinen Politik zunehmend einen bestimmenden Einfluß zu verschaffen, die den traditionellen Linien deutscher Großmachtpolitik folgten. Diese breite Kontinuität wesentlicher Elemente der nationalsozialistischen Politik erwies sich als die Basis der von Hitler auf allen Gebieten mit Vehemenz aufgenommenen Kriegsvorbereitungspolitik. Der Widerspruch zwischen der revisionistischen Perspektive der alten Eliten und der ideologisch begründeten Zielsetzung der Hitlerschen Politik und ihrer Methoden blieb zunächst ohne Belang. Die „Umkehrung" der innenpolitischen Verhältnisse mit dem Ziel der „Wiederwehrhaftmachung" der Nation in der Form einer militarisierten „Volksgemeinschaft“ stand ebenso im Dienst der Kriegsvorbereitung wie die Außenpolitik, die zunächst durchaus nur revisionistischen Bahnen folgte und die nationale Aufrüstung gegenüber der Außenwelt „abzuschirmen" hatte. Der zur Stabilisierung des Systems unerläßliche wirtschaftliche Aufschwung gewann seine wesentlichen Impulse ebenfalls aus der Aufrüstung und vollzog sich in Formen, die der wirtschaftspolitischen Zielsetzung — Autarkie im Großwirtschaftsraum — entsprach. Die militärische Aufrüstung, Kern der deutschen Kriegsvorbereitungspolitik, stellt sich dar als ein sich ständig beschleunigender, ungezügelter Prozeß der Ausweitung der Rüstungsziele der Wehrmachtteile, die zu Konkurrenten bei der Ausschöpfung des Rüstungspotentials wurden. Die Begrenztheit dieses Potentials und die anhaltende Steigerung der Rüstungsforderungen mit ihren finanz-, aber auch sozialpolitischen Implikationen führten auf den Weg der Expansion, der dem Programm Hitlers für die „Gewinnung neuen Lebensraumes" entsprach. Die Dynamik des Aufrüstungsprozesses und die Politik Großbritanniens, das sich den Hitlerschen Vorstellungen eines Kondominiums entzog, engten den politischen Handlungsspielraum des „Führers" spürbar ein und zwangen zu politischen Schachzügen, die seinem „Programm" widersprachen. Schließlich stellten die Kriegserklärungen der Westmächte im September 1939 als Folge des deutschen Überfalls auf Polen wesentliche Voraussetzungen der Expansionspolitik Hitlers in Fraae, was auch durch die Erfolge der kontinentalen Blitzkriege nicht ausgeglichen werden konnte. Dies war das Ergebnis einer Politik, deren Ziele und Methoden durch Hitler bestimmt wurden, deren Vollzug jedoch ohne die Zustimmung oder die Hinnahme durch die Mehrheit der Nation und ihrer Eliten nicht denkbar war.

Zum 40. Jahrestag des Kriegsbeginns im Jahre 1939 veröffentlicht das Militärgeschichtliche Forschungsamt Freiburg im Breisgau den ersten Band eines auf insgesamt zehn Bände angelegten Werkes über den Zweiten Weltkrieg. Angesichts der Fülle von Publikationen über das Dritte Reich und zum Kriegsbeginn von zum Teil zweifelhafter Qualität — der Markt hierfür scheint unerschöpflich zu sein — wird dem Leser hier eine den neuesten Forschungsstand widerspiegelnde Überblickdarstellung vorgelegt.

Mit Recht wird die Frage gestellt werden, warum eine derartige Darstellung erst jetzt, ja warum sie überhaupt erscheint. Zum ersten Teil der Frage sei daran erinnert, daß die . amtlichen" Werke zur Geschichte des Ersten Weltkrieges sehr viel schneller auf den Markt kamen und damit einen großen, wenn auch nicht exakt meßbaren Einfluß auf die öffentliche Meinung der damaligen Zeit ausübten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot sich auch in dieser Beziehung ein radikal verändertes Bild. Die der Vernichtung entgangenen Akten standen jahrzehntelang und stehen auch heute noch nicht vollständig zur Verfügung, vor allem aber ließ sich eine „amtliche" Kriegs-geschichtsschreibung mit dem Pluralismus der demokratischen Gesellschaft in der Bundesrepublik nicht mehr vereinbaren.

Wichtiger als die Frage nach dem Zeitpunkt der Publikation ist deren Begründung. Hierfür •assen sich, abgesehen davon, daß eine umfassende Militärgeschichte des Dritten ReiChes noch nicht existiert, zumindest zwei Gründe — ein mehr wissenschaftlicher und ein allgemeinpolitischer — anführen. Die Mi-litärgeschichte ist aus verständlichen historischen, aber auch aus politischen Gründen ein stark vernachlässigter Teil der deutschen Geschichtswissenschaft. Das hat Konsequenzen unter anderem auch für die Geschichtsschreibung über das Dritte Reich, dessen von Anfang an auf Expansion zielende Politik ohne eine militärgeschichtliche Interpretation nicht beschrieben werden kann.

Die sorgfältige Darstellung der Rückwirkungen dieser Politik auf das militärische Machtpotential und der davon wiederum ausgehenden Wirkungen kann die bisherige Kenntnis der Geschichte des Dritten Reiches in nicht unwesentlichen Bereichen ergänzen. Da das Regime in seiner Ideologie und Praxis durch Gewalt, Kampf und Krieg gekennzeichnet war, müssen auch seine Gewaltinstrumente berücksichtigt werden.

Durchaus zu Recht werden in der Öffentlichkeit Nationalsozialismus — Drittes Reich — Zweiter Weltkrieg zunehmend als synonyme Begriffe gebraucht. Es ist daher gerade im Blick auf die ungebrochene Welle der Vermarktung des auf Aktion und Emotion reduzierten Kriegsgeschehens dringend notwendig, auf die Verknüpfung der militärischen Ereignisse mit der allgemeinen Entwicklung des Dritten Reiches aufmerksam zu machen und immer wieder darauf hinzuweisen. Dabei geht es nicht um Be-oder Entlastungen, sondern um ein Mehr an Erkenntnis über eine Zeitspanne, die das Bewußtsein einer Generation geprägt hat, die aber der jüngeren Gene-Für diese Zeitschrilt erweiterter Vorabdruck aus der von den Verf. bei der DVA, Stuttgart, in Kürze erscheinenden gleichnamigen Publikation. Es handelt sich dabei um den ersten Band einer auf insgesamt zehn Bände angelegten Edition „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg, veröffentlicht wird. ration kaum noch gegenwärtig ist, wie „Holocaust" gezeigt hat.

Der erste Band der Serie trägt den Titel „Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik" und untersucht in vier umfangreichen Beiträgen die Kriegsvorberei-tungspolitik auf den Gebieten der Propaganda, der Innenpolitik, der Wirtschaftsplanung, der Aufrüstung und der Außenpolitik. Die Autoren haben die Ergebnisse ihrer Arbeit in der nachstehend abgedruckten Schlußbetrachtung zusammengefaßt.

II.

Die wissenschaftliche Kontroverse um die Ursachen des Zweiten Weltkrieges hat nie zu einer solchen prinzipiellen Gegensätzlichkeit der Standpunkte geführt wie die entsprechenden Forschungen über die Ursachen der Kriege von 1864/66, 1870 und 1914. Auch die provozierenden Thesen einiger weniger Außenseiter unter den Historikern konnten das stets neu überprüfte Ergebnis der internationalen Forschung nicht erschüttern, wonach die Ursachen des Krieges in Europa auf die deutsche Politik der Jahre bis 1939 zurückzuführen sind. Die weitgespannte Forschung über die deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre hat darüber hinaus ergeben, daß sowohl die Gründung des deutschen Nationalstaates, dann der Versuch der Aufrechterhaltung und des Ausbaues des Reiches als auch — nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges — der erneute Anlauf zur Wiederaufrichtung der Groß-und Weltmachtstellung Deutschlands jeweils mit einer Kriegspolitik verbunden waren, die Europa und sein politisches Gewicht in der Welt fundamental veränderten. Kriege standen am Anfang und am Ende der knapp 75jährigen Geschichte dieses Nationalstaates.

