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Weltbild und Bewußtwerdung — vernachlässigte Faktoren beim Studium der Internationalen Beziehungen | APuZ 11/1980 | bpb.de

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APuZ 11/1980 Artikel 1 Weltbild und Bewußtwerdung — vernachlässigte Faktoren beim Studium der Internationalen Beziehungen Entspannung und Sicherheit Konzeptionelle Überlegungen an einer kritischen Wegemarke Militärische Bündnisbeziehungen in Osteuropa und die Entspannung

Weltbild und Bewußtwerdung — vernachlässigte Faktoren beim Studium der Internationalen Beziehungen

John H. Herz

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Zusammenfassung

Der Autor macht es sich zur Aufgabe, einige Gebiete und einige Grundprobleme der internationalen Beziehungen (der Wissenschaft von der Außenpolitik) zu beleuchten, die beim Studium dieser Beziehungen bisher zu sehr in den Hintergrund getreten sind. Er geht davon aus, daß, wie in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, in den zwischenstaatlichen (sowie den sonstigen transnationalen) Beziehungen die Art und Weise, wie Menschen, und insbesondere Entscheidungsträger, einander sehen und wie sie die Welt und die Weltverhältnisse interpretieren, von entscheidender Wichtigkeit für ihre Einstellungen und ihre Handlungen ist. Was im Geist der Menschen — und insbesondere der . Akteure“ auf der Weltbühne — an „Weltbildern" und ähnlichen Vorstellungen vorhanden ist, gestaltet die Welt. Damit wird die Analyse der „Information" und der Art und Weise, wie sie ins Bewußtsein dringt und wie sie „Bewußtwerdung" von der Welt (awareness") verursacht, zu einer vordringlichen Aufgabe. Drei verschiedene Dimensionen von Information über internationale Beziehungen werden hier unterschieden und eine Skala sonstiger Faktoren, die für die Entstehung von Weltbildern und Weltanschauungen von Belang sind und die von frühen Kindheitserfahrungen über historisch-kulturell tradierte Einstellungen bis zu Ideologien reicht, wird aufgestellt. Entsprechend werden diejenigen Zweige sozialwissenschaftlicher Forschung, die diesen Faktoren zugeordnet sind, in ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Erforschung der Außenpolitik hervorgehoben; sie reichen von Jugendpsychologie und Studium der Sozialisation bis zur Ideologiekritik. Folgerungen aus diesem Ansatz betreffen u. a. die Begriffsbildung auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen: Grundbegriffe wie „System" (Mächtegleichgewicht, Hegemonie etc.), „Macht", „Staatsinteresse" sind nicht, wie zumeist angenommen, „objektive" Gegebenheiten, sondern variieren je nach den Perspektiven der Handelnden; je nachdem, ob und wie sich die Akteure dieser Tatsache bewußt sind, kann sich eine Politik des Ausgleichs und der Mäßigung oder aber, durch Fehlrezeptionen, eine Politik der Konfrontationen und des Krieges ergeben. Im Zeitalter nuklearer Allvernichtbarkeit ist deshalb ein Weltbild, das dem Globalinteresse an Vermeidung nuklearer Konfrontationen gegenüber den herkömmlich ausgelegten „Sicherheitsinteressen" Vorrang gibt, von eminenter Bedeutung. Wie sich im Zusammenhang mit den andern großen Überlebensproblemen (Planung der Weltbevölkerung und der Rohstoff-und Energieressourcen, Vermeidung von Umweltzerstörung etc.) im Gegensatz zu den überkommenen „provinziellen" Weltbildern ein universelles Weltbild entwickeln könnte, wird am Schlußteil des Artikels dargelegt.

In diesem Beitrag geht es um die Frage, welche Faktoren bei der wissenschaftlichen Erforschung der „Außenpolitik“, d. h.der internationalen Beziehungen, grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Geht man diesem Problem nach, so stellt sich heraus, daß bisher der wichtige Gesichtspunkt vernachlässigt worden ist, welche Vorstellungen sich Akteure und andere einflußreiche Persönlichkeiten wie auch die jeweilige „Öffentlichkeit“ von der Welt machen. Zwar haben sich Wissenschaftler, die sich mit Weltpolitik beschäftigen, schon öfters mit „Rezeptionen“, „Fehlrezeptionen“ und ähnlichem befaßt doch hat man dabei der Rolle von allgemeinen „Weltbildern“, d. h. wie sich die Welt in den Köpfen der Menschen abbildet und wie solche Bilder dahin gelangen, zu wenig Beachtung geschenkt; man hat sich zu wenig darum gekümmert, wie sich die Bewußtwerdung von Weltereignissen („awareness") vollzieht, daß dieser Prozeß der Bewußtwerdung seinerseits auf „Information" beruht. Der Ausdruck „Bild“ oder „Weltbild” („view“, world-view") soll hier in seiner allgemeinsten und umfassendsten Bedeutung gebraucht werden, d. h. als eines jeglichen „Sicht“ oder Vorstellung von der Welt, die ihn umgibt, von sei-er „Welt-Anschauung" also, was ja im wörtlieden Sinne die Art und Weise bedeutet, wie man die Welt „sieht“. Er darf also nicht mit eologie" verwechselt werden. Ideologien (über die noch weiteres zu sagen sein wird) sind spezifische Weltbilder, aber nicht jedes Weltbild ist Ideologie oder beruht auf Ideologie.

