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Von der Totalität der Politik Ein Beitrag zur politischen Ethik in der Demokratie | APuZ 1/1980 | bpb.de

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APuZ 1/1980 Artikel 1 Über Konservativismus *) Von der Totalität der Politik Ein Beitrag zur politischen Ethik in der Demokratie

Von der Totalität der Politik Ein Beitrag zur politischen Ethik in der Demokratie

Rüdiger von Voss

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den freiheitlichen Demokratien gewinnt die Frage nach „Macht und Moral" eine neue Brisanz. Die Politik insgesamt ist mit der Suche nach einer „neuen Sittlichkeit" konfrontiert, mit der Suche nach neuen, umfassenden und insoweit „totalen“ sittlichen Mindestanforderungen an die Politik, die es dem Menschen ermöglichen, sich in der politischen Wirklichkeit unserer Zeit zu orientieren, kritisch zu urteilen und von seinen politischen Rechten wirksam Gebrauch zu machen. Die wissenschaftliche Ethik verfügt über ein Angebot politischer Tugenden, das zur Kenntnis zu nehmen lohnt. Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus als politische und ethische Ausnahmesituation zeigt, daß wir im Ernstfall auf die Anerkennung eines ethischen Imperativs nicht verzichten können. In dieser Tradition steht auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das bei allem „pragmatischen Relativismus“ aus dem Ethos seiner Bürger lebt. Die gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz vom November 1979 zu den Grundwerten und den Zehn Geboten kann als Bestätigung dafür verstanden werden, daß freiheitliches, humanes Handeln ohne ethische Grundorientierung nicht möglich ist. Am Beginn eines Bundestagswahljahres muß über „Grenzziehungen" nachgedacht werden, die aufzeigen, was aus ethischen Gesichtspunkten politisch möglich oder unmöglich ist. In Abwandlung eines berühmten Wortes von Polybios kann gesagt werden: Politik ohne Ethik ist wie ein Gesicht ohne Augen — zum Fürchten allzumal. Wer von dieser Furcht nicht getrieben werden will, muß sich zu ethischen Entscheidungen in der Politik durchringen.

I. Fragen nach einer neuen Sittlichkeit

Die Revolution des Ayatollah Khomeini offenbart der von Rationalität, kritischem Skeptizismus und einem mehr und mehr von individuellen Beliebigkeiten bestimmten Wertepluralismus gekennzeichneten westlichen Welt die geistige und politisch praktische Gewalt einer in vielfacher Beziehung kaum zu erfassenden Religion. Ein Religionsführer okkupiert den Staat und errichtet eine totalitäre Diktatur, deren letzte Legitimation ebenso wie ihr alltägliches politisches Handeln der Mitentscheidung und Kontrolle der Bürger entzogen ist.

Bewaffnete Priester sichern seine gottähnliche Allmacht und stellen die ersten Diener einer Inquisition, so, als wären die Schrecken des dunklen Mittelalters eine ausschließlich abendländische Erfahrung. Der Religion zu entgehen, wird zur Flucht in die Freiheit, in eine humane Welt.

Das Oberhaupt der katholischen Welt, Papst Johannes Paul II., der Pole Karol Woityla, wird zum Symbol weltweiter Hoffnungen auf eine uneingeschränkte Respektierung der Menschenrechte, einer Welt der Gewaltlosigkeit, der Liebe und Solidarität, eines „einfachen" Lebens.

Für Millionen Katholiken ist es nicht nur ein neues Vergnügen, katholisch zu sein; Millionen Menschen sehen in diesem Mann ihre Sehnsucht nach einem charismathischen Er-neuerer verwirklicht. Religiosität wird zu einem neuen Hort der Humanität und Mit-menschlichkeit, der Freiheit und des Friedens.

Das Schlagwort von einem „alternativen Leben"

breitete sich rasch über die Schwelle eines Qualitätsmerkmals für giftfreie, in Land-kommunen erzeugte Nahrungsmittel hinaus.

Es bezeichnet mehr und mehr eine in allen westlichen Industrienationen politisch wirksam werdende Bewegung von Menschen, die den politischen und gesellschaftlichen Zuständen einer modernen, hochindustriealisierten und hochtechnisierten Welt entrinnen wollen, bis hin zu der Suche nach dem verlorenen Pa( radies.

I Kurt Sontheimer hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, daß es in dieser alternativen I Kultur nicht um zweckmäßige Entscheidun3 gen, nicht um rationale Vorsorge und Voraus-planungund nicht um Orientierungen an Wählerstimmen geht, sondern „um ein gehaltvolles, sinnerfülltes Leben, um die Wiedergewinnung der Chance, sich mit überschaubaren Gruppen und ideellen Zielsetzungen identifizieren zu können, um die Erfüllung des Verlangens nach emotionaler Geborgenheit, um ungehinderte Selbstbestimmung"

Daß hiermit eine Situation beschrieben wird, die insbesondere die Jugend — in häufig apolitischer Weise — betrifft, zeigen die Erfolge der neuen politischen Gruppierungen wie die „Grünen" und „Bunten", die sich gegen die etablierten Parteien in der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen beginnen. Nichts spricht bisher dafür, daß dies nur eine kurzweilige politische Randerscheinung einer Gesellschaft sein wird, die sich die Frage gefallen lassen muß, ob nicht in den Diskussionen um die „Grundwerte" Krisensymptome sichtbar werden, die eine Auflösung der politischen Normalsituation und ihre Verwandlung in einen Zustand signalisieren, „der fortschreitende Züge eines Ausnahmezustandes annimmt" Der Satz: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er hat eine Seele", wird erneut zu einer politischen Parole, der nachzugehen lohnt.

Die Ambivalenz ist deutlich: Die praktische Politik ist in zunehmendem Maße mit der Lösung von immer schneller aufeinander folgenden Krisen und Konflikten beschäftigt. Praktische Erfolge reichen nicht mehr aus, um sich der Gefolgschaft in Wahlen sicher sein zu können. Die Auskunft, man habe doch das „Machbare" geleistet, wird zum Synonym der Seelenlosigkeit und Kälte des politischen Technokraten. „Gib uns Zukunft, gib uns Hoffnung!" wird sagbar auf politischen Veranstaltungen, wenn es gilt, Rechenschaftsberichte von Parteivor-sitzenden entgegenzunehmen. Die politischen Parteien führen Grundwerte-Diskussionen, erneuern ihre Grundsatzprogramme, ohne den Bürgern in vergleichbarer Ausführlichkeit und Konkretion sagen zu können, wie sie den politischen Alltag meistern, wie die von ihnen getragenen Regierungen ihrem politischen Auftrag im einzelnen gerecht werden könnten.

Geist und Politik stehen sich erneut fremd gegenüber, zumal in den Ländern, die sich eine Ordnung gaben, deren Ursprung in dem Streben nach Freiheit, Brüderlichkeit und dem Glück des einzelnen verankert ist. Selbst in freiheitlichen Demokratien gewinnt die Frage nach „Macht und Moral" eine neue Brisanz, bis hin zu der Frage, in welchem Ausmaß der einzelne Politiker in seinem tatsächlichen Reden und Handeln, in seinem persönlichen Leben ethischen Anforderungen entsprechen muß, um nicht nur glaubwürdig zu sein, sondern auch Macht ausüben zu dürfen Politik insgesamt ist mit der Suche nach einer „neuen Sittlichkeit"

konfrontiert. Es geht in diesem Sinne um die Suche nach einem neuen, umfassenden und insoweit „totalen“ Verständnis sittlicher Mindestanforderungen an die Politik, das den ganzen Menschen erfaßt und ihm es ermöglicht, sich in der politischen Wirklichkeit unserer Zeit zu orientieren, kritisch zu urteilen und von seinen politischen Rechten wirksam Gebrauch machen zu können.

; All dies und vieles mehr zeigt, daß die praktische Politik herausgefordert ist, eine ethische Begründung ihrer Ziele und ihres Handelns zu leisten.

II. Ethik als Wissenschaft

Ethik, abgeleitet von dem griechischen Wort „ethos", ist als Moralwissenschaft, Moralphilosophie und Moraltheologie die allgemeine Bezeichnung der Wissenschaft von den Normen des menschlichen Verhaltens in sittlicher Hinsicht

Wesen und Ziel der Ethik ist demnach die philosophisch-wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der Seinsbezüge, Normen oder Werte, welche dem Menschen in der freien Entfaltung seines Lebens, auch in der Gemeinschaft mit anderen, vorgegeben sind und von ihm beachtet werden sollten

Das wichtigste Thema der Ethik ist der Mensch als sittliche Person in seinem freien Handeln, das seinerseits von der in dem individuellen Gewissen zu erkennenden sittlichen Ordnung bestimmt wird. Die Ethik beschäftigt sich also letztlich mit der Lehre vom sittlich Guten und Bösen.