Diese Perspektive ist ein wichtiges Ergebnis aus der ausgedehnten Diskussion über die Strukturelemente, die für den deutschen Nationalstaat bestimmend waren. Sie entstanden auf politischem Gebiet vornehmlich aus den besonderen Bedingungen der Gründungsphase und im ökonomischen Bereich aus der sich immer rascher vollziehenden Industrialisierung sowie durch die ‘Kombination beider Faktoren. Die Frage nach der fortdauernden Wirksamkeit dieser Strukturelemente ist in einer großen Zahl von Untersuchungen zur Geschichte des Kaiserreichs behandelt worden. Als ein gewiß vorläufiges Ergebnis kann festgehalten werden, daß in der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Herrschaftsorganisation, den außen-und innenpolitischen Zielsetzungen und den ihnen zugrunde liegenden Ideologien Kontinuitäten zu erkennen sind, die ihre Kraft zum Teil weit über den Ersten Weltkrieg hinaus bewahrten. Für das Verständnis der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges kommt es darauf an, diese Erkenntnisse in den überschaubaren historischen Gesamtzusammenhang einzubetten. Die so gewonnene Distanz erlaubt eine differenzierte Beurteilung der Entwicklungen, Tendenzen und Ereignisse der dreißiger Jahre, die als integraler Bestandteil der kurzen Geschichte des deutschen Nationalstaates betrachtet werden müssen. Sie öffnet den Blick für die Kontinuität und Diskontinuität dieser historischen Entwicklung, in der sich Konstanz und Wandel der erwähnten Strukturelemente spiegeln.

Als ein Ausgangspunkt für die Analyse der Ursachen der im September 1939 zum Kriege führenden Politik müssen die Wirkungen der militärischen Niederlage im Jahre 1918, der deutschen Revolution und des Versailler Friedensvertrages vom Juni 1919 betrachtet werden. Der Zerfall der bisherigen politischen und militärischen Herrschaftsorganisation, die Übernahme der politischen Verantwortung durch Sozialdemokraten, ehemalige „Reichsfeinde", und die Beschränkung der bewaffneten Macht auf eine Berufsarmee von 100 000 Mann und auf eine Marine, der nur Küstenschutzfunktionen zu bleiben schienen, erschütterten ganz offenkundig die überlieferten Vorstellungen und Werte staatlicher Ordnung nachhaltig. Weniger tangiert erschien zunächst der wirtschaftliche und soziale Bereich, wenn auch bereits während des Krieges breite Schichten des Mittelstandes in existenzgefährdende wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten waren, die sich mit der Inflation (1923) noch wesentlich verschärfen sollten. Ganz abgesehen von der Frage, ob die Veränderungen der politischen und wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse tatsächlich als tiefgreifend zu bezeichnen sind, bleibt der Umstand maßgebend, daß sie im Bewußtsein der meinungsbildenden Mittelschichten, insbesondere des national denkenden Bürgertums, als ein prinzipieller Wandel empfunden wurden.

Fundamentale Bedeutung für die weitere Entwicklung, auch für die Legitimierung der nationalsozialistischen Politik ab 1933, gewann die Forderung nach einer Revision des Versailler Vertragswerkes. Sie wurde unter dem Eindruck der harten Bestimmungen dieses Vertrages von allen politischen Gruppen erhoben und von der Masse der Bevölkerung gestützt. Im Mittelpunkt des Interesses aller Revisionisten standen außenpolitische Ziele wie der Abbau der Reparationen, die Wiederherstellung der militärischen Souveränität des Staates und die Rückgewinnung der mit dem Friedensschluß verlorenen Territorien. Auch hier variierten Zahl und Umfang der erhobenen Forderungen zwischen den Parteien. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal waren die den Forderungen jeweils zugrunde liegenden politischen Fernziele und die Methoden, mit denen diese realisiert werden sollten. Dabei zeigte sich, daß die bis 1918 erwogenen, mit wechselndem Erfolg propagierten und erprobten Variationen des deutschen Weges zur Position einer kontinentalen Großmacht auch unter den gänzlich veränderten politischen Verhältnissen der Weimarer Republik das Denken und Handeln der Parteien bis hin zur Sozialdemokratie bestimmten. Zudem hatten sich, trotz der ungünstigen Ausgangslage, die längerfristigen Möglichkeiten für eine deutsche Großmachtpolitik gegenüber der Situation zu Anfang des Jahrhunderts nicht unwesentlich verbessert: Der britisch-sowjetische Gegensatz erschien in seiner Schärfe und ideologischen Grundsätzlichkeit unüberbrückbar, die USA waren sehr bald von dem Versailler Vertragswerk abge-rückt, die Staaten Ostmitteleuropas 'zeigten sich diplomatischer und wirtschaftlicher Einflußnahme zugänglich, und schließlich hatte das britisch-französische 'Verhältnis, insbesondere nach der französischen Ruhr-Invasion (1923), viel von seiner im Weltkrieg erprobten Festigkeit verloren. für die öffentliche Meinung und im Bewußtsein fast der gesamten politischen Repräsenfanz der Republik trat diese Perspektive hinter dem Eindruck zurück, daß der deutschen Außenpolitik praktisch kein Bewegungsspielraum geblieben sei. Auch nach dem Vertrag von Rapallo mit der Sowjetunion (1922) und der Aufnahme des Reiches in den Völkerbund (1926) veränderte sich diese Einschätzung der politischen Situation kaum. Selbst Stresemanns erfolgversprechender Versuch, unter Ausnutzung der Vorteile des kollektiven Sicherheitssystems des Völkerbundes und ökonomischer Faktoren neue Grundlagen für eine deutsche Großmachtpolitik zu schaffen, wurde von den Rechtsparteien und den entsprechenden außerparlamentarischen Gruppierungen immer wieder als . bloße „Erfüllungspolitik" abqualifiziert. Die liberalen und sozialen Demokraten sowie einige gemäßigte Konservative, die mit unterschiedlichen Zielvorstellungen eine Außenpolitik der Verständigung und des Ausgleichs in Bindung an das im Völkerbund repräsentierte internationale System betrieben, hatten, scheiterten schließlich gegen Ende der Weimarer Republik an der Aufgabe, diese Politik mehrheitsfähig zu erhalten. Die unvermindert heftige Ablehnung des Versailler Vertrages und des Völkerbundes — als einer Veranstaltung der Versailler Siegermächte —, der Kampf um die Herabsetzung der Reparationen und um die Gleichberechtigung in Rüstung^fragen stärkten die politischen Richtungen, die der traditionellen Mach•tpolitik das Wort redeten.

Wenn die deutsche Revolution 1918/19 und der Versailler Vertrag als mögliche Ausgangspunkte für die Erörterung des Ursachenzusammenhangs bezeichnet worden sind, in dem die deutsche Politik ab 1933 betrachtet werden muß, dann ist in der Wirtschaftskrise ab 1929 mit ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und bewußtseinsmäßigen Wirkungen der historische Vorgang zu sehen, der in entscheidender Weise zur Bündelung und Stärkung der Kräfte beigetragen hat, die der deutschen Politik bis 1939 den Stempel aufgedrückt haben. Die deutliche Verstärkung der Tendenzen in der Außenpolitik, die auf eine Lösung der Bindungen an das multilaterale System des Völkerbundes drängten, war bereits ein Reflex der durch die wirtschaftliche Krise veränderten innenpolitischen Situation. Sie fand ihre Entsprechung in der sich wandelnden Militärpolitik der Reichswehr.

Die frühen Versuche des Generals v. Seeckt, dem Chef der Heeresleitung, mit Hilfe der Sowjetunion aus der Versailler Ordnung auszubrechen und eipe neue Basis für eine deutsche Großmachtpolitik zu schaffen, hatten trotz des Vertrages von Rapallo nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt. In den Jahren nach der Entlassung Seeckts (1926) hat die Reichswehr stärker als zuvor die realen politischen und militärischen Gegebenheiten in ihrem Planen und Handeln berücksichtigt.

