Bedingungen des Überlebens Sicherheitspolitik und politische Moral zwischen Militärstrategie und Waffentechnik
Klaus von Schubert
/ 80 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis und eine zentrale Norm politischer Gestaltung. Erfolgreiche Sicherheitspolitik als Kriegsverhinderungspolitik ist die Voraussetzung für Friedenspolitik, die mehr will als nur den Zustand des Nicht-Kriegs zu konservieren. Friedenspolitik versucht, Sicherheit gesellschaftlich und politisch zu institutionalisieren; Sicherheitspolitik in der Funktion der Kriegsverhinderung ist Voraussetzung und Bestandteil zugleich. Die Menschheit befindet sich mit den geschaffenen Vernichtungspotentialen in der Situation des Zauberlehrlings. Die heute betriebene Sicherheitspolitik hat die Funktion, den Ausweg aus dieser Situation offenzuhalten, indem sie die Arsenale beherrscht, begrenzt und schließlich vermindert. Eine Strukturanalyse des Ost-West-Konflikts im Hinblick auf die vorherrschenden Beziehungsmuster und das dem Handeln der Politiker, Staaten und Bündnisse zugrunde liegende implizite und explizite Sicherheitsverständnis zeigt den Widerstreit zwischen einerseits der ideologisch begründeten und machtpolitisch instrumentierten Konkurrenz der HerrSchaftsansprüche und andererseits der vereinbarten Machtbegrenzung und des Überlegenheitsverzichts angesichts der gemeinsamen Gefährdung in einem Krieg mit Massenvernichtungswaffen. Die Analyse der Sicherheitsinteressen, auch in der historischen und geographischen Dimension, weist auf unterscheidbare Strategien der beiden Führungsmächte im Ost-West-Konflikt: Die USA gründen ihre Sicherheit als maritime Macht auf die Beherrschung der Weltmeere und die Präsenz an den Gegenküsten jenseits des Atlantiks und des Pazifiks. Die Sowjetunion gründet ihre Sicherheit als Kontinentalmacht auf die Beherrschung eines Vorfeldes in der Einfallsrichtung möglicher Invasoren. Der amerikanischen Militärstrategie der Abschreckungsfähigkeit steht die sowjetische Militärstrategie der Verteidigungs-, d. h. Kriegsführungsfähigkeit gegenüber. Unterschiedliche militärstrategische Kategorien erschweren die Versuche der kooperativen Rüstungssteuerung. Die Mitteleuropäer geraten angesichts des strategischen Gleichgewichts zwischen den Führungsmächten bei gleichzeitig fortgesetzter Herrschaftskonkurrenz zunehmend in die Gefahr, als eingrenzbarer Kriegsschauplatz angesehen zu werden. Die Bundesrepublik muß deshalb danach streben, der Abschreckung wegen nicht aus der strategischen Deckung durch die USA herauszugeraten, aber auch nicht in Eskalationen des Führungsmächtekonflikts unmittelbar hineingezogen zu werden. Europa muß als eigene Sicherheitsregion definiert werden. Die Weiterentwicklung der Waffentechnik vor allem zu größerer Zielgenauigkeit der Raketen und Geschosse führt eher zu einer Destabilisierung als zu einer Stabilisierung des Abschreckungssystems, da dessen Wirkung auf technischen Voraussetzungen wie etwa der Fähigkeit zum „zweiten Schlag“ beruht. Die Abschreckung begünstigt das Wettrüsten. Unabhängig vom Grad der Spannung oder Entspannung zwischen den Konfliktgegnern findet in West und Ost im Rahmen der von den Militäradministrationen verwalteten Haushaltsanteile eine fortgesetzte Rüstungsvermehrung statt. Jenseits der Abschreckungsdoktrin muß daher nach einer Sicherheitsstrategie gesucht werden, die den Widerspruch der Androhung des zu verhindernden Schadens vermeidet und die Entmutigung des militärischen Angreifers mit der Ermutigung zur politischen Zusammenarbeit und Rüstungsverminderung verbindet. Uberlebensvoraussetzung für die Gesellschaften der Industriestaaten ist der politische Zugriff auf die Eigendynamik der Instrumente, die Erkenntnis, daß Sicherheit ein Gut ist, das Konfliktgegner nur gemeinsam erwerben können, und der Wandel der politischen Moral vom Nullsummenspiel der Freund-Feind-Unterscheidung zur Solidarität in der Gefährdungsgemeinschaft einer Menschheit, die über nur begrenzte Ressourcen, aber nahezu unbegrenzte Mittel zur Vernichtung verfügt. Sicherheitspolitik hat für diesen Wandel die Bedingung der Prozeßstabilität zu gewährleisten. Wichtigstes Kennzeichen jedes erreichten Zustandes der Stabilität ist die Einstweiligkeit.
I. Frieden — Sicherheit
Die Frage, ob Frieden herrschen wird, kann nicht allein von der Politik oder gar nur der Technik der Kriegsverhinderung beantwortet werden. Sicherheitspolitik der Kriegsverhinderung mit militärischen Mitteln ist unaufhebbarvorläufig. Friedenspolitik reicht einen entscheidenden Schritt weiter. Sie versucht die Vorläufigkeit der Kriegsverhinderung dadurch zu überwinden, daß sie die bekannten und die denkbaren Kriegsursachen durch politisches Handeln und politische Konstruktion bannt. Friedenspolitik richtet sich auf das politische Verhalten und seine Institutionalisierung in Strukturen, die man als Friedensordnung bezeichnen könnte. Mehr denn je in der Weltgeschichte sind jedoch in unseren Tagen militärische Mittel aufgeboten, Waffen unvorstellbarer Vernichtungskraft hergestellt und Millionen von Soldaten in ihrer Handhabung geschult.
Im Ost-West-Konflikt soll Rüstung und Militär der Kriegsverhinderung dienen. Ihr Vorhandensein schließt notwendig die Gefahr ein, daß sie zur Kriegführung benutzt werden.
Durch die Politik der Kriegsverhinderung mit militärischen Mitteln ist der Frieden latent, durch die Existenz der Arsenale manifest gefährdet. Das Politiksystem, in dem wir, die Menschen entwickelter Länder, leben, ist durch die andauernde Einstweiligkeit der Kriegsverhinderung gekennzeichnet. Eine Friedensordnung kann hier nur entstehen, wenn sich entscheidende Grundlagen dieses Politiksystems ändern. Diese Feststellung " ird jedoch friedenspolitisch erst dann bedeutsam, wenn sie über die Erkenntnis und itik der Realität hinaus zum politischen ändeln führt, das die zu verändernde Realitit voraussetzt und sich in dieser Realität vollziehen kann.
Friedenspolitik setzt erfolgreiche . Kriegsverhinderungspolitik voraus. Es geht zunächst ums überleben im Schatten der von uns selbst geschaffenen Vernichtungspotentiale. Die Schreckensarsenale der entwickelten Länder, das „kill" und „overkill" sind Realität und bleiben selbst nach einer vollzogenen Abrüstung technische Möglichkeit. Die Menschheit muß damit leben lernen, und dies angesichts der Drohung, dadurch in großen Teilen zu Tode zu kommen. Da die geschaffenen Instrumente nicht mehr aus dem Bereich des Möglichen zu beseitigen sind, stehen wir radikaler denn je vor der Notwendigkeit grundlegender politischer Verhaltensänderung: von dem in Jahrtausenden eingeschliffenen Freund-Feind-Denken und den Nullsummen-Spielen zum akzeptierten Pluralismus der Länder und Regionen, zur wechselseitig akzeptierten Andersartigkeit zwischen Subjekten, die ihren Status aus dem Bewußtsein des eigenen Wertes herleiten und auf dieser Grundlage zur Solidarität auf einem Globus mit begrenzten Ressourcen fähig sind. Einen Wandel in dieser Richtung zu formulieren, zu begünstigen, einzuleiten und fortzusetzen ist die Aufgabe von Friedenspolitik. Sicherheitspolitik ist Voraussetzung und Bestandteil zugleich: Voraussetzung, insofern Kriegsverhinderung conditio sine qua non für Friedenspolitik ist, und Bestandteil, insofern Sicherheitspolitik mit den Instrumenten der Vernichtung umgeht, hier also der Lernort für die Beherrschung der Instrumente ist.
Die Instrumente zu beherrschen, die man sich geschaffen hat, und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen, ist ein Kernproblem der Kultur entwickelter Regionen. Das gilt für die Mechanismen der Energiegewinnung ebenso wie für das Instrumentarium der Wirtschaftslenkung oder die Techniken des Verkehrswege-und Siedlungshaus. Die fortgesetzte Rüstungsvermehrung führt der zivilisierten Menschheit erst recht die Situation des Zauberlehrlings vor Augen, in die sie sich hinein-begeben hat. Die Möglichkeiten zur Vermehrung seiner Kräfte, die sich der Mensch mittels Technik und Industrie geschaffen hat, nutzt er gerade im Bereich der Rüstung bis an den Rand der Selbstvernichtung. Der Krieg, noch vor 150 Jahren als legitimes und einsetzbares Mittel der Politik beschrieben, erfuhr durch die Vermehrung der aktiven Teilnehmer in den Massenheeren der allgemeinen Wehrpflicht, durch die Technisierung der Waffen und die Industrialisierung der Rüstungsproduktion eine Potenzierung seiner Wirkung bis zu den verheerenden Weltkriegen in unserem Jahrhundert. Doch selbst die Explosionen der ersten Kernspaltungsbomben über Hiroshima und Nagasaki haben bis zum heutigen Tage nicht zur Einstellung des Rüstens geführt, sondern der Fortsetzung auf der jeweils höchstmöglichen technischen Entwicklungsstufe freien Lauf gelassen. Die Arsenale der Großmächte sind heute mit Tausenden nuklearer Sprengkörper unvorstellbar großer Schadenswirkung gefüllt. Zwar leben wir in dem Bewußtsein, nach Hiroshima in ein neues Zeitalter der Massenvernichtungswal. fen eingetreten zu sein, und dieses Bewußtsein hat dazu geführt, daß bislang keine weiteren Nuklearsprengkörper, kriegerisch eingesetzt wurden, nicht aber zu einem Verzicht auf ihre Produktion und die militärische Einsatzplanung. Die Menschheit sieht die Gefahr der Selbstvernichtung und plant sie dennoch, weil die Möglichkeiten, politisch zu denken undzu handeln in ihrer Entwicklung weit hinter den Möglichkeiten, technisch zu planen und zu produzieren, zurückgeblieben sind.
Das im menschlichen Verhalten elementare Streben nach Sicherheit als Antrieb für politisches Handeln'hat der Überwindung des Freund-Feind-Denkens und des Rüstens immer wieder entgegengewirkt, obwohl dort die größten Gefahren für die Sicherheit jedes einzelnen lauern. Sicherheit als angenommene Abwesenheit von Gefahr, als Wert und als Zwecksetzung der Politik wurde im Verlaul der überlieferten Menschheitsgeschichte immer wieder mit Händen gegriffen und verflüchtigte sich dennoch zur Utopie. Die politischen Versuche, Sicherheit als einen Status der gesellschaftlichen Existenz zu erreichen, scheiterten immer wieder aus zwei Gründen: Zum einen bringt Politik keine endgültigen Verhältnisse hervor, jeder erreichte Zustand ist nur Station in einem Prozeß, der zu weiteren, anderen, ebenfalls nicht konservierbaren Stationen führt. Zum anderen stand das Mittel oft genug gegen den Zweck, wenn man sich in die Gefahr begab, um der Gefahr zu entgehen, wenn Krieg geführt wurde, um Kriegzu vermeiden, wenn Krieg mit der Erwartung propagiert wurde, es handele sich um den letzten Krieg.
Die Geschichte der europäischen Kriege unseres Jahrhunderts entlarvt die Vorstellung man könne die eigene Sicherheit durch Gewalt gegen andere befördern, in eindrucksyo. ler Weise als schwerwiegenden Irrtum-Die letzte Steigerung dieses Irrtums im sozialda winistischen Politikverständnis der Nationd Sozialisten, wonach Politik als ständige Kampf um Lebensraum zu verstehen ist, führte zu einem Unterwerfungs-und Vernichtung krieg gegen die Nachbarn in der Absicht, " Sicherheit des Reiches auf tausend Jahre zu garantieren. Diese Politik führte zur Zerstörung und Zerstückelung des zu sichernden Gutes innerhalb von sechs Jahren. Indessen hat sowohl diese Erfahrung mit Kriegsführung als auch die Erfahrung mit Massenvernichtungswaffen nur zur einstweiligen Kriegsverhinderung im europäischen Raum geführt, nicht aber zur Trennung des verhängnisvollen Paares Rüstung und Sicherheit.
Der tief in unserer Kultur verwurzelte Widerspruch zwischen Kriegführungsfähigkeit und Kriegsverhinderungsabsicht wurde in den 34 Jahren seit Hiroshima nicht aufgelöst, sondern eher verschärft, dabei allerdings auch deutlicher sichtbar. Darin liegt die friedenspolitische Chance sicherheitspolitischen Handelns. Wenn das Sicherheitsbedürfnis als Axiom menschlichen Verhaltens angesehen werden kann, muß die Kategorie Sicherheit in der Friedenstheorie einen zentralen Stellenwert einnehmen und in der Friedenspolitik als ein wesentliches Kriterium an Handlungsstrategien angelegt werden. Sicherheitspolitik kann nur dann ihren Zweck nicht verfehlen, wenn sie die Arsenale beherrscht, begrenzt und vermindert, um den Weg für friedenspolitischen Wandel offenzuhalten
II. Sicherheitsvorstellungen im Ost-West-Konflikt
1. Das amerikanisch-sowjetische Konflikt-und Sicherheitssystem Aus dem Zweiten Weltkrieg resultierte der Untergang des Faschismus, doch riß er das Balance-System der europäischen Nationalstaaten vollends mit sich. Diese Krise der zivilisierten Menschheit brachte indessen nicht eine neue Friedensordnung, sondern eine neue, gefahrvolle Konfrontation, den Ost-West-Konflikt, hervor. Dieser Konflikt erschien für die folgenden Jahrzehnte als das beherrschende Strukturmerkmal der internationalen Politik vor allem in Europa. Er prägte sich in mehreren Dimensionen aus: einer ideologischen, einer machtpolitischen und einer militärisch-technischen. Das nach zwei Weltkriegen besonders virulente Sicherheitsbedürfnis beherrschte das politische Bewußtsein, ohne die Fragwürdigkeit des Freund-Feindonkens zu berühren. Der Krieg erschien als Sekundäre Gefahr. Primär fühlte man sich durch die vermuteten Intentionen des Konliktgegners bedroht. i ideologische Grundierung des Konflikts it älter als das Auseinanderbrechen der Antiitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges. Die ontroverse zwischen der westlichen repräsentativ-parlamentarischen und wirtschaftslieralen Ordnungsvorstellung, insbesondere er anglo-amerikanischen Demokratietradi'on, einerseits und der leninistischen, zentrastisch und staatswirtschaftlich organisierten Avantgarde-und Bürokratiediktatur andererseits existierte — eher latent — seit der Oktober-Revolution. In den „Kriegserklärungen" des Kalten Krieges legitimierten 1947 sowohl der amerikanische Präsident Truman als auch sein sowjetischer Gegensprecher Shdanow das Eingeständnis und die Proklamation des offenen Konflikts mit der Unvereinbarkeit der politischen Ordnungsvorstellungen, wobei beide Ideologien mit universalem Gültigkeitsanspruch versehen waren
Die entscheidende machtpolitische Dimension des Konfliktes führte zur Formierung zweier Konfliktparteien in Bündnissen von einem in der neueren Geschichte bis dahin nicht gekannten Grad der Beziehungsdichte. Es ging um die Aufteilung des von Hitler hinterlassenen Machtvakuums in Europa in Herr-Schafts-oder wenigstens Einflußsphären. Um die Nachlaßverwaltung bemühten sich in erster Linie die aus dem Zweiten Weltkrieg als Mächte erster Ordnung hervorgegangenen Staaten USA und UdSSR. Die Trennlinie dieser Konfrontation verlief dem Ergebnis der Kampfhandlungen von 1945 entsprechend quer durch, Deutschland. Nicht alle Interessen der Kontrahenten trafen spiegelbildlich aufeinander, doch in den Fragen des politischen, des wirtschaftlichen und des Sicherheitssystems wurden die unterschiedlichen Interessen ausdrücklich und unmittelbar benannt.
Die Sowjetunion setzte nach dem Verlust der Einflußnahme auf ganz Deutschland af die zentral gelenkte, staatsbürokratische Diktatur der kommunistischen Partei, die Westmächte setzten auf Dezentralisation und Mehrparteiensystem. Die USA waren am Wirtschaftsliberalismus und am langfristigen Aufbau von Märkten, die Sowjetunion war in erster Linie an der kurzfristigen Entnahme aus den Resten des deutschen Industriepotentials interessiert. Die USA bauten ihre Militärmacht ab; sie verließen sich auf ihr Nuklearmonopol und die Fähigkeit zur Mobilisierung und zur schnellen Rüstung im Kriege. Die Sowjetunion behielt einen großen Teil des Kriegsheeres unter Waffen, um den von der Roten Armee erziel-ten Geländegewinn in Europa — je nach westlichem Verhalten — in politische Einflußnahme oder in politische Herrschaft umsetzen und halten zu können. Militärisch-technisch standen sich zwei Mächtegruppen mit unterschiedlicher militärischer Tradition und deutlichem Gefälle im technisch-industriellen Vermögen gegenüber. Die USA hatten im Zweiten Weltkrieg gezeigt daß sie ihre Industrieproduktion schnell und effektiv auf Kriegsgüter umstellen können und in der Lage sind, durch den konzentrierten Einsatz wissenschaftlicher Kräfte und wirtschaftlicher Mittel ein Projekt wie die Kernspaltungsbombe zu realisieren. Mit den Kämpfen auf dem europäischen und fernöstlichen Schauplatz demonstrierten sie ihre Fähigkeit als Seemacht zur weltumspannenden, gleichzeitigen Kriegführung mit großen Heeren und insbesondere großem Materialeinsatz. Die bereits in den Napoleonischen Kriegen bewiesene russische Fähigkeit, Invasoren trotz großer Verluste letztlich zu schlagen, wurde im Zweiten Weltkrieg bestätigt; dem dadurch gewonnenen russischen Selbstbewußtsein stand allerdings ein Sicherheitstrauma gegenüber, das aus den wiederholten Angriffen und den Verwüstungen des Landes durch eingedrungene Truppen resultierte.