Vorab ein paar Beispiele dafür, wie sich Bewußtwerdung, allgemeine Weltbilder, Information (bzw.deren Nichtvorhandensein) auf Menschen und Ereignisse auswirken.

a) Nach 1945 war es breiten Schichten des deutschen Volkes, die den Nationalsozialismus und den Krieg als Erwachsene erlebt hatten, gelungen, Ereignisse wie Angriffskriege und Greueltaten zu vergessen bzw. aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen; ihr „Bild" dieses Vergangenheitsbereichs war leer oder entstellt Es dauerte Jahrzehnte, bis eine neue Generation, die man in Schulen und auch sonst lange im Dunkeln, d. h. ohne Information gelassen hatte, anfing, die Älteren zu befragen, worauf dann Ereignisse wie die Massenvernichtung der Juden in ihrer ganzen Scheußlichkeit enthüllt *w); urden bei dieser Enthül-lung spielte das Fernsehen (mit dem „Holocaust" -Film) eine besonders wichtige Rolle. b) Das Gefühl der Überraschung, das die iranische Revolution nicht nur in der amerikanischen Öffentlichkeit, sondern auch bei den amerikanischen Politikern hervorrief, erklärt sich daraus, daß die Informationen über die innere Situation im Iran sehr unvollständig und selektiv gewesen waren. Was nicht in das vorgefertigte Bild eines stabilen Regimes paßte, durfte nicht in die Kanäle der Informationen über dieses Regime einfließen Wie noch näher auszuführen sein wird, beruht eine derartige Selektion häufig auf generellen Vorprägungen in der Wahrnehmung und im Verhalten. c) Selbst eine nur kurze Unterbrechung von Informationsflüssen kann auf die Fähigkeit der Öffentlichkeit, bestimmter Ereignisse gewahr zu werden, erheblichen Einfluß ausüben, erzeugte der New Yorker Zeitungsstreik, 1978 drei Monate lang drei große NewYor Zeitungen, darunter die New York Times, Erscheinen hinderte, eine an Furcht gr zende Unsicherheit nicht nur bei der von Information ausgeschlossenen Offentlichk sondern sogar bei den Entscheidungsträg in Washington, die viele ihrer Informatior über das Weltgeschehen aus der NewYork mes beziehen; dieses Gefühl der Unsicherh wurde durch die mageren Informationen! tens der übrigen Medien nur wenig gen dert Man wußte nicht mehr recht, won man seine politischen Ansichten und Einst lungen gründen sollte. Der Vorfall macl deutlich, daß in einer Epoche weltweiterInt dependenz die Medien zu den wichtigst Fühlern gehören, durch die die Menschen 2 gang zur Welt erlangen und mit deren Hi si ihre Weltbilder formen.

I. Die „Realität" der internationalen Beziehungen

Bevor wir uns mit den Problemen der Gewahrwerdung oder Bewußtwerdung, der Information usw. näher befassen, müssen wir fragen: Bewußtwerdung wessen oder Information worüber? Worin besteht die internationale Realität? Ich klammere dabei die erkenntnistheoretische Frage aus, wie Erkenntnis möglich sei. Unkritisch betrachten wir „Staaten", „Nationen", „Klassen", „das Mächtegleichgewicht" usw. als Gegebenheiten, die in einer objektiven Welt menschlicher und sozialer Beziehungen vorgefunden werden. Aber sie sind nur deshalb solche „Realitäten", weil wir gewohnt sind, sie als „Gegebenheiten" anzusehen. Für den kritischen Betrachter ergibt sich die Welt der internationalen Beziehungen! ihren „Systemen" und „Akteuren", „Grupp rungen" und „Konflikten" aus der Strukturoc Gestalt, die wir, die Beobachter und Teilns menden, der Welt durch unsere Art und W se, sie zu betrachten, verleihen. Diese »W für uns" ist der einzige zur Verfügung S hende Gegenstand für eine wissenschaftlic Theorie der internationalen Beziehungen. Das soll nicht bedeuten, daß alles „Subjekt oder „relativ" ist und daß es für die Bildu persönlicher „Welt-Anschauungen" keine? meinsame Basis gibt. Ich habe die „Realit der internationalen Beziehungen einmal einem Kunstwerk, etwa einer Komposiil verglichen Ein Musikstück wird vom Ko ponisten konstruiert (er bestimmt den Stil etc.), von den ausführenden Musikern rekonstruiert (wobei die Instrumente und die Schallwellen, die diese aussenden, die ihm zugrunde liegende „äußere Realität“ verkörpern), dann nochmals von den Zuhörern rekonstruiert, in deren Empfinden das aufgeführte Werk eine wiederum andere „Existenz" erhält. In jedem Fall nimmt die ursprüngliche Schöpfung verschiedene Gestalt an — und dennoch schafft die Identität des Kunstwerks eine Gemeinsamkeit des musikalisch Erlebten (es handelt sich um dies oder das, einen Beethoven oder einen Bach), eine „sich überschneidende Realität Ebenso steht es mit gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen. So mag die „äußere Realität" aus „natürlichen" Gegebenheiten wie Bevölkerungen verschiedenen Typs (Farbe, Alter, Geschlecht etc.) bestehen, die sich auf einem bestimmten Teil der Erde befinden, oder bestimmten Arten und Vorkommen von Rohstoffen oder Industrien, aus bestimmten, irgendwo installierten Waffen; diese Gegebenheiten werden dann z. B. von Politikern erfaßt, d. h. strukturiert, und die solchermaßen in ihren Köpfen entstehenden Vorstellungen von der Welt bestimmen ihr Handeln, wenn sie z. B. ein Abkommen treffen, ein Bündnis schließen oder einen Krieg vorbereiten. Ihre Handlungen erzeugen dann Gegen-Bilder von einer bestimmten Lage in den Köpfen anderer Politiker, insbesondere von „Gegnern“ (d. h.

denjenigen, die sich selbst für Gegenspieler halten und von ihren „Gegnern“ für Gegenspieler gehalten werden), die zu einer Form der Aktion oder Reaktion führen kann, welche die „äußere Realität" (durch Krieg z. B.) ändert, und so weiter ad infinitum 6).