Die Reichswehrführung versuchte durch eine systematisch betriebene Rüstungsplanung den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges Rechnung zu tragen, doch hielten sich die konkreten Rüstungsmaßnahmen in engen Grenzen.

In der Billigung des ersten Rüstungsprogramms durch die Regierung (1928) manifestierte sich die von Reichsminister Groener angestrebte Einbindung der Reichswehr in die von Stresemann vertretene Richtung der allgemeinen Revisionspolitik, deren Zielsetzung Groener auch als Rahmen für die operative Planung der Reichswehr festzulegen versuchte. Dieses relativ geschlossene militärpolitische Konzept verlor ab Herbst 1931 unter dem Eindruck der allgemeinen politischen Krise zunehmend seine die Reichswehr bindende Kraft. Im Reichswehrministerium setzten sich bis zum Januar 1933 die Stimmen durch, die nur in dem Ausbruch des Reiches aus dem kollektiven Sicherheitssystem eine Chance sahen, weiterreichende — auch Groener grundsätzlich nicht fremde — militärische Zielvorstellungen zu verwirklichen und den Großmachtanspruch Deutschlands militärisch zu fundieren. Diese Stimmen knüpften an Seeckts völlig der preußisch-deutschen Tradition folgendes außenpolitisches Programm an, dem ein Souveränitätsbegriff und ein Selbstverständnis des Militärs zugrunde lagen, die bereits durch den Ersten Weltkrieg überholt waren. Das militärische Konzept Groeners unterlag den in diesem Zusammenhang reaktionär zu nennenden Kräften.

Gleichzeitig verstärkte sich auch die innenpolitische Machtposition der Reichswehr in augenfälliger Weise. Versuche der Reichswehrführung unter Seeckt, die mit dem Kriegsende verlorengegangene traditionelle Vormachtstellung der bewaffneten Macht im Rahmen der allgemeinen Herrschaftsorganisation mit Hilfe des Ausnahmezustandes im Herbst und Winter 1923 wiederherzustellen, waren gescheitert. Nach einem Intervall während der relativ stabilen Jahre der Republik kulminierte mit der Berufung des Generals v. Schleicher zunächst zum Reichswehrminister und schließlich zum Reichskanzler eine Entwicklung, mit der dasselbe Ziel auf einer sehr viel breiteren organisatorischen Basis und — begünstigt durch den mit der Weltwirtschaftskrise einhergehenden Verfall des parlamentarischen Regierungssystems — mit größerer Aussicht auf Erfolg erreicht werden sollte. Das Reich befand sich unter Führung Schleichers, der sich auf das Vertrauen des Reichspräsidenten v. Hindenburg stützen konnte, auf dem Wege zum Militärstaat. Nach dem Bruch von 1918/19 schien sich auf diesem Gebiet ein konstitutiver Faktor der deutschen nationalstaatlichen Entwicklung erneut durchzusetzen.

Die in der Form der Präsidialregierungen zum Ausdruck kommende tiefe Krise des Parlamentarismus und das schließliche Scheitern der ersten deutschen Republik vor dem Ansturm der politischen, wirtschaftlichen und vor allem sozialen Probleme, die sich aus der Weltwirtschaftskrise ergaben, wurden begleitet von einer Welle nationalistischer und antidemokratischer Ideen, deren Früchte weitgehend die NSDAP erntete. An ihrer Propagierung war die sogenannte Nationale Opposition maßgeblich beteiligt, zu der neben der NSDAP der Frontsoldatenbund „Stahlhelm", die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die einflußreiche Literatengruppe „Soldatischer Nationalismus" um Ernst Jünger, ein Großteil der Weimarer Studentenschaft und eine Reihe politischer Wehrverbände und Zirkel zu rechnen sind. Die Nationale Opposition verfolgte zwei Stoßrichtungen: Innenpolitisch erstrebte sie einen nach militärischen Mustern gegliederten „Frontsoldatenstaat", das heißt einen autoritären Machtstaat, außenpolitisch einen wenig zielklaren, aber lautstark propagierten gewaltsamen Imperialismus, wobei vor allem mit dem schillernden Begriff des „Wehrgedankens" argumentiert wurde.

Die beiden großen Kirchen, die protestantische noch stärker als die katholische, müssen ebenfalls weit eher dem nationalistischen als dem demokratisch-republikanischen Lager zugerechnet werden. Ihre traditionellen Lehren vom gerechten Krieg verhinderten, daß dem christlichen Prinzip der Gewaltlosigkeit politisches Gewicht beigemessen wurde. Für die Amtskirchen blieb auch angesichts der Schrecken des Ersten Weltkrieges der Krieg ein letztlich unreflektiert hingenommenes Natur-oder gar Gottesgesetz. Die katholische Zentrumspartei, die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP), die linksradikale Deutsche Demokratische Partei (DDP) und ; ihnen nahestehenden Verbände gerieten den Krisenjahren der Weimarer Republik enfalls in den Sog des Nationalismus mit m Ergebnis, daß sie immer deutlicher von r Außenpolitik des friedlichen Ausgleichs äbrückten. An ihr hielt allein noch die von der Regierungsmacht verdrängte Sozialdemokratie zusammen mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und den Gewerkschaften fest. Der organisierte Pazifismus, zumal soweit er pointiert antimilitärisch eingestellt war, geriet in die totale Isolation. Die deutschen Kommunisten warnten zwar ständig vor imperialistischen Kriegsgefahren, aber sie trugen mit ihrer These von der Unvermeidbarkeit neuer Kriege ebenso wie die Kirchen dazu bei, kriegsfatalistische Bewußtseinsinhalte am Leben zu erhalten.

Schließlich veränderte die 1929 einsetzende und bis Ende 1933 kontinuierlich anschwellenden Flut nationalistischer Kriegsbücher und Kriegsfilme das politische Klima. Der gleichzeitig zu beobachtende Niedergang von Kulturprodukten pazifistischer Tendenz signalisierte eine generelle Trendwende. Die Auffassung, daß der Krieg ein legitimes Mittel der Politik sei, wurde trotz des Versuches der Kriegsächtung im Briand-Kellogg-Pakt von 1928 als selbstverständlich hingenommen. Die veröffentlichte Meinung jener Jahre läßt deutlich erkennen, daß es einen starken Trend zur Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens gab, der den erwähnten Intentionen der Reichswehrführung unter Schleicher entsprach und sie förderte. 1933 bedeutete insoweit durchaus keinen Bruch. Vielmehr konnte die praktische Politik des NS-Regimes sich des schon zuvor in seinem Sinne aufbereiteten Meinungsklimas bedienen.

Der Überblick über die politische Szenerie an der Jahreswende 1932/33 berechtigt zu der Feststellung, daß auf fast allen wichtigen Gebieten der Innen-und Außenpolitik diejeni-gen Kräfte an Gewicht gewonnen hatten und zunehmend die Entwicklung bestimmten, die den traditionellen Linien der deutschen natio-nalstaatlichen Politik folgten, wie sie sich seit 1867/71 herausgebildet hatten. Unter den Jewiß völlig veränderten äußeren und inneren Bedingungen gilt dies nicht nur für die Außen-, Militär-und Innenpolitik sowie für as weite Feld der propagierten Ideologien, sondern auch für bestimmte Vorgänge auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Die Weltwirtschaftskrise war gleichbedeutend mit einer Krise des liberalen Welthandelssystems. Das führte konsequenterweise zu einer Aufwertung der Ideen und Vorstellungen über mehr oder weniger geschlossene Wirtschaftsräume, die in Deutschland an entsprechende Konzeptionen der wilhelminischen Ära anknüpfen konnten. Der Gedanke an Autarkie in einem europäischen Großwirtschaftsraum als Alternative zu dem immer mehr zerfallenden Welthandelssystem gewann an politischer Bedeutung, als die NSDAP ihn zur Grundlage ihres wirtschaftspolitischen Programms machte und sich unter anderem auf diese Weise der Unterstützung wesentlicher Wirtschaftskreise noch vor der Berufung Hitlers zum Reichskanzler zu versichern wußte.