Die verschiedenartigen historischen Erfahrungen und aktuellen Fähigkeiten der USA und der Sowjetunion brachten ein unterscheidbares Sicherheitsverständnis der Konfliktgegner hervor. Die USA hatten sich zur maritimen Macht entwickelt, die ihre Sicherheitsinteressen auf die Beherrschung der sie umgebenden Meere und auf die Gegenküsten richtet. Jenseits des Pazifiks blieben die Amerikaner als Besatzungsmacht in Japan und spater Korea, jenseits des Atlantiks in Deutschland. Die Sowjetunion hielt sich an die Tradition kontinentaler Großmachtpolitik des Russischen Reiches. Ihr zentrales Sicherheitsinteresse galt der Beherrschung eines Vorfeldes westlich der eigenen Grenzen als Puffer gegen mögliche Invasoren. Der amerikanischen Technikkapazität stellten sie ein großes Land-heer gegenüber, darüber hinaus unternahmen sie den Versuch, den technologischen Rück stand aufzuholen.
Innerhalb weniger Jahre entstand zwischen den beiden Polen Washington und Moskau ein konfrontatives Beziehungssystem. Die im Anziehungsbereich dieser Pole liegenden Staaten gruppierten sich als Kraftfelder, die man Blöcke genannt hat. Ostblock und Westblock wiesen in sich hierarchische Strukturen von Hegemoniesystemen auf — allerdings höchst unterschiedlicher Art und Intensität. Während die Vereinigten Staaten versuchten, politische Entwicklungen nach angelsächsischem Demokratieverständnis durch Maßnahmenwie den Marshallplan zu induzieren, Militärmacht jedoch primär als technische Zerstörungskraft für den Fall eines Krieges ansahen, baute der Kreml ein System der unmittelbaren politischen Herrschaft auf, das sich nicht auf die Attraktion eines erfolgreichen politischen Systems oder erfolgversprechender ökonomischer Anreize, sondern letztlich nur auf die Präsenz einer umfangreichen Armee stützen konnte.
Dementsprechend richtete sich die Gefahren-wahrnehmung im Kalten Krieg des Ost-West-Konfliktes gegenüber dem Osten auf die Möglichkeit eines offensiven Gebrauchs des Sowjetheeres, gegenüber dem Westen auf die Herausforderung, welche das westliche Politiksystem für das Legitimationsdefizit der Sowjetherrschaft darstellte. Es-gab im Kalten Krieg kein westliches Heer, das zu einer Invasion der osteuropäischen Staaten oder gar der Sowjetunion in der Lage gewesen wäre, aber es gab eine erstaunlich schnelle wirtschaftliche und politische Gesundung Westeuropas »ach Kriegsende und die Schaufensterwirkung der westdeutschen Zonen bzw.der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere West-Berlins nach Osten.
Die aggressive Rhetorik der „Politik der StärKe und des „roll-back" mit der ausdrücklichen Zielsetzung, den Einfluß der Sowjetunion auf ihre eigenen Grenzen zurückzudrängen, konnten in Moskau den Eindruck entstehen lassen, der Westen werde politische Schwächen ausnutzen, um den Vorgang der Sowjeti-slerung in den mittel-osteuropäischen Staaten umzukehren. Der Osten hingegen entbehrte der politischen Attraktion, die DDR wirkte msbesondere in Deutschland als negatives chaufenster, doch die fortdauernde Präsenz sowjetischer Armeemacht und die Entstehung starker paramilitärischer Polizeikräfte hielt im osten die Unsicherheit in bezug auf die Be7 grenztheit der sowjetischen Ziele wach. Der Osten fühlte sich durch politisch-wirtschaftliche Mittel bedroht, der Westen durch militärische. Der Osten versuchte sein im Zweiten Weltkrieg militärisch und anschließend politisch erobertes Vorfeld, dessen die Sowjetunion nach ihrem Sicherheitsverständnis bedurfte, durch enge Blockkohäsion und militärische Herrschaft nach Westen abzuschirmen. Der Westen gelangte zur Blockbildung, um sich militärisch gegenüber der als Bedrohung wahrgenommenen Sowjetmacht gemeinsam effektiver rüsten zu können.
Es zeigt sich bald, daß sich die Dynamik des Konfliktes in erster Linie auf die Befestigung der Fronten, die Prägung des jeweiligen Herrschaftsbereiches und die Ausformung der Bündnisstrukturen richtete, nicht aber auf einen offenen Austrag des Konfliktes mit Gewinnern und Verlierern. Die Risikoschwelle lag zu hoch, die Wahrscheinlichkeit war zu groß, daß es bei einer kriegerischen Verwicklung der beiden Führungsmächte USA und Sowjetunion angesichts ihrer zwar unterschiedlichen, aber großen militärischen Potenz nur Verlierer geben könnte. Schon bei der Berlin-Krise 1948/49 ließ sich das vorherrschende Prozeßmuster des Konfliktverlaufs beobachten. Stalin wollte durch die Blockade der Westsektoren eine „Frontbegradigung" der Konfliktgeographie des Ost-West-Konfliktes herbeiführen. Die USA konnten West-Berlin räumen oder die Zufahrtswege militärisch freikämpfen oder bis auf weiteres aus der Luft versorgen wollen. Sie entschieden sich für die letzte Möglichkeit, weil sie das geringste Risko enthielt und alles weitere offenließ. Auch Stalin schlug mit der Separierung seines Sektors und dem Abbruch der Blockade den Weg des geringsten Risikos ein. Das Sicherheitsbedürfnis überwog das Prestigegefühl und das Gewinninteresse. Ähnlich zu interpretieren ist der Ablauf der zweiten Berlin-Krise vom Chruschtschow-Ultimatum 1958 bis zum Mauerbau 1961. Im Ost-West-Konflikt wurden keine Gewinne gemacht, für den Osten weder 1948 oder 1958 in Berlin noch 1962 in Kuba, für den Westen weder 1953 in der DDR noch 1956 in Ungarn.
Dennoch ließ sich die militärische Ausprägung des Konfliktes nicht aufhalten. Die Blockbildung vollzog sich zunehmend als Militärorganisation. Der Sowjetisierung der ost-mitteleuropäischen Staaten folgte die NATO-Gründung; der Formierung Westeuropas als Militärblock folgte die Gründung des War-schauer Paktes; der amerikanischen Nuklear-waffe folgte die sowjetische. In der Folge dreißigjährigen Wettrüstens wurden sich die Militärpotentiale immer ähnlicher. In der jeweiligen Vermutung sowjetischen Expansionismus oder amerikanisch/westeuropäischen Revisionismus wurzelte die jeweilige Reaktion, die wieder zur Aktion wurde. Der militärische Auf-und Ausbau der Potentiale gewann dabei eine bis heute zunehmende Eigendynamik; er wird von der politischen Konfliktintensität kaum beeinflußt.
Mit der wechselseitigen Wahrnehmung des Gleichgewichts, die sich etwa zu Beginn der sechziger Jahre einzustellen begann, endete die Phase der Revisionserwartungen und der Konfrontation aus Angst. Der Konflikt verlor mit der proklamierten Entspannungspolitik an Schärfe, blieb jedoch bestehen. Die Rüstungsdynamik wurde mit der proklamierten Rüstungskontrollpolitik als entschärft wahrgenommen, wenngleich sich das Wettrüsten fortsetzte.
In den ersten beiden Jahrzehnten des Konfliktes herrschte die Wahrnehmung der Konfrontation als wesentliches Strukturelement vor, in der folgenden Zeit die Wahrnehmung der Spannungsverminderung. Als wichtigster Faktor für diese Wahrnehmung ist in der Phase des Kalten Krieges die Gefahrenerwartung und Risikovermutung trotz offensichtlicher Risikoscheu der Akteure in Europa anzunehmen. Immerhin kam es an der Peripherie, in Korea, zu einem heißen Ost-West-Krieg, gab es in Europa Ankündigungen und Vermutungen des Revisionismus. Sicherheit suchte man in dieser Situation durch Abgrenzung und Entfaltung von Stärke. In der Phase der Entspannung suchte und sucht man Sicherheit auf der Basis der respektierten Konfliktgeographie durch Stabilisierung des Gleichgewichts. Die dritte Phase des Konfliktverlaufs könnte bei fortgesetzter Entspannung, die sich als Vertrauensbildung auswirkt, durch den Aufbau eines Systems der kooperativen Rüstungssteuerung vorherrschend bestimmt werden.
Nachdem in der Entspannungspolitik die Gefährlichkeit der politischen Spannung zwischen Ost und West vermindert wurde, wäre nun die Gefährlichkeit der dem Rüstungswettlauf innewohnenden Triebkräfte zu beschränken. Nicht auszuschließen ist heute aber ein Rückfall in die Konkurrenzpolitik der maximierten militärischen Stärke. In der amerikanischen wie in der sowjetischen Machtelite findet ein Ringen um die Politik zur Begrenzung militärischer Machtentfaltung statt. Hier wie dort fehlt bei einer nicht geringen Opposition zur kooperativen Rüstungssteuerung das für die Selbstbeschränkung in der Rüstungskontrollpolitik erforderliche Selbstbewußtsein. Die US-Regierung glaubte schon im Herbst 1979, das SALT-II-Abkommen zur Begrenzung der strategischen Rüstung nur in der widersinnigen Verbindung mit einem großen Rüstungsprogramm für global-und kontinentalstrategische Waffensysteme dem Senat zur Ratifizierung vorlegen zu können und belebt zu Beginn des Jahres 1980 die Politik der Eindämmung wieder. Die Sowjetregierung griff angesichts stockender oder technisch überholter Rüstungskontrollverhandlungen und vorhersehbarer legitimatorischer Probleme im eigenen Hause, dem Vielvölkerstaat Sowjetunion, auf die schon zaristische Tradition der Herrschaftssicherung durch Unterwerfung und territoriale Größe zurück. Moskau glaubt, durch militärisches Ausgreifen auf das südliche Vorfeld mit der Intervention in Afghanistan Turbulenzen der islamischen Region präventiv begegnen, sich damit auch im Süden ein beherrschtes Vorfeld schaffen zu können, das zugleich strategische Basis für den südasiatischen Raum ist, und verletzt so die wahrgenommene globale Ost-West-Balance. Wie die amerikanische Reaktion mit u. a.der Aufschiebung der SALT-II-Ratifizierung (vorerst) und die sowjetische Gegenreaktion mit der Absage von Verhandlungen über eurostrategische Waffen (bis auf weiteres) zeigen, ist die Stabilität des Ost-West-Verhältnisses nicht nur peripher, sondern nach wenigen Tagen schon in Kern gefährdet. Die Politik der Rüstung und des überlegenheitsstrebens ist noch imme auf eine verläßlichere Legitimationsbasis un ter den Eliten in West und Ost gegründet as die Politik der Rüstungsverminderung und de* Machtbegrenzung. 2. Die deutschen Sicherheitsinteressen im Ost-West-Konflikt Die deutschen Sicherheitsinteressen waren vom Ost-West-Konflikt in zweifacher Weise anders berührt als die der Führungsmächte. Zum einen lag und liegt Mitteleuropa und besonders der von Deutschen besiedelte Raum im geographischen Zentrum des Konfliktes, gleichzeitig aber peripher zu den USA und der UdSSR. Diese Region wurde und wird stets als der Schauplatz, als das „War Theatre'1 eines Ost-West-Krieges angesehen. Die Deutschen in der Bundesrepublik wie in der DDR waren und sind demnach die in einem Krieg primär Gefährdeten. Zum anderen war die deutsche Frage, das Problem der Staatlichkeit und der poliüschen Identität der Deutschen nach dem Zusammenbruch von 1945 unmittelbar mit dem Ost-West-Konflikt verknüpft. Dadurch wurde vom Beginn des Konfliktes und der deutschen Teilung an die Sicherheitsfrage zum Schlüsselproblem für die anderen Felder politischer Entscheidung.
Die Sicherheitsinteressen der Supermächte und ihrer Alliierten gegenüber dem besiegten Deutschland sprachen nicht dafür, im Vakuum eine neue deutsche Zentralmacht entstehen zu lassen. Teilung war die Folge. Die Deutschen selbst mußten zuerst! daran interessiert sein, daß ein kriegerischer Zusammenprall der Mächte, die das Vakuum aufzufüllen und auszunutzen trachten könnten, vermieden wird. War die Teilung mangels deutscher politischer Potenz nach der bedingungslosen Kapitulation nicht zu verhindern, so lag es nahe, daß die Herrschaft der Sieger auch die Funktion des Schutzes gegen die Übernahme durch die konkurrierende Macht enthielt. Beide deutschen Staaten waren Vorfeld und Einflußbereich der Führungsmächte, zugleich aber auch ein Krisenherd und eine spektakuläre Spannungsursache im Ost-West-Konflikt. Die deutsche Rolle mußte sich im Sicherheitskaldl der Amerikaner und der Russen ambivaent darstellen; umgekehrt mußten sich die derrschafts-unc] Sicherheitsinteressen der legermächte auch für die Deutschen ambiva-
ent ausnehmen.
Die deutsche Sicherheit war entweder in der Parteinahme der beiden Staaten für die jewei-" g 6 Führungsmacht oder in einer vereinigten, a er neutralen Position zwischen den Blöcken zu suchen. Die erste Lösung gewann über die Zeit den Bonus des Status quo. Dennoch sahen die Zeitgenossen der frühen fünfziger Jahre diese Lösung nicht als Selbstverständlichkeit an. Stalin stellte 1952 mit seinem Wiedervereinigungs-und Neutralisierungsvorschlag die Westmächte und damit die Bundesrepublik Deutschland vor die Frage, ob die zweite Lösung als praktikabel und wünschenswert anzusehen sei. Das Interesse am Status quo und das Mißtrauen gegen die Ernsthaftigkeit des Angebots überwog. Es ist vorstellbar, aber fraglich, daß die Sowjetunion den interessantesten Teil ihres Vorfeldes, die DDR, in einen Handel eingebracht hätte als Gegenleistung für die Aufgabe eines westeuropäischen Militärblocks, wie er mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) als einer hochentwickelten und dementsprechend voraussehbar effizienten Form zur Diskussion stand.
Die Regierung Adenauer vertrat mit Nachdruck das Sicherheitskonzept der eindeutigen Parteinahme für den Westen und der möglichst engen politischen Verbindung mit den westlichen Nachbarn. Die EVG hätte mit einem großen Schritt zur westeuropäischen Supranationalität dieser Politik weitestgehend entsprochen. Der anstelle dieses Vorhabens schließlich 1955 vollzogene Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO und zur Westeuropäischen Union (WEU) änderte den Adenauerschen Ansatz nur graduell, nicht prinzipiell. Die Bundesrepublik band sich politisch an den Westen, integrierte sich in die westliche Verteidigungsorganisation und sicherte sich den Schutz durch die Vereinigten Staaten auf Dauer. Die Wiedervereinigungsproblematik rangierte deutlich hinter der Sicherheitsproblematik. Adenauer zog — im Konsens mit den Wählern — die Sicherung des westdeutschen Staates als „Spatz in der Hand" der gesamtdeutschen Neutralität mit ungewisser Sicherung als der „Taube auf dem Dach" vor
Die Regierenden in der DDR waren schon um des Machterhaltens willen angesichts ihrer dünnen Legitimationsbasis an der fortdauern-den Präsenz der Sowjetunion interessiert. Ihr zentrales Sicherheitsproblem nach außen wie nach innen bestand lange Zeit in der fehlenden politischen und rechtlichen Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR.