Es besteht also eine Analogie, aber auch ein entscheidender Unterschied zwischen der Realität“ eines Kunstwerks und der „Realität"

internationaler Beziehungen. Das erstere erscheint in stets variierenden Ausführungen, aber die „ursprüngliche" Komposition bleibt die gleiche. Zwischenmenschliche (einschließlich internationaler) Beziehungen ändern sich, weil die Aktionen und Reaktionen, die sich aus Wahrnehmungen und Interpretationen ergeben, die „reale" Welt verändern, aus ihr etwas anderes machen als das, was sie vorher war. So veränderte zum Beispiel das Entstehen faschistischer Regime und der darauffolgende Weltkrieg das isolationistische Weltbild der Amerikaner, indem sie sie zu der Auffassung brachten, daß sich der Friede nur durch ein Kollektivsicherheitssystem mit starker amerikanischer Beteiligung verwirklichen lassen würde; diese Einstellungsänderung plus dem amerikanischen Atomwaffenmonopol nach dem Zweiten Weltkrieg erzeugte nun in den Sowjets ein „alarmierendes Weltbild" und führte zu deren Blockbildung und zur Schaffung einer eigenen Nuklearrüstung, was wiederum zur Begründung eines Allianzsystems auf westlicher Seite führte, worauf dann auf beiden Seiten ein Weltbild entstand, in dem Weltpolitik im wesentlichen Machtkonkurrenz, Konfrontation, Rüstungswettlauf usw. bedeutete. Ein bipolares System des Kalten Krieges schien damit an die Stelle früherer Systeme getreten zu sein.

Solche Serien von Rezeptionen und Handlungen, Handlungen und neuen Rezeptionen machen das aus, was wir die Geschichte der internationalen Beziehungen nennen. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen beruhen auf solchem unaufhörlichen Wechsel von Sy: stolen und Diastolen. Somit ist „Geschichte“ die Gesamtsumme dessen, was sich aus diesen Prozessen von Wahrnehmungen und Handlungen im Laufe der Geschichte ergeben hat. Sie besteht aus dem Niederschlag vergangener Erkenntnisse und Verhaltensmuster. Im Gegensatz zur künstlerischen Schöpfung ist die Auswirkung von Weltbild und Interpretation kumulativ.

II. Drei Dimensionen von Information und Bewußtwerdung

Wenn die Bewußtwerdung für die internationalen Beziehungen von so ausschlaggebender Bedeutung ist, so müssen wir nunmehr fragen, wie sie zustande kommt. Wie entstehen Weltbilder? Der zuerst zu untersuchende Faktor ist Information.

Wie wir gesehen haben, ist die Welt das, was wir über sie wissen. Während der gesamten Geschichte sind immer nur Fragmente der erkennbaren Welt gesehen und zur Kenntnis genommen worden. Als man noch nicht wußte, daß die Erde eine Kugel ist, konnte es noch keine „globalen" Weltbilder geben. Als Weltregionen und ihre Kulturen noch kaum voneinander wußten, beschränkten sich „Welt" und „Weltbilder" auf den je eigenen Teil der Erde. So bedeutete seinerzeit der Mittelmeerraum für seine Einwohner „die Welt“ mit den ihr eigenen internationalen Beziehungen. Damals wie heute war man lokaler und regionaler Ereignisse besser gewahr als „internationaler".

Im großen und ganzen lassen sich drei Dimensionen von Wissen und Information unterscheiden: eine räumliche, die sich vom Lokalen bis zum Globalen hin erstreckt; eine zeitliche, die rückwärts in die Geschichte und vorwärts in die Zukunft hineinreicht; eine dritte, die ich mangels einer besseren Bezeichnung die „soziale" Dimension nennen möchte, und die alles das einschließt, was sich unter der Oberfläche der Weltereignisse auf demographischem und ökonomischem Gebiet, in bezug auf soziale und politische Schichtungen und Strukturen, bei Klassenkämpfen, ethnischen Konflikten usw. abspielt.

Räumlich gesehen ist mit der Erschließung der Erde die Information vom Provinziellen zum Weltweiten vorgestoßen; aber erst seit aus der Welt der Kolonialstaaten eine Welt unabhängiger Staaten entstand, ist die Information zumindest potentiell weltumfassend geworden. Ebenso wie die alten Griechen die Bewohner außerhalb ihrer Stadtstaaten als „nicht zugehörig" betrachteten und auf sie herabsahen, hielten die abendländischen Kulturländer die Völker innerhalb ihrer Kolonialreiche kaum ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Bis zum heutigen Tag werden viele Länder der Dritten Welt von westlichen Medien vernachlässigt; sie fordern zu Recht bessere Berichterstattung. Aber im Prinzip stellt heute auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen die ganze Erde die räumliche Informationsdimension dar.

Was die Zeitdimension betrifft, ist Kenntnis der Vergangenheit natürlich wesentlich für ein einigermaßen fundiertes Weltbild; jedoch kümmern sich die Praktiker in der Außenpolitik oft nur wenig darum. Henry Fords Ausspruch „Geschichte ist Quatsch" galt lange Zeit als richtig, besonders bei Amerikanern, die in den Europäern Leute sehen, die sich ewig mit ihrer Vergangenheit abzuplagen scheinen. Aber selbst den Amerikanern drängt sich nunmehr die Vergangenheit verstärkt auf, so etwa wenn Vietnam immer noch das amerikanische Image in der Welt beeinträchtigt (etwa wie die Nazivergangenheit Deutschland heute noch verfolgt). Mehr und mehr jedoch schauen Amerikaner und andere in die entgegengesetzte Richtung der Zeitdimension; ein durch die neue „Wissenschaft von der Zukunft“, die Futurologie, angefachtes „futuristisches” Interesse wird erkennbar, das sich aus den sich uns aufdrängenden großen, globalen Überlebensfragen (Gefahr der atomaren Vernichtung Zerstörung der Umwelt, weltweite Bevölkerungsexplosion, Erschöpfung der Rohstoff-und Energiequellen) ergibt. Hier nimmt die Information den Charakter der Prognose an, und die Voraussichten sind so diametral entgegengesetzt wie etwa die von Hermann Kahn beeinflußten optimistischen und die pessimistischen des Club of Rome

Die entscheidende Dimension ist jedoch die dritte — die soziale oder Tiefendimension Auch die beiden anderen Dimensionen können unter provinzieller Begrenztheit leiden, etwa wenn die westlichen Medien den geschichtlichen Hintergrund des asiatischen oder afrikanischen Geschehens vernachlässigen; aber selbst dort, wo die Berichterstattung in bezug auf Raum und Zeit umfassend ist handelt es sich oft nur um Oberflächenberichte und oberflächliche Berichterstattung Diplomatie mag global geworden sein, seitdem es 150 unabhängige Staaten auf Erden 81 aber sie mag dennoch auf ganz oberflächliche Information gründen, die gesellschaftlis 6 Wandel und ähnliches übersieht und dann Überraschungen von der Art der iranisc d Revolution, von der bereits gesprochen wur -hervorruft. Oder — ein anderes Beispielzat ökonomischer Determinismus übersieht e nische Konflikte, obwohl solche die intern tionale Politik ebenso stark beeinflussen können wie ökonomische.