Die Frage, ob unter Berücksichtigung dieser Faktoren die Politik des nationalsozialistischen Regimes ab Februar 1933 im wesentlichen als eine Fortsetzung der traditionellen Tendenzen und Entwicklungslinien der nationalstaatlichen Politik zu qualifizieren sei, die sich allerdings durch ihre besondere Radikalität auszeichne, liegt nahe, doch würde eine derartige Interpretation eine leichtfertige Über-dehnung der Kontinuitätsthese darstellen. Sie würde das „Programm" und das politische Handeln des Mannes außer acht lassen, der die NSDAP in relativ kurzer Zeit zum Triumph über ihre starken Konkurrenten geführt hatte und der bis 1945 die dominierende Figur der deutschen Politik war: Adolf Hitler. So heterogen und miteinander unvereinbar die einzelnen Elemente seines Weltbildes auch erscheinen mögen, so ist doch seine sozialdarwinistische Überzeugung, daß „der Kampf in allen seinen Formen" nicht nur das Leben des einzelnen, sondern die Entwicklung der Völker bestimme, in Verbindung mit dem Rassegedanken als unveränderliche Größe und Grundlage seiner politischen Entscheidungen zu betrachten. Auf dieser ideologischen Basis — wonach Frieden nur als Zustand der Kriegsvorbereitung zu werten, Bündnisse nur im Gedanken an einen künftigen Krieg zu beurteilen waren — beruhten auch seine außenpolitischen Zielvorstellungen, deren Kern die Gewinnung neuen „Lebensraumes“ im Osten bildete.

Die ideologische Begründung sowohl der politischen Visionen als auch der politischen Entscheidungen Hitlers nach 1933 stellte die Kontinuität der bisher gültigen Ordnungsund Zielvorstellungen deutscher Politik in Frage. Doch hat Hitler in den Jahren nach 1933 darauf geachtet, daß die Wendung nicht voll in das Bewußtsein der Öffentlichkeit trat. Bei der weitgehenden Übereinstimmung mit den starken, im weitesten Sinne „revisionistischen" Kräften über die zunächst anzusteuernden Ziele auf innen-und außenpolitischem, auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet gelang die Verwischung der vorhandenen Gegensätze ohne besondere Schwierigkeiten. So sprach in den ersten Jahren nach 1933 niemand mehr vom Frieden als Hitler selber, da die umfassende „Wiederwehrhaftmachung" der Nation dies erforderte. Im übrigen war nur unter diesen Voraussetzungen ein Arrangement mit Großbritannien zu erreichen, das seit den zwanziger Jahren zum außenpolitischen Programm Hitlers gehörte und das die Basis für den Aus-griff nach Osten bilden sollte.

Mit der forcierten Rüstung stellte Hitler allerdings diesen Ausgangspunkt selber in Frage und entzog damit der politischen und strategischen Vorbereitung seiner Kriegspolitik die Grundlage. Umfang und Eigendynamik der Aufrüstung haben in einem sehr viel stärkeren Maße als bisher angenommen die außen-und innenpolitische Entwicklung Deutschlands in den Jahren 1933 bis 1939 geprägt und beeinflußt. Alle wichtigen Maßnahmen des Regimes standen direkt oder indirekt im Dienste der Aufrüstung; dies gilt insbesondere für die Wirtschafts-und in geringerem Maße auch für die Außenpolitik. Während der Besprechung mit den Reichswehrbefehlshabern am 3. Februar 1933 nannte Hitler eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Aufrüstung: die „Wiederwehrhaftmachung", die „Stärkung des Wehrwillens" der Bevölkerung „mit allen Mitteln". Dies war in seiner Sicht nur durch eine „Umkehrung" der innenpolitischen Verhältnisse, durch „straffste autoritäre Staatsführung" möglich. Die Interessen der Partei und der Reichswehr deckten sich in diesem Programmpunkt vollständig. Die Innenpolitik des NS-Regimes diente somit ganz ausgesprochen dem Ziel, die deutsche Gesellschaft auf die Erfordernisse des Krieges hin umzugestalten. Die innenpolitische Formierung — die Beseitigung des Parlamentarismus und des Mehrparteienstaats, die Gleichschaltung aller Interessenverbände und der Aufbau eines autoritären Führerstaates — war also kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Kriegsvorbereitung. Ein Ergebnis dieser Politik war die Korrumpierung und schließlich die Auflösung der rechtsstaatlichen Ordnung, und hierin wird — trotz aller Anklänge an ähnliche Überlegungen im Kaiserreich -

der Bruch mit der nationalstaatlichen Über-lieferung manifest.

Auch die Sozialpolitik des Regimes ist von der allgemeinen Kriegsvorbereitungspolitik nicht unberührt geblieben. Auf diesem Gebiet ließ sich die NSDAP von den Erfahrungen des Weltkrieges leiten, in dessen Verlauf insbesondere die Arbeiterklasse immer nachdrücklicher gegen die Fortsetzung des Krieges und vor allem gegen die wirtschaftlichen Entbehrungen revoltiert und schließlich -

nach der militärischen Niederlage — die Revolution herbeigeführt hatte. Angst vor Revolution war der Hintergrund der Hitlerschen Politik, es trotz der forcierten Aufrüstung nicht zu einer Einschränkung der Konsumgüterproduktion kommen zu lassen. Die Arbeiterschaft konnte jedoch durch propagandistische Manöver allein nicht bei der Stange gehalten werden. Dazu bedurfte es wirtschaftlicher Zugeständnisse. Wo aber die soziale „Bestechungsstrategie" des Regimes nichts fruchtete, wurde die Gefolgschaft durch brutalen Terror erzwungen.

Die Planung und konkrete Zielsetzung der Aufrüstung selbst überließ Hitler weitgehend der Verantwortung der Militärs. Der neue Reichswehrminister v. Blomberg, seit 1929 ein entschiedener Gegner der Groenerschen Militärpolitik, setzte sich mit Erfolg für eine Politik der Rüstungsfreiheit ein. Multilaterale oder auch nur bilaterale Rüstungsvereinbarungen, die für die eigene Rüstung irgendwelche Beschränkungen zur Folge hätten haben können, lehnte er ab. Die Zielvorstellungen der führenden Offiziere des Heeres und der Marine orientierten sich rasch an dem vor dem Ersten Weltkrieg erreichten Rüstungsstand. Angesichts der bestehenden militärischen Stärkeverhältnisse in Europa und der drohenden politischen Isolierung des Reiches mußten die ersten Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel als die gefährlichsten eingeschätzt werden. Hitler selbst hatte die Befehlshaber der Reichswehr Anfang Februar 1933 auf die Möglichkeit eines französischen Präventivschlages aufmerksam gemacht. In der Sicht der Militärs, insbesondere der Generale v. Fritsch und Beck, war dieser Gefahr nur durch eine Beschleunigung des Tempos der Aufrüstung zu begegnen. Die Intentionen Hitlers befanden sich auch in dieser Beziehung in Übereinstimmung mit denen der militärischen Führung. Die bewußte Ablehnung aller internationalen Bindungen für die eigene Rüstung, die sich daraus ergebenden Vorstellungen über die Gefährdung der eigenen militärischen Position und die aus dieser Beurteilung der Lage gezogenen militärischen Konsequenzen verliehen dem Aufrüstungsprozeß eine Eigendynamik, deren generelle politische und wirtschaftliche Auswirkungen für die Phase von 1933 bis 1939 kaum abzuschätzen sind.