Mit der wechselseitig praktizierten Anerkenntnis der Einflußsphären der Blöcke und ihrer Führungsmächte verlor die deutsche Frage ihre Virulenz, wurde das Wiedervereinigungsproblem von der weltpolitischen Tagesordnung abgesetzt. Die Deutschen ihrerseits konnten in der Folge dieser Entwicklung solange an der Entspannungspolitik zwischen den Weltmächten nicht aktiv mitwirken, wie sie ihr Streben nach Wiedervereinigung als mit der europäischen Sicherheit unvereinbar deklarierten. Erst nachdem die Bundesrepublik Deutschland mit den Ostverträgen den deutschen Sonderkonflikt mit der Sowjetunion innerhalb des Ost-West-Konfliktes für den Entspannungsprozeß neutralisiert hatte, konnten beide deutschen Staaten aktiv in diesen Prozeß eintreten. Die Bundesrepublik kam mit der Hinnahme der aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Grenzziehung in Europa einem wichtigen sowjetischen Sicherheitsinteresse entgegen, mit der im Grundlagenvertrag erfolgten Anerkennung der DDR als Staat dem zentralen Sicherheitsinteresse der DDR. Moskau stimmte seinerseits der rechtlichen Absicherung der Lebensfähigkeit West-Berlins zu und vereinbarte mit Bonn einen allgemeinen Gewaltverzicht einschließlich des Verzichts auf das in der UN-Charta enthaltene Interventionsrecht als Sieger-macht des Zweiten Weltkrieges. Wesentlicher noch für die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik war die Akzeptanz der amerikanischen Präsenz auf dem Kontinent als einer Garantiemacht der europäischen Sicherheit, über die Adenauersche Sicherheitspolitik der Westintegration hinaus, doch unter Voraussetzung ihrer Festlegungen, definierte die sozialliberale Koalition Sicherheit auch als Berührung, vermehrte Kooperation und Kommunikation sowie als partielle Verflechtung mit dem Konfliktgegner, um Kriegsverhinderung nicht nur durch militärische Abschreckung, sondern auch und zunehmend durch politische Strukturen zu gewährleisten
Eine neue Dimension der Sicherheit im Ost. West-Konflikt entstand durch die Multilateralisierung der Entspannung in den europäischen Sicherheitskonferenzen KSZE und MBFR. Nun konnten und können die Deutschen am Entspannungsprozeß unmittelbar mitwirken und die mitteleuropäischen Sicherheitsinteressen in die Konferenzdiplomatie direkt mit einbringen. Zwar stehen sie bei SALT nur im Vorhof der Beteiligung, doch die Konturen einer gesamteuropäisch verstandenen Sicherheitspolitik zum Zwecke des gemeinsamen überlebens im Ost-West-Konflikt entstehen eher in den multilateralen europäischen Sicherheitskonferenzen
Den beiden deutschen Staaten kommt eine spezielle Verantwortung für die europäische Sicherheit zu. Solange die Deutschen im Westen wie im Osten sich einerseits der gemeinsamen Gefährdung der physischen und kulturellen Existenz im Falle eines Krieges und andererseits des Auftrages zum Frieden, der aus ihrer gemeinsamen Geschichte resultiert, bewußt sind, können sie die Ritualisierung des Ost-West-Konfliktes als Systemkonkurrenz bei Kriegsverhinderung am ehesten leisten. Beide deutschen Staaten wären als erste vom Krieg betroffen und selbst bei geostrategisch geringer Kriegsintensität schweren Zerstörungen ausgesetzt. Die deutschen Staaten haben dementsprechend das Grundinteresse, einen Krieg im Keim zu verhindern. Sie verfügen über besondere Beziehungen über eine besondere Gegnerschaft, über eine wichtige Position im jeweiligen Bündnissystem, über Gemeinsamkeiten der Vergangenheit und bei aller Abgrenzung auch der Gegenwart, über ein spezielles Netz der Kommunikationsmöglichkeiten und über die Gemeinsamkeit des Risikos. Beide deutschen Staaten können nur gemeinsam in Sicherheit leben, denn sie würden im Kriegsfälle gemeinsam verwüstet werden.
Nicht nur im europäischen Rahmen ist die deutsche Verantwortung für die internationale Sicherheit gewachsen, sondern über die UN-Mitgliedschaft beider deutscher Staaten auch im globalen Maßstab. Über die Vereinten Nationen können die Europäer lernen, den Ost-West-Konflikt in seiner Bedeutung zu relativieren angesichts der Probleme der unterentwickelten und unterernährten Länder der Dritten Welt. Die im Wettrüsten zwischen Industrieländern gebundenen und vernichteten Ressourcen könnten zur Verminderung des Entwicklungsgefälles zwischen Nord und Süd in gemeinsamer Aktion der am Ost-West-Konflikt beteiligten Staaten umgewidmet werden. Man darf indessen den Ost-West-Konflikt und den Nord-Süd-Konflikt nicht strukturell gleichsetzen und damit letzteren als einen potentiellen militärischen Konflikt vorprägen. Es geht um die Verschwendung von Ressourcen im einen und die ungleiche Verteilung im anderen Konflikt. Die Umwidmung von Mitteln wäre als Indikator für einen beginnenden Bewußtseinswandel von der ererbten Freund-Feind-Beziehung als Grundkategorie und Verteilungskriterium zur erlernten Solidarität zu bewerten.
Der Ost-West-Konflikt als Grundlage der Sicherheitsprobleme europäischer Staaten hat an Intensität verloren. Er besteht dennoch in alten drei Dimensionen fort. Der generelle Revisionismusverdacht des Ostens gegenüber dem Westen ist abgeschwächt, aber nicht ausgeräumt. Die generelle Hegemoniefurcht der Westeuropäer gegenüber der Sowjetunion ist vermindert, aber nicht verschwunden und nach der Sowjet-Intervention in Afghanistan neu belebt. Die Verlagerung des Konkurrenz-verhaltens auf Regionen außerhalb der Industrieländer nimmt nicht den Druck vom Zentrum des Konflikts. Gemeinsamkeiten im Verhalten der Industrieländer zur Nord-Süd-Problematik könnten die Ost-West-Problematik nachhaltig entschärfen. Für die Gefährdung, die von der Eigendynamik der Rüstung ausgeht, könnte die Entstehung eines gemeinsamen Bewußtseins dieselbe Wirkung haben und in kooperatives Verhandeln und Handeln im Bereich der Rüstungskontrolle und Rüstungsverminderung einmünden.
Auf diesem Felde dürfte sich entscheiden, ob sich der Ost-West-Konflikt angesichts der drängenden Menschheitsprobleme um die Verteilung der knappen Ressourcen zur historischen Epoche reduzieren oder ob er über einen Nuklearkrieg — und diese Möglichkeit ist noch nicht ganz ausgeschlossen — die technisch-industrielle Kultur auf der nördlichen Halbkugel zu einer abgeschlossenen Epoche in der Menschheitsgeschichte finalisieren wird. Ob die im Ost-West-Konflikt formulierten und praktizierten Sicherheitspolitiken diesen Fall verhindern können hängt davon ab, ob sie die gemeinsame Gefährdung aller am Konflikt Beteiligten bewältigen oder ob sie im Abwehrdenken befangen der fortgesetzten Rüstung gegeneinander Vorschub leisten, ob also Sicherheit als von den Konfliktgegnern nur gemeinsam zu realisierendes Gut oder als Nullsummen-Spiel mit Gewinnen auf Kosten des Gegners und der Folge steigender Systemlabilität einschließlich der wachsenden Gefahr des Zusammenbruches angesehen wird.
III. Militärstrategien im Ost-West-Konflikt
^reitkräfte, Strategien und Rüstungen sind «gebrachte Mittel der Politik. Der Begriff v icherheitspolitik ist nicht so alt wie die L te der Kriegspolitik, die wir der Sicherltspolitik zuordnen. Ist Sicherheit und nicht der Sieg im kriegerischen Konflikt das politische Ziel, wird dies am Wandel der Instrumente dieser Politik sichtbar werden müssen. Militärstrategien sind Instrument und Indikator politischer Zielsetzung zugleich. Bis heute herrschen die Mittel zur gewaltsamen Politik oder deren Abwehr vor. Sie sind ererbt wie das dazugehörige Freund-Feind-Schema als Grundmuster politischen Verhaltens.
Das jahrtausendealte Freund-Feind-Denken hat sich jedoch unter dem Aspekt der Ziel-Mittel-Relation in dem kurzen Zeitalter der Industrialisierung als für alle Beteiligten überlebensgefährdend herausgestellt. Die Kriegs-mittel sind durch Technisierung, Automatisierung und industrielle Herstellung in ihrer Wirkung derart vermehrt worden, daß ihr Einsatz nicht mehr in ein legitimierbares Verhältnis zu einem politischen Zweck zu bringen ist. Clausewitz hat zu Beginn dieses Zeitalters, ohne dessen Entwicklung vorauszuahnen, die Herrschaft des politischen Zweckes gegenüber dem kriegerischen Mittel, gleichzeitig aber in seiner Kriegslehre auch die Vernichtung des militärischen Gegners und die Entscheidungsschlacht vorgezeichnet und damit unter der Voraussetzung der nach ihm gigantisch vermehrten Waffenwirkung das erste Postulat entkräftet. Die beiden Weltkriege habe seine Kriegslehre für das industrielle Zeitalter ad absurdum geführt.
So augenfällig diese Entwicklung spätestens mit Hiroshima geworden sein mußte, so wenig haben sich Folgerungen für die politische Moral ausgeprägt. Selbst wenn durch die Explosionen der ersten Nuklearbomben bei Ende des Zweiten Weltkrieges deren Einsatz in den Konflikten seitdem unterblieb, so zeigt das fortgesetzte Rüsten und insbesondere die heute betriebene Verfeinerung der Nuklear-Arsenale, daß die Ebene des politischen Bewußtseins noch immer nicht von der technischen Entwicklung hinreichend beeinflußt worden ist. Die später entwickelten Nuklear-strategien brachten zwar eine Revolutionierung des militärstrategischen Denkens in den Industrieländern mit sich, man plante nicht mehr Kriegführung, um den Gegner zu besiegen, sondern die Abschreckung des Gegners vor einer eventuell geplanten Kriegführung, doch die politische Moral der Beteiligten ist bislang hinter der Technikentwicklung zurückgeblieben. 1. Militärstrategien der USA 1953/54 proklamierten die USA eine erste ausformulierte Militärstrategie des Nuklear-Zeitalters. Mit der Doktrin der Massiven Vergeltung („massive retaliation") sollten die speziellen Eigenschaften der Massenvernichtungswaffen, deren Wirkung auf Kernspaltung oder Kernfusion beruht, politisch nutzbar gemacht werden. Jeder Gegner, der die USA oder ihre Verbündeten militärisch angriffe, würde der Doktrin zufolge mit dem massiven Einsatz der amerikanischen Kernwaffen zu rechnen haben. Durch diese Drohung sollten potentielle Gegner von Angriffshandlungen abgeschreckt werden. Die Überlegenheit der USA auf allen Sektoren der Kernwaffen sollte jedweden Angriff auf einfache Weise ausschließen. In der Doktrin war eine ökonomische Komponente nicht zu übersehen, denn der teure Unterhalt großer stehender Streitkräfte konnte vermindert werden, wenn Verlaß auf eine besonders wirkungsvolle Waffe war, zu deren Einsatz nicht Truppen, sondern lediglich Flugzeuge mit großer Reichweite erforderlich waren. Obendrein kam diese Doktrin der amerikanischen Tradition der Mobilisierungsstrategie entgegen, wonach erst im Falle eines Krieges Truppen größeren Umfanges ausgehoben und auf den KriegsschauplatS gebracht werden. Die entscheidende Stärke dieser Truppen liegt dann in der Ausnutzung der technischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der USA Bis zur Doktrin der Massiven Vergeltung hatten sich militärstrategische Überlegungen der USA in bezug auf Europa ganz in den Bahnen des Zweiten Weltkrieges bewegt. Hervorstechendes Merkmal der amerikanischen Krieg-führung vor Hiroshima war die Zurückeroberung verlorenen Terrains. Die Landstreitkräfte hatte Washington bei Kriegsende drastisch auf ein Zehntel der Mannschaftsstärke demobilisiert, die Luftwaffen-und Marine-Einheiten allerdings nicht in gleichem Maße. Militärtechnische Forschungen und Entwicklungen wurden fortgesetzt. Die amerikanische Nachkriegsplanung wich nach dem heutigen Er-kenntnisstand von der strategischen Invasionsstrategie zunächst nicht ab Die Nuklearwaffe sah man allenfalls in einem ungünstigen Kriegsverlauf als Ultima ratio an. Man wußte in Washington, wie sehr die Sowjetunion durch die Kriegsfolgen mit sich selbst beschäftigt war und erwartete keine Militäraktionen großen Stils. Diesen Planungsstand mußten die USA verlassen, nachdem sie den Ost-West-Konflikt realisiert hatten und ihn ab 1947 bewußt und aktiv betrieben. War der Konflikt auf einer umfassend machtpolitischen Ebene etabliert, so war eine militärische Auseinandersetzung in Betracht zu ziehen, auch wenn sie nicht akut drohen mußte. Für den Fall, daß die Lagebeurteilung sich als falsch erwies, sollten bei einem sowjetischen Großangriff im Süden die Pyrenäen und im Westen England gehalten werden, um von dort aus zur Rückeroberung Westeuropas antreten zu können. Vom Rhein als westlicher Verteidigungslinie war erst später, nach der politischen Formation einer westlichen Verteidigung, die Rede.
Die Exponenten des Ost-West-Konfliktes füll-
ten das von Hitler geschaffene Machtvakuum in Europa.
Die von Truman verkündete Politik fer Eindämmung wurde bald auch militä-risch untermauert, wenngleich die Konstrukteure dieser amerikanischen Politik eher an einen politischen Damm mit wirtschaftlichem Fundament gedacht hatten In dem Maße, wie man in Washington die UdSSR aufgrund ihrer Sowjetisierungspolitik in den von der Roten Armee besetzten osteuropäischen Ländern als expansionistisch einschätzte und dementsprechend von der anfänglichen Kooperations-und Hilfspolitik zur Konfrontation überging, war man gezwungen, eine Leitlinie für die verschiedenen Regionen amerikanischer Präsenz zu entwickeln, wenn man sich nicht von den Gegenküsten ganz zurückziehen wollte. Im Rahmen der Eindämmungspolitik entwickelte die US-Administration ein Konzept abgestuften Engagements, wobei neben England und Frankreich Deutschland in die Kategorie erster Wichtigkeit für die amerikanische Sicherheit eingestuft wurd
Eine in Kauf genommene Preisgabe bedrohten Terrains war mit dem Anspruch der Herrschaftssicherung und Machtentfaltung nicht in Einklang zu bringen. Die Erfahrung der Berlin-Blockade stärkte die Bedeutung der militärischen Komponente im Konfliktinstrumentarium des Westens. Sollte im Falle eines sowjetischen Angriffs wenigstens der Rhein gehalten werden, so bedurfte es einer deutlichen Verstärkung der westlichen Heeresverbände auf dem europäischen Kontinent. Die Franzosen und Engländer, durch die Entkolonialisierungspolitik und die Wirtschaftsprobleme der Nachkriegszeit doppelt beansprucht und geschwächt, konnten die geringe amerikanische Besatzungspräsenz nicht entscheidend verstärken. So bekamen die Überlegungen der amerikanischen Militäradministration zur Beteiligung der eben besiegten Deutschen am Aufbau einer westlichen Verteidigung ein Maß an Plausibilität, das die Widerstände der Nachbarn Deutschlands, insbesondere der Franzosen, gegen ein derartiges Ansinnen mit dem Korea-Krieg schließlich schwinden ließ zugunsten der Zielsetzung, eine dem sowjetischen Truppenpotential angemessene Verteidigungsstreitkraft in Westeuropa aufzubauen Zwölf Divisionen forderte die NATO als Aufstellungsziel des deutschen Beitrags bereits 1952 Die Kräfte der USA waren zu dieser Zeit auf dem koreanischen Kriegsschauplatz gebunden. Die schwachen Besatzungsstreitkräfte in Europa konnten lediglich signalisieren, daß ein Angriff auf Westeuropa zur physischen Berührung mit den USA führen würde und damit eine umfassende amerikanische Reaktion zur Folge haben könnte.
Mit der Doktrin der Massiven Vergeltung war nun seitens der Sowjetunion nicht mehr die amerikanische Mobilisierung als Folge eines Übergriffs anzunehmen, sondern der Kernwaffeneinsatz durch die USA. Acht Jahre nach Hiroshima hatten die Vereinigten Staaten eine Nuklear-Doktrin entwickelt, die erstmals die Kernwaffen zum zentralen Element des Mitteleinsatzes machte. Heeresstreitkräfte, die man nun die konventionellen nannte, bekamen nur noch die Funktion eines „Schildes“ zugewiesen. Das „Schwert“ sollten die Kernwaffen sein. In dem 1956 bekanntgewordenen — nach dem Chef der vereinigten Stabschefs benannten — „Radford-Plan“, der auf der Basis dieser Doktrin eine drastische Reduzierung der amerikanischen Landstreitkräfte vorsah, wurde wiederum der ökonomische Aspekt dieser Doktrin deutlich sichtbar Das schlug auch auf die Bundeswehraufstellung durch, denn die konventionelle Unterfütterung der nuklearen Fähigkeit der USA in der Größenordnung von 500 000 Mann konnte man infrage stellen, wenn Truppen — bis auf Rest-kräfte für die Abwehr lokaler Einbrüche oder den ersten Schildwiderstand bei einem eben begonnenen Angriff — durch Nuklearwaffen zu ersetzen waren. Die ohnehin vorhandenen Probleme mit der Aufstellungsgeschwindig. keit der Bundeswehr ab 1956 konnten mit dieser Begründung aufgefangen werden, wenn man den Aufbau verlangsamte und die Dauer der Wehrpflicht von 18 auf 12 Monate herabsetzte
Die Strategie der Massiven Vergeltung basierte auf der unangefochtenen Überlegenheit der USA im Kernwaffenbereich. Das Ende dieser Überlegenheit war allerdings abzusehen, denn auch die UdSSR verfügte seit 1949 über Nuklearwaffen. Bis Ende der fünfziger Jahre hatte sie die Fähigkeit zur Kriegführung mit Kernwaffen erreicht. Mit dem Start des Erdsatelliten „Sputnik" demonstrierte sie zudem die Fähigkeit, Nuklearwaffen auf schweren Raketen interkontinental zu verschießen. War mit der Strategie der Massiven Vergeltung erstmals nicht von Kriegführung, sondern von Abschreckung die Rede, so bestand nun seitens des Abzuschreckenden die Fähigkeit zur Gegenabschreckung. Abschreckung als die Androhung der Vernichtung zum Zwecke der Abhaltung von einem Angriff war jetzt als wechselseitig anwendbares Prinzip anzusehen
Die Glaubwürdigkeit der Drohung als zentrales Element der Abschreckungswirkung war in bezug auf lokale oder regionale Kriege dann in Zweifel zu ziehen, wenn Abschreckung der Gegenseite gegen diese Drohung möglich wurde. Bald nach Verkündung der ersten Nukleardoktrin durch die Eisenhower-Administration hatte sich in den USA eine akademische Strategie-Kritik etabliert, die auf die intellektuellen wie positiven Schwächen und Dilemmata der Abschreckungsdoktrin der Massiven Vergeltung hinwies und nach Alternati-ven suchte Zur wissenschaftlichen Kritik kam die Argumentation der militärischen, insbesondere aus dem europäischen NATO-Hauptquatier Dort befürchtete man angesichts der Wechselseitigkeit der Abschrekkungsdrohung, die Schwelle des angedrohten Kernwaffeneinsatzes könnte mit schnellen und begrenzten Militäraktionen auf der konventionellen Ebene unterlaufen werden. Gegen den Vorstoß zum Ruhrgebiet sei die Massive Vergeltung keine glaubwürdige Drohung. Der amerikanische General Norstad als NATO-Oberbefehlshaber („SACEUR") und der deutsche General Speidel als Oberbefehlshaber der mitteleuropäischen Landstreitkräfte hatten bereits Ende der fünfziger Jahre den Schildstreitkräften, zu denen die Bundeswehr zählte, eine weitergehende Funktion zugewiesen als die eines Stolperdrahtes für die Auslösung des massiven nuklearen Vernichtungsschlages
Die Regierung Kennedy zog schließlich die Konzequenzen aus der Debatte und formulierte eine neue Militärstrategie der Abgestuften Erwiderung („Flexible Response") Auf jeder möglichen Ebene der militärischen Auseinandersetzung sollte flexibel, d. h. angemessen reagiert werden können. In diesem Konzept bekamen die konventionellen Streitkräfte und damit auch die Bundeswehr wieder größere Bedeutung. Die Schild-Schwert-Faktoren mußten umgekehrt werden, wenn auf jede Angriffsart eine angemessene und begrenzte Reaktion möglich sein sollte. Konventionelle Streitkräfte werden jetzt als Schwert betrachtet, die Nuklearwaffen nur noch als Schild. Abschreckung sollte auf jeder Ebene wirksam sein. Für den europäischen Raum war allerdings das Problem des Ungleichgewichts der Potentiale im Ost-West-Vergleich auch mit der Strategie der abgestuften Erwiderung nicht zu lösen. Da der Westen von einer regionalen Unterlegenheit der konventionellen Streitkräfte gegenüber dem Osten ausging, versuchte er dieses westliche Defizit durch die Verstärkung der Komponenten der sogenannten taktischen Nuklearwaffen auszugleichen. Ihr Einsatz wurde durch die NATO im Konzept der abgestuften Erwiderung für den Fall angedroht, daß ein konventioneller Angriff von Truppen des Warschauer Paktes durch ebensolche Truppen der NATO nicht zum Stehen gebracht werden kann Eine für die USA selbst schlüssige Abschreckungs-Doktrin ließ für Westeuropa das Dilemma zurück, daß man den Einsatz von Waffen androhte, deren Wirkung das durch Abschreckung zu sichernde Gut, die Unverletztheit Westeuropas, noch stärker gefährdete.