Es ergeben sich im wesentlichen drei Ebenen, die im Auge behalten werden müssen

1. die sittliche Ordnung als die Gesamtheit der sittlichen Normen, d. h. die normative Sittlichkeit; 2. das tatsächliche Verhalten eines einzelnen oder einer Gruppe, d. h. die historisch-faktische Sittlichkeit;

3. die Grundhaltung und Grundgesinnung, aus der anderes sittliches Verhalten folgt, d. h. die existentielle bzw. psychologische Sittlichkeit. Die Grundlage jeder Ethik ist ein bestimmtes Menschenbild, aus dem dann auch ein bestimmtes Bild von der Gemeinschaft in ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Verfassung folgt. Bewußt oder unbewußt orientieren sich beide entweder an einer beiden übergeordneten Idee oder an einem Gottesbild. Das Menschenbild ist nicht nur der Prüfstein jeder Ethik, sondern auch der Ausgangspunkt für alle weiteren ethischen Folgerungen, Einzel-aussagen und Prinzipien für das Verhalten, Handeln und das Schicksal des einzelnen, der Gemeinschaft und des Staates insgesamt. Die Geschichte der Ethik beginnt im Abendland mit den Sophisten, mit Sokrates und Platon Als die erste wissenschaftliche Ethik wird die des Aristoteles, die sog. Nikomachische genannt. Platon und seiner Staatslehre sind die bis heute wirkenden vier Kardinaltugenden zu verdanken: die Weisheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit und die Besonnenheit. Aristoteles spricht von der Tüchtigkeit, die uns den Zugang zum „Guten", zur erstrebten Glückseligkeit vermittelt Ihm folgend begründet die Antike auch den Staat aus dem Wesen des Menschen. Der Staat ist die höch-ste Vollendung des Vernunftwesens des Menschen. Der höchste Zweck menschlichen Lebens ist der Dienst am Staat. Folglich ist alle Ethik politische Ethik, folglich sind alle Tugenden im letzten politische Tugenden

Nach Bonhoeffer lebt dieser antike Staatsbegriff in den Gestalten des Vernunftstaates, des Volksstaates, des Kulturstaates, des Sozialstaates und schließlich auch in der Gestalt des christlichen Staates fort. Der Staat ist danach nicht nur der Vollender bestimmter vorgegebener Inhalte, sondern vielmehr in seiner letzten Erscheinung dieser Auffassung das eigentliche Subjekt dieser Inhalte. Er ist — Bonhoeffer rekuriert auf Hegel — „der wirkliche Gott".

Die Stoa spricht von der Pflicht, dem Naturrecht und dem Gewissen — Werte, die sich frühem christlichen Denken mitgeteilt haben Gehorsam und Liebe als Erfüllung des Gesetzes Gottes sind christliche Grundüberzeugungen, die hier angelegt sind. Thomas von Aquin faßt alle diese Traditionsstränge platonischen, aristotelischen und frühen christlichen Denkens in seiner umfassenden Ethik in der „Summa Theologica" zusammen. Er fügt den vier Kardinaltugenden die Liebe, die Hoffnung und den Glauben hinzu, alle Tugenden ausgerichtet auf das gemeine Wohl.

Ohne die Entwicklungs-und Problemgeschichte hier im einzelnen darstellen zu können, sei noch die das ethische Denken nahezu revolutionierende Überlegung Kants erwähnt, dessen kategorischer Imperativ als ein in der Vernunft begründetes formales Sittengesetz tiefe Spuren im ethischen Denken bis in unsere Tage hinterlassen hat. Seine Forderung:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können" weist — wie Trillhaas sagt — nur dem gutem Willen allein das sittliche Prädikat der Gutheit zu.

Allein die Gesinnung ist es danach und nicht der Erfolg, der über die Sittlichkeit des Handelns entscheidet. Die Gesinnungsethik geht hiervon aus. Sie fragt nicht nach den sozialen Wirkungen und Folgen des Handelns. Nicht nur die Gesinnung, sondern vielmehr diese Wirkungen und Folgen sind der Hauptgegena stand der Verantwortungsethik. Sie wägt die I Folgen einer Handlung unter den Gesichtspunkten der persönlichen, moralischen, politischen und religiösen Verantwortung ab und fällt dann die ethische Entscheidung.

Schließt man die rein formalistische Gesetzes-ethik, die rein psychologistische Gefühlsethik und den Moralpositivismus, wie er insbesondere für totalitäre Herrschaftsformen immer wieder kennzeichnend ist, neben anderen als „irrig" bezeichneten Formen der Ethik aus so kann man sicherlich feststellen, daß die Gesinnungs-und die Verantwortungsethik heute in der politischen Auseinandersetzung — wenn überhaupt — noch am ehesten verstanden und internalisiert werden.

Blickt man auf unsere politische Wirklichkeit, so kann man verallgemeinernd sagen, daß wir geistig, emotional und politisch-pragmatisch weit davon entfernt sind, von einem Konsens über die ethischen Mindesterfordernisse individuellen und politischen Handelns in Staat und Politik sprechen zu können. Möglicherweise sehr weit entfernt sind wir von den Überlegungen eines Dietrich Bonhoeffer, in denen er seine ethischen Schlußfolgerungen für die „relativ beste Staatsform" — zu finden in den 1940 bis 1943 niedergeschriebenen Manuskripten — zusammenfaßt

„I. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, in der am deutlichsten wird, daß die Obrigkeit von oben, von Gott her ist, in der ihr göttlicher Ursprung am hellsten durchscheint. Ein recht verstandenes Gottesgnadentum der Obrigkeit in seinem Glanz und in seiner Verantwortung gehört zum Wesen der relativ besten Staatsform (die Könige der Belgier nannten sich im Unterschied zum sonstigen abendländischen Königstum „de grace du peuple"). II. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, die ihre Macht nicht gefährdet, sondern getragen und gesichert sieht a) durch eine strenge Wahrung einer äußeren Gerechtigkeit, b) durch das in Gott gegründete Recht der Familie und der Arbeit, /c) durch die Verkündung des Evangelismus von Jesus Christus.

III. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, die ihre Verbundenheit mit den Untertanen nicht durch eine Einschränkung der ihr verliehenen göttlichen Autorität zum Ausdruck bringt, sondern die sich durch ein gerechtes Handeln und wahres Reden in gegenseitigem Vertrauen mit den Untertanen verbindet. Es wird sich hier erweisen, daß das, was für die Obrigkeit das Beste ist, auch für das Verhältnis von Obrigkeit und Kirche das Beste sein wird .. " Weniger schwierig mag es für den evangelischen Christen unserer Tage sein, das nachfolgende Wort Bonhoeffers zu verstehen, wenn es darauf ankommt, einen „letzten" Maßstab für sein eigenes Handeln in dieser Zeit zu finden „Das Gute besteht darin, daß in jedem Handeln der Obrigkeit dem letzten Ziel, nämlich dem Dienst an Jesus Christus, Raum gelassen wird. Nicht ein christliches Handeln, aber ein Handeln, das Jesus Christus nicht ausschließt, ist gemeint."

Noch mehr mag dies für seine Mahnung gelten, daß das Urteil über die Rechtmäßigkeit einer einzelnen staatlichen Entscheidung meist nicht vollziehbar sei, „da in allen staatlichen Entscheidungen die geschichtliche Verstrikkung in die Schuld der Vergangenheit unübersehbar groß" sei. „Hier muß das Wagnis der Verantwortlichkeit unternommen werden", sagt Bonhoeffer und fährt fort: „Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest: das Wagnis des Handelns. Das gilt für die Obrigkeit wie für den Untertan."

Diese philosophisch-poetische Sprache wird sicherlich verstanden, zumal von einem protestantischen Kanzler. Sie wird insbesondere dann reflektiert, wenn es — wie bei dem entsetzlichen Mord an Hanns-Martin Schleyer — darum geht, um Verzeihung zu bitten, um Verzeihung für konkretes politisches Tun, dessen Schuld kaum abzutragen ist

Trennt man die Ethik von der Ideologie — letztere verstanden als ausschließlich von subjektivem Wertempfinden geprägte Aussagen, die für allgemeingültig gehalten und als solche proklamiert werden —, so fragt sich, ob ein Ausgangspunkt für ethische Überlegungen gefunden werden kann, dem ein imperativischer Charakter zuzumessen ist und der als solcher akzeptiert werden könnte.