Die Formen, in denen sich die Aufrüstung der Wehrmacht bis 1939 vollzog, waren geprägt von einem ausgesprochenen Teilstreitkraftdenken, das die rüstungswirtschaftliche Effektivität wesentlich minderte. Eine Koordination der Rüstungsmaßnahmen von Heer, Marine und Luftwaffe aufgrund von richtungweisenden politischen und strategischen Direktiven fand nicht statt. Die Rüstungsprogramme des Heeres vom Dezember 1933 und August 1936 gingen von der Vorstellung eines europäischen Mehrfrontenkrieges aus, dem Deutschland nach Vollendung der Programme „mit einiger Aussicht auf Erfolg" gewachsen sein sollte. Unverkennbar ist der offensive Charakter des Rüstungsplanes von 1936. Beck hatte schon Ende 1935 von einer . angriffsweise" zu führenden „strategischen Abwehr" in einem Mehrfrontenkrieg gesprochen, nunmehr — im August 1936 — hielt der Chef des Allgemeinen Heeresamtes den Rüstungsplan aus militärischen und wirtschaftlichen Erwägungen nur dann für vertretbar, wenn die Wehrmacht nach seiner Durchführung auch eingesetzt werde.

Die Marine war zu diesem Zeitpunkt noch weit von einem derart umfassenden Programm entfernt, ganz abgesehen von den zeitlichen Vorstellungen, die — dem Kriegs-instrument entsprechend — generell langfristiger waren. Die Marineführung befand sich seit den Vorüberlegungen zum deutsch-britischen Flottenvertrag und dessen Abschluß im Juni 1935 in einer nur schwer zu erfassenden Phase der Umorientierung ihrer strategischen Prämissen. In Übereinstimmung mit dem Heer galten bis zum Abschluß des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes Frankreich und Polen als die voraussichtlichen Gegner. Bereits die strategischen Konsequenzen der mit Beginn des Jahres 1934 erhobenen Rü-Stungsforderungen nach einer „Parität" mit Frankreich lassen erkennen, daß Großbritannien als möglicher Gegner in den langfristigen Überlegungen der Marine nicht mehr völlig ausgeschlossen wurde. Das für die führenden Offiziere der Reichs-und Kriegsmarine verpflichtende Erbe der Tirpitzschen Flottenideologie gewann erneut an Aktualität. Doch der Prozeß der Umstellung von der selbstverständlichen Orientierung an England zu der Wendung gegen die noch immer übermächtige Seemacht war überaus langwierig, ein Tabu mußte gebrochen werden. Erst im Sommer 1937 wurde in der Seekriegsleitung offiziell begonnen, den strategischen Konsequenzen einer Konfrontation mit Großbritannien nachzugehen. Die Folge der Ungeklärtheit der strategischen Voraussetzungen war eine eigentümlich schwankende Rüstungspolitik, die mehr den Impulsen aus momentan gegebenen Situationen als den grundsätzlich vorhandenen, langfristigen Zielvorstellungen folgte.

Eine Koordination der Rüstungsanstrengungen von Heer und Marine ist auch nicht im Ansatz zu erkennen. Im Gegensatz hierzu schien sich eine entsprechende Zusammenarbeit zwischen Heer und Luftwaffe zumindest anzubahnen. Das hatte zunächst personelle Gründe, da fast alle führenden Offiziere der Luftwaffe aus dem Reichsheer hervorgegangen waren. Die Gemeinsamkeit erstreckte sich auch auf die strategischen Grundgedanken, das heißt, auch die Luftwaffe rechnete mit einem europäischen Mehrfrontenkrieg, in dem Frankreich und die Tschechoslowakei die entscheidenden Mächte der Gegenseite sein würden. Sie sah ihre Hauptaufgabe vor allem in der Unterstützung der Landkriegführung, weniger im selbständig zu führenden Luftkrieg. Trotz dieser Berührungspunkte blieb eine Koordination aus, da die Luftwaffe ihre Rüstungsprogramme und deren industrielle Durchführung als ihre ausschließliche Domäne betrachtete. Durch eine großzügige und gezielte Entwicklung der Flugzeugindustrie gelang in den Jahren 1933— 1936 der Aufbau einer Luftstreitmacht, die ihre militärpolitische Funktion als Abschreckungspotential gegen befürchtete präventive Maßnahmen europäischer Mächte gegen die deutsche Aufrüstung voll erfüllte. Damit waren aber weder die militärischen Probleme des neuen Wehrmachtteils gelöst noch die Schwierigkeiten gemeistert, die sich aus der notwendigen Modernisierung des Fluggeräts und aus der planmäßigen Umsetzung technischer Entwick9 lungen in industrielle Produktion ergaben. Nach einem steilen Aufschwung stagnierte die Flugzeugproduktion in den Jahren 1937 und 1938, zu einem Zeitpunkt demnach, in dem für die Luftwaffe Großbritannien als möglicher Gegner ins Blickfeld geriet, für dessen Bekämpfung die rüstungsmäßigen Grundlagen weitgehend fehlten.

Die Aufrüstung der Wehrmacht läßt sich somit charakterisieren als ein zunächst kaum gehemmter, in den Dimensionen und im Tempo bisher beispielloser Auf-und Ausbau der Wehrmachtteile. Wirtschaftliche Schwierigkeiten erzwangen ab 1936/37 über den Weg der Rohstoffkontingentierung wenigstens eine bürokratische Steuerung der Rüstungsprogramme. Die rüstungswirtschaftlichen Gegebenheiten veranlaßten jedoch weder Hitler noch die militärische Führung, die Rüstung an politischen Zielen und sich daraus ergebenden strategischen Perspektiven zu orientieren. Anerkannter Grundsatz war: möglichst viel und möglichst schnell zu produzieren. Hitler versuchte — zum Teil mit Erfolg —, die sich daraus ergebenden Rüstungskrisen durch ideologisch ausgerichtete Appelle, politische Zukunftsperspektiven und maßlos überhöhte Rüstungsforderungen an die Wehrmachtteile zu überwinden, und verschärfte damit noch deren Konkurrenzverhältnis. Zweifellos hatte die Wehrmacht zu Kriegsbeginn einen unvergleichlich hohen Rüstungsstand erreicht — sie verschaffte dem Reich den Rang der stärksten, modern ausgerüsteten Militärmacht des Kontinents. Allerdings entsprach dieser Rüstungsstand nur unvollkommen den Zielvorstellungen der Militärs und war das Ergebnis einer zügellosen Aufrüstung der Wehrmachtteile, die die durchaus vorhandenen Grundlagen einer umfassenden und die wirtschaftlichen Ressourcen der Nation in Rechnung stellenden Rüstungspolitik verschüttet hatte. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik liegen zu einem wesentlichen Teil in diesem komplexen Befund und den daraus abzuleitenden außen-, wirtschafts-und sozialpolitischen Folgen begründet. Davor verblassen die gewiß vorhandenen ideologischen Differenzen zwischen Wehrmacht und NSDAP, der Kompetenzenstreit innerhalb der Wehrmacht und die uferlose Organisationsthematik zu interessanten Randproblemen.

Die Aufrüstung entsprach dem auf Kampf, Krieg und Lebensraum ausgerichteten Programm Hitlers. Die politische Realität zu Beginn des Jahres 1933 war jedoch — trotz des überschäumenden Nationalismus als ideologisch-propagandistische Grundlage der Programmerfüllung — geprägt von einer noch immer trostlosen wirtschaftlichen Lage und der mehrere Millionen zählenden Masse der Arbeitslosen. Die Meisterung der darin beschlossenen ökonomischen Probleme war gleichbedeutend mit der Konsolidierung des Regimes und eröffnete erst die Chance, die militär-und außenpolitischen Zielvorstellungen zu realisieren. Wie bereits die Kabinette Papen und Schleicher beschritt auch Hitler den Weg, mit Hilfe öffentlicher Mittel die Konjunktur zu beleben und neue Arbeitsplätze zu schaffen. In einer charakteristischen Wendung hat Hitler jedoch von Anfang an darauf geachtet, daß alle entsprechenden Programme direkt oder indirekt der Aufrüstung zugute kamen.