Auf der Ebene der interkontinental ins Ziel zu bringenden Nuklearwaffen — von den Amerikanern strategische genannt, weil sie die Lebensfähigkeit des Gegners durch Explosionen im Kernland bedrohen können — konnte sich die abschreckende Wirkung für die USA nicht mehr durch unangefochtente Überlegenheit ergeben. Deshalb war eine Doktrin für die wechselseitige strategische Abschreckung zu entwickeln und die technische Voraussetzung dafür zu schaffen. Massive Vergeltung konnte der Nuklearmonopolist androhen. Die auf dem Felde der strategischen Waffen in den sechziger Jahren immerhin noch überlegene Super-macht USA konnte, wie in der „Counter Force" -Doktrin McNamaras der frühen sechziger Jahre geschehen, im Falle des Nuklearkrieges die weitgehende Entwaffnung des Gegners durch gezielte und zuvorkommende Schläge auf sein Kernwaffenpotential androhen und so den hinzunehmenden eigenen Schaden mini-* mieren wollen Im Zeichen der heraufziehenden Parität zwischen den USA und der Sowjetunion mußte man sich auf die Fähigkeit zum zweiten Schlag zurückziehen. Die Kernwaffen sollten durch Trägersysteme in der Luft, unter Wasser oder in Bunkern so gegen feindliche Waffenwirkung geschützt sein, daß nach einem erlittenen Nuklearschlag genügend Nuklear-Kapazität unbeschädigt übrig bliebe, um den Angreifer im Gegenschlag noch vernichtend treffen zu können. Wechselseitige gesicherte Zerstörung sollte strategische Stabilität auf Dauer garantieren
Auf der Basis dieser Stabilität war über eine einvernehmliche Begrenzung oder gar Verminderung der Arsenale zu sprechen. Erste Rüstungskontrollverträge zwischen den USA und der UdSSR in den sechziger Jahren, wie z. B. das Teststop-Abkommen, kennzeichneten Rüstungskontrolle als ein ausbaufähiges Prinzip, das den Aufwand wert war, wenn auf dem Wege der kooperativen Rüstungssteuerung wenigstens der Rüstungswettlauf des Ost-West-Konfliktes in beherrschbare Bahnen gelenkt wurde Man wagt heute noch nicht zu sagen, ob die bis zum Jahre 1979 realisierten Ansätze wenigstens die Dynamik des Vorgangs gebremst haben. Trotz Entspannungspolitik wird das Wettrüsten auf mehreren Sektoren fortgesetzt. Immerhin ist es über die Verhandlungen zur Begrenzung der strategischen Systeme („SALT') zu Höchstgrenzenvereinbarungen gekommen, die zur strategischen Stabilität beitragen können. Gleichzeitig droht aber die Verlagerung des Wettlaufs auf die technologische Qualität, die erreichte strategische Stabilität in Labilität zu wandeln. Seit der Diskussion über die Schwächen der Massiven Vergeltung haben die Amerikaner stets versucht, flexiblere militärische Hand, lungsmöglichkeiten (Optionen) zu bekommen. Die Differenzierung der Optionen und der Arsenale war aus der Strategie der Abgestuften Erwiderung zwingend abzuleiten; die verbliebene amerikanische Überlegenheit der nuklearstrategischen Armierung erleichterte sie. Zunächst wurde das strategische nukleare Trägerpotential über land-, lüft-und seegestützte Systeme diversifiziert. Sodann erfuhr die konventionelle Komponente eine politische und mit Ausnahme der Zeit des Vietnam-Krieges später auch physische Aufwertung. Zu der abschreckenden Fähigkeit durch Vergeltung sollte die auch auf lokaler Ebene abschreckend wirkende Fähigkeit der Verwehrung von Geländegewinn mittels konventioneller Militäraktionen hinzukommen. Beide Ansätze waren im Grundkonzept der Abgestuften Erwiderung über die Möglichkeit und die Drohung der Eskalation miteinander verbunden, wobei den für den lokalen Einsatz verfügbaren taktischen Nuklearwaffen eine wichtige Funktion zwischen beiden Ebenen zugemessen wurde. Die im Gesamtpotential und in der Variationsbreite der möglichen militärischen Reaktionen überlegenen USA konnten mit der Eskalationsdominanz, d. h.der Fähigkeit, die Ebenen des Waffeneinsatzes zu bestimmen, ihre Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Die unterschiedlichen Ebenen der militärischen Handlungsfähigkeit wurden später von den USA in der sogenannten «Triade" systematisiert als 1. nuklearstrategisches, 2. nukleartaktisches und 3. konventionelles Potential.
Ein Ziel der Flexibilität militärischen Handelns war und ist die Fähigkeit zur regional begrenzten Kriegführung, die im amerikanischen Strategiedenken der Ära Schlesinger mit dem Konzept der strategischen Optio nen deutlicher als früher zum Ausdruck kam _ eine für die USA eindeutig richtige, für die Westeuropäer indessen ambivalente Forderung an das militärstrategische Vermögen. Die in den fünfziger Jahren entstandene Unterscheidung zwischen Abschreckungs-und Kriegführungsfähigkeit schwindet. 2. Militärstrategien der UdSSR Die Sowjetunion verließ das militärstrategische Denken des Zweiten Weltkrieges noch langsamer als Amerika. Die Nachkriegsplanungen Moskaus waren von dem durch Hitlers Überfall aktualisierten Sicherheitstrauma des überranntwerdens bestimmt. Nachdem die bei Kriegsbeginn 1941 nicht geringen Kräfte der Sowjetunion keineswegs ausgereicht hatten, den Anfangsschwung des deutschen Angriffs abzufangen, versuchte Stalin, einen möglichst großen Teil des im Kriege angewachsenen Heeres unter Waffen zu halten. Die numerische Stärke der Truppen schien zudem geboten, um die politische Konsolidie-rung der eroberten Vorfeldstaaten im sowjetischen Sinne zu ermöglichen, zu überwachen und zu sichern. Den Nuklearwaffen maß auch Stalin keine operative Bedeutung zu. Er versuchte, ihre Ächtung zu propagieren und ließ gleichzeitig eigene entwickeln.
Es ist schwer vorstellbar, daß Stalin angesichts der existenziellen Versorgungsprobleme, der Verwüstungen durch die Wehrmacht, der zerstörten Industrie und der Hungersnöte im eigenen Lande sowie der Problematik, die mittelosteuropäischen Staaten als abhängiges Vorfeld zu halten, daran gedacht haben könnte, mit militärischen Mitteln eine weitere Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches nach Westen zu versuchen, wie es in den westlieben Angstvorstellungen ab 1947 und erst recht ab Korea als möglich angenommen wurde. Eine strategische Gesamtrechnung, welche die politischen, geographischen, wirtschaftli-chen und militärischen Faktoren der westli-Chen Position einbezog, mußte ihn davon abulten. Sein Verhalten in der Berlin-Krise deutete auf das Primärinteresse an der aktiven ockade) und passiven (Abgrenzung) Konso-
1 erung des Vorfeldes hin. Die Erosionsten-
enzen auf dem Glacis, d. h. im Satellitenbe-
eich, wie sie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der ÖSSR sichtbar wurden, schlug Moskau mit Truppen und Panzern nieder. Die umfangreichen sowjetischen Landstreitkräfte hatten also zum einen die Funktion einer Blockpolizei, zum anderen die Aufgabe der Verteidigung für den Fall einer von den Amerikanern aktiv betriebenen Roll-back-Politik.
Man kann die sowjetischen Militärstrategien nicht in gleicher Weise diskutieren wie die westlichen. Das liegt an der Geheimhaltung, möglicherweise aber auch daran, daß sie nicht so weitgehend ausformuliert sind wie die des Westens. Immer gab es aber eine sowjetische Strategie-Diskussion, die — vornehmlich unter Militärs geführt — durch Veröffentlichungen auch im Westen verfolgt werden konnte Hier wurden wenigstens Elemente des militärstrategischen Denkens greifbar, und sei es teilstreitkraftspezifisch wie im Falle der Aussagen Gorschkows zur Marine Es handelt sich allemal um eine Einschätzung, der vor allem zwei wesentliche Faktoren zugrunde zu legen sind: die sicherheitspolitische Interessenlage und die technischen Möglichkeiten. Letztere wuchsen der UdSSR mit der Entwicklung von Nuklearsprengköpfen zu Beginn der fünfziger Jahre und mit dem Aufbau eines Raketenpotentials als Trägermittel ab Mitte der fünfziger Jahre zu. Zunächst handelte es sich um Mittelstrecken-Raketen, mit denen Moskau Ziele in Europa und im Vorfeld der Sowjetunion erreichen konnte. Damit war keine dem strategischen Bomber-Kommando Washingtons adäquate, aber doch immerhin eine Drohung mit abschreckender Wirkung möglich, denn die Sowjetunion konnte Westeuropa als Geisel für das unerreichbare Nordamerika nehmen. Die Entwicklung von Interkontinental-Raketen ging nicht so schnell vor sich, wie vom Westen nach dem Sputnik-Start als „Raketenlücke''angenommen. Solange das sowjetische Raketenpotential vor allem aus Mittelstrecken-Raketen bestand, konnten die Amerikaner zwar Ziele in der Sowjetunion mit Nuklearbomben bekämpfen, die Russen aber nicht in Amerika. Der Versuch Chruschtschows, diesen Nachteil durch die Stationierung von Mittelstrecken-Raketen auf Kuba auszugleichen, scheiterte 1962. Erst in den späten sechziger Jahren entstand ein „Patt" durch die Interkontinental-Raketen der Sowjetunion. Diese Raketen waren —vermutlich aus technischen Gründen — mit größeren Sprengköpfen als die amerikanischen bestückt, möglicherweise um die geringere Treffgenauigkeit auszugleichen. In diesen Jahren dürften Elemente der US-Strategie der Massiven Vergeltung durch die Sowjetunion nachvollzogen worden sein.
In den sechziger Jahren begann die Sowjetunion mit dem großzügigen Ausbau ihrer Kriegsflotte. Über die Zielsetzung dieser Flottenrüstung ist viel gemutmaßt worden. Ohne Zweifel wollte und will Moskau damit den traditionellen geographischen Nachteil des kaum vorhandenen Zugangs zu den warmen Meeren mindern. Fraglich ist die Annahme einer der amerikanischen Marinepotenz vergleichbaren Fähigkeit zur Seekriegführung, die etwa zur Unterbindung des Zusammenhangs der NATO über den Atlantik führen könnte. Als sicher ist der Wille anzunehmen, durch Präsenz auf den Weltmeeren den Status einer Großmacht neben den USA zu demonstrieren, Stellvertreterauseinandersetzungen in der Dritten Welt zu decken und die Einkreisung des Sowjetimperiums durch Verbündete und Stützpunkte der USA zu durchbrechen. Die Befriedigung dieser Interessen setzt allerdings die Aufrechterhaltung des Friedens mit den USA voraus. Im Kriegsfall sind sowjetische Überseeschiffe auf dem Weltmeeren kaum zu halten.
Lassen sich die strategischen Rüstungen und die damit verbundenen Militärstrategien der USA und der Sowjetunion vergleichen und in ihren Möglichkeiten dementsprechend bewerten, bleibt das militärstrategische Denken der Sowjetunion für den europäischen Raum nicht eindeutig greifbar. Ihr als strategisch defensiv verstandenes Konzept ist in der operativen Umsetzung offensiv als „Vorwärtsverteidt gung" ausgelegt. Ein Krieg in Europa soll verhindert werden, bricht er aber aus, sollen die Kampfhandlungen soweit wie möglich in Feindesland hineingetragen werden, wobei dem Element der Schnelligkeit und der Stoßkra entscheidende Bedeutung zukommt
Hier aus leitet sich die oft artikulierte westliche Furcht ab, die Sowjetunion besitze eine „Blitz-krieg-Option" Im Vordergrund der sowjetischen Militärstrategie für Kontinental-Europa steht eher Verteidigung als Abschrekkung. Ihre entsprechenden Kriegführungskapazitäten ergeben eine regionale Überlegenheit, während der Westen auf die Hinlänglichkeit der Kräfte zum Zwecke der Abschrekkung setzt, dabei aber die konventionelle Offensivkapazität der Warschauer-Pakt-Truppen durch taktische Nuklearwaffen ersetzt. In dieser Diskrepanz der Streitkräfte-Sortierung und der militärstrategischen Konzeptionen liegt eine wichtige Ursache für das äußerst langsame Fortschreiten der europäischen Rüstungskontroll-Verhandlungen in Wien (MBFR).
Die Sowjetunion lebt in der Vorstellung, von den USA und Europa auf der einen, China und Japan auf der anderen Seite sowie zahlreichen Stützpunkten eingekreist zu sein und sich im Kriegsfall gegen mehrere Gegner auf mehreren Kriegsschauplätzen gleichzeitig behaupten zu müssen. Daraus leitet sie die Berechtigung ihres großen Streitkräfteumfanges ab Die technische Unterlegenheit gegenüber dem westlichen Gegner versucht sie durch Quantität auszugleichen. Wenn Moskau die Streitkräfte der dem gegnerischen Lager zugerechneten Mächte addiert, um die eigenen Kräfte daran zu messen, so kann es bei fortgesetztem und regional verstärktem Wettrüsten in eine geradezu ausweglose Lage geraten, die nur durch rechtzeitige und im Ergebnis relevante Rüstungskontrollabkommen zu vermeiden ist. Der Streitkräftezuschnitt der Sowjetarmee an der Westflanke der UdSSR zeigt, daß sie, über die Abschreckung hinaus, als zweite Sicherung" eine Kriegführungskapazität für — notwendig hält. Damit berührt Moskau aber die Sicherheitsinteressen der westlichen Nachbarn, was wiederum deren Rüstungsverhalten beeinflußt und zu Fragen nach der politischen Zielsetzung der Sowjetunion führt.