Machiavelli rät dem Fürsten, er möge sich für das, was sich auf der Piazza abspielt, ebenso interessieren wie für das, was im Palast vorgeht Dieser Ratschlag gilt auch für ausländische Piazzen. Aber seit der Renaissance und dem Entstehen der ständigen Diplomatie sind die außenpolitischen Eliten geneigt, Informationen des „Piazza“ -Typs zu übersehen und den Meinungsaustausch mit dem „gewöhnlichen Volk" zugunsten der Ereignisse in Weißen Häusern, Casas Rosadas und anderweitig gefärbten Palästen der Gegeneliten zu vernachlässigen. Während sie sich mit Gebietsproblemen und Kriegsfragen, mit Absatzmärkten und Einflußsphären beschäftigen, neigen sie dazu, innenpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern zumindest so lange keine Beachtung zu schenken, bis Unruhen und Aufstände, Revolutionen und sonstige spektakuläre Geschehnisse ihnen für solche „Realitäten" die Augen öffnen.

Es stimmt zwar, daß in letzter Zeit Sachverständige für wirtschaftliche und innenpolitische Angelegenheiten in den herkömmlichen Stab der Auswärtigen Ämter und auch in jenes zweite „diplomatische Corps“, das sich Geheimdienst nennt, aufgenommen werden. Der Forscher auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen muß sich mit Ausmaß und Methode von Informationssammlung und Nachrichtenübermittlung beschäftigen. Er wird oft ein Paradox des Zuviel und Zuwenig vorfinden. Der technische Fortschritt ermöglicht es, in fast unglaublichem Detail zu ermitteln, was sih ganz gleich wo, auf der Erde abspielt — so tB durch elektronische Geräte, die fremdes ebiet aus der Luft und vom Meere her beobachten, sowie durch das von Satelliten be-

" rstelligte Aufstöbern und Absuchen aus pe Ferne bis in die entferntesten Ecken der r 6 Aber während man auf diese Weise Luppenbewegungen auf dem Monitor feststen und Raketenbasen ausfindig machen snn, gelingt es damit nicht, Dinge wie Unzu-

y enheit in Slumvierteln oder Opposition u estehenden Regimen auszukundschaften, szu kommt der Faktor des „Rauschens" in der vormmunikation, d. h.der Auswirkungen un-

m eitbarer Mengen von Computerinfor-W hr die es oft unmöglich machen, das di C ige. vom Unwichtigen zu trennen. Auf reich eise gehen Ermittlungen aus dem Be-

sif er dritten Dimension oft im Sammel111 der Informationen verloren.

Noch wichtiger ist die sogenannte kognitive Dissonanz. Was man nicht hören oder sehen will, übersieht man, oder man gewinnt davon nur ein verzerrtes Bild. In einem revolutionsträchtigen lateinamerikanischen Land mag der Pöbel einem Besucher wie Nixon ins Gesicht spucken, aber der Bericht über solchen Vorfall wird wahrscheinlich unter dem Stichwort „Kommunistische Agitatoren" abgelegt. Spiegelbildhaft kommentiert die kommunistische Elite etwaige Protestbewegungen in ihren Ländern als Produkt imperialistischer Machenschaften. Carters Menschenrechtspolitik brachte sowohl amerikanische wie sowjetische, alliierte und neutrale Diplomaten in Verlegenheit, weil sie Zustände bewußt machte, von denen es den „establishments" auf der ganzen Welt lieber gewesen wäre, wenn sie unentdeckt geblieben wären. Zu dem selektiven Hören dessen, was man hören will, kommt noch die Ideologie hinzu. Wer z. B.der Ideologie des Antikommunismus anhängt, kann sich nicht vorstellen, daß Länder, die zur „freien Welt" gehören, ihre Bürger unterdrücken; umgekehrt schließt kommunistische Ideologie aus, daß sozialistische Brudervölker wirtschaftlich ausgebeutet werden.

Berichterstattung kann weiterhin Manipulierung, Schönfärbung oder Unterdrückung von Informationen bedeuten, wenn die Ereignisse nicht in das Weltbild passen, das die Entscheidungsträger der Öffentlichkeit innerhalb oder auch außerhalb ihrer Länder präsentieren wollen. Die Wissenschaft von den internationalen Beziehungen muß daher das Studium von Mediensystemen, von Zensur, von Meinungsbildung sowie das Problem der Geheimhaltung in der Außenpolitik wie auch in den Regierungen im allgemeinen einschließen. Hier nur ein paar Hinweise: Je mehr Information (im Prinzip) zur Verfügung steht, um so größer ist die Versuchung, „ungünstige" oder dissonante Information der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Nicht nur totalitäre Systeme verstehen sich auf Gedanken-und damit Meinungskontrolle; auch Demokratien kranken an der Geheimhaltungspolitik ihrer Regierungen. Auch wenn in bestimmten Stadien diplomatischer Verhandlungen oder auf bestimmten Entscherdungsebenen Geheimhaltung unvermeidlich ist, bleibt als Ziel doch: So viel Kommunikation wie möglich!