Die enge Verbindung von Wirtschaftsaufschwung und Aufrüstung barg allerdings Risiken in sich, die Reichsbankpräsident Schacht, der zur zentralen Figur der ersten Phase der NS-Wirtschaftspolitik wurde, von vornherein zu begrenzen suchte. Die über die bekannten Mefo-Wechsel zur Verfügung gestellten Mittel für die Aufrüstung wurden auf eine bestimmte Summe beschränkt. War auf diese Weise die Aufrüstung von der geld-wirtschaftlichen Seite her für einige Jahre abgesichert, so ergaben sich schon bald außerordentliche Schwierigkeiten, in ausreichendem Maße Devisen für die notwendigen Importe von rüstungswichtigen Rohstoffen, aber auch von Nahrungsmitteln aufzubringen. Schacht versuchte, diesem Problem durch eine neue Orientierung der Außenwirtschaftspolitik Herr zu werden. Der deutsche Export wurde auf die Länder konzentriert, die mit den erwünschten Importgütern die deutschen Leistungen bezahlen konnten; der immer weiter schrumpfende Devisenbestand konnte dadurch wesentlich entlastet werden. Dieses neue Element in der Wirtschaftspolitik des Reiches korrespondierte in nahezu idealer Weise mit den autarkistischen Bestrebungen, da nunmehr die Wirtschaftsbeziehungen mit den industriell weniger entwickelten Staaten Ost-und Südosteuropas in Richtung auf eine immer stärkere Abhängigkeit dieser Staaten vom deutschen Markt gestaltet werden konnten. Die mit dem „Neuen Plan" (1934) verbundene staatliche Reglementierung des Außenhandels trug zweifellos planwirtschaftliche Züge, doch hielten Schacht und die mit wirtschaftlichen Fragen befaßten Repräsentanten des NS-Regimes grundsätzlich an der Verantwortung des Unternehmers fest. Sie beanspruchten allerdings im Sinne ihres Verständnisses der Wirtschaft als „Wehrwirtschaft" die Kompetenz, lenkend in den Wirtschaftsprozeß einzugreifen, und versuchten, diesen Anspruch durch eine zweckmäßige, zentralisierte Organisation der wirtschaftlichen Interessenverbände durchzusetzen. Die Rücksichtnahme, mit der das Regime den Unternehmern und Kapitaleignern gegenübertrat, steht im krassen Gegensatz zu der völligen politischen und wirtschaftlichen Entmachtung der Arbeiterschaft. Die „Deutsche Arbeitsfront“, die an die Stelle der Gewerkschaften getreten war, entwickelte erst im Laufe der Jahre sozialpolitische Initiativen, die über die ihr zugedachte soziale Betreuungsfunktion hinausgingen.

Die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik Schachts wurden schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 durch das Tempo und den Umfang der Aufrüstung der Wehrmachtteile überrollt. Die Reaktion der nationalsozialistischen Führung, vor allem Hitlers und Görings, auf die erneute, durch die Erschöpfung der Devisenvorräte hervorgerufene, äußerst prekäre Rohstoffkrise war die Verkündung der wirtschaftlichen Mobilmachung in Form des Vierjahresplans im September 1936. Die Wirtschaft stand nun mehr denn je im Zeichen der Kriegsvorbereitung. Das Programm der Ausbeutung aller Rohstoffvorkommen im Reich unter Außerkraftsetzung des Prinzips der Rentabilität, des Aus-und Aufbaus der Ersatzstoffindustrien ohne Rücksicht auf die damit verbundenen finanziellen Aufwendungen und schließlich die Zielsetzung, innerhalb von vier Jahren ein hohes Maß an Selbstversorgung bei besonders rüstungs-

wichtigen Rohstoffen zu erreichen und die Wirtschaft insgesamt „kriegsfähig" zu ma-chen, ist im Zusammenhang mit dem Rüstungsprogramm des Heeres vom August 1936 zu sehen. Insgesamt demonstriert das Programm in drastischer Weise den sozialdarwinistischen Grundzug im Denken und Handeln Hitlers, der die Lösung der wirt-

schaftlichen Probleme nur in der kriegerischen Expansion, in der Gewinnung neuen •Lebensraumes" zu sehen vermochte.

Nach Lage der Dinge konnte die gesamtwirtschaftliche Situation durch das appellartige Programm Hitlers kaum verändert werden. Von einzelnen Projekten war auf längere Sicht zwar eine gewisse Entlastung einzelner Sektoren der Wirtschaft zu erwarten, aber die kurzfristig durch den dramatischen Auftritt Hitlers und das energische Vorgehen Görings erzielte Wirkung erschöpfte sich bald. Die mit dem Jahre 1937 einsetzende Rohstoffköntingentierung befriedigte die Wehrmachtteile in keiner Weise; eine Entscheidung Hitlers über die Verteilung der zur Verfügung stehenden Rohstoffe erschien als unumgänglich. Der „Führer" trug statt dessen am 5. November 1937 den Oberbefehlshabern seine politischen Zukunftsperspektiven vor und entschied die anstehenden rüstungswirtschaftlichen Fragen mehr am Rande und interimistisch. Ein umfassendes Wehrmachtrüstungsprogramm kam bis zum Kriegsbeginn nicht zustande. Hitler hatte schon früher zu erkennen gegeben, daß er von der systematischen Vorbereitung eines totalen Krieges im Sinne Ludendorffs, die in Konsequenz der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges vorbereitende Maßnahmen für den gesamten Bereich der Wirtschaft auf einen „langen" Krieg notwendig machte, nicht sehr viel hielt. Ihm kam es darauf an, eine gut ausgerüstete, schlagkräftige und stets kriegsbereite Wehrmacht zur Verfügung zu haben; Vorratshaltung und Nachschubkapazitäten interessierten ihn erst in zweiter Linie.

Im Winter 1937/38 zeigte sich immer mehr, daß die Mittel zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krisenerscheinungen, zu denen jetzt auch der Mangel an Arbeitskräften zählte, bei Aufrechterhaltung des Umfangs und des Tempos der Aufrüstung nicht mehr ausreichten. Die Blicke der Wirtschaftsplaner richteten sich nunmehr verstärkt auf die Nachbarstaaten des Reiches, insbesondere auf Österreich und die Tschechoslowakei. Sie sahen in der territorialen Expansion und der damit verbundenen Erweiterung der wirtschaftlichen Basis die einzige Möglichkeit, die Rüstungskonjunktur des Reiches aufrechtzuerhalten. Diese wirtschaftspolitischen Argumente haben die Motivation der machtpolitischen Entscheidungen Hitlers zur Annexion Österreichs und zur „Zerschlagung" der Tschechoslowakei zweifellos — auch bezüglich der Wahl des Zeitpunktes — beeinflußt. Die dadurch erreichte momentane Entlastung der gesamtwirtschaftlichen Situation konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Krise andauerte und damit den Spielraum der politischen Entscheidungen Hitlers einschränkte. Der „Führer" betrachtete allerdings die Wirtschaft als bloßes Instrument zur Schaffung der Voraussetzungen für seine expansionistische Politik.

Diese Kriegspolitik galt auch als Aushilfsmittel gegenüber den von Hitler befürchteten sozialpolitischen Folgen der permanenten Überlastung der Wirtschaft. In den Jahren 1938 und 1939 häuften sich die Anzeichen sozialpolitischer Unruhe unter der Arbeiterschaft und einer generellen wirtschaftlichen Unzufriedenheit in der Bauernschaft. Verweigerung von Überstunden, hoher Krankenstand, Absinken der Produktivität einerseits und Klagen über eine katastrophale Landflucht sowie über die Benachteiligung durch das verordnete Preisgefüge andererseits waren Symptome einer Entwicklung, die tendenziell die innenpolitische Stabilität des Regimes in Gefahr bringen mußte. Wenn auch für 1939 auf diesem Felde von einer bedrohlichen Zuspitzung der Verhältnisse nicht gesprochen werden kann, so ist die Möglichkeit einer innenpolitischen Motivation der zum Kriege führenden Politik doch nicht völlig auszuschließen. In diesen Konsequenzen zeigt sich die prinzipielle Umkehrung der traditionellen Wert-und Zielvorstellungen für wirtschaftliches Handeln durch das NS-Regime.