Auf dem Sektor der strategischen Nuklearwaffen kann die Sowjetunion mit dem amerikanisch-sowjetischen Rüstungsbegrenzungsabkommen „SALT II" Parität mit den Vereinigten Staaten erreichen Der Weltmachtkonkurrent hat Moskau damit die Qualität einer Supermacht zugebilligt und bescheinigt. Beide Mächte betreiben heute gleichermaßen Machtpolitik als Rüstungspolitik, als Einflußund Stützpunktpolitik und beide decken den unmittelbaren oder mittelbaren Einfluß in abgelegenen Regionen auch militärisch. Die USA verfügen für überseeischen Einfluß über die besseren geographischen Voraussetzungen und die größeren wirtschaftlichen Ressourcen; die UdSSR kann in der Vorfeldpolitik ihrerseits einen geographischen Vorteil realisieren. Den Großmachtstatus hat die Sowjetunion als ein wesentliches Ergebnis der Rüstungspolitik erreicht. Gleichwohl bleiben die USA mit den NATO-Bündnispartnern in der Situation der technisch und wirtschaftlich jederzeit realisierbaren Überlegenheit. Die Sowjetunion wird also für ihre militärische Sicherheit, will sie sich nicht in einem ruinösen Wettbewerb niederrüsten lassen, das Prinzip der gegenseitigen Abschreckung bei Hinlänglichkeit der Kräfte akzeptieren müssen. Wie sich in der Afghanistan-Intervention zeigt, setzt die Sowjetunion angesichts der brüchigen Rüstungskontrolldiplomatie eher auf Sicherung der territorialen Größe und Vorfeld-beherrschung, während die USA ihre technologische und wirtschaftliche Überlegenheit mobilisieren. Die territoriale Sicherheitspolitik der Russen wird aber Dynamik der Gegner ernten, wo sie Dynamik in der Vorfeldpolitik säht. Ebenso wird die amerikanische Rüstungsdynamik entsprechende sowjetische Anstrengungen auslösen. Das Streben nach Überlegenheit und der Wille zur Rüstungskontrolle sind nicht miteinander vereinbar. 3. Militärstrategische Interessen der europäischen Staaten Die überragende Bedeutung der beiden Führungsmächte für die europäische Sicherheit relativiert die Rolle, die mittlere und kleinere Mächte spielen können, die man aber dennoch nicht übersehen darf. Das britische Nuklear-potential ist im Gegensatz zum französischen mit dem amerikanischen über die NATO direkt verbunden; es wird vor allem im Rahmen der gegen die Sowjetunion vorgeschobenen Systeme mit Trägermitteln des Mittelstrekkenbereiches eingesetzt. Im konventionellen Bereich beteiligten sich die Briten stets an der NATO-Verteidigung auf dem Festland mit ihrer Rheinarmee, wobei das Ausmaß der Präsenz mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten und dem Wehrsystem schwankte. Die atlantische Orientierung Londons hat Paris zwar auf der sehr grundsätzlichen Ebene der gemeinsamen westlichen Verteidigung geteilt, partiell aber revidiert.
In der Gründungsgeschichte der NATO spielte Paris eine durchaus aktive Rolle, auch beim Aufbau der Militärorganisation. Die militärischen Hauptquartiere der NATO für Gesamteuropa und für Europa-Mitte lagen in Paris und Fontainebleau. Die Geschichte der Projektierung und des Scheiterns der EVG indessen zeigte bereits zwei im politischen Bewußtsein der Franzosen latente Elemente, die der engeren Bündniskohärenz im Wege standen: das Streben nach nationalem Status und das auch nach der deutschen Kapitulation 1945 nicht ganz verschwundene Sicherheitsbedürfnis gegenüber den Deutschen. Das erste Element bekam in der Ära des Gaullismus den Wert einer auch die Sicherheitspolitik tragenden Kraft. Der Aufbau einer eigenen Nuklearwaffe fand außerhalb der NATO-Planung statt, ja, Frankreich trat aus der Militärorganisation aus, um vor allem dem Primat der USA zu entgehen, ohne allerdings das Bündnis politisch zu verlassen. Frankreich plante nun eine Verteidigung nach allen Himmelsrichtungen und wollte selbständig abschrecken, ohne ein Potential zu besitzen, das die Sowjetunion lebensgefährlich bedrohen könnte, das aber hinreicht, um einen Konflikt auf die Ebene der nuklearen Kriegführung eskalieren zu können. Die konventionellen Streitkräfte konnten angesichts der Kosten der Nuklearrüstung nur in geringem Umfang beibehalten werden, wobei Teile einer französischen Armee in Deutschland stationiert blieben, allerdings in unmittelbarer Nähe des Rheins. Es blieb die Frage zu beantworten, ob im Falle eines Ost-West-Konfliktes die französischen Truppen an der vorgeschobenen Verteidigung nahe der Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschland teilnehmen oder ob Paris die Bundesrepublik eher als vorgelagertes Glacis betrachtet, in dem ein Angreifer gebremst oder durch—unter Umständen — nukleares „Feuer“ vernichtet wird, in dem aber noch nicht der Kern der eigenen Verteidigung aufgebaut wird. Erst in den letzten Jahren hat Paris wieder eine größere Nähe zur Sicherheitspolitik der anderen gesucht, in der Verteidigungsplanungeher hinter den Kulissen, in der Abrüstungspolitik sogar weltöffentlich. Die im Februar 1980 bekundete Absicht, für die neunziger Jahre einen Kampfpanzer gemeinsam zu entwickeln, bestätigt die Tendenz
Die beiden Flanken mit Norwegen im Norden und der Türkei im Süden waren neben Mitteleuropa schon in der Gründungsgeschichte für die NATO von großer militärstrategischer Bedeutung. Nordnorwegen grenzt an die einzige Wasserstraße, über die russische Schiffe aus dem eisfreien Hafen Murmansk den Atlantik erreichen können. Die Türkei beherrscht den Zugang zum Mittelmeer vom Schwarzen Meer her. Beide Länder waren stets auch als Plattform für vorgeschobene Waffen-und Beobachtungssysteme gegenüber dem sowjetischen Raum für die NATO wichtig. An beiden Flanken gibt es dünnbesiedelte Regionen, die weder in Nordnorwegen noch in der Osttürkei über eine ständige militärische Deckung größeren Umfangs und multinationaler Zusammensetzung wie im Zentrum verfügen. Manches Kriegsausbruchsszenario sieht die Möglichkeit vor, daß der Übergang vom kalten zum heißen Krieg an den Flanken stattfinden könnte, daß dort begrenzte oder auch symbolische Angriffe vorstellbar wären. Die NATO widmet deshalb der Möglichkeit kurzfristiger Verlagerung mobiler Kräfte aus dem Zentrum auf die Flanken einige Aufmerksamkeit und ist an der politischen Stabilität in dieser Region in hohem Maße interessiert
Nicht unmittelbar beeinflußbar, aber für die Sicherheitspolitik des Westens wichtig sind die neutralen Anrainer des Bündnisgebietes. Im Norden haben die Schweden gegenüber der Sowjetunion stets den für die NATO wichtigen Eindruck vermittelt, keine leichte Beute oder schlichtes Durchmarschgebiet zu sein. Im Süden setzt die Schweiz, inmitten des NATO-Gebietes gelegen, die Tradition des unbeugsamen politischen Neutralismus und der uneinnehmbaren militärischen und geographischen Festung fort. Im Südosten beschäftigte sich die NATO immer wieder mit der Frage, ob man im Falle eines Krieges mit einem Angriffskeil nach Süddeutschland rechnen müsse, der aus der Tschechoslowakei und Ungarn heraus zum Teil über österreichisches Staatsgebiet geführt werden könnte. Österreich kann sich wie die Schweiz keine Abschreckungsstreitmacht leisten und aufgrund des Staatsvertrages von 1955 nicht in die NATO eintreten. Es besitzt nicht die Fähigkeit, sich auf einen Krieg mit der Sowjetunion einzulassen mit der Aussicht auf die erfolgreiche Verteidigung gegen einen Großangriff des Warschauer Paktes auf Österreich. Wien hat aber mit einem seinen Kräften angemessenen Konzept der Raumverteidigung eine Militärstrategie entwickelt, die es erlaubt, den militärischen Widerstand unter Ausnutzung der geographischen Möglichkeiten auch mit technisch unterlegenen Kräften so aufzubauen, daß eine handstreichartige Inbesitznahme Österreichs durch einen Angreifer nicht möglich ist. Zumindest kann das österreichische Bundesheer einen großangelegten Durchmarschversuch es Warschauer Paktes so stören, daß ein blitArtiger Angriff auf die NATO im süddeut-sehen Raum auf diesem Wege kaum möglich erscheint
Der sicherheitspolitische und militärstrategische Spielraum der kleinen Staaten des War-schauer Paktes ist geringer als der vergleichbarer NATO-Staaten, zumal der multilaterale Vertrag von Warschau durch bilaterale Verträge der Sowjetunion mit den Staaten des Vorfeldes unterlegt ist. Eine Selbständigkeit wie die Frankreichs innerhalb des Bündnisses ist kaum vorstellbar, wenngleich die Einzel-gänge Rumäniens bis hin zur Weigerung Ceaucescus, die Militärausgaben zu erhöhen durchaus Anklänge an die Rolle Frankreichs im westlichen Bündnis aufweisen. Betrachtet man vom Standpunkt der westlichen Sicherheitsinteressen aus die Rolle der osteuropäischen Staaten im Warschauer Pakt im Hinblick auf eine offensive Militärstrategie dieses Bündnisses in seiner Gesamtheit, so kann man trotz integrierter Manöver des Paktes und der Annahme einer beim sowjetischen Generalstab zentralisierten Führung von einer Relativierung der militärischen Fähigkeit durch politische Faktoren ausgehen.
Das Nationalitätenproblem stellt bereits eine Innenbelastung der Sowjetunion dar; erst recht muß der Faktor nationaler Sonderinteressen die Handlungsfähigkeit des Warschauer Paktes beeinflussen. Staaten wie etwa Polen und Ungarn verfügen über eine Tradition nationaler Identität, die nicht jünger ist als die russische. Die Streitkräfte können nicht gänzlich vom politischen Identitätsbewußtsein der jeweiligen Landesöffentlichkeit abgesondert werden; sie waren oft genug gerade die offenen oder versteckten Träger des Nationalbewußtseins. Der Aufstand in Ungarn 1956 wurde ganz wesentlich von den Streitkräften des Landes genährt, und die Größe der War-schauer-Pakt-Intervention 1968 in der Tschechoslowakei zeigt, daß Moskau sich der Haltung der tschechoslowakischen Armee kei-neswegs sicher sein konnte. Polens alte nationale Gegnerschaft zum großen Nachbarn im Osten dürfte bei allen Sowjetführern unvergessen sein.
Sollte es Generalpläne des Warschauer Paktes für ein militärisches Vordringen nach Westen geben, so wären die verbündeten Truppen der Mitgliedsländer außerhalb der Sowjetunion nur unter Bedingungen und Beschränkungen für Moskau als feste Größen einzuplanen. Dies dürfte selbst für die DDR gelten, deren Streitkräfte aufs engste mit den sowjetischen verbunden sind. Das Legitimations-und Identitätsdefizit der DDR weist der nationalen Volksarmee eine herausragende Rolle zu im Rahmen der Sicherung nach außen, im Verein mit den paramilitärischen Verbänden auch nach innen und im Rahmen des staatlichen Erziehungskonzeptes im Hinblick auf die Erzeugung eines DDR-Staatsbewußtseins. Alle bramarbasierenden Töne von DDR-Militärführern können nicht verdecken — wenn sie nicht geradezu darauf hinweisen —, daß die deutsche Frage noch virulent ist und die Soldaten der NVA von den Medien der Bundesrepublik ständig erreicht werden.
Als Angriffsspitze eignen sich die nichtrussichen Warschauer-Pakt-Armeen nicht, als „zweite Welle" sind sie zum Teil und allenfalls bei sehr eindeutigen und durchschlagenden militärischen Erfolgen der Sowjettruppen vorstellbar. Ebenfalls denkbar wäre in den Kriegs-wirren ein Abfall einzelner oder aller Satellitenstaaten von Moskau. Eine militärische Offensive des Warschauer Paktes nach Westen würde, auch wenn sie als zuvorkommende Verteidigung deklariert wäre, angesichts der Fähigkeit der NATO, einen handstreichartigen Vorstoß auf den Rhein zu verhindern, das Risiko in sich bergen, daß die Sowjetunion den Satellitengürtel verliert, das heißt ihren Sicherheitsstatus gegenüber dem Westen drastisch verschlechtert
4. Militärstrategische Interessen der Bundesrepublik Deutschland Die militärstrategische Situation der Bundesrepublik Deutschland ist, was die Quellenlage anbelangt, zuverlässiger zu analysieren als die der DDR oder anderer Ostblockstaaten Schwierigkeiten bereitet bei der engen Einbindung in das Bündnis die Isolierung spezifisch deutscher Positionen. Sie sind dezidiert und ausdrücklich bislang nur in der Phasevor dem NATO-Beitritt nachweisbar In da Himmeroder Denkschrift von 1950 entwarler die Militärexperten Adenauers ein an die Kriegführung des Zweiten Weltkrieges erinnerndes, großflächiges Gemälde von der militärischen Lage, das den gesamten europä sehen Kontinent mit angrenzenden Regionei umfaßte, um schließlich für die Bundesrepu blik zur Forderung nach einer Verteidigun soweit wie möglich ostwärts des Rheins zt kommen Diese Position war aus deutsche Sicht angesichts der westlichen Planung ver ständlich und zog die Forderung westliche Truppenverstärkung und der Aufstellun, zwölf deutscher Divisionen nach sich. Der in der Himmeroder Denkschrift ebensi wie in Politiker-Reden — selbst des Opposi tionsführers Schumacher — zu beobachtend revisionistische Unterton, im Falle eines Krie ges die Kampfhandlungen schnellstmöglichii die sowjetisch besetzten Gebiete hineinzutra gen stand im Gegensatz zu der den Lage beurteilungen zugrunde liegenden Annahm einer exorbitanten sowjetischen Militärübel legenheit Die militärstrategische Aufe sung der führenden operativen Köpfe unter den Militärexpertten Heusinger und Speidel, daß ein Abwehrkampf in beweglichen Operationen mit Gegenangriffen in die Flanken eines Angreifers geführt werden müsse, um die zahlenmäßige Unterlegenheit durch Überlegenheit der Kampfführung auszugleichen, deckte sich mit der NATO-Auffassung, hat sie wohl auch mitbeeinflußt. Das Alternativkonzept einer statischen Verteidigung in der Nähe der Ostgrenze, wie es der Oberst von Bonin im Amt Blank formuliert hatte wurde 1955 ausdrücklich abgelehnt, der Oberst entlassen.
Sowohl die Nuklearstrategie der Massiven Vergeltung als auch die der abgestuften Erwiderung lösten anfänglich in Bonn Verwirrung aus. Im einen Fall widersprach die Ersetzung von Truppen durch Nuklearwaffen den Bonner Vorstellungen über Verteidigung, im anderen Fall löste die Wiederherstellung der Funktion konventioneller Truppen im Abwehrkonzept beim deutschen Verteidigungsminister Ängste über die Verläßlichkeit der nuklearen Abschreckung durch die USA aus Unterdessen hatten aber deutsche Militärs im NATO-Rahmen längst das Konzept der Abgestuften Erwiderung mit der Fähigkeit, auf den unteren Stufen der Eskalation einen konventionellen Abwehrkrieg zu führen, gefordertund schrittweise eingeführt Damit verband sich die aus deutscher Sicht wichtige Vorverlegung der ersten Verteidigung an die Ostgrenze der Bundesrepublik — zunächst als V orwärtsverteidigung" bezeichnet und später in . Vorneverteidigung" abschwächend umbenannt.
Innerhalb der NATO-Militärstrategie formuert die Bundesregierung heute eine militär-strategische Konzeption, die die Aufgaben-
Stellung der Bundeswehrverbände und die NATO-Kampfführung auf deutschem Territorium präzisiert und die deutschen Interessen hierbei zum Tragen bringen soll.
Die Bundeswehr hat im Rahmen der NATO-Strategie vor allem die Aufgabe, mit ihrem Feldheer als integrierte NATO-Streitkraft grenznah zu verteidigen, mit ihrem nationalen Territorialheer in der rückwärtigen Kampf-zone die Operationsfreiheit der NATO-Verbände zu sichern, mit ihrer Luftwaffe im NATO-Verbund neben der Luftverteidigung den gegnerischen Heeresverbänden den Anmarsch abzuschneiden und mit der Marine — neben der Küstenverteidigung — den Kriegsschiffen des Warschauer Paktes den Austritt aus der Ostsee in den Atlantik zu verwehren Die operative Führung liegt bei den integrierten Kommandostellen der NATO. Die politische Führung eines Krieges vollzieht sich hauptsächlich über die Gremien der NATO. Hier sind auch die technischen und institutioneilen Voraussetzungen für die politische Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses in Krisensituationen geschaffen worden. Das Krisenmanagement bezieht sich bis heute allerdings in erster Linie auf die bündnisinterne Entscheidungsbildung über Signale und militärische Maßnahmen gegenüber dem Gegner, noch kaum auf die Krisenkommunikation mit ihm. 5. Die Bündnisrolle der NATO Das westliche Bündnis selbst hat im Laufe seiner Geschichte immer mehr auch Subjektcharakter bekommen, obwohl es sich bei der NATO im Vergleich zur supranational geplan-ten EVG um ein eher traditionelles Verteidigungsbündnis handelt. Die Bündniswirklichkeit mit gemeinsamen Oberkommandos, die auch im Frieden handlungsfähig sind und die operative Führung sowie die Ausbildungskontrolle über die assignierten Verbände, darunter alle Bundeswehrdivisionen, innehaben, geht allerdings weit über vorher bekannte Bündnissysteme hinaus. Trotz der amerikanischen Prädominanz und der regelmäßigen Besetzung des Oberkommandos in Europa („SACEUR“) durch das Pentagon hat sich eine Übung der multilateralen Willensbildung entwickelt, die zwar gelegentlich zu Verzögerungen geführt hat — Flexible Response, zu Beginn der sechziger Jahre formuliert, wurde erst 1967 offizielle NATO-Strategie —, die aber durch Konsens auf der Bündnisebene die politische Handlungsfähigkeit des Bündnisses bewirkt. Diese Handlungsfähigkeit ist eine der Voraussetzungen für die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsdrohung und die Fähigkeit zum Krisenmanagement.