Hätten die Deutschen im Herbst 1914 erfahren, daß die Marneschlacht verloren war (was den Sieg unerreichbar machte), so wäre die deutsche Regierung gezwungen gewesen, nicht erst 1918, sondern schon 1915 Frieden zu schließen. Aber Kriege anzuzetteln oder zu verlängern, indem der Bevölkerung Informationen vorenthalten werden, ist nicht nur unter undemokratischen Regimen möglich. Wichtige Tatsachen über den Vietnam-Krieg wurden dem amerikanischen Volk (und sogar dem Kongreß — siehe den Tonkin-Golf-Zwischenfall) verschwiegen bzw. entstellt übermittelt, was den Krieg um Jahre verlängerte. Von seinem eigenen Gesandten manipulierte Informationen veranlaßten Präsident Johnson, in der Dominikanischen Republik zu intervenieren Der Radius der Informationsverbreitung (der vielleicht in meinem obigen Informationsmodell eine vierte Dimension darstellen könnte) ist selbst in Ländern mit Pressefreiheit begrenzt, wenn die Medien einer Regierungskontrolle unterliegen oder Privatinteressen ausgeliefert sind (etwa Unternehmer-und Reklameinteressen).

In den Vereinigten Staaten ist das Fernsehen zur Domäne der „Händler" (insbesondere der großen Konzerne) geworden, die die Reklame und damit die Programme kaufen. Nachrichten über Weltereignisse treten weit hinter der Sport-und Sensationsberichterstattung zurück. Kein Land hat eine bessere Truppe von Ausländskorrespondenten als die Vereinigten Staaten, aber der Einfluß der Presselords und deren Profitinteresse begrenzen ihre Möglichkeiten. Und so beschränkt sich das an Außenpolitik interessierte Publikum selbst im heutigen Stadium weltweiter Informationsverfügbarkeit auf jene Gruppe, die sich um Information intensiv bemüht, also auf die „aufmerksame Öffentlichkeit". In Systemen, in denen Zensur ausgeübt und die Medien kontrolliert werden, ist es natürlich noch schlimmer: Da treten Gerüchte und Flüsterpropaganda an die Stelle von verläßlicher Information. Und in den Ländern der Dritten Welt mangelt es oft an Kommunikationseinrichtungen, so daß es selbst den Führungsschichten einschließlich der Regierungen an Informationen fehlt. T weise mag dieses Manko durch ihre Mitgli schäft in internationalen Organisationen t gewogen werden, wo ihnen Informationen gänglich gemacht und Kommunikation möglicht werden.

In einer Welt, in der „das Staatsinteresse" mer mehr mit den überlebensinteresien Menschheit verschmilzt (siehe meine Ausf rungen weiter unten), kommt alles darauf daß so viele Menschen wie möglich so vie Tatbestände wie möglich gewahr werden.! Erfolg von Politik, die auf Lösung dieser üb lebensprobleme gerichtet ist, hängt davon ob eine größere Öffentlichkeit und ein e sprechendes Gewahrwerden und Interesse sie geschaffen werden kann. Hier wird die • mension Zukunft" lebenswichtig. Sorge umi Zukunft ist in der Geschichte eine verhältn mäßig neue Erscheinung. Aber Phänome wie nukleare Bedrohungen, Gesundheits fährdung durch Chemikalien, Bevölkerun explosionen in Elendsgebieten, Zerstöru der lebenden Nahrungsreserven im M(durch Ölverschmutzung haben es an sich, d sie breitere Bevölkerungsschichten beunru gen, ob Regierungen oder sonstige Eliten c gerne sehen oder nicht. Sicherlich wird die!

wußtwerdung erschwert, wenn sich die Geh ren nur langsam und allmählich entwich (Bevölkerungswachstum wird im allgemein nur bei je einem Baby spürbar, und Klimav! änderungen oder Wüstenbildung lassen si nicht gleich erkennen) oder wenn Sympton nicht gleich erkennbar sind (Strahlenschäde Asbestvergiftung mit den entsprechend Krebserkrankungen, die oft erst 15 oder Jahre später auftreten). Außerdem stimmt auch, daß die Menschen sich hauptsächlil um die Gruppen Sorgen machen, zu denens selbst gehören, und besonders die größte, d Gruppe Menschheit, außer acht lassen. M könnte wünschen, es gäbe statt der Milliardf mehr oder weniger wissender, mehr oder" 1 niger beunruhigter Einzelwesen ein Weltg hirn, das als Zentralfühler einer sich alsi samtorganismus fühlenden Menschheit dü te. Das ist Science-fiction. Aber es zeigt Dringlichkeit des Bewußtwerdungsprobl in einer Welt, in der das überleben dieses . " samtorganismus" auf dem Spiel steht.

III. Wie Weltbilder entstehen

Informationsforschung, d. h. die Erforschung der Wirkung von Information auf Weltbilder und entsprechende Handlungen, ist wichtig, aber keineswegs ausreichend. Was Akteuren und der Öffentlichkeit übermittelt wird, trifft nicht auf eine tabula rasa, sondern auf Gehirne, die bereits durch das, was ihnen früher vermittelt wurde, vorgeformt sind. So müssen zur Informations-und Kommunikationstheorie noch all die Forschungszweige hinzukommen, die sich mit Meinungsbildung und der Entstehung von Verhaltensmustern der Menschen befassen, insbesondere derer, die, sei es als Führer oder „Gefolge", in Gruppen, die sich mit Außenpolitik beschäftigen, eine Rolle spielen. Diese Forschungszweige umfassen eine Skala, die von Kinderpsychologie über politische Sozialisation bis zu Kultureinflüssen, Auswirkungen von ökonomischem und sozialem Status und Rang, dem Prozeß der Entscheidungsfindung und der Auswahl der sich mit Außenpolitik beschäftigenden Personen reicht. Wir werden uns im folgenden noch mit Begriffsbildungen und Ideologien beschäftigen. Hier nur ein paar Beispiele für die Notwendigkeit, sich mit ihnen wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Mit Kinder-und Jugendpsychologie sowie mit politischer Sozialisation hat man sich (wenn weh nicht gerade mit Bezug auf das Gebiet der internationalen Beziehungen) ausgiebig befaßt. Aber man muß schon ganz früh bei der psychischen Entwicklung des Kleinkindes ansetzen. Es reicht z. B. nicht mehr aus, von ei-nem „angeborenen" Aggressionstrieb zu spre-Sneni es muß nachgewiesen werden, was daran genetisch ist und was nicht. In der Kiner-und Jugendpsychologie scheint man zu ener Theorie zu neigen, die früheste Kind-