Kriegsvorbereitung ist der gemeinsame Nenner, auf den sich die grundlegenden Entscheidungen des NS-Regimes auf dem Gebiet der Innen-, Militär-und Wirtschaftspolitik zurückführen lassen. Es ist nur logisch, daß auch die Außenpolitik dieser Generallinie folgte, denn Hitler hat, seinen ideologischen Prämissen getreu, zu keiner Zeit einer Ordnung der internationalen Beziehungen zugestimmt, die ein friedliches Nebeneinander der Staaten auf Dauer zum Ziele hatte. In der Phase der „Wiederwehrhaftmachung" der Nation hatte die Außenpolitik Abschirmungsfunktionen zu übernehmen. Hitler und das Auswärtige Amt, das unter der Flagge des Revisionismus diese Funktionsbestimmung durchaus akzeptierte, haben durch vielfältige bilaterale Initiativen eine internationale Isolierung vermeiden und zum Beispiel durch den Abschluß des Konkordats und des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes bedeutsame politische Erfolge erzielen können.

Begleitet wurde diese Politik von einer außerordentlich wirksamen, von Goebbels gesteuerten Propaganda. Sie hatte die Aufgabe, vor dem Ausland und gegenüber der deutschen Bevölkerung die eingeleiteten personellen und materiellen Aufrüstungsmaßnahmen zu verschleiern beziehungsweise als Mittel der Selbstverteidigung zu verharmlosen. Sie bediente sich dabei jener Schlagworte, die seit den zwanziger Jahren im gesamten Lager der politischen Rechten populär waren, etwa der Parole „Revision von Versailles", „Kampf dem Bolschewismus", „Gleichberechtigung" und „Wiederwehrhaftmachung“. Im übrigen betonte Hitler bei jeder Gelegenheit seine friedlichen Absichten öffentlich, und sein Propagandaminister sorgte für ein vielstimmiges Echo. Dieses großangelegte Täuschungsmanöver verfehlte seine Wirkung weder im Inland noch im Ausland.

Die öffentliche Meinung des Auslandes stand weitgehend unter dem Eindruck, daß die nationalsozialistische Außenpolitik sich von der revisionistischen Politik der Weimarer Kabinette nur durch die hochgradige Entschlossenheit unterscheide, die altbekannten Forderungen auch durchzusetzen. Die Front der Versailler Siegermächte hatte sich bereits in'den zwanziger Jahren gelockert, so daß die deutschen Revisionswünsche schon zu diesem Zeitpunkt ein sehr unterschiedliches, zum Teil durchaus positives Echo gefunden hatten. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des allgemeinen Schwächezustandes infolge der Weltwirtschaftskrise mit zum Teil gravierenden innenpolitischen Konsequenzen waren gemeinsame, energische und kraftvolle Reaktionen auf deutsche Vertragsverletzungen kaum zu erwarten. Die Mächte schwankten zwischen dem Versuch einer konsequenten Isolierung, der partiellen Zusammenarbeit und dem Bemühen, das Reich trotz seiner Vertragsverletzungen an die internationale Friedensordnung zu binden.

Hitler und das Auswärtige Amt haben diese sich aus der internationalen Konstellation ergebende Chance für eine aktive deutsche Außenpolitik erkannt und voll wahrgenommen. Mit der Besetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes im März 1936 war der Höhepunkt und in gewisser Weise auch der erfolgreiche Abschluß dieser ersten Phase nationalsozialistischer Außenpolitik erreicht. Die Funktion der Abschirmung trat nunmehr gegenüber den vielgestaltigen Versuchen zu-B rück, die außenpolitischen Voraussetzungen für den geplanten Krieg um „Lebensraum''im Osten zu schaffen. Die Handelsvertragspolitik mit den südosteuropäischen Staaten gehört, gemessen an ihren Wirkungen, in diesen Bereich, ebenso die im ganzen wenig erfolgreichen Bemühungen um Italien und Japan.

Für Hitlers programmatische Zielsetzung entscheidend wurde das Verhältnis zu Großbritannien, da er von der grundsätzlichen Feindschaft der anderen europäischen Großmacht, Frankreich, überzeugt war und deren Ausschaltung beziehungsweise Neutralisierung vor dem Äusgriff nach Osten für zwingend erforderlich hielt. Die Einschätzung der britischen Reaktion auf eine deutsche hegemoniale Politik in Europa bereitete Hitler offensichtlich Schwierigkeiten. Nach 1933 scheint er immer noch von der Vorstellung ausgegangen zu sein, daß sich das Inselreich mit der von ihm intendierten Hegemonialpolitik dann abfinde werden, wenn Englands überseeischen Interessen dadurch nicht tangiert würden. Anklänge an frühere Vorstellungen über den möglichen Interessenausgleich zwischen Land-und Seemacht, über eine denkbare Kooperation im Weltmaßstab sind unverkennbar. Jedoch die Unsicherheit blieb bestehen; das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 ist von Hitler in Übereinstimmung mit dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine nur als eine relativ kurzfristige Zwischenlösung betrachtet worden. Und Großbritannien wahrte auch in den folgenden Jahren die Distanz zu den Hitlerschen Wunschvorstellungen. Dadurch geriet jedoch das politische Kalkül Hitlers ins Wanken. Nach seinem Urteil war die Frage der Rückenfreiheit bei der Realisierung der Lebensraumpläne gegenüber der Sowjetunion — die im übrigen in ihrer militärischen Potenz gründlich unterschätzt wurde — von entscheidender Bedeutung.

Britische Angebote zur Mitwirkung bei einer friedlichen Änderung des Status quo in Ost-und Südosteuropa hat Hitler allesamt ausgeschlagen. Die großen Ziele des Revisionismus in Polen, der Tschechoslowakei und in Österreich wären friedlich erreichbar gewesen — ein sehr weitreichendes Angebot der Appeasement-Politik. Daß Hitler hierauf nicht einging, zeigt seine'Entschlossenheit, darüber hinaus größere Lösungen mit Gewalt durchzusetzen. Die Gespräche mit dem britischen Außenminister Halifax 14 Tage nach der Offenbarung seiner kriegerischen Absichten vor den militärischen Führern im November 1937 lassen erkennen, daß er sich auch in diesem Stadium nicht mit aus seiner Sicht vorläufigen Lösungen abfinden lassen wollte. Hier standen sich, in solcher Klarheit diplomatisch selten faßbar, ein Friedens-und ein Kriegs-konzept gegenüber.

Hitler wurde jetzt selbst von der Dynamik der von ihm in Gang gesetzten Kriegspolitik erfaßt. Nicht nur die Reaktionen der bedrohten Nachbarstaaten Deutschlands, sondern auch ein Konglomerat von militär-und rüstungspolitischen, von rüstungswirtschaftlichen und psychologischen Motiven und Fakten lagen dem allgemeinen Beschleunigungsprozeß zugrunde. Die Ereignisse im Februar/März 1938, im Mai und September des gleichen Jahres hatten den „Fahrplan" vom November 1937 sehr schnell außer Kraft gesetzt. Die britische Polen-Garantie vom März 1939 engte Hitlers Spielraum noch weiter ein, da für ihn die Alternative einer auf friedlichen Ausgleich zielenden Politik indiskutabel blieb.

Wer nach dem verbindenden Glied zwischen Hitlers „Programm" und der ganz auf Tempo abgestellten Aufrüstung fragt, sucht nach einem zwischen ihm und der militärischen Führung abgestimmten politisch-strategischen Konzept und nach einem Zeitplan. Hitler war offensichtlich nicht in der Lage, ein derartiges Verfahren anzuwenden. Die Voraussetzung dafür hätte das Einschwenken der im Programm vorgesehenen Partner auf seine Linie sein müssen. Selbst Italien ging nicht so weit. England ließ ihn ganz bewußt im ungewissen und machte 1937 definitiv klar, daß es nicht daran denke, kriegerische Lösungen auf dem Kontinent zu billigen. England hat, was auch immer gegen das Appeasement gesagt werden kann, Hitler zu seinen Improvisationen gezwungen, die im Herbst 1938 /Frühjahr 1939 auch den Versuch zu einem Arrangement mit Polen umfaßten. Auch der nicht mehr als eine Illusion bleibende Gedanke eines weltpolitischen Dreiecks Berlin-Rom-Tokio ist nur erklärbar als Reaktion auf die britische Politik, auf die damit Druck ausgeübt werden sollte.