In den europäischen Sicherheitskonferenzen KSZE und MBFR hat das Bündnis gelernt, selbst während des Verhandlungsvorganges eine gemeinsame politische Willensbildung und Verhandlungsführung herbeizuführen. In der Phase der Entspannungspolitik hat die NATO zudem ihre Rolle als nicht nur militärisches, sondern vor allem politisches Bündnis bekräftigt und ausgebaut. Seit dem sogenannten Harmel-Bericht an die NATO 1967 und die darauf folgenden Beschlüsse des NATO-Rates verfolgt das Bündnis ausdrücklich eine politische Doppelstrategie der Wahrung der Verteidigungsfähigkeit bei Entwicklung politischer Entspannung. Mit der aktiven Beteiligung an dem Versuch kooperativer Rüstungssteuerung in Europa ist dieser Ansatz konkretisiert worden.
Die NATO besitzt gegenüber dem War-schauer Pakt den politischen Vorteil der Legitimation durch demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen und den militärstrategischen Vorteil der äußeren Linie, sie muß jedoch den geographischen Nachte der Ausdehnung des Bündnisgebietes über den Atlantik hinweg ausgleichen. Alle militärstrategische Planung der NATO betont deshalb den Faktor der Beweglichkeit, der Medien Luft und Wasser sowie das Postulat der Einheit des Bündnisgebietes. Eine Abkoppelung Nordamerikas, der USA und Kanada, von Westeuropa würde dem Bündnis nicht nur seine politische, sondern auch seine militär-strategische Grundlage entziehen. Die NATC geht heute davon aus, daß die militärstrategische Konzeption des Warschauer Paktes in Europa offensiv ausgelegt ist. Die östlicher Streitkräfte seien so gerüstet und gegliedert daß sie im Falle eines Krieges einen raumgreifenden Durchbruch nach Westen versuchet können. Die politische Absicht einer Aggres sion sei damit nicht unterstellt. Die militari sehe Führung werde aber gleich bei Beginn ei nes Krieges die Initiative zu gewinnen suchen Um einen Krieg durch Abschreckung zu ver hindern, will die NATO mit ihrer Militärstra tegie der flexiblen Reaktion jedes Angriffskai kül mit einem untragbaren Risiko verknüp fen
Das westliche Bündnis will zum einen in di rekter und grenznaher Verteidigung einen Aggressor den angestrebten Erfolg mit Mit teln, die den von ihm eingesetzten entspre chen, verwehren, vor allem schnelle Vorstoß'einer „faits accomplis" -Strategie unmöglic machen. Reicht eine Verteidigung mit kon ventionellen Waffen nicht hin, können nukle are Waffen zum Einsatz gelangen. Zum zwei ten soll in einer vorbedachten Eskalation de Kampf mit nuklearen Waffen und räumlic ausgeweitet werden, um den entschlossene Willen unter keinen Umständen nachzuge ben, zu demonstrieren und den Angreifer a besonders empfindlichen Stellen zu treffel Schließlich droht dem Aggressor zum dritte die allgemeine nukleare Reaktion gegen str tegisches Potential, Industrie-und Bevölke rungszentren. Diesen als Abfolge oder zu gle eher Zeit angedrohten militärischen Hane lungsmöglichkeiten entspricht die NATC Einteilung der Streitkräfte in 1. nuklear-strat gische, 2. nukleare Kräfte in und für Europa und 3. konventionelle Kräfte. Die USA versuchen seit einigen Jahren, die Drohung mit dem unbegrenzten strategischen Schlag auf der ersten Stufe dieser Triade, die wegen der verheerenden Folgen auch selbstabschreckend wirkt, aufzufächern in Möglichkeiten des ausgewählten und damit begrenzten Einsatzes („Selektive Option") Die NATO strebt zur Zeit eine Modernisierung der nuklearen Einsatzmittel für den europäischen, d. h. taktischen und regionalstrategischen Einsatz an. Zur Stärkung der untersten Ebene der Triade hat das Bündnis ein „langfristiges Verteidigungsprogramm" beschlossen. Dabei ist für die Realisation des NATO-Konzepts der Vorne-Verteidigung und für die deutschen militärstrategischen Interessen die Verbesserung der Panzerabwehrfähigkeit, der Aufklärungsfähigkeit und der Fähigkeit zur Zuführung von Truppen aus den Vereinigten Staaten Von besonderer Bedeutung.
Die Rüstungsdebatte der NATO im Herbst 1979 hat nicht nur das sicherheitspolitische Dilemma der Westeuropäer deutlich hervortreten lassen, sondern damit auch ein Grundproblem der NATO neu aufgeworfen: die partielle Interessendivergenz der Bündnispartner diesseits und jenseits des Atlantiks. Das Problem liegt für das Bündnis darin, daß die bei aller Gemeinsamkeit der Grundinteressen dennoch vorhandenen Divergenzen nicht in politischer Diskussion ausgetragen und in ein für die Amerikaner ebenso wie für die Europäer schlüssiges Bündniskonzept eingearbeitet sind. Die häufig beschworene Bündnissolidarität impliziert nicht nur die Rücksichtnahme der kleineren Partner gegenüber der als Fühnungsmacht anerkannten Vormacht, sondern auch z. B. die Abschätzung der Zumutbarkeit von bestimmten Rüstungsvorhaben der Fühpngsmacht für die kleineren Staaten im undnis. Die Europäer werden ihre Interessen ggenüber den USA deutlicher artikulieren und die Amerikaner werden ihre Wahrnehmungsfähigkeit für europäische Probleme 8 ärfen müssen. Die Funktionsfähigkeit des bnndnisses hängt nicht nur von der Führungsdhigkeitder Vormacht, sondern auch von den Mitsprachemöglichkeiten der kleineren Partner ab, d. h. von der Teilnahme der Betroffenen an der Willensbildung über das, was sie betrifft. Es trübt die Bündnis-Kohärenz, wenn die Amerikaner in einer schwierigen Situation lediglich kritisiert werden und sie das als schwindende Loyalität auslegen. Es fördert aber den Zusammenhalt, wenn die Europäer ihre Sicherheitsinteressen ausdrücklich definieren und diese in den Willensbildungsprozeß der NATO einbringen. 6. Gleichgewicht — Stabilität Heute besteht zwischen NATO und War-schauer Pakt die wechselseitige Wahrnehmung des Gleichgewichtes der Kräfte und der strategischen Stabilität. Keine Seite des Ost-West-Konfliktes lebt in der Erwartung eines Angriffsvorhabens der anderen Seite. Die Abschreckungsdrohung ist wechselseitig wirksam und die Entspannungs-Diplomatie hat durchaus zu einer gewissen Vertrauensbildung geführt — und dennoch belauern sich die Kontrahenten gegenseitig in der Furcht, es könnten einer Seite offensive Möglichkeiten zuwachsen. Trotz Entspannung hat sich die Rüstungsproduktion in den beteiligten Ländern wenigstens auf demselben Niveau gehalten. Das fortgesetzte Wettrüsten und die qualitativen Sprünge werfen den Schatten der strategischen Destabilisierung in die achtziger Jahre voraus. Zahlenmäßiges Gleichgewicht und Stabilität sind nicht als identische Größen anzusehen.
Die wechselseitige Schadensandrohung auf allen Ebenen der Waffentechnik und in allen Regionen läßt heute kein Kalkül zu, das im Ost-West-Konflikt durch Krieg ein Ergebnis verspricht, dessen Gewinn nicht durch die Kosten mehrfach aufgehoben wird. Auf keinem Felde des Machtinteresses — sei es die Wirtschaft, die Herrschaftssicherung, die Einflußmöglichkeit — kann durch Krieg ein Vorteil oder Gewinn erworben werden, der die wahrscheinlichen Verluste rechtfertigen könnte. Die vitalen Interessen der hochindustrialisierten NATO-Mitglieder lassen jegliche Kriegsplanung nicht zu. Seine Zusammensetzung macht das Bündnis zur Aggression politisch unfähig. Aus der Sicht der Sow tunion betrachtet, ist der Handel mit der westlichen Wirtschaft ungleich wertvoller als der Besitz eines zerstörten oder entvölkerten Ruhrgebietes, versprechen das Vorfeld abhängiger Staaten und die politische Stabilität in Westeuropa für die Sowjetunion weniger Unsicherheit als die neuerliche Zerschlagung des europäischen Staatensystems, lassen sich weltweite Präsenz und Einflußmöglichkeiten der sowjetischen Marine nur im Friedenszustand mit den USA realisieren. Im Ost-West-Konflikt gibt es nu noch eine vorstellbare Möglichkeit für eine Kriegsausbruch: die Angstreaktion in eine unbeherrschten Krise, der Versuch, milita risch zuvorzukommen aus Furcht, mit Reaktio nen militärisch zu spät zu kommen, die Fluch nach vorne — eine irrationale, aber im indiv duellen und sozialen Verhalten des Mensche: bekannte Reaktion.
IV. Das Eigengewicht des Technischen
Rüstungsforschung und Waffentechnik haben sich unabhängig vom sicherheitspolitischen Rahmen und von den militärstrategischen Planungen weiter entwickelt. Technisches Vermögen wächst der Gesellschaft nicht als Ausfluß politischen Wollens und strategischen Denkens zu: Politiker und Militärs setzen eher umgekehrt die vorgegebenen Daten technischer Entwicklung und die damit verbundenen ökonomischen Interessen in Strategien um. Angesichts der Geschichte der Nuklear-strategien und zu Beginn einer neuen Strategie-Debatte muß die Frage gestellt werden, inwieweit Militärstrategien und Abschrekkungs-Doktrinen im Ost-West-Konflikt nachträgliche Rationalisierungen technischer Innovationen der Rüstungsindustrie darstellen. 1. Wirkungen neuer Technologien Die beiden entscheidenden rüstungstechnischen Schritte des Nuklearzeitalters waren zuerst die Herstellung der Nuklearsprengkörper selbst und dann die Fähigkeit, sie über mehrere tausend Kilometer ins Ziel zu bringen. In Verbindung mit der technisch realisierten Fähigkeit zum „zweiten Schlag“ ist ein strategisches System der Drohung und Gegen-drohung entstanden, das unter diesen Bedingungen stabil erscheint, durch neue technische Bedingungen aber destabilisiert werden kann. Gegenwärtig erreicht die Rüstungstechnik ein neues Qualitätsniveau, das man mit den Faktoren Schadenswirkung und Treffgenauigkeit kennzeichnen kann. Die Schadens-wirkung der nuklearen Massenvernichtungswaffen wird, bezogen auf die einzelnen
Sprengköpfe, vermindert und in den einzelne Wirkungskomponenten spezifiziert. Gleich zeitig wächst die Zerstörungswirkung konver tioneller Waffensysteme, die ihre zerstörend Wirkung auch flächendeckend entfalten kör nen
Die Kluft zwischen der Waffenwirkung m klearer und konventioneller Systeme verrir gert sich. Die Treffgenauigkeit der System, welche die Sprengkraft ins Ziel bringe: wächst auf allen Ebenen drastisch, da ma heute die verschiedenen Flugkörper noch! der Endphase des Fluges vor dem Auftreffe im Ziel lenken kann. Ballistische Raketen st wohl der globalstrategischen als auch der regionalstrategischen Reichweite können im Ziel mit Abweichungen von weniger als 100 Metern so genau treffen, daß die für die ZerStörung eines bestimmten Zieles erforderliche Sprengkraft des nuklearen Sprengkörpers verringert werden kann und dennoch die militärisch beabsichtigte Zerstörungswirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht wird. Konventionelle, insbesondere Panzerabwehrwafien treffen zunehmend punktzielgenau, so daß die anzunehmenden Trefferquoten steigen. Die gesteigerte Zielgenauigkeit der Waffen wird durch die verbesserten Aufklärungsmöglichkeiten zur Zielerkennung und Zielortung via Satellit, Flugzeug und elektronischer Kampfführung noch wirkungsvoller. Anzumerken bleibt, daß die Inanspruchnahme des Raumes unter der Wasseroberfläche wegen der Bedeutung als Startplatz für strategische Raketen und des Raumes über der Erdatmosphäre wegen dessen mehrfacher Bedeutung für den Einsatz strategischer Waffen als Kampfraum fortschreitet Hier dürfte der ibernächste Innovationsschub und Destabilisierungsschritt zu erwarten sein.
Der gegenwärtige Trend der technischen Entwicklung zu kleineren, zahlreicheren, zielgelaueren, beweglicheren und deshalb weniger verwundbaren Waffensystemen hat zur Folge, daß die Schadenswirkung begrenzter und gezieltergeplant werden kann und daß die Grenzen zwischen den globalstrategischen, regiolaistrategischen und konventionellen Streitkräfte-Kategorien verschwimmen. Damit können die im westlichen Denken fester als im östlichen Denken verankerten Grenzen zwischen Abschreckung und Kriegführung undeutlich werden. Es ist vorstellbar, daß die heute zunehmend wirksamen technischen aktoren die technisch ermöglichte und stratsgisch erwünschte Fähigkeit der wechselsei“ gn Zerstörung untergraben und damit das mühsam hergestellte Balance-System der gegenseitigen Abschreckung in Frage stellen.
Rlexibilität, Präzision und Selektivität der an? ^rohten_Vernichtungswirkung können nerseits die abschreckende Wirkung erhöhen, andererseits aber gleichzeitig eine Voraussetzung der Abschreckungswirkung in Frage stellen, wenn die Entwaffnung des Gegners möglich erscheint oder wenn durch „zuvorkommenden Waffeneinsatz" entscheidende Vorteile erreichbar erscheinen. Daraus könnte weiter der Zwang abgeleitet werden, schnell zu reagieren, mit der Folge, daß Automatismus an die Stelle politischer Entscheidung tritt. Die abschreckende Wirkung der Eskalationsfähigkeit setzt aber die Zeit zu politischem Handeln, zur Abgabe von Signalen und zur Reaktion auf Signale voraus. Schließlich wirkt die rüstungstechnische Innovation nicht nur auf das System der Abschreckung, sondern auch auf die Ansätze zur kooperativen Rüstungssteuerung destabilisierend, denn Abkommen, die einen bestimmten Standard der Rüstungstechnik begrenzen, werden obsolet, wenn die so beschränkte Waffenwirkung durch neue technische Entwicklungen auf einem noch nicht durch Vereinbarungen erfaßten Feld ersetzt werden. 2. Ursachen des Weiterrüstens Die Gründe für das fortgesetzte Rüsten, die dem Rüstungsprozeß immanenten Triebkräfte, sind nicht auf eine Ursache zurückzuführen. Beziehungsmuster zwischen den Blöcken des Ost-West-Konfliktes ergänzen sich mit Innen-faktoren der Bündnisse sowie der Politik-und Wirtschaftssysteme einzelner Länder und addieren sich zu einer Dynamik des fortgesetzten Rüstens, die bislang als nahezu unbeeinflußbar erscheinen muß. Die im Konflikt selbst angesiedelten intersystemaren Faktoren sind schwer mit einem Aktions-Reaktionsschema zu erklären, da im Längsschnitt durch die Entwicklung kaum Herausforderungen und Antworten im einzelnen und unabhängig von Rechtfertigungskonstruktionen zu identifizieren sind. Die vergleichbaren technischen Standards der großen Beschaffungsprogramme in Ost und West sind im zeitlichen Ablauf gegeneinander phasenversetzt. Der Analytiker ist versucht, seine Hilflosigkeit mit dem Bild von der Henne und dem Ei zu überdecken. Es wird Überlegenheit gesucht und verteidigt. Es wird Unterlegenheit verschleiert und überwunden. Es werden durch „Vorrüsten" und „NachrüB sten", d. h. „Aufrüsten", Verhandlungspositionen aufgebaut. Jede Seite versucht, Vorteile zu maximieren, was auf die Maximierung von Nachteilen auf der Gegenseite hinausläuft. Da die Gegenseite ebenfalls weiterrüstet, betreiben alle eine Politik der Stärke, die im Laufe der Zeit hohe Kosten verursacht, ohne die Gewinnerwartung befriedigen zu können. Nicht das sicherheitspolitische Optimum, sondern das rüstungspolitische Maximum scheint bislang das Ziel zu sein.
Welche Rolle Bedrohungsvorstellungen bei der Begründung von Rüstungsproduktionen tatsächlich spielen, ist schwer nachzuweisen, zumal zwischen den realen Faktoren und deren subjektiver Wahrnehmung zu unterscheiden ist. Unbestritten ist die Funktion der angenommenen Bedrohung für die Legitimation von Beschaffungsentscheidungen nach innen wie nach außen. Es scheint eine „Internationale“ mit der Beobachtung und Beurteilung der „Feindlage" betrauten Offiziere und Beamten zu geben, mit deren Zahlen und Urteilen über früher beschlossene und gegenwärtig eingeführte Waffensysteme der Gegenseite die heute zu beschließenden und künftig einzuführenden Waffensysteme der je eigenen Rüstung begründet werden, was dann zum spiegelbildlichen Vorgang auf der anderen Seite führt. Für das zu fordernde Rüstungsniveau wird der schlechteste Fall der eigenen und der beste Fall der gegnerischen Möglichkeiten angenommen. Dieses „worst-case" -Denken wird als Realismus bezeichet, und Kritiker der Methode erscheinen als uninformiert oder inkompetent. Politiker befinden sich in der Falle des Informationsmonopols. Dieser Prozeß wurde im Ost-West-Konflikt bislang nicht durchbrochen. Die Abhängigkeit der politischen Entscheidung vom Expertenurteil zeigt sich bei jeder öffentlichen Erörterung von Beschaffungsbeschlüssen erneut.