Der katholische Sozialethiker Arthur F. Utz geht bei seinen Überlegungen von der Über-zeugung aus, daß dem Menschen wesensmäßig eigen sei, „dem im Sein enthaltenen Sollen verpflichtet zu sein" In seinem Bewußtsein stelle der Mensch fest, daß sich bei jeglichem Tun ein Empfinden der Verantwortung im Hinblick auf das, was wir tun, einstelle. In diesem Bewußtsein liegt nach Utz der tiefste und letzte Grund der sittlichen Verantwortung. Er sagt: „Eine Handlung wird erst dadurch sittlich, daß sie aus dem Bewußtsein der Pflicht (der verbindlichen Norm) erfolgt." Die Ethik weist dieses wesenhafte Pflichtbewußtsein „an Hand des Phänomens des Gewissens auf". „Das Gewissen ist das menschliche Organ, das das im Sein liegende Sollen erkennt und anerkennend nachspricht." An anderer Stelle formuliert Utz den ethischen Imperativ und sagt:

.. Wir fühlen uns verantwortlich für das, was wir frei wählen und tun. Es lebt also mehr in uns als nur ein gewisses Wertempfinden. Es ist ein Wertempfinden mit imperativem Charakter: Du sollst das Gute tun und das Böse meiden .. ." Zutreffend weist Utz darauf hin, daß das Gewissen diese ihm zugeordnete Funktion nur erfüllen kann, wenn die Seinsordnung nicht nur als ein bloßer Zusammenhang von Tatsachen begriffen, sondern auch als eine von „einem göttlichen Geistwesen" beabsichtigte, als „eine aufgetragene und in diesem Sinne gesollte Ordnung" verstanden wird Ebenso wie der formalistisch-positivistische „kategorische Imperativ" begegnet der „ethische Imperativ" dem Vorbehalt der allzu großen Allgemeinheit und auch Ungewißheit über die Möglichkeit der praktischen Umsetzung in tägliches Tun und Unterlassen. Soll also der „ethische Imperativ" nicht lediglich der Spekulation oder der individuellen, rein personalen Realisierung ausgeliefert sein, muß der Versuch unternommen werden, die „gesollte Ordnung" und die ihr zugrunde liegenden Werte zu klären, ein Werteschema zu finden, eine Rangordnung zu erstellen, an der individuelles Handeln und das Verhalten der Gesellschaft unter ethischen Gesichtspunkten ausgerichtet und womöglich nachgemessen werden kann.

Auffallend ist, daß die moderne Ethik schon an dieser Stelle deutlich zu erkennen gibt und sich bewußt ist, daß „sichere, allgemeingültige und darum überzeitliche Werturteile nur mit äußerster Vorsicht zu fällen sind" Dies liegt im wesentlichen daran, daß die historische Erfahrung gezeigt hat, daß jede über das wirklich notwendige Maß hinausgehende Fixierung von „Weltanschauung" und „objektiven Gesellschaftswerten" mit dem freiheitlichen Grund-Verständnis — der demokratischen Auffassung von Freiheit und Chancengleichheit — unvereinbar wäre oder aber sofort mit der konkreten Politik kollidieren müßte. Des weiteren muß die Erkenntnis berücksichtigt werden, daß ethische Anforderungen, die an das Individuum gerichtet werden, sich in einer pluralistischen, demokratischen Ordnung nicht sozusagen numerisch hochrechnen lassen, sondern daß sich die Werte in dem gleichen Maße nivellieren, „je höher hinauf wir in der Gesellschaft kommen"

Wirft man auf diesem Hintergrund einen Blick auf die Frage, wie es um die reale Gültigkeit sittlicher Normen bestellt ist, welchen Normen das Moment der Wirksamkeit als wesentliche Voraussetzung ihrer Gültigkeit zuzurechnen ist, so zeigt sich — folgt man auch hier A. F. Utz —, daß es nur sehr wenige Normen sind, die in allen Einzelfällen in demselben Sinne angewandt werden können Unterschieden wird insoweit zwischen „univoken" und „analogen" sittlichen Normen. Unter univoken, allgemein-gültigen Normen sind alle diejenigen Normen zu verstehen, die in der Wesenheit des Menschen begründet sind, Würde „als Würde ei wie die menschliche die -

nes geistigen, freien Wesens", das Recht auf Leben, das Recht auf freie Glaubens-und Gewissenentscheidung sowie das Recht auf leibliche Unversehrtheit — Normen, Rechte, die auf alle Menschen in demselben Sinne anzuwenden sind

Von analogen sittlichen Normen ist dann zu sprechen, sobald diese gesellschaftliche Probleme betreffen, „bei denen es nicht auf die in allen identische Wesenheit, sondern auf qualitative der ankommt Menschen “, — Normen also, die in verschiedenartigen Fällen in unterschiedlicher Weise wirksam werden. Als Beispiele werden hierfür insbesondere die sozialen Rechte und alle die Rechte genannt, „die von der Gesellschaft eine positive Leistung verlangen", wie z. B. das Recht auf berufliche Bildung und berufliche Förderung usw.

Folgt man dieser Differenzierung bei der Betrachtung der Normen, so folgt hieraus aus christlicher Sicht eine Rangordnung der ! Grundwerte, die „Gott" als den absoluten, obersten Grundwert anerkennt, verbunden mit ei-nem Handeln, das dem „Dienst an Jesus Christus" Raum läßt, ein Handeln, „das Jesus Christus nicht ausschließt"

Folgt man dem ordnungsphilosophischen Realismus von H. B. Streithofen, so schließt sich an diesen absoluten, obersten Grundwert die Personenwürde des Menschen als oberster, aber relativer Grundwert an. Diesem folgen in der Rangordnung als unmittelbare Grundwerte Familie und Staat und als mittelbare Grundwerte das Solidari die Freiheit, Gemeinwohl, -tät und Subsidiarität, die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit und das Maß

Die evangelische Ethik der Gegenwart — bemüht, allen aktuellen Fragen gerecht zu werden, dem Zwang der Modernität immer wieder ausgesetzt, bestrebt, „konservative Befangenheit zu überwinden", vielfach nicht imstande, „die Unsicherheit ihrer mangelnden wissenschaftlichen Tradition" zu verbergen — fügt dieser Sicht in jüngster Zeit ein mutiges Angebot sozialer Tugenden hinzu. Bügerliche Tugenden sind es, die eine Wiedererweckung erfahren, weil neu erkannt wird, daß „bei allem Wandel gesellschaftlicher Strukturen ... ein Gemeinwesen auch stabiler Normen (bedarf), die von Generation zu Generation weitergegeben werden und die einer tiefen Einsicht in die Existenzbedingungen einer menschlichen Gesellschaft entstammen"

Sieben soziale Tugenden sind es: Die Pflichterfüllung als die Bereitschaft, die beruflichen Pflichten ernst zu nehmen, weil alle unsere zwischenmenschlichen und öffentlichen Beziehungen voraussetzen, „daß wir uns unter das Mandat der Pflicht gestellt sehen". Die Bereitschaft zum Dienst, weil „der dienenden Aufgabe eine eigene Würde zukommt" und „ein Leben seine Erfüllung finden kann: nicht nur, wenn es der Befriedigung der eigenen Interessen nachjagt, sondern wenn es sich auf andere einläßt und in solcher Hingabe sich selbst bereichert und bestätigt sieht". Gemein-sinn, weil „auch ein demokratisches Gemeinwesen darauf angewiesen (ist), daß sich seine Bürger für das gemeinsame Wohl engagieren", und daß seine Bürger bereit sind, „mit Rücksicht auf das, was dem Gemeinwesen nottut, auch gegenüber persönlichen Wünschen und Bedürfnissen Verzicht zu üben“. Die Ritterlich- keit — Rücksicht und Nachsicht —, die nicht „einer schwächlichen Demut (entspricht), sondern eher einer souveränen Haltung, die gerade aus der Stärke heraus dem Schwächeren Respekt erweist". Die Nächstenliebe, weil „viele der heutigen Krankheitssymptome ihre Wurzel in dem Mangel an menschlicher Zuwendung, an überzeugenden Zeichen der Liebe (finden)". Die Wahrhaftigkeit, weil dort, „wo Treu und Glauben'... außer Kurs geraten sind, unser Zusammenleben in seiner Wurzel vergiftet (wird), weil es jede Möglichkeit des Vertrauens zerstört". Die Tapferkeit schließlich, weil sich „das demokratische System auf den mündigen Bürger" beruft und sich die „geschichtliche Bewegung der Demokratie" ... „aus Bürgermut und Zivilcourage rekrutiert"