Großbritannien trieb Hitler zum Abschluß des Paktes mit Stalin, mit dem er sich in eine Abhängigkeit begab, die seinen langfristigen Zielen ganz und gar nicht angemessen war. Die Abschreckungskomponente der „Blitz13 kriegstrategie" versagte im ersten Blitzkrieg politisch. Die Westmächte erklärten den Krieg. Damit war Hitler die planmäßige politische Vorbereitung der nächsten Schritte aus der Hand genommen. Er konnte nur noch versuchen, mit militärischen Mitteln seine Ausgangslage für die Programmrealisierung zu verbessern. Aber der quantitative und qualitative Rüstungsvorsprung reichte nicht über die ersten Etappen hinaus. Er gestattete nur Lösungen auf dem Kontinent, die einen kurzlebigen Optimismus nähren konnten. Damit paßten die Möglichkeiten der deutschen Kriegführung nicht mehr mit den Dimensionen der zum Weltkrieg sich ausweitenden Auseinandersetzung zusammen.

Fragt man aus der Perspektive des Septembers 1939 nochmals nach den Ursachen der deutschen Kriegspolitik, so wird man das Faktum nicht unberücksichtigt lassen können, daß im Unterschied zum August 1914 eine nennenswerte Kriegsbegeisterung in der deutschen Bevölkerung nicht zu konstatieren war; die Berichte lassen eher das Gegenteil vermuten. Schon während der Sudetenkrise im Herbst 1938 war den NS-Propagandisten die weitverbreitete Kriegsfurcht in der Bevölkerung nicht verborgen geblieben. Daher befahl Hitler im November 1938, die „pazifistische Platte" abzusetzen und das Volk auf gewaltsame Lösungen vorzubereiten. Im Jahre 1939 inszenierten die Propagandisten daraufhin Kampagnen, in denen ganz neue Register gezogen wurden. Nunmehr war — wie vor 1914 — von einer angeblichen Einkreisung Deutschlands durch feindliche Mächte die Rede, vom Volk ohne Raum, und zur Verschleierung der eigenen Angriffsabsichten wurde bereits vorsorglich versucht, die Schuld „an kommenden Dingen" auf andere abzuwälzen. Das Ergebnis war unbefriedigend. Welche Gründe auch immer für diese innere Einstellung der deutschen Bevölkerung maßgebend gewesen sein mögen, sie erlaubt die Schlußfolgerung, daß der Kriegspolitik des Regimes — im Unterschied zu 1914 — die breite politische Basis fehlte.

Erneut stellt sich damit die Frage nach den Trägern der deutschen Kriegspolitik. Die Antwort wird sich mit jenen bürgerlich-nationalen Schichten und ihren Repräsentanten im Auswärtigen Amt, in der Wehrmacht, in Wirtschaft und Wissenschaft beschäftigen müssen, die die Kontinuität der nationalstaatlichen Überlieferung repräsentierten. Sie hatten den Aufstieg Deutschlands zur Welt-macht vor 1914 noch bewußt erlebt, und ihnen waren alle Varianten der ökonomisch und militärisch begründeten deutschen Großmachtpolitik gegenwärtig. Sie hatten die Aufrüstung, die „Wiederwehrhaftmachung" und die Ausrichtung der Wirtschaft auf die Kriegsvorbereitung begrüßt und nach Kräften gefördert; ihr Ziel war eine Ausweitung der deutschen Großmachtposition über die bloße Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages hinaus mit Blick auf Osteuropa, auf ein Ostimperium, das die wehrwirtschaftliche Autarkie sicherte. Der Einsatz militärischer Macht war ein selbstverständlicher Faktor im Rahmen dieses politischen Kalküls. Differenzen zwischen Hitler und den Führungsgruppen in Diplomatie, Wirtschaft und Wehrmacht entstanden ab 1936/37 allein über die Frage des einzuschlagenden Tempos. Das „Lebensraum-Programm" — samt der sozial-darwinistischen und rasse-ideologischen Begründung dieser Zielvorstellung als Axiom Hitlerscher Politik — lag jenseits der traditionellen Ansätze deutscher Großmachtpolitik und ist von diesen Führungsgruppen entweder nicht erfaßt, übergangen oder verharmlost worden.

So fungiert Hitlers Programm als Orientierungsmarke, die auf verschiedenen, von Hitler jeweils nach taktischen Gesichtspunkten bestimmten Wegen angesteuert werden konnte. Die alle Bereiche erfassende „Wiederwehrhaftmachung" der Nation — die Voraussetzung der Hegemonialpolitik — vollzog sich unter Beteiligung einer wachsenden Zahl von Institutionen und Organisationen als ein sich ständig beschleunigender Prozeß. Die dadurch gelösten Kräfte durchsetzten den hergebrachten, bürokratisch funktionierenden Staatsapparat, traten miteinander in Konkurrenz und behinderten sich untereinander, blieben jedoch vor allem auf das Zentrum der Macht, auf den „Führer und Reichskanzler", fixiert. Nach den Ergebnissen der Untersuchungen dieses Bandes ist es nicht zweifelhaft, daß auch Hitler in seinen Entscheidungen von der Dynamik der auf diese Weise sich herausbildenden Herrschaftsstruktur erfaßt wurde.

Die schrittweise Durchführung von Hitlers „Kontinentalprogramm", in historischer Perspektive der erneute Anlauf zur Gewinnung einer Groß-und Weltmachtstellung für das Reich, trat mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 in eine neue Phase ein. Die lusionäre Erwartung, die gewaltsame Erobeing Polens werde nur auf papierene Proteste er Westmächte stoßen, zerstob mit den riegserklärungen Großbritanniens und Frank-ichs am 3. September. 25 Jahre nach Ausgingen des Ersten Weltkrieges in uropa erneut die Lichter aus, und eine riegsmaschinerie setzte sich in Bewegung, Vernichtungskraft alle bisherige Erfahrung übertraf und kaum einen Winkel des Kontinents verschonte. Diese Katastrophe war das Ergebnis der seit 1933 verfolgten, auf eine kriegerische Auseinandersetzung zielenden deutschen Politik, der nicht nur Hitlers „Lebensraum" -Ideologie zugrunde lag, sondern in der auch der seit der Jahrhundertwende ungebrochene Macht-und Geltungsanspruch deutscher Eliten zum Ausdruck kam.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Archiv der Reichsmarine veröffentlichte pereits 1920 den ersten Band der Serie „Der Krieg toneSee 1914— 1918", und das Reichsarchiv legte « 5 den ersten Band der Darstellung des Land-«reges vor.

Weitere Inhalte

Wilhelm Deist, Dr. phil., geb. 1931; Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u. a.: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914— 1918, Düsseldorf 1970; als Hrsg, mit H. Schottelius: Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871— 1914, Düsseldorf 1972; Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897— 1914, Stuttgart 1976. Manfred Messerschmidt, Dr. phil., geb. 1926, Professor und Leitender Historiker im Militärgeschichtlichen Foschungsamt Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u. a.: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Militär und Politik in der Bismarckzeit und im Wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975; Die politische Geschichte der Preußisch-Deutschen Armee 1814— 1890, München 1975; Die preußische Armee: Strukturen und Organisation 1814— 1890, München 1976. Hans-Erich Volkmann, Dr. phil., geb. 1938; Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Freiburg i. Br. und Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Die deutsche Baltikumpolitik zwischen Brest-Litowsk und Compiegne, Köln—Wien 1970; als Hrsg, mit F. Forstmeier: Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975; Kriegswirtschaft und Rüstung 1939 bis 1945, Düsseldorf 1977, u. a. Publikationen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wolfram Wette, Dr. phil., geb. 1940; Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u. a.: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Ein Beitrag zur Friedens-forschung, Stuttgart, Berlin 1971; Friedensforschung, Militärgeschichtsforschung, Geschichtswissenschaft. Aspekte einer Kooperation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7/1974.