eitserlebnisse in den Vordergrund stellt. Wer ® einer Atmosphäre von Wärme und in liebe'° er Umgebung aufwächst, erlebt die Welt a seinen eher freundlichen Ort, wo man einän er hilft, während andere, die eine solche mwelt entbehren müssen, ihre Welt eher als gundsätzlich feindlich erleben und daher ein °n surrenz-oder Unterwürfigkeitsverhalten dse" vkeln. Dieser letzteren Gruppe erscheint w , 6tinsbesondere die internationale . die nicht als eine Gruppe organisiert ist fii S ein Bereich ständiger Kämpfe und Kon-Welt Während die erstere selbst die weiteste hält s ur Harmonie-und kooperationsfähig bild ° ergeben sich entgegengesetzte Welt-er und Handlungsmuster.

Aber man muß sich vor Detterminismus hüten. Frühe Kindheitserlebnisse mögen ein ursächlicher Faktor sein; es gibt jedoch noch unzählige andere. Zum Beispiel die Sozialisation in der Familie und in der Schule; den gesellschaftlichen Status und die Religions-oder Volkszugehörigkeit; den Einfluß der Lebenserfahrung; vor allem die Verinnerlichung des kulturellen und historischen Erbes, das das Individuum als Mitglied einer bestimmten Gruppe beeinflußt. Man denke an den Einfluß magischer Begriffe auf Weltbilder, an den Einfluß von Auguren und Orakeln auf „außenpolitische" Entscheidungen, an kambodschanische Handlungsmuster, die noch zur Zeit des Vietnam-Krieges von Astrologie und ähnlichem „Aberglauben" bestimmt wurden, oder — noch allgemeiner — an den Glauben an Gott oder Götter und was sich daraus etwa für die Heiligkeit von Verträgen ergibt; weniger als man im allgemeinen annimmt, beruht in der Außenpolitik auf rationalen Weltbildern.

Es bilden sich „politische Kulturen" als Systeme von Grundvorstellungen über das, was die eigene politische Einheit im Gegensatz zu anderen Gruppen charakterisiert, Vorstellungen, die als stereotype Bilder und Rezeptionen von einer Generation auf die andere übergehen. In den Beziehungen zwischen Staaten und Völkern haben nicht nur solche Selbstidentifizierungen, sondern vor allem auch die Vorstellungen, Bilder, die man sich von anderen Gruppen und besonders anderen Völkern macht und die sich oft als verwurzelte Vorurteile und Gemeinplätze manifestieren, eine ungeheuere Rolle gespielt. Solche Vorurteile gehören zu den schädlichsten Motiven, die Gruppe gegen Gruppe und Volk gegen Volk setzen Aber Weltbilder können sich in diesem Prozeß auch ändern. Eine Änderung überlieferter Weltvorstellungen vollzieht sich oft unter dem Einfluß von „Dissidenten", oft von „Intellektuellen“ (früher hauptsächlich Philosophen oder Völkerrechtler, heute immer häufiger Sozialwissenschaftler), die entweder direkt als Entscheidungsträger oder Berater von Entscheidungsträgern oder indirekt als Lehrer oder Schriftsteller die politischen Führungsschichten oder die „aufmerksame Öffentlichkeit" oder beide beeinflussen. Wenn sie in internationalen Organisationen tätig sind, sind sie hie und da imstande, nationalen Vorurteilen entgegenzuwirken oder sie gar zu ändern. Auf indirektem Wege können ihre Theorien (oft in verzerrter und übervereinfachter Form) nach „unten" absinken, um dort einen historischen Rückstand von selbstverständlichen „Ansichten" zu bilden

Ideologien spielen ihre vorzüglichste Rolle, wenn sie als mehr oder weniger logisches Ganzes von Weltbildern und Lebensauffassungen das Verhalten von Machthabern bestimmen. Hier braucht nicht näher ausgeführt zu werden, wie religiöse, politische und sonstige „Bewegungen“ die Welt auf ihre Weise gesehen und interpretiert und wie sie damit das Weltgeschehen beeinflußt haben (z. B.der frühe Islam durch seine „heiligen Kriege", das Christentum durch die Kreuzzüge, der Marxismus durch seine Ideen von Klassenkampf und anti-imperialistischen Befreiungskriegen, der Imperialismus mit seinen Vorstellungen von Überlegenheit und Unterlegenheit von Völkern oder Rassen). Für unsere Zwecke ist es wichtiger zu verstehen, daß selbst weniger organisierte, sozusagen vortheoretische Auffassungen wie auch individuelle Weltbilder ebenfalls allgemeine Bewußtheitsmuster (oder Mangel an Bewußtheit) widerspiegeln können, die die Welt zu der von Akteuren wahrgenom menen Welt machen und so deren Handlur gen und Reaktionen auf der Bühne des Wei geschehens motivieren. Solche vortheoret sehe Auffassungen fallen daher auch unte den Begriff „Ideologie". Darauf, wie eine derai individualisierte Ideologie auch die Begriffs bildung beeinflußt, wird weiter unten einge gangen. Hier dazu nur folgendes: Jeder hältir allgemeinen seine Auffassung für die „Wahi heit", während er die Auffassung des andere: (besonders die des Gegners) zur Ideologie in abwertenden Sinne des Wortes stempelt. Di eigene Ideologie nimmt oft die Form eines an geblichen Interesses an. So verbirgt sich hinte dem „Staatsinteresse" oft eine Ideologie de expansiven Nationalismus. Andererseits trit die Ideologie oft in den Hintergrund, wem ihre Prinzipien mit den jeweiligen Staatsinter essen, wie die Führungsschicht sie versteh! kollidieren

Oft beeinflußt die Skala der Rezeptionen da: Zustandekommen einer Ideologie, so zum Bei spiel, wenn Marxisten die Rolle von Volks gruppen oder nationalen Minderheiten ver nachlässigen, weil sie ihr Hauptaugenmer auf Klassen und Klassenbeziehungen richten Andererseits kann Ideologie die Bewußtwer düng beschränken, besonders bei einem Regi me, das nicht nur den Informationsfluß zu eigenen Bevölkerung einschränkt, sondern selbst den Führern „unangenehme" Tatsachen vorenthält. Als Beispiel gelte nicht nur derbe-kannte Fall, daß Hitler sich den Informationen über das amerikanische Kriegspotential verschloß, als er Amerika den Krieg erklärte, sondern auch die oben erwähnte mangelnde Bereitschaft der Amerikaner, Informationen über die internen Verhältnisse im Iran vorder iranischen Revolution zur Kenntnis zu nehmen.