Dem Sozialethiker ist die Pflicht aufgegeben, die konkrete Situation einer Gesellschaft sorgfältig und sachorientiert zu studieren, weil sich ethische Forderungen in der konkreten

Situation auch bewähren müssen und sonst die Gefahr besteht, daß die Anwendung einer Norm negative Folgen zeitigt, die es sittlich geboten hätten, diese Forderung erst gar nicht zu erheben. Stimmt man A. F. Utz in dieser Mahnung zu, so lohnt es sich für den politisch denkenden und handelnden Bürger, seine weitere Maxime für die Realpolitiker zu beachten, wenn er sagt: „Für die Realpolitiker — seien es nun die Wirtschafts-oder Sozialpolitiker oder gar die nicht auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkten Universal-Politiker — ergibt sich auf der anderen Seite die Pflicht, die von der wissenschaftlichen Ethik erkannten allgemeinen sozialethischen Normen zur Kenntnis zu nehmen, um nicht blind in die Zukunft hineinzurennen. Dies um so mehr, als für sie eine sittliche Rechtfertigung ihrer politischen Vorschläge doch stets unerläßlich ist, denn wie wollten sie ihre Projekte verteidigen, wenn sie nicht behaupten könnten, sie enthielten eine gerechte Lösung."

III. Ethik im Widerstand

Bevor der Versuch unternommen werden soll, zur aktuellen Situation zurückzukehren, soll der Blick auf eine politische und ethische Ausnahmesituation fallen. Denn erst an der Grenze wird deutlich, was nicht verloren gehen darf, wenn man nicht im Niemandsland enden will. Die Ausnahmesituation, die hier angesprochen werden soll, ist die Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die im deutschen Widerstand ihren eigentlichen moralischen Gegner und zugleich ihren Überwinder fand.

Die politische Geschichte selbst ist bekannt, obgleich das tatsächliche Geschehen und die heute weitreichende Kenntnis der Fakten das Trauma nicht haben verdrängen können, das uns auch heute noch — und immer wieder erneut — belastet und überschattet Die Verfolgung hält an, sowohl für die Täter als auch für die Opfer

Soll hier also nicht auf den historischen Ablauf rekuriert werden, so soll doch gefragt werden, an welchen ethischen Imperativen sich diejenigen orientierten, die sich — wie Beck und Goerdeler — dazu entschieden, nicht nur Widerstand zu leisten, sondern gleichzeitig das Konzept eines „anderen Deutschland" auszuarbeiten. Macht beider Denken auch nicht den ganzen Widerstand aus, so spiegelt es doch Positionen wider, die auch von anderen Gegnern des Nationalsozialismus geteilt wurden, die sich um andere Personen und in anderen Kreisen zusammenfanden, um einen politischen und moralischen Neubeginn zu ermöglichen

Beck und Goerdeler werden hier ausgewählt, weil ihre Motivationen und Ziele, über einen neuen politischen Realismus weit hinausgehend, vor allem ethisch begründet waren. In seiner Einleitung zu den von Beck und Goerdeler in den Jahren 1941 bis 1944 verfaßten Denkschriften weist der Historiker Wilhelm Ritter von Schramm zutreffend darauf hin, daß es diesen beiden Repräsentanten des Widerstandes nicht nur um einen Umsturz oder um die bloße Machtergreifung durch die Opposition ging Trotz aller konkreten Vorschläge zur Neugestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft lief ihr Wollen und Planen „nicht auf pragmatische Ziele hinaus, sondern vor allem auf die Wiederherstellung der moralischen Kräfte des deutschen Volkes ... Es ging um die Wiederherstellung der sittlichen Grundkräfte." Sie wußten, daß es keine Moral und keine guten Sitten „an sich" gebe, „daß sie Glauben und Vorbild brauchen, aus denen sie genährt werden".

Sieht man einmal von der durch die Bedrohung einer totalitären Diktatur geprägten pathetischen, appellativen Sprache ab, so offenbart sich eine wieder aktuelle, neu — wenn auch in anderem Sprachgewand — wirksam werdende Sichtweite des Menschen und der Politik, die das Schicksal des einzelnen heute in umfassender, für viele Menschen ungeahnten Weise bestimmt.

In der Denkschrift „Das Ziel" von Anfang 1941 werden Staat und Politik in ihrer Verantwortung vor dem Menschen angesprochen „Aufgabejedes Staates ist es, die aufErhaltung und Verbesserung des Lebens gerichtete, naturgesetzlich gebotene Arbeit seiner Bürger zu schützen, alle dieser Tätigkeit dienenden Kräfte zu stärken, sie vor Entartung zu bewahren und ihnen eine möglichst lange Dauer sicherzustellen. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern hat eine Seele. Daher gelangt er zur höchsten Leistungsfähigkeit, solange es gelingt, die seelischen Bedürfnisse zu befriedigen. Das gilt für sein religiöses Streben und Sinnen, das gilt für seine Ehrliebe, das gilt für sein Nationalbewußtsein, für seinen Hunger nach Wahrhaftigkeit und vieles andere ... Die Tätigkeit, die Staatsführung und Volk diesen umfassenden Staatsaufgaben widmen, nennt man Politik."

Aus der geschichtlichen Erfahrung und dem Freiheitsstreben der Menschen werden Schlußfolgerungen gezogen, die für die „Dissidenten" in den Gewaltregimen unserer Zeit eher verständlich zu sein scheinen als für eine liberale Welt, die sich scheut, unter Religiosität mehr zu verstehen als nur die Frage, ob man bereit ist, sein Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession im Alltag wirksam werden zu lassen. Beck und Goerdeler bekennen sich zu der Freiheit des Geistes, des Gewissens, zu Recht und Gerechtigkeit, zur Vaterlandsliebe und den menschlichen Tugenden, : zur umfassenden Hinordnung in die Schöpi fung Gottes in einer Weise, die zumindest den „christlichen Politiker" nachdenklich stimmen asollte „Die Geschichte lehrt daher auch klar, daß zu den Voraussetzungen erfolgreicher Staatsführung gehören: die Anerkennung und Ausnutzung aller Naturkräfte und Naturgesetze, ihre durch nichts behinderte Forschung, daher die Freiheit des Geistes; die Befriedigung der seelischen Bedürfnisse, daher die Freiheit des Gewissens; der harmonische Ausgleich zwischen Trieb und Seele, daher Recht und Gerechtigkeit; die Pflege aller körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte in Vaterlandsliebe und menschlichen Tugenden; die Hinordnung in die Schöpfung Gottes, daher die Rücksicht auf die Anschauungen und Interessen anderer sowie die Nächstenliebe, und nicht zuletzt das ewige Suchen nach dem Sinn des Lebens und die dauernde Unterwerfung unter die Allgewalt Gottes. Nur die Perioden, in denen der naturhafte Lebens-und Gestaltungswille der Menschen und Völker von der Erkenntnis dieser Voraussetzungen und ihrer harmonischen Erfüllung durchdrungen waren, waren glücklich."

Erst auf diesem Hintergrund wird das „totale" Politikverständnis nachvollziehbar, das seine nicht nur ethische, sondern auch politisch praktische Ausformung in den genannten Denkschriften gefunden hat. Bezogen auf die oben genannten geschichtlichen und ethisch-religiösen Voraussetzungen heißt es in der Denkschrift von 1941

„Politik muß daher immer die Erfüllung und beste Gestaltung aller dieser Voraussetzungen umfassen; sie muß total sein, wie die Natur es ist. Die Natur sucht aber auch ständig ein Gleichgewicht zwischen den ringenden Kräften herzustellen. Der ganze Kampfist auf die Erringung des Gleichgewichts gerichtet. Der Mensch ist ein Teil der Natur und ihren ewigen Gesetzen unterworfen. Auch die Politik muß den ehrenhaften und nützlichen Ausgleich der skrupellosen Machtanwendung vorziehen."

Ritter von Schramm interpretiert dieses totale Politikverständnis als das ethische und politisch-praktische Streben nach Befriedigung, Ausgleich der Interessen und als das Bekenntnis zu einer umfassenden, weltgeschichtlichen Verantwortung im Rahmen der ganzen menschlichen Gesellschaft, über die herkömmliche Pflichterfüllung weit hinausgehend, ist dies der Ausdruck eines Verantwortungsbewußtseins, das seine abendländische, christliche Bindung nicht nur nicht leugnet, sondern sich zu ihr ausdrücklich bekennt Daß dieses totale Politikverständnis zutiefst antitotalitär ist, wird in der Denkschrift „Der Weg“ sichtbar, wenn es dort heiß* t „Eine Betrachtung der Geschichte lehrt, daß totale Kriege sich stets dann entwickeln, wenn die Politik nicht total ist. Eine Politik, die alle Lebensbeziehungen eines Volkes zum Gegenstand undzum Ausgangspunkt ihrer Erwägungen und ihres Handelns macht, wird Entwicklungen vermeiden, die schließlich das Ringen in die Totalität ausarten lassen."