Darüber hinaus wirken auf den Rüstungsprozeß ökonomische Interessen ein, die vom Waffenexport über Arbeitsplatzsicherung und bündisinterne Konkurrenz-oder Kooperationsverbindungen bis zur Annahme von zivil-wirtschaftlichen Verwertungen der Ergebnisse aus der Rüstungsforschung reichen — und die man seit Eisenhower gemeinhin als militärisch-industriellen Komplex bezeichnet -Diese Etikettierung ist allerdings un vollständig, da sie den bürokratischen undfis kalischen Anteil am Rüstungsprozeß nichtberücksichtigt. Die Militäradministrationen in West und Ost dürften einen erheblichen Anteil an der Fortschreibung der Rüstungsproduktionen haben Der Status einer bestimmten Bürokratie in politischen System richtet sich nicht zuletzt nach dem Haushaltsanteil, den sie zu verwalten hat. Die Statusfunktion dürfte im sowjetischen Regierungssystem im besonderer Maße wirksam sein, sie ist aber auch in westlichen Ländern zu beobachten. Betrachtet man etwa in der Bundesrepublik die Verteilung von Rüstungsausgaben auf die verschiedenen Teilstreitkräfte der Bundeswehr, so ist der Statuskampf nicht zu übersehen. Er führt auch zum fiskalischen Faktorhin. Verfolgt man z. B. die Planung der Flugzeug-Generationen der Bundesluftwaffe, so zeigt sich, daß die Forderung nach einem „Taktischen Kampfflugzeug" für einen Zeitpunkt (neunziger Jahre) erhoben wird, zu dem das gegenwärtig geplante und noch gar nicht ein satzfähige Kampfflugzeug „Tornado" vollständig beschafft sein wird. Der einmal erreichte Teilstreitkräfte-Anteil am Haushalt soll kontinuierlich erhalten bleiben.
Die Rüstungshaushalte der am Ost-West-Konflikt beteiligten Länder zeigen während der Dauer dieses Konfliktes eine vom Konfliktver lauf erstaunlich unabhängige Konstanz Auch in der Entspannungsphase des Konflis tes ist keine gravierende Veränderung der Haushaltsentwicklung zu bemerken. In der NATO erfolgt die Steuerung des als notwendig erachteten Rüstungsniveaus gegenwärtig direkt über den Haushalt. Die im langfristigen Verteidigungsprogramm beschlossene Erhöhung der Kampfkraft ist nicht primär in militärischen Fähigkeiten ausgedrückt, sondern in dem vereinbarten Satz von 3 Prozent, um den die Verteidigungshaushalte der Mitgliedsländer real erhöht werden sollen In den Grenzen der Verteidungshaushalte scheint die einzige Beschränkung der Rüstungsentwicklung zu liegen. Der Haushalt ist Stimulans und Regulans der Rüstung zugleich.
Mit dem militärischen Zweck und dem sicherheitspolitischen Ziel steht dies alles in einem nur mittelbaren Zusammenhang. Soll Kooperative Rüstungssteuerung den Vorgang beeinflussen, muß sie die Mechanismen des Weiterrüstens und die Abläufe von der Forderung über die Planung bis zur Einführung berücksichtigen. Vereinbarungen, die auf der Basis und zum Zeitpunkt des Zulaufes von neuen Waffensystemen in die Truppe getroffen werden, können den Prozeß nicht mehr beeinflussen. Wer die Rüstungsproduktion steuern und die Rüstungsvermehrung bremsen will, muß den Zeitpunkt der Verhandlung auf die Erkenntnisse der technischen Innovation oder den Zeitpunkt der Vereinbarung auf die Entscheidung über die Produktion vorverlegen.
Rationales politisches Handeln setzt zuverlässige Informationen voraus. Fließen spezifische Interessen nicht erst in den politischen Entsheidungsvorgang, sondern schon vorher in die Informationsgewinnung und Informations-Aufbereitung ein, ohne für die Abnehmer enntlich zu sein, so findet die Willensbildung " eht im Raum demokratisch-legitimiertenandelns, sondern weitgehend bereits im administrativen Bereich statt, wo die Daten gesetzt werden. Eine Kontrolle gar des exekutiyen Handelns insgesamt durch das Parlament t kaum möglich. Die öffentliche Debatte i ieblich findet unter der Voraussetzung “"'genommener, nicht überprüfbarer Daten s att. Bedrohungsvorstellungen erhalten sich als Produkt aus politischen Vorurteilen und magischen, weil unbefragt vorgefundenen Waffenzahlen. Zur Beschränkung dieser Abhängigkeit müssen die Methoden der Informationsgewinnung selbst national, bündnisintern und international überprüft, offengelegt und schließlich international vereinbart werden. Rüstungskontrolle bedarf der Aufklärung über die Rüstungswahrnehmung. 3. Militärstrategien zwischen Abschreckung und Kriegsführung Militärstrategien sind, wiewohl ihrerseits vom Technischen abhängig, Instrument. Die historische Erfahrung lehrt, daß auch dieses Instrument das politische Ziel dominieren, ja verdrängen kann. Der Beitrag etwa des Schlieffen-Plans in der Hand des deutschen Generalstabes zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kann auch im Nuklearzeitalter noch zur Warnung der Sicherheitspolitiker vor Plänen dienen. Vom Wortsinn entfernt dient Strategie für die ins Nuklearzeitalter eingetretenen Mächte nicht mehr einfach der tatsächlichen Heerführung, also der Vorbereitung auf einen Krieg, sondern der Verhinderung des Falles, dessen Plan sie enthält. In diesem Widerspruch kann aber die Aufhebung ihres Zwekkes begründet liegen; zumindest enthält er den Rückverweis auf die Handlungsverantwortung des Politikers. Der Widerspruch zwischen der antizipierten Kriegführung und der intendierten Kriegsverhinderung zwingt die Strategen zum Weiterdenken und die Politiker zum kriegsvermeidenden und krisenbeherrschenden Handeln.
Es gibt keine Planung und keine Streitkräfte, die durch ihre bloße Existenz Sicherheit gewährleisten. Die von Schlieffen oder Maginot erdachte Mechanik hat den Sieg ebensowenig erbracht wie eine Mechanik der Abschrekkung den Krieg auf Dauer verhindern wird. Das gilt erst recht dort, wo die Abschreckungs-Doktrin nicht einmal in sich widerspruchsfrei gehalten werden kann. Wenn der angedrohte Schaden das zu sichernde Gut fundamental gefährdet, ist die Gegenabschreckung sichtbar wirksam. Die Drohung schreckt nicht nur den Bedrohten, sondern auch den Drohenden ab, womit die Glaubwürdigkeit der Drohung erschüttert ist. Wenn sich innerhalb der Ab-schreckungspolitik eines Bündnisses verschiedene politische Interessen und unterschiedliche Gefährdungsgrade verbergen, ohne ausdiskutiert und in der Doktrin verarbeitet zu sein, dann finden sich Ansätze für Gegendrohungen, welche die Abschreckungsdrohung in für den Bedrohten mindergefährdende Bestandteile zerlegen können. Wenn die Waffensysteme beider Seiten für die jeweilige Gegenseite identifizierbar und in ihrer Zahl überschaubar sind, gleichzeitig aber präzise ins Ziel der gegnerischen Waffensysteme gelenkt werden können, dann kann die Möglichkeit zuvorkommender Entwaffnung die Abschreckungswirkung fraglich erscheinen lassen. Wenn schließlich Drohpotentiale zum Zwecke der lückenlosen Abschreckung so verfeinert werden, daß die Kriegführung begrenzter Größenordnung möglich erscheint, dann sind Regional-oder Stellvertreterkriege vorstellbar, die von den am Krieg beteiligten Nuklearmächten einverständlich im Waffen-gebrauch nach oben begrenzt werden. Abschreckung wäre nur noch für strategische Waffen, die das jeweilige Mutterland der Führungsmacht verwüsten können, wirksam. 4. Das Exempel: „Nachrüstung"
Die im Jahre 1979 unter den Schlagworten „Nachrüstung", „TNF-Modernisierung", „SS 20" und „Pershing II" geführte Diskussion, hinter der sich in Wahrheit eine umfassende europäisch-amerikanische Strategiedebatte und eine west-östliche Sicherheitsdiskussion verbergen, offenbart die gegenwärtige Sicherheitsproblematik der Europäer in allen ihren Dimensionen, der rüstungspolitischen wie der rüstungskontrollpolitischen, der militärstrategischen, der militärgeographischen, der ökonomischen und der ökologischen. Der Westen bezeichnet die „SS 20" genannte, durch größere Zielgenauigkeit, Mehrfachsprengkopf und Beweglichkeit der Abschußrampen modernisierte sowjetische Mittelstreckenrakete als Durchbruch auf eine neue Stufe der Rüstungsqualität: Der Sowjetunion eröffneten sich damit neue, nicht weiter spezifizierte militärische Handlungsmöglichkeiten (Optionen) gegenüber Westeuropa. Die USA haben gleichzeitig neue Waffensysteme für den Mittelstreckenbereich entwickelt: die Mittelstrekkenrakete „Pershing II" und den sogenannte Marschflugkörper „Cruise Missile", mit denen hinsichtlich Treffgenauigkeit gleich die nächste technische Qualitätsstufe erreicht ist Dit amerikanische „Pershing II" und die sowjetische „SS 20" dürften unabhängig vonein ander entwickelt und erst in der öffentliche! Debatte zueinander in Relation gesetzt Wor den sein. Anders als die „SS 20" erreicht die „Pershing II" jedoch eine neue Reichweitendimension im Vergleich zur „Pershing I", die nui auf dem Gefechtsfeld, nicht aber gegen Ziele in der westlichen Sowjetunion einsetzbar ist während die sowjetische „SS 5" schon bisher aus der Sowjetunion bis Westeuropa schießen konnte. Die neuen Systeme beider Seiten können nicht mehr aufgrund der mangelnde! Treffgenauigkeit und Reichweite sowie der hohen Sprengwerte nur zum Zwecke der Vergeltung gegen Bevölkerungs-oder Industriezentren, sondern nun auch gegen militärische Ziele zur Entwaffnung bzw. bei begrenzter Stückzahl oder begrenzter Reichweite zurteilweisen Entwaffnung des Gegners in der Region Europa benutzt werden. Es erscheint trotzdem fraglich, ob sich daraus neue militärische Handlungsmöglichkeiten ergeben. Die Erstschlagfähigkeit zur völligen Entwaffnung des Feindes setzt entsprechende Reichweiten, große Treffgenauigkeit, Eindringfähigkeit, geringe Vorwarnzeit und große Stückzahlenvoraus, also das Fehlen der Vergeltungsfähigkeit durch Zweitschlag beim Gegner.
Eine besondere Möglichkeit der politischen Erpressung kann sich aus einer bestimmten Waffe nicht ergeben, wenn ihr Einsatz mit Sicherheit einen Krieg auslösen würde. Es is vielmehr die Frage zu stellen, ob durch die Tatsache, daß es sich um eine weitere Drehung der Rüstungsspirale handelt, einer Seite ode beiden Seiten mit neuen Waffensystemen neue Handlungsmöglichkeiten zuwachsen Beide Seiten behaupten das von der Gegense te. Der Westen erklärt, die Sowjetunion könne zum ersten Mal mit zielgenauen und bewegchen, also nur zuvorkommend bekämpfbare Mittelstreckenraketen militärische Ziele m Westeuropa angreifen Die Sowjetregieru, sagt, dies habe der Westen in bezug auf die Sowjetunion mit seinen vorgeschobenen Mittelstreckensystemen („Forward Based Systems")
schon lange gekonnt; mit der Beschaffung von . Pershing II“ und „Cruise Missile" verbessere er die Fähigkeit noch, verkürze die Vorwarnzeit auf 4 Minuten und mache obendrein deutsches Territorium zur Abschußrampe Beide Vorwürfe sind stichhaltig, soweit es sich um die verbesserte Waffenqualität handelt. Die Bewertung militärischer Qualitäten neuer Waffensysteme dieser Kategorie als Kriegfüh-
rungswaffen darf aber nicht mit ihrer Qualität als Abschreckungswaffen gleichgesetzt werden. Die Ansicht, es ergäben sich militärische Handlungsmöglichkeiten für eine Seite, gegen welche die andere Seite nicht abschrecken könne, ist bisher nicht vertreten worden
Auch diese Diskussion führt wieder zur Status-und Wettbewerbspolitik zwischen Macht-rivalen zurück, deren Folgen allerdings beider Sicherheit durch Destabilisierung vermindern könnten.
. Nachrüsten" tun sie alle. Im öffentlich bekundeten Selbstverständnis der Akteure findet keine „Vorrüstung" statt, die einseitige Vor[teileverschaffen soll. Selbst der Vorschlag des ehemaligen US-Außenministers Kissinger, 1 eine Verhandlungsposition mit der Sowjet-I Union zu errüsten, ist als Nachrüstung auf. die sowjetische „SS 20" begründet Der ehema1 jge Sowjetbotschafter in Bonn, Falin, begründet seinerseits die neue sowjetische Raketenrustung als Nachrüstung gegenüber den „Forward Based Systems" der NATO, im wesentlichen der USA Die Sowjetunion hatte mehr-ach Verhandlungen über die Mittelstrecken-systeme gefordert, die der Westen abgelehnt atum sich die Option zu erhalten, aus kurzer istanz die Sowjetunion erreichen zu können, Wobei auch die französischen und britischen ———
Nuklearsysteme eine Rolle spielten, während die Sowjetunion seit Kuba zu einer vergleichbaren Drohung nicht in der Lage ist. Nun hat die Sowjetunion nach ihrem Bekunden „nachgerüstet", um die Fähigkeit der Amerikaner auszugleichen, indem Moskau die vorgeschobene Bastion Westeuropa als „Geisel" für Amerika nehmen kann. Der Westen betreibt seinerseits eine „Nach-Nach-Rüstung“, um über die „SS 20" verhandeln zu können, die „Forward Based Systems" allerdings vorausgesetzt. Der sowjetische Außenminister Gromyko erklärte daraufhin, daß die Sowjetunion nun nach-nach-nachrüsten müsse. Es könnte dann allenfalls auf einer viel höheren Ebene der Rüstung der Einstieg in Rüstungskontrollverhandlungen gesucht werden. Die Überrüstung, gemessen am Ziel der wechselseitigen Abschreckung, würde ausgebaut. Die Annahme, bereits mit Milliarden-Aufwand produzierte Raketensysteme, wie hier die „SS 20“ und dort „Pershing II“ oder „Cruise Missile", würden verschrottet werden, hat wenig historische Evidenz für sich. Wie immer man die tatsächliche Wirkung des Aktions-Reaktions-Schemas in Relation zu inneren Antrieben wirtschaftlicher und bürokratischer Art bewerten mag, der resultierende Prozeß stellt sich als fortgesetztes Rüsten dar, wobei die Phasen der Rüstungsproduktionen bestimmter Qualitätsstufen der Konfliktgegner und Wettbewerbspartner zeitlich gegeneinander verschoben sind, was den Vorgang des Weiterrüstens begünstigt, weil neue Beschaffungsprogramme mit jeweils neu geschaffenen Fakten der Gegenseite legitimiert werden können.
Neben der Qualität neuer Waffensysteme strategischer Reichweite ist auch ihre Zahl aufschlußreich für den Zweck. Eine große Stückzahl könnte auf die Absicht hindeuten, die Fähigkeit zum Entwaffnungsschlag solle erworben, mithin die Politik der strategischen Stabilität durch wechselseitig gesicherte Abschreckung verlassen werden. Stückzahl und Qualität könnten auch als Status-Baustein im Machtwettbewerb dienen und nur ungewollt die strategische Stabilität in Frage stellen. Schließlich sind, jedenfalls im Westen, ökonomische Interessen der Raumfahrtindustrie als Motor einer Entwicklung vorstellbar, deren unerwünschte Nebenfolgen von den militärischen und politischen Instanzen durch Ratio-31 nalisierung auf Abschreckungspolitik hin vermindert werden sollten. Nicht zu übersehen ist das amerikanische Interesse, durch eigene Systeme in Westeuropa gegenüber jedweder europäischen Rüstungs-oder Strategie-entwicklung den Führungsanspruch Washingtons zu dokumentieren. Die hier wie dort für den gegenwärtigen Rüstungsschub ursächlichen Faktoren und ihre Mischung sind empirisch verläßlich in ihrer Gewichtung heute noch nicht nachweisbar.