IV. Grundbegriffe, die Weltbilder widerspiegeln

Der tiefgreifendste Einfluß von Weltbildern (und auch von Ideologien im engeren Sinne) zeigt sich, wenn man die Begriffsbildung der internationalen Beziehungen untersucht. Hier beginnen die Theoretiker im allgemeinen mit der Ausarbeitung von „Systemen". Sie unter-scheiden Systeme multipolaren und bipolaren Gleichgewichts, Hegemonialsysteme usW. tg nächst einmal besteht aber ein Unterschied zwischen den Systemkonstrukteuren einerseits und andererseits denen, die überhaupt kein System, sondern nur unstrukturierte Ereignisse wahrnehmen, für die die Welt nur aus chaotischen, stets wechselnden Beziehungen zwischen wechselnden Akteuren besteht: eine Welt des Kampfes und der Anarchie ä la Hob-bes, des überlebens der Stärksten ä la Darwin, einer „Freund-Feind" -Konstellation ä la Carl Schmitt; eine Welt also, die sich, wie wir gesehen haben, aus den Weltbildern und Verhaltensmustern derer ergibt, die seit frühester Kindheit ihre Umgebung als feindlich und bedrohlich empfanden. Aber selbst wenn die Akteure die Welt als „System" sehen, unterscheiden sie sich oft in der Art des Systems, das ihrer Welt angemessen ist. Ob z. B. ein System des Mächtegleichgewichts existiert, hängt davon ab, ob die betreffenden Beziehungen der Staaten untereinander als gleichgewichtig empfunden werden. Selbst auf dem angeblichen Höhepunkt der Gleichgewichtspolitik im 18. und 19. Jahrhundert existierte dieses System hauptsächlich für England und dessen Staatsmänner, die in der Kunst hervorragten, die Machtbalance aufrechtzuerhalten. Für die anderen europäischen Staatsmänner, die Friedrichs und die Bismarcks — von Ludwigs und den Napoleons ganz zu schweigen — handelt es sich mehr um einen Kampf um Vorherrschaft, Hegemonie, Imperium, während man unter Gleichgewicht nur eine momentane Konstellation im Fluß der Ereignisse verstand.

Was haben wir heute? Ein bipolares oder ein bipolares" Gleichgewicht, oder gar ein „Fünfeck der Macht" oder was sonst? Oder handelt es sich um eine sich neu herausbildende He-gemonie (wie Teng und die westlichen „Falen in bezug auf die Sowjets glauben und was " d rscheinlich die Sowjets von den Vereinig-Nn Staaten annehmen)? Gab es in der ersten achkriegszeit ein „imperiales" System (mit amerikanischer Vorherrschaft)? Ähnliche einungsverschiedenheiten bestehen oft in ugauf angebliche „Einkreisung": Deutsch-ein hielt sich vor 1914 von der Entente für unpreist, während sich Frankreich, England Q" k m von einem „hegemonialen" Reich schr° p fühlten. Die Sowjets, die in amerikani-hieit erspektive nur „eingedämmt" waren, Jäh-en. sich mindestens bis in die sechziger eing, urch die westliche Blockbildung für der €reist, und China glaubt sich heute von -" etischen Einkreisung bedroht.

" as hier. korrekte" Rezeption und was „Fehl-

P 1on ist, zeigt sich im allgemeinen erst, wenn es am Prüfstein der Ereignisse, wie etwa eines Krieges, gemessen wird. In Kriegen erweist sich, welches der verschiedenen Images der internationalen „Realität" am nächsten kam. Das trifft besonders auf den Machtbegriff selbst zu, ein Begriff, den man oft für den grundlegenden Begriff der Außenpolitik hält, der aber praktisch ebenso vage und schwer zu definieren ist wie nur irgendeiner. Gleichgewichte hängen davon ab, wie Macht eingeschätzt wird, aber Macht selbst kann nur mit Hilfe von „Machtelementen" eingeschätzt werden, als da sind Größe und Gestalt eines Territoriums, Größe und Art einer Bevölkerung, Besitz von Rohstoffen, Militärmacht (die wiederum mit gar nicht leicht vergleichbaren Begriffen geschätzt wird) und so weiter. Die bloße Tatsache, daß man von anderen für „mächtig" oder weniger mächtig gehalten wird, daß man ein bestimmtes Image hat, ein bestimmtes Maß von „Prestige" genießt, kann an sich schon ein Machtelement darstellen, d. h. zur Macht einer Macht etwas dazutun oder davon wegnehmen. Frankreich wurde in der Zwischenkriegszeit als Macht überschätzt, aber das zeigte sich erst 1940 und ermöglichte es Frankreich bis dahin, sich auf der internationalen Bühne „mächtiger" zu gebärden. Dagegen wurde die Macht der Sowjets in dieser Zeit unterschätzt, was sich erst nach 1941 herausstellte, jedoch vor dem Kriege die sowjetische Manövrierfähigkeit einschränkte Es hat also wenig Sinn, über Außenpolitik mit Begriffen wie „Machtpolitik", „Kampf um die Macht" allein zu diskutieren. Alles hängt davon ab, wie die Akteure die Macht einschätzen — und nicht nur die Macht. Noch wichtiger sind ihre Vorstellungen von den Machteinheiten und ihren Repräsentanten.