Ist das Staatsdenken Becks von Kant, Clausewitz und Treitschke geprägt so ist Goerdelers ethische Grundauffassung, die sein gesamtes politisches Programm beherrscht, unübersehbar von der katholischen Sozialethik beeinflußt worden, die in dem damaligen Obern der deutschen Dominikanerprovinz, Pater Laurentius Siemer, dem Pater Welty und seinen Mitbrüdern der Albertus-Magnus-Akademie im Dominikanerkloster Walberberg streitbare Kämpfer für eine humane und gerechte Ordnung eines „anderen Deutschland“ fand, als andere Teile der beiden Kofessionen die Mitverantwortung und das Risiko für Leib und Leben im Widerstand gegen das Unrechtsregime der Nationalsozialisten — gleich aus welchen gerechtfertigten oder zweifelhaften Gründen — scheuten

Mag auch zu Recht hervorgehoben werden, daß sich die staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Vorstellungen eines Beck und Goerdeler — insbesondere im Hinblick auf ständestaatliche Überlegungen und ihre Einschätzung des monarchischen Prinzips für die Dauerhaftigkeit und Integrationskraft einer neubegründeten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung — kaum mit den politischen Vorstellungen unserer Zeit in Einklang bringen lassen bzw. ihr sogar vehement widerstreiten, so ist doch zu sagen, daß die in den

Denkschriften hervorgehobenen politischen und bürgerlichen Tugenden nicht nur ein Echo auf die Erfahrung der Diktatur sind. Letzteres mag sicherlich gelten für die große Bedeutung, die sie der Unverzichtbarkeit einer loyalen und rechtlichen Politik, dem Vertrauen in die Ehrbarkeit des Partners, dem Anstand, der Wahrhaftigkeit und Ehrliebe sowie der Solidität im Bereich der staatlichen Finanzen beimaßen, wobei die erstgenannten nicht nur für den innerstaatlichen Umgang, sondern auch und gerade für die Außenpolitik und das Völkerrecht neu zur Geltung gebracht werden sollten

Der Begriff der Freiheit „in christlicher Bindung“; die feste Entschlossenheit zu einer soliden Friedensordnung als erste Voraussetzung zur Vermeidung totaler Auseinandersetzung und des Krieges; Vernunft und Verantwortungsbewußtsein gepaart mit Erfahrung; die Gesamtschau von Rechtsstaat, Moral und Gerechtigkeitsstreben; Toleranz, die Bejahung von Selbstbestimmung, Dezentralisierung und einer wohlgeordneten föderalen Ordnung und insbesondere die Liebe zu Volk und Vaterland, ein aufgeklärter Patriotismus, der national-staatliches Denken überwunden hat — alles dies sind Wertpositionen die auch in unserer Zeit nicht nur nachzufragen sind, sondern eine Politik mittragen sollten, die den Anspruch erhebt, nicht nur freiheitlich zu sein, sondern dem Menschen zu dienen.

Die letzte Denkschrift von Beck und Goerdeler endet mit einem ethischen Imperativ, der möglicherweise über die Zeiten hinweg eine illusionäre Herausforderung bleiben wird — zumal für diejenigen Politiker, die nicht mehr wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen sollen; die der Versuchung persönlicher Macht nichts entgegenzusetzen haben, was über ihre eigene Person hinausreicht. Diejenigen, die in der Tradition des Aquinaten stehen, bejahen den ethischen Imperativ, das Gute zu tun und das Böse zu meiden; diejenigen, die das Äußerste auf sich nahmen, kamen zu einem ähnlichen — anscheinend einfachen — Schluß, der als Vermächtnis aufgegeben sein könnte, wenn sie sagen „Die entscheidende Lehre dieser Betrachtung ist: die Politik, die das Glück und das Wohl der Völker zum Ziel sich setzt, muß auf die christlichen Grundsätze der Wahrhaftigkeit, der Menschlichkeit und der Hilfsbereitschaft aufgebaut sein, letztlich auf dem Grundsatz, daß man einem anderen nicht antun darf, was man selbst nicht erdulden will."

Sicher ist: Würde dies wirklich ernst genommen, wäre so manche Politik nicht möglich, würde es so manche politische Karriere nicht geben. Gestern wie heute.

IV. Ethik und politische Tugenden in der Demokratie

Derjenige, der sich mit der aktuellen Politik unter ethischen Gesichtspunkten beschäftigt, gerät sicherlich leicht in die Gefahr des moralischen Rigorismus und begegnet dem Vorbehalt politischer Naivität oder gar der Frage, ob er imstande ist, die unausweichlichen Gesetzesmäßigkeiten politischen Handelns zutreffend und realistisch einzuschätzen. Alle diese Vorbehalte entbehren nicht der — zumindest teilweisen — Berechtigung. Andererseits zeigt sich immer wieder, daß in der Geschichte diejenigen Lebensläufe und diejenigen Entscheidungen die Vorläufigkeit überdauern und im Gedächtnis haften bleiben, die ethisch begründet waren, obwohl nicht damit gerechnet werden konnte, daß die „Zeitgenossen"

oder der „Zeitgeist" den moralischen Hintergrund des Werdeganges oder der Entscheidung erkannten, ihm den notwendigen Respekt zollten oder gar zur Gefolgschaft bereit waren. Der moralisch Handelnde muß bereit sein zu Verzicht und Verlust, zur Isolation und im äußersten Falle zum persönlichen Einstehen, zur Selbstaufgabe. Dies und nichts anderes ist der Preis, aber er macht zugleich die Größe solchen Handelns aus.

Der deutsche Widerstand wurde nicht zuletzt deshalb als „ethischer Modellfall" ausgewählt, weil in seinem Denken und Handeln politische Tugenden und ethische Mindestanforderungen angesprochen wurden, auf die nicht verzichtet werden kann, will man die Herrschaft der Gewalt und des Unrechts verhindem. Unbezweifelbar hat der Widerstand als historisches Ereignis und als politische und 1 moralische Erfahrung zugleich auch den Neu-Ibeginn eines freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Deutschland, über die IParteigrenzen und divergierenden Interessen I hinweg, geprägt und die Grundordnung beeinIflußt, die sich die Deutschen in dem Grundgesetz der Bundesrepublik gaben

Der Staatsrechtler J. Isensee weist zutreffend darauf hin, daß das Grundgesetz durchdrun-gen ist von der Ablehnung einer Tyrannis, „die wesenhaft unsittliche Herrschaft geübt hatte". Verständlich wird deshalb auch, daß sich die Verfassungsväter zur „Verantwortung vor Gott und den Menschen” bekannten und bei ihren Überlegungen von einem vorgegebenen menschenrechtlichen Fundament ausgingen Gleichgültig, ob die einzelnen politischen Ideale nun liberalem, konservativem oder sozialistischem Denken entnommen sind — unverkennbar ist der übergreifende Zusammenhang mit dem Christentum. Das Grundgesetz fügt sich somit tradierten Wertvorstellungen und einer Werteordnung, die Gott als obersten, absoluten Wert nicht ausschließt und sich zu dem obersten aber relativen Grundwert der unantastbaren Menschenwürde bekennt.

Ist dies der Grundordnung — sozusagen — vorgegeben, so hat sich die liberale, pluralistische Demokratie dennoch zu einem „pragmatischen Relativismus" entschieden, was nicht zuletzt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihrem umfassenden antitotalitären Ausgangspunkt verdeutlicht wurde Es ist Isensee zu folgen, wenn er sagt: „Die ethische Selbstbeschränkung der liberalen Demokratie gründet in ihrem Relativismus. Sie beansprucht nicht letzte Erkenntnis über Gut und Böse. Sie will nicht Hüterin der Moral, sondern Hüterin der Freiheit ihrer Bürger sein. Der Staat ist keine Heilanstalt. Er verwaltet nicht die Wahrheit. Ein Staat, der sich aus der Wahrheit legitimiert — auch ein . christlicher Staat'—, gerät in Konflikt mit der Freiheit seiner Bürger, ist tendenziell totalitär.“ Sind die Grundrechte demnach zum einen „Menschheitshoffnungen in Zeiten, in denen sie von der Tyrannis unterdrückt und vorenthalten wurden", so setzen sie zum anderen auf den einzelnen und fordern ihn zu „personengemäßer Aktualisierung" heraus. Das Grundgesetz verzichtet eben nicht auf die Proklamation von ethischen Grundsätzen und Bürgertugenden. Ganz im Gegenteil: „Der demokratische Rechtsstaat lebt aus dem Ethos seiner Bürger."