Die politisch-strategischen Folgen sind indessen aussagekräftig für den Stand des Sicherheitsdenkens in Ost und West. Die Rüstungsentscheidungen nach Qualität und Quantität geben Aufschluß darüber, ob Abschreckung durch Hinlänglichkeit der Kräfte für eine glaubhafte Schadensandrohung in Relation zur Gegendrohung erreicht bzw. erhalten oder ob Überlegenheit erreicht bzw. erhalten werden soll. Die Rüstungskontrollentscheidungen werden ebenfalls Aufschluß darüber geben, ob das Interesse an Stabilität oder an maximaler Machtposition überwiegt. Der Rüstungsbeschluß der NATO vom 12. Dezember 1979 ist mit einer Auflösungsklausel für den Fall erfolgreicher Rüstungsbegrenzungsverhandlungen versehen worden. Falls diese Verhandlungen alsbald und in ernst zu nehmender Weise aufgenommen werden, kann trotz Phasenverschiebung der Rüstungsprogramme ein neuer Weg zur Verständigung der Blöcke über das Rüstungstempo eingeschlagen werden Der Osten hat mit der Berliner Rede Breschnews in bisher nicht bekannter Weise zu erkennen gegeben, daß er auf die Arms Control-Philosophie einzugehen bereit ist. Durch Moskaus Eingreifen in Afghanistan könnte allerdings wie 1968 nach der Intervention in Prag der Steuerungsprozeß für wichtige Jahre einfrieren. *
Die Daten, die neuen Techniken un Programme werden nicht von den politischen sondern von den administrativen Instanzet gesetzt. Der politische Umgang mit Daten gib indessen Auskunft über das Bewußtsein de: handelnden Eliten. Die Aufnahme und de: Ausgang von Verhandlungen über das Mittel streckenpotential beider Seiten werden zei gen, ob die USA tatsächlich der Sowjetunior gemäß dem SALT-Prinzip das Hineinwachset in die Parität gestatten und ob die Sowjetunior tatsächlich auf die Option militärischer Offen sive in der europäischen Region zu verzichtet bereit ist: ob es um Machtpolitik mit dem Zie der Überlegenheit, zumindest aber des Gleich gewichts oder um Sicherheitspolitik mit der Ziel der Stabilität geht. 5. Das Dilemma der Westeuropäer Neben der Problematik, im Ost-West-Konflik blockübergreifend Sicherheit zu operational sieren, macht diese Debatte auch die inner westliche Problematik des transatlantisches Verhältnisses deutlich. Die Westeuropäerse hen nicht nur Waffensysteme, die den amen kanischen Kontinent treffen können, als ste tegische an, sondern auch solche, die aus da Sowjetunion bis Westeuropa reichen. Au amerikanischer Sicht ist Europa ein regionale Kriegsschauplatz, für die Europäer ist er da zentrale. In der transatlantischen Verbindune der NATO werden die USA bei einem regio nalen Krieg in Europa mitverteidigt, die Europäer unter den Schutz der strategischen Abschreckung durch die Amerikaner gestelltu eben diesen Krieg zu verhindern. In de Maße, wie die Miniaturisierung und Präzisierung der Massenvernichtungswaffen Iod schreitet und die strategische Parität zwische den Supermächten realisiert wird, wächst da Interesse dieser Mächte, kriegerische Hao 11 lungen nach einer außer Kontrolle geratene Krise regional zu begrenzen, Abschrecku auf der strategischen Ebene zur Erhaltung ® Mutterländer auch dann noch wirksam zu 6 halten, wenn sie auf der Ebene konventione ler oder taktisch-nuklearer Kriegführung V sagt haben sollte. Damit wächst die Besorg der Mitteleuropäer, das „war theatre könn tatsächlich inszeniert werden und die r 0 säßen dabei im Zuschauerraum. Die Westeuropäer haben demzufolge ein Interesse daran, vom strategischen Potential der USA nicht abgekoppelt zu werden, gleichzeitig aber auch daran, nicht Zielgebiet nuklearer Kriegführung zu werden. Die Amerikaner betonen, mit der Stationierung von landgestützten nuklearen, regionalstrategischen Waffensystemen wie „Pershing 11" oder „Cruise Missile“ sei die lückenlose Eskalationsfähigkeit durch alle Ebenen der taktischen und strategischen Kriegführung und damit der Anschluß an die strategischen Interkontinentalsysteme der ersten Stufe in der Triade gegeben sehen aber selbst ein „Abkoppelungs-Paradox": Werde Westeuropa mit nuklearen Mittelstreckensystemen in großer Zahl bestückt, könnte das von den Westeuropäern als Absicht interpretiert werden, die strategischen amerikanischen Systeme nicht für die Verteidigung Westeuropas einzusetzen, werde Westeuropa aber von Mittelstreckensystemen weitgehend freigehalten, wäre das ebenfalls als amerikanische Absicht der Abkoppelung zu denken, weil die Westeuropäer vom wenig glaubhaften Einsatz der strategischen Systeme abhingen
In Westeuropa regt sich Kritik gegen die Stationierung neuer Mittelstreckensysteme, da Nuklearsysteme, die man nicht für einen Entwaffnungs-oder Erstschlag benutzen will, auch Nuklearziele sind. Ein Nuklearkrieg ist in Mitteleuropa nicht zu führen. Die Gegenposition lautet, auf diese Nachrüstung zu vertichten, weil bei einer Gesamtaufrechnung der Potentiale durchaus Gleichgewicht herrsche und die „SS 20" durch das strategische Potential der USA „abgedeckt" werden könnte, tumal wenn die US-Doktrin der selektiven Optionen den begrenzten und gezielten Einsatzeinzelner Waffen der strategischen Ebene orsieht. Ein vorsichtigerer Gegenvorschlag konzediert dem Westen das Gegenrüstungs2na, um Mißverständnisse bei der Kreml-ä rung über eine reaktionslose Hinnahme er " S 20 zu vermeiden, fordert aber die Sta-tionierung entsprechender Mittelstreckenraketen auf See, um in Westeuropa keine hochwertigen Nuklearziele zu bieten Bei See-Stationierung wäre die Verbindung mit dem amerikanischen strategischen Abschrekkungspotential obendrein glaubwürdiger als der Aufbau eines gesonderten Potentials auf Land außerhalb der strategischen Systeme. Es verringert die Abkoppelungsbefürchtung von Westeuropäern nicht, wenn von amerikanischer Seite gegen die See-Stationierung das Argument ins Feld geführt wird, die Sowjets müßten deutlich unterscheiden können, ob eine anfliegende Rakete dem strategischen oder dem taktischen Arsenal der Amerikaner zuzuordnen sei. Es verstärkt die Befürchtung erst recht, wenn Henry Kissinger in Brüssel am 1. September 1979 in aller Offenheit die Europäer darauf stößt, daß die oberste Stufe der Eskalationsleiter für 1 den europäischen Schauplatz nicht mehr glaubwürdig zur Verfügung stehe. Unterstellt man der sowjetischen Raketenrüstung Dynamik und der gegenwärtigen Situation noch Gleichgewichtigkeit, so wäre ein sofort ausgehandeltes Produktionsmoratorium der Gegenrüstung auch militärisch vorzuziehen, wenn man gleichzeitig die konventionellen Fähigkeiten in Europa ausbalanciert. Vor allem aber muß der Einstieg in Rüstungskontrollverhandlungen zur Einschränkung von Fähigkeiten wieder zum Entwaffnungsschlag in Europa gesucht werden.
Am Beispiel der Mittelstreckendebatte zeigt sich in aller Deutlichkeit das Abschreckungsdilemma der Westeuropäer. Die Verletzlichkeit vor allem der Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund ihrer dichten Besiedelung, Industrialisierung, Infrastruktur und ihrer zentralisierten Versorgungstechnik so groß, daß eine nukleare Abschreckungsdrohung von ihrem Territorium aus von begrenzter Glaubwürdigkeit ist. Die Möglichkeiten der Krisenbeherrschung werden durch den Bonus zuvorkommender Entwaffnungsschläge auf das Nuklear-Potential eingeengt. Kann die Bundesrepublik diesem Dilemma entkommen oder die Glaubwürdigkeit militärischer Reak-tion durch Verminderung des Risikos erhöhen? Solange die strategische Stabilität im Ost-West-Konflikt nicht anders als durch gegenseitige Abschreckung aufrechterhalten wird, ist Westeuropa auf die Anbindung an das strategische Potential der USA angewiesen. Ein westeuropäisches militärisches und nukleares Machtzentrum, eine neue europäische Verteidigungsgemeinschaft, selbst wenn man sie für politisch, ökonomisch und technologisch realisierbar hielte, löste nicht das Dilemma und brächte die Sowjetunion bei Addition der atlantischen Potentiale in eine sicherheitspolitisch noch schwierigere Situation bzw. in die Versuchung, ein Abkoppeln herbeiführen zu wollen oder zu unterstellen.
Wenn man die Abschreckung gegen global-strategische und regionalstrategische Nuklearangriffe der Sowjetunion durch das strategische Potential der NATO voraussetzen kann, so ist die Frage nach militärstrategischen Varianten auf dem europäischen Kontinent zur Abschreckung gegen begrenzte Kriegführung geboten Die technologischen Möglichkeiten der konventionellen Rüstung könnten in Verbindung mit vertrauensbildenden Maßnahmen, die einen großangelegten Überraschungsangriff ausschließen, zu einer Defensivierung des Rüstungszuschnitts für den mitteleuropäischen Raum führen, welche die Bedeutung taktischer Nuklearwaffen und damit deren Selbstabschreckungswert min-dert, die Glaubwürdigkeit der Abschreckun gegen begrenzte, konventionelle Aktionenei höht und die Handlungszwänge in Krisensit ationen reduziert. Das setzt die Akzeptanzde Abschreckungsprinzips der Hinlänglichke: voraus.
Sicherheitspolitik jenseits der Abschreckun muß Strategien entwickeln, die den Mut zur Angriff nehmen, ohne den Schrecken derVei nichtungsdrohung auszulösen, denn diese Schrecken bewirkt nicht nur die Abhaltun von einem Angriff durch Abschreckung, son dem auch die Ermunterung zum Weiterrüste durch Erschrecken des Abzuschreckende: Abschreckung und Gegenabschreckun Angst und Gegenangst verbauen den Auswe aus der Rüstungsspirale. Die in der Schadens androhung der Abschreckungsstrategie lie gende offensive Möglichkeit wirkt nicht nu als Abhaltungsdrohung, sondern auch als Be drohung des Abzuhaltenden mit der Folgede fortgesetzt aufzubauenden Gegendrohun Nimmt eine Strategie der Abhaltung nur di Möglichkeit eines positiven Nutzenkalkil für militärische Aggression, ohne bedrohen zu wirken, so läßt sie den Raum zur rüstungs vermindernden Zusammenarbeit der Kon fliktpartner, die bislang an der Angstwirkun der Abschreckungsstrategie scheitert Ein Militärstrategie der Entmutigung zur Aggre sion ermöglicht dann eine politische Strateg der Ermunterung zur Kooperation. Wirddert der Abschreckungsstrategie enthaltene " derspruch zwischen der Androhung des Schi dens und der Absicht der Schadensverhind: rung vermieden, entfällt ein wesentliche Grund für das Weiterrüsten, kann der Vet such, den Trend der Rüstungszunahme um® kehren, eher Erfolg versprechen. Eine schll sige sicherheitspolitische Strategie muß di Elemente der militärischen Entmutigung un der politischen Ermutigung miteinander ver binden.
V. Bedingungen des Überleben
Verletztlichkeit kann man nicht wegrüsten. Sicherheit kann man letztlich nicht errüsten. Ziel der Sicherheitspolitik kann nicht der Ausschluß aller Möglichkeiten der Gefährdung sein. Gesellschaften können sich nicht i e nen Bunker begeben; das hielte nicht ein® ein einzelner Mensch lange durch.
Offenls und Interaktion konstituieren die Politik! keit und die Sicherheit als ein grundlegendes Ziel politischen Handelns. Das Zusammenleben in der Gesellschaft wurde durch den allgemeinen Landfrieden im neuzeitlichen Staat gewaltfrei geordnet. Das Zusammenleben der Gesellschaften auf dem Globus muß noch gewaltfrei organisiert werden, soll es nicht im Zusammensterben enden. Die Angst vor Fremdbestimmung und die Angst vor gewaltsamem Tod, die Hegemonie-und die Vernich-tungsangst potenzieren sich in der Gegenwart zu einem Syndrom des Gefährdungsbewußtseins und Sicherheitsbedürfnisses, das zu der unsinnigen Handlungsweise führt, ein Pulverfaß, dessen Explosion man fürchtet, immer noch voller zu füllen.
Sicherheitspolitik muß demgegenüber die Voraussetzungen dafür schaffen, daß politisches Handeln sich angstfrei und selbstbestimmtvollziehen kann, das heißt, daß die politischen Grundziele der Selbstbestimmung und des Überlebens als vereinbar und gegenseitig bedingt angesehen werden. Das Prinzip gewaltfreier Politikgestaltung auf das internationale System zu übertragen, verlangt die Abkehr vom Freund-Feind-Paradigma, die Anerkennung des je anderen als Subjekt und die gemeinsame Interessenwahrnehmung des zu organisierenden überlebens als solidarische Interaktion. Sicherheit ist dann zuerst die Sicherheit des anderen, damit sie als gemeinsames Gut erworben und bewahrt werden kann. Konflikte zwischen Subjekten werden vorausgesetzt, aber unter Ausschluß militärischer Mittel ausgetragen. Wettbewerb findet nicht als Verdrängungskampf, sondern als Leisungsstimulierung bei gemeinsamer Gewinn-Optimierung statt. Das Gewaltmonopol eines " eltstaates dürfte am Selbstbestimmungsbedurinis scheitern. Gemeinsame Sicherheit ist -er regional in einer pluralistischen Welt orMnisierbar, wobei die einzelnen Sicherheitse 5>onen untereinander wie im Inneren durch 448 Bewußtsein wechselseitiger Abhängigkeit " sammengehalten werden.
ikam Ost-West-Konflikt Beteiligten leben in por Sicherheitsregion, die Europäer in einer 81C) n in der Region. Die Explosion des Pul-m Sses würde die Konfliktgegner zusam-den Vernichten; sie können ihre Sicherheit ten stsprechend nur gemeinsam organisiee haben ihre politischen Ordnungsvorstellungen als sich gegenseitig ausschließend mit je universalem Anspruch formuliert, sie können aber auch friedliche Koexistenz in östlicher und Systemwettbewerb in westlicher Terminologie als pluralistisches Prinzip der wechselseitig als existenzberechtigt anerkannten Subjektivität betreiben. Sie haben fortgesetzt und bis heute unvermindert gegeneinander gerüstet, sie können aber auch die damit verbundenen Gefährdungen und Lasten durch gemeinsame Rüstungssteuerung verringern, kollektive Selbstverteidigung in kollektive Sicherheit überführen, nicht nur „gleiche Sicherheit", sondern — qualitativ und nicht quantitativ definiert — gemeinsame Sicherheit erwerben. Weder die USA noch die Sowjetunion, weder Frankreich noch Polen, weder die Bundesrepublik Deutschland noch die DDR können autonom Sicherheit herstellen, alle sind Bestandteile des einen Sicherheitssystems. In der europäischen Sicherheitsregion tragen insbesondere die beiden deutschen Staaten aufgrund ihrer geographischen Lage, ihrer historischen Vergangenheit und ihrer politischen Zuordnung zu konkurrierenden Machtblöcken eine herausragende Verantwortung, der sie sich noch nicht hinreichend bewußt geworden sind, obwohl die gemeinsame Gefährdung inmitten des „war theatre" evident ist.
Ein Wandel der Grundlagen des Sicherheitsdenkens wird sich nicht als technischer, sondern nur als politischer Vorgang mit technischen Implikationen vollziehen können. Ein Wandel, der die Grundlagen der internationalen Politik, ja der politischen Kultur entwikkelter Regionen berührt und verändert, wird nicht von selbst und nicht auf einmal eintreten. Er kann nur durch zielbewußtes politisches Handeln in Gang gesetzt und nur durch schrittweises Vorgehen und risikobewußtes Steuern in Gang gehalten werden. Am Rande des Weges lauert stets die Gefahr des nuklearen Unfalls. Deshalb wird jede Gleichgewichtsstörung, selbst ein zu großer Schritt der Veränderung Angstreaktionen auslösen und den Vorgang bestenfalls auf seinen Ausgangspunkt zurückwerfen. Sicherheitspolitik hat dementsprechend die friedenspolitische Funktion, den Prozeß dieses Wandels zu ermöglichen, zu begünstigen und vor allem zu stabilisieren. Die Sicherheitspolitiken der am Ost-West-Konflikt beteiligten Staaten und Bündnisse haben zu einer als balanciert wahrgenommenen strategischen Stabilität geführt, deren wichtigstes Merkmal jedoch ihre Einstweiligkeit ist. Diese einstweilige Stabilität ruht auf Strategien, Rüstungen und Streitkräften als Instrumenten dieser Politik. Entziehen sich die Instrumente der politischen Steuerung, dann droht die Gefahr der politischen Destabilisierung aus technischen Gründen. Sicherheitspolitik als Funktion der Friedenspolitik verweist auf den instrumentellen Charakter von Rüstung wie von Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Die in und für Europa betriebenen Sicherheitspolitiken haben heute die Aufgabe zu lösen, die Vernichtungssysteme so zu managen, daß es nicht zur Katastrophe kommt, die Prozeßstabilität politischen Wandels zu gewährleisten und Voraussetzungen für einen schrittweisen Abbau der Arsenale zu schaffen. Zunächst wird es — entgegen der bislang vorherrschenden Tendenz — darum gehen, wenigstens eine Trendwende in der Rüstungszunahme zu erreichen, den Raum für politische Elemente der Friedenssicherung zu erweitern und akute Krisen über die Blockgrenzen hi weg kooperativ und kommunikativ zu behen sehen. Danach muß es gelingen, die koopen tive Rüstungs-und Krisensteuerung politist zu institutionalisieren, qualitative Rüstungs begrenzungsvereinbarungen und vertrauen bildende Maßnahmen zu erarbeiten, die mit tärische Handlungsmöglichkeiten beschrä ken, um einen Raum angstfreier sicherheitspc litischer Interaktionen zu schaffen. Schließlid wird es darum gehen, die Arsenale abzubaue und für Rüstung vergeudete Ressourcen ft dringende Entwicklungsaufgaben und dieAk Wendung menschheitsbedrohender Gefahre umzuwidmen. Politiker, Militärs, Wisset schaftler, Publizisten und die Offentlichke sind Teilnehmer eines tiefgreifenden Lernvor ganges, den zu bewältigen eine Überlebens Voraussetzung der Gesellschaften ist. Die Ei ten in West und Ost sind ratlos angesichtsde von ihnen entfesselten Dynamik der tatsächlichen Rüstung wie der potentiellen Konflikteskalation und müssen doch einen Weg zue zielbewußten Handeln finden. Der erste um entscheidende Schritt muß der politische Zugriff auf die angenommenen Sachzwäng sein.
Klaus von Schubert, Dr. phil., geb. 1941, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule der Bundeswehr München. Veröffentlichungen: Wiederbewaffnung und Westintegration, Stuttgart 1970, Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation 1945— 1977, Bonn und Köln, Bd. I 1978, Bd. II 1979. Aufsätze zur Sicherheitspolitik, Zeitgeschichte und Curriculumentwicklung in Handbüchern, Sammelwerken und Fachzeitschriften.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).