Im europäischen Mittelalter konnte man kaum von inter, nationalen" Beziehungen sprechen, da sich die öffentliche Gewalt außer der vagen Universalmacht von Kaiser und Kirche in einem Wirrwarr von feudalen Zuständigkeiten verlor. Als die Territorialstaaten mit ihren Bürokratien „souverän" wurden, sah man in ihnen zuerst keine abstrakten, fiktiven juristischen Personen, sondern personifizierte Monarchien, deren „nationale Interessen“ stark von der Tatsache beeinflußt waren, daß es sich um ganz bestimmte Dynastien (die Bourbonen, die Habsburger etc.) handelte, die die Staaten in ihren gegenseitigen Beziehungen repräsentierten und personifizierten.

Mit dem Siege des mechanistischen Weltbildes der Aufklärung wurden diese Einheiten als „juristische Personen“, „Fiskus" usw. verdinglicht, und als sich dann das Prinzip der „freien Selbstbestimmung der Völker" (im Sinne von Demokratie im Innern und nationaler Unabhängigkeit nach außen) durchgesetzt hatte, wurden sie zu „Nationalstaaten", die die Gesamtbevölkerung vertraten. So hat man also den modernen Staat als Akteur auf der internationalen Bühne auf sehr unterschiedliche Weise als Herrscher, als herrschende Gruppe, als ethnische oder nationale Gruppe und schließlich als die gesamte „Nation" begriffen. Daher hat man unter „Staatsinteresse“ je nachdem dynastische Interessen, Interessen vorherrschender ethnischer, religiöser, sozialer oder wirtschaftlicher Gruppen begriffen oder auch etwas, das man als Interesse der Gesamtbevölkerung wahrnahm. Als solches wahrgenommen von denen, die die Politik machen, was nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, was sich die Bevölkerung unter „Gemeinwohl" vorstellt. Bei solcher Verdinglichung des Staatsbegriffs können subnationale Interessen wie etwa Wirtschaftsinteressen oder Interessen sonstiger Pressionsgruppen entweder übersehen oder aber zum Allgemeininteresse emporgehoben werden. Es bedeutet also nicht viel, wenn man Außenpolitik als Politik, die das „Staatsinteresse“ vertritt, definiert. Alles hängt davon ab, was die Akteure als Staatsinteresse rezipieren

Im Zeitalter nuklearer Durchdringbarkeit ist es schwer, das Staatsinteresse auch nur mit dem Mindestinteresse an Sicherheit und Verteidigungsmöglichkeit des Staatsgebiets und seiner Bevölkerung zu identifizieren, und es erstaunt nicht, daß selbst hier die Ansichten auseinandergehen. Das trifft vor allem auf die kleineren und schwächeren Staaten zu, deren Identität als „souveräne" Einheiten zweifelhaft wird, wenn sie strategisch von anderen abhängen und ökonomisch, finanziell usw. nicht nur von anderen Ländern, sondern auch von Wirtschaftsorganisationen wie internationalen Banken oder dem internationalen Währungsfonds sowie transnationalen Unternehmungen abhängig werden. Die letzteren ihrerseits werden immer „multinationaler", was ihr Kapital ihre Angestellten, die Plätze ihrer Betätigungen betrifft, so daß zu den inter„nationalen" Beziehungen heute noch die „trans“ nationalen zwischen unzähligen „funktionalen“ Akteuren, Unternehmen und Organisationen hinzukom-men. Sicherlich bemühen sich Nationalstaaten und ihre die Außenpolitik bestimmenden Führungsschichten noch immer darum, als Repräsentanten und Verteidiger nationaler Interessen zu erscheinen. Aber der Status des Nationalstaates als des Hauptträgers der internationalen Beziehungen wird selbst immer fragwürdiger. Seine Legitimität steht auf dem Spiel, besonders in den abhängigeren Ländern der Dritten Welt, wo oft zahlenmäßig kleine einheimische Eliten, die gemeinsam mit ausländischen Wirtschaftsgruppen (vor allem den multinationalen Unternehmungen) herrschen, selbst wenn sie von internationalen Bankinstituten gestützt werden, sich als immer unfähiger erweisen, auch nur die elementarsten Bedürfnisse ihrer Einwohner zu befriedigen-Gleichzeitig versuchen nicht nur öffentliche internationale Behörden wie das internationale Arbeitsamt oder die Weltgesundheit behörde, sondern auch private transnational Organisationen wie Kirchen oder Amnesty International mit Gruppen oder einzelnen 1 diesen Ländern direkten Kontakt aufzuneh men. In der Unzahl der verschiedenen Ansig ten und Theorien über diese Dinge sPpieg 6n sich die Kompliziertheit der tatsächlic en Lage wider.

V. Imagepflege und Außenpolitik

Daß sich die Akteure der Rolle des Image bewußt sind, wird klar, wenn man bedenkt, daß ein Großteil der Staatskunst aus Imagepflege besteht. In dem Maße, wie die Öffentlichkeit in der Außenpolitik an Gewicht gewinnt, vergrößert sich die Rolle der Imagepflege, so daß es heute in der Außenpolitik fast nichts mehr gibt, das nicht irgend einen Propaganda-(„Public Relations-") Aspekt hat. Ein Großteil der so-genannten „Machtpolitik" zielt darauf ab, in derWelt in günstigem Licht zu erscheinen: bei Verbündeten, Gegnern, Neutralen und last not least bei den Bürgern im eigenen Lande. Eine ganze Politik wird unter Umständen nur um der Imagepflege willen eingeleitet oder dient dazu, daß man „das Gesicht wahrt" oder seine . Glaubwürdigkeit" aufrechterhält.

Die Politik der Vereinigten Staaten in Vietnam war in beträchtlichem Maße von dem Wunsch bestimmt, den Verbündeten gegenüber (Europäern, Südkoreanern, Israelis) nicht als „unzuverlässig" zu erscheinen; ohne dies wäre der