Die besondere Stärke und Schwäche des liberalen Rechtsstaates ist sein Vertrauen auf den freien Bürger und seine sittliche Autonomie, seine Fähigkeit zu Vernunft und der Einsicht, daß Freiheit und Sicherheit nur dann bestehen können, wenn die demokratischen Tugenden auch gelebt und im aktiven Handeln der Bewährung ständig neu ausgesetzt werden. Zum demokratischen Tugendkatalog gehören deshalb auch die freie Annahme der Gesetze, Gemeinsinn und Verantwortungbereitschaft, Aufrichtigkeit, Toleranz, Achtung vor dem politischen Gegner und die Bereitschaft zum Dialog mit ihm, Leistungswille, Solidarität und nicht zuletzt Selbstdisziplinierung Daß diese Tugenden — nach viel zu langen Jahren des Verschweigens — ihre Gültigkeit und Bedeutung auch für ein freiheitliches und sozial-verpflichtetes Gemeinwesen haben, wird deutlich an den jüngsten Bemühungen zur Hochschulreform. Die Ständige Kommission für die Studienreform weist in ihren am 28. September 1979 verabschiedeten Grundsätzen für Studium und Prüfungen ausdrücklich auf die „demokratischen Tugenden" der Vorurteilslosigkeit und Toleranz, der Solidarität und des Willens zu Verständigung und Zusammenarbeit, der Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der Bereitschaft zum Risiko und der Kompromißund Konfliktfähigkeit, der selbstkritischen Reflexion hin — Werte, Eigenschaften und Fähigkeiten, „die für das spätere Berufsleben und für die Rolle als Staatsbürger von Bedeutung sind"

Sind solche Einsichten nicht zuletzt eine Folge der in und zwischen den politischen Parteien geführten Grundwertediskussion um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, so kann auch die jüngste gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz vom November 1979 zu den Grundwerten und den Zehn Geboten nur als Bestätigung dafür verstanden werden, daß freiheitliches, humanes Handeln ohne ethische Grundorientierung nicht möglich ist Neben der großen theologischen und kirchenpolitischen Bedeutung dieser gemeinsamen Erklärung der beiden großen Konfessionen kommt auch der politischen Zielsetzung erhebliches Gewicht zu. Die Kirchen wissen zwar, daß „der Glaube an Jesus Christus, der die Gebote erfüllt hat, Voraussetzung unserer Erfüllung der Zehn Gebote ist". Die Kirchen achten die Gewissens-und Glaubensfreiheit aller Menschen, nehmen aber anschließend an die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute" des 2. Vatikanischen Konzils selbst das Recht in Anspruch, „in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden ... und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen" Ausdrücklich wird gesagt, daß der Staat damit nicht für religiöse Sonderrechte und für kirchliche Zwecke in Anspruch genommen werden soll. „Vielmehr erinnern Christen den Staat daran, daß grundlegende sittliche Gebote auch nicht von staatlicher Macht aufgehoben und abgeschafft werden können, daß der Staat die Erfüllung solcher Gebote vielmehr ermöglichen und fördern soll. Der Staat darf seine Aktivitäten nicht an einem Wertsystem orientieren, das der Würde der menschlichen Person und den Einsichten der menschlichen Vernunft sowie humanen Grunderfahrungen widerspricht. In einem solchen Fall sind die Christen zum Widerstand verpflichtet.“ Ausgehend von Gott als letztem Halt menschlichen Lebens und wirklichem Sinn menschlicher Existenz haben sich die beiden Konfessionen auf folgende Einsichten und Erfahrungen verständigt, die — nach der Sicht der Kirchen — für jedermann Geltung beanspruchen: Leben, Ehe und Familie, Freiheit, Menschenwürde, Gut und Ehre eines jeden Menschen wobei diese Wertpositionen selbstverständlich einer Anwendung auf die jeweiligen Verhältnisse und einer Auslegung in der konkreten Situation bedürfen Die Kirchen proklamieren hiermit nicht nur ethische Maßstäbe einer menschenwürdigen Gesellschaft, verstehen sich nicht nur als Sachwalter ethischer Verantwortung, sondern sie muten die ethische Verantwortung jedem Menschen wie der gesamten Gesellschaft ausdrücklich zu Sie fordern damit eine neue ethische Grundorientierung, eine neue „Institutionenethik", die auch von anderen für nötig gehalten wird und übernehmen offen eine praktische Mitverantwortung für die Zukunft einer freiheitlichen, humanen und gerechten Demokratie. Es bleibt abzuwarten, wie die politischen und gesellschaftlichen Kräfte diese Herausforderung beantworten werden. Zumal dann, wenn es sich herausstellen sollte, daß von dieser Warte aus nicht nur zu programmatischen Aussagen und politischem Verhalten, sondern zu politischen Verhaltensweisen und dann auch zu Personen ethisch und politisch Stellung bezogen werden muß.

V. Grenzziehungen

Die scharfen, parteipolitischen, oft ideologisch unerbittlich geführten Auseinandersetzungen der letzten zehn Jahre haben ihre tiefen Spuren hinterlassen. Von einem deutschen Patriotismus ist keine Rede mehr. Deutsche entfernen sich immer mehr voneinander: politisch, zivilisatorisch, kulturell. Die nicht nur von Gegnerschaften zur Sache, sondern auch von Feindschaften zur Person geprägte Debatte um die Friedens-, Entspannungs-und Wieder-Vereinigungspolitik ist bis heute nicht in eine Grundhaltung eingemündet, die es Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland als selbstverständlich erscheinen läßt, im Ausland zuerst vor den Interessen des Landes und dann erst zur eigenen Sache zu stehen. Schon 1969 sind nicht nur zur deutschen Frage, sondern auch zur inneren Lage Gräben gezogen worden, die sich möglicherweise immer tiefer in das Bewußtsein einprägen, zum verhängnisvollen Schaden gemeinsamer Geschichte und möglicher gemeinsamer Zukunft, über die unmittelbaren parteilichen Interessen hinweg.

Die „Reformpolitik" wurde von den einen als Aufbruch zu einer neuen, chancenreicheren Zukunft begriffen, von den anderen als Absage an eine zwanzigjährige politische Vergangenheit. Dies mußte zu einer Auseinandersetzung führen, die in eine die Bürger heute mehr und mehr befremdende Konfrontation einmündet. In Vergessenheit gerät hierbei, daß alle politischen Kräfte auf eine „Politik des Machbaren" nicht verzichten können, will man vor den konkreten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen bestehen. Nur eine auch ethisch begriffene „Politik des Machbaren" kann allzu starke politische Ausschläge nach „rechts" oder „links", den Rückfall in politische Extreme, verhindern. Die „Machbarkeit" als pragmatisches Kriterium anzuerkennen bedeutet letztlich, daß in schwerwiegenden Grundentscheidungen die fortlaufende Anpassung an zukünftige Entwicklungen, an veränderte politische Zustände und soziale Verhaltensweisen möglich bleibt. Nur eine „totalitäre" Politik zwingt die politische Wirklichkeit, sich der Ideologie zu beugen. Eine „totale", ethisch begründete Politik bewahrt uns davor, eine Politik zu betreiben, die sich gegen den Menschen, gegen eine freiheitliche Gesellschaft richtet, deren wichtigste Aufgabe es nach Karl Jaspers ist, „den Menschen an sich selbst zu erinnern"

Die aktuellen, im Zusammenhang mit der kommenden Bundestagswahl zu begreifenden, zum Teil seit Jahren Schritt für Schritt entwikkelten Aktionen um die Gefahr einer „Mobilmachung von Rechts" (Habermas), um politische Friedens-und Sicherheitsrisiken, um Freiheit statt/oder Sozialismus, die Bewältigungskampagne um „Nationalsozialismus und Sozialismus" signalisieren alle eine tiefgreifende Störung des Grundkonsenses, der von der bisher geführten Grundwerte-Renaissance noch nicht aufgefangen werden konnte. War die Weimarer Republik „jedermanns Vorbehaltsrepublik" (K. D. Bracher) so ist die Bundesrepublik heute für viel zu wenig Bürger eine „streitbare Demokratie", der loyal zu dienen eine Selbstverständlichkeit ist Ohne die Signale kühler Distanz bis hin zu entschiedener Ablehnung übertreiben zu wollen, kann von der Bundesrepublik eher von einer „Republik der Entfremdung" als von einem deutschen Vaterland gesprochen werden, das über eine gesicherte politische Kultur der Freiheit und des Rechts, der Toleranz, Loyalität und des politischen Maßes verfügt.

Ein „Zurück zur Empirie" also nüchterne Vorwärtsbetrachtung geschichtlicher Erfahrung, ist ebenso nötig wie ein von Zukunftsoptimismus getragener, nicht nur theologischer, sondern politisch-praktischer „Mut zur Angst" um den sichtbaren Prozeß des Gestaltverlustes, der Gefahr weiterer Desinstitutionalisierung begegnen zu können.

Wenn es richtig ist, daß der „Themenwechsel"

(Dahrendorf) einer der entscheidenden Ursachen für das Versagen alter Erklärungsmodelle und Problemlösungs-Strategien ist, dann werden wir uns davor hüten müssen, die junge freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Tradition der Bundesrepublik in dem gleichen Maße zu belasten, wie dies in den letzten Jahren zu beobachten war. Hierzu gehört vordringlich, daß eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame politische Entwicklung möglich bleibt. Politische Gegnerschaft muß möglich sein, ohne zur unversöhnlichen Feindschaft zu werden. Weimar hat gezeigt, zu welchen totalitären Versuchungen dieses Muster politischer Auseinandersetzungen führt.

Das selbstverständliche Streben einer demokratischen Opposition zu einem Regierungsund Machtwechsel darf aus diesen Gründen ebensowenig zu einem . Aufstand der Rechten" hochgeschrien werden, wie die Gefahren rechtzeitig erkannt werden müssen, die mit einer Auseinandersetzung verbunden sind, die einen Teil des demokratischen Spektrums zu der Angst treiben könnte, sie sollten aus der gemeinsamen nationalen geschichtlichen Identität hinausgeworfen werden. Diese Gefahr steckt in der Diskussion um den Nationalsozialismus in seiner Vergleichbarkeit mit dem totalitären Sozialismus-Kollektivismus. Die zu lange vernachlässigte Totalitarismusdiskussion — zu der von Hannah Ahrendt und zuletzt von K. D. Bracher alles Bedenkenswerte gesagt worden ist — darf nicht auf dem Wege wieder politisch operationalisiert werden, daß demokratische Parteien anklagend aufschreien, jetzt würden ihre Opfer unter der Diktatur zum zweiten Mal erschlagen. Die gemeinsame Erfahrung des Kampfes gegen Gewalt und Unrecht — der gemeinsame Ausgangspunkt von 1949 — verbietet ethisch und politisch-praktisch eine Auseinandersetzung, die eine notwendige Diskussion um Privatautonomie und Subsidiarität, um persönliche Freiheit und die Last der damit verbundenen Verantwortung, um die Gefahr der Flucht in kollektivistische Lösungen unserer Probleme an einer Ecke lostritt, wo jeder sachliche und emotional auch verkraftbare Streit unmöglich zu werden droht. Derjenige, der Fehlentwicklungen unserer Teilsysteme im wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Sektor, selbst unter Korrektur von überholten oder die Gemeinschaft überfordernden Besitzständen, aufhalten oder korrigieren will, darf nicht zur „Reaktion" gestempelt werden, wenn sich dies nicht wirklich in der Weise nachweisen läßt, die mit der geschichtlichen Erfahrung, über die wir Deutschen im Gegensatz zu vielen anderen Nationen verfügen, übereinstimmt. Zu warnen ist desgleichen vor einer Inanspruchnahme des „Widerstandsrechts", wenn es sich lediglich darum dreht, sich auf diesem Wege der politischen Überprüfung und der Nachfrage der demokratischen Legitimation inzwischen errungener Machtpositionen entziehen zu wollen. Das „Widerstandsrecht" ist eine Waffe, die in einer demokratischen Debatte nicht eingesetzt werden darf, außer man riskiert bewußt eine Schwächung dieses ethischen Appells für den Ernstfall Die demokratische Loyalität ist nicht nur eine Frage an den Wahlbürger, sondern zuallererst eine Frage an die politischen Parteien und die von ihnen zur Opposition oder zur Regierung berufenen Repräsentanten und Mandatsträger. Das imperative Mandat ist selbst in seiner elegantesten Spielart ebenso eine Provokation zur Ranküne, wie die sichtbare Unfähigkeit, dem Amtsträger auch dann Dienst, Gefolgschaft und auch Treue zu leisten, wenn politische und persönliche Fehler nur durch ein gemeinsames Handeln und die Mitträgerschaft des gesamten Gremiums, das den Führungsauftrag gegeben hat, korrigiert oder zumindest aufgefangen werden können. Wird Führung nur dann ertragen, wenn die Teilhabe und Nutznießung an den Erfolgen in Aussicht steht oder zugesagt wird, und dann aber konterkariert, wenn sich Rückschläge ergeben, dann kann die Folge nur sein, daß sich immer mehr Bürger der Loyalität gegenüber diesem Staat versagen und sich — nicht zuletzt moralisch — empört und dann teilnahmslos in die apolitische Privatheit zurückziehen.

Die politische Literatur und Publizistik ist voll von weiteren Fällen, die in diesem Umfeld ethischer und politisch-praktischer Fragen zu behandeln wären. Die wichtigste Voraussetzung für eine fortschreitende ethische und politische Grund-oder Neuorientierung ist die Erhaltung des Friedens im Inneren wie nach Außen sowie die Gewährleistung des geistigen und politischen Gleichgewichts und des Maßes in der tatsächlichen Auseinandersetzung. Nur im Frieden kann sich die Vernunft entfalten und die hier gemeinte Totalität der Politik wirksam werden. Nur bei fortbestehender Sicherheit werden irrationale Gefahren und Bedrohungen der Freiheit verhindert werden können.

In Abwandlung eines berühmten Wortes von Polybios kann in jedem Falle gesagt werden: Politik ohne Ethik ist wie ein Gesicht ohne Augen — zum Fürchten allzumal. Wer von dieser Furcht nicht getrieben werden will, muß sich fragen, was ihm aus ethischen Gesichtspunkten politisch möglich oder dann unmöglich ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitiert bei G. Müchler, Der konservative Protest, Deutsche Zeitung — Christ und Welt, Nr. 43 vom 19. 10. 1979, S. 1; vgl. auch F. K. Fromme, Was die „Grünen" lehren können, FAZ Nr. 259 v. 6. 11. 1979, S. 1.

  2. So der Philosoph H. Lübbe, zitiert bei H. N. Janowski, Der moralische Mehrwert (über politische Grundwerte und bürgerliche Tugenden), Evangelische Kommentare, Nr. 12/1978, S. 711.

  3. Vgl. H. B. Streithofen, Macht und Moral (Die Grundwerte in der Politik), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1979; G. Höhler, Die Anspruchsgesellschaft (Von den zwiespältigen Träumen unserer Zeit), Düsseldorf, Wien 1979.

  4. Vgl. Stichwort . Ethik', Verf. W. Trillhaas, in: Evangel. Staatslexikon, Hrsg. H. Kunst, S. Grundmann, Stuttgart, Berlin 1966, Sp. 442 ff.

  5. Vgl. Stichwort . Ethik', Verf. G. Ermecke, in: Kathol. Soziallexikon, Hrsg. A Klose, Innsbruck, Wien, München 1964, Sp. 210 ff.

  6. Vgl. Stichwort Ethik, Verf. G. Ermecke, a. a. O., Sp. 211.

  7. Vgl. Stichwort . Ethik’, Verf. W. Trillhaas, a. a. O., Sp. 443 ff.

  8. Vgl. Stichwort . Ethik, Verf. W. Trillhaas, a. a. O., Sp. 443.

  9. VgL Darstellung bei D. Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v.

  10. Vgl. Stichwort . Ethik', Verf. W. Trillhaas, a. a. O.

  11. Kritik der praktischen Vernunft, § 7.

  12. Vgl. Stichwort . Ethik', Verf. G. Ermecke, a. a. O., Sp. 212.

  13. D. Bonhoeffer, Ethik, a. a. O., S. 275.

  14. D. Bonhoeffer, Ethik, a. a. O., S. 266.

  15. D. Bonhoeffer, a. a. O., S. 268.

  16. Erinnert sei hier an die Worte des Bundespräsidenten W. Scheel bei der Trauerfeier für Hanns-Martin Schleyer am 25. Okt. 1977: „Im Namen aller deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns-Martin Schleyer, um Verzeihung." Vgl. H. B. Streithofen, Briefe an die Familie Schleyer, Stuttgart 1978, S. 230 ff., 235.

  17. Vgl. hierzu Arthur F. Utz, Die Wissenschaft vom Sittlichen, in: Ethik und Politik, Stuttgart 1970, S. 35 ff., S. 47.

  18. Arthur F. Utz, Der Wert ethischer Überlegungen für aktuelle Fragen der Politik, in: Ethik und Politik, a. a. O., S. 60 ff., S. 67.

  19. Arthur F. Utz, Die Wissenschaft vom Sittlichen, a. a. O., S. 35.

  20. Arthur F. Utz, Der Wert ethischer Überlegungen ..., a. a. O., S. 67.

  21. A. F. Utz, Die Wissenschaft vom Sittlichen, a. a. O., S. 45 f.

  22. A. F. Utz, Auf der Suche nach wirksamen Gesell-a schaftsnormen in der modernen Demokratie, in:

  23. A. F. Utz, Der Wert ethischer Überlegungen ..., a. a. O., S. 65ff.

  24. Vgl. A. F. Utz, Der Wert ethischer Überlegun: gen ... a. a. O., S. 65.

  25. Vgl. A. F. Utz, Der Wert ethischer Überlegun3gen ..., a. a. O., S. 65, 66.

  26. D. Bonhoeffer, Ethik, a. a. O., S. 266.

  27. Vgl. H. B. Streithofen, Zerstört der Mißbrauch von Verbands-und Gruppenmacht unseren Staat?, Vortrag, gehalten vor dem Bund Katholischer Unternehmer am 6. 10. 1979 in Bad Neuenahr, zit. nach: Wirtschaftswoche Nr. 43, 22. 10. 1979, S. 62— 73.

  28. Vgl. W. Trillhaas, in: Evangelisches Staatslexikon, a. a. O., Sp. 447.

  29. Vgl. E. Stammler, Evangelische Kommentare, a. a. O., S. 711 ff., 713 ff., 715.

  30. E. Stammler, a. a. O., S. 713— 715.

  31. A. F. Utz, Der Wert ethischer Überlegungen ..., a. a. O., S. 69.

  32. Vgl. hierzu G. Kalow, Hitler — das deutsche Trauma, München 1974.

  33. Vgl. „Kinder von Verfolgten leiden auch", in: General-Anzeiger Bonn vom 22. 10. 1979.

  34. Vgl. E. Zeller, Geist der Freiheit — Der 20. Juli, München 1965; F. v. Moltke, M. Balfour, J. Frisby, Helmuth James von Moltke 1907— 1945 — Anwalt der Zukunft, Stuttgart 1975.

  35. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941— 1944, hrsg. von W. Ritter von Schramm, München 1965, S. 19.

  36. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 83.

  37. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumen1 te ..., a. a. O., S. 84.

  38. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 84 ff.

  39. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 73.

  40. Beck und Goerdeler — Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 179.

  41. Beck beruft sich ausdrücklich auf folgende Zitate (vgl. Gemeinschaftsdokumente..., a. a. O., S. 47ff„ 68 ff., 72 ff.): Kant in seiner Schrift „zum Ewigen Frieden“: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch die Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. Das Recht des Menschen muß geheiligt werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechtes zwischen Recht und Nutzen aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem ersteren beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird." Treitschke: „So unterliegt auch der Staat überall Gesetzen seines sittlichen Wesens, die er nicht ungestraft verletzen darf." Clausewitz: „Das Ganze ist die Politik".

  42. E. Welty, Die Entscheidung in die Zukunft, Heidelberg 1946, vgl. Einführung, S. 7 ff., S. 20.

  43. Vgl. Beck und Goerdeler - Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 47 ff., 53 ff., 72 ff., 93 ff., 180 ff.

  44. Beck und Goerdeler - Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 53 ff., 98 ff., 143, 148; vgl. hierzu das interessante und reichhaltige Material in der Dokumentation „Der deutsche Widerstand und die CDU" (Reden, Stellungnahmen, Erklärungen 1954- 1978), hrsg. R. v. Voss, K. Gotto, CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1979, Nr. 3016.

  45. Beck und Goerdeler - Gemeinschaftsdokumente ..., a. a. O., S. 231.

  46. So auch der Präsident der Stiftung Preußischer I Kulturbesitz, Prof. Dr. W. Knopp, bei der Gedenkveranstaltung der Stiftung Hilfswerk 20. Juli 1944 am 20. Juli 1979 auf dem Ehrenhof in der Stauffenbergstraße in Berlin (Redemanuskript).

  47. J. Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche, 1977, S. 93 ff.

  48. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 22, 180, 220: „Der Staat hat nicht die Aufgabe, seine Bürger zu bessern und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu bessern, ohne daß sie sich selbst oder andere gefährdeten, wenn sie in Freiheit blieben."

  49. Isensee, a. a. O., S. 101 f.

  50. Isensee, a. a. O., S. 102 ff.

  51. Vgl. Isensee, a. a. O., S. 108 ff., S. 118 ff.

  52. Vgl. Ständige Kommission für die Studienreform: Grundsätze für Studium und Prüfungen vom 28. Sept. 1979, Beschlußvorlage, S. 7, 10.

  53. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Grundwerte und Gottes Gebote, Gütersloh 1979.

  54. Gemeinsame Erklärung ..., a. a. O., S. 39, 42.

  55. Gemeinsame Erklärung ..., a. a. O., S. 40 f.

  56. Gemeinsame Erklärung..., a. a. O., S. 39.

  57. Eine stichwortartige Überprüfung läßt folgende Zuordnungen ethischer Grundpositionen zu den einzelnen Geboten zu: Erstes Gebot: Unverletzlichkeit der menschlichen Würde, Freiheit, ausgleichende Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Gleichrangigkeit von Mann und Frau, Bereitschaft zum offenen Wort, Bekenntnis des Glaubens, Zivilcourage, Treue zum Anruf des Gewissens. Zweites Gebot: Verbot willkürlicher, den Menschen verletzender

  58. Gemeinsame Erklärung ..., a. a. O., S. 37 f.

  59. R. Eckert, Freiheit und Sicherheit setzen einander voraus. Ängste und Wünsche von jung und alt asind von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt '(Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 182 vom E 8. 8. 1979, S. 9), sagt hierzu in einprägsamer Weise: . „... Die Kluft zwischen der überkommenen Nach-c barschaftsethik und der entstehenden Weltgesell

  60. Vgl. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931), Sammlung Göschen, Bd. 1000, Berlin 19495, S. 232.

  61. Vgl. M. Stürmer, Demokratie im Schatten des Ernstfalls, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 148 vom 29. 6. 1979, S. 23.

  62. Vgl. hierzu P. Graf Kielmansegg, Ist streitbare Demokratie möglich?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 127 vom 2. 6. 1979, S. 9.

  63. H. Rudolph, Zurück zur Empirie (Bericht zum Politologentag 1979), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 242 vom 17. 10 1979, S. 23.

  64. E. Jüngel, Mut zur Angst, in: Evangelische Kommentare Nr. 1/1978, S. 12 ff.

  65. Vgl. H. Arendt, Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1958; K. D. Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, Serie Piper Nr. 142, München 19762; ders., Terrorismus und Totalitarismus, in; Der Weg in die Gewalt — Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus, hrsg. v. H. Geißler, München, Wien 1978, S. 201 ff.

  66. Vgl. F. v. Schlabrendorff, ein Recht gegen das Recht (Zum Widerstand in der Verfassung), in: Die politische Meinung, Heft 184, Mai/Juni 1979, : S. 43 ff.

Weitere Inhalte

Rüdiger von Voss, geb. 1939 in Potsdam, Rechtsanwalt; 1974— 1977 Abteilungsleiter im Büro des Generalsekretärs der CDU (Bonn); Leiter der Abteilung Verbände, Gewerkschaften, Parteien der CDU-Bundesgeschäftsstelle (Bonn), 1978 Referatsleiter bei der Hauptgeschäftsstelle der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Köln); Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft 20. Juli e. V. (Berlin). Veröffentlichungen u. a. (zus. mit anderen): Partnerschaft und Parität, Bonn 1974; (zus. mit K. H. Biedenkopf) Staatsführung, Verbandsmacht und innere Souveränität, Stuttgart 1977; (Hrsg.) Von der Legitimation der Gewalt. Widerstand und Terrorismus, Stuttgart 1978; (Hrsg.) Ethik und Politik, Beiträge zur politischen Ethik in der Demokratie, Köln 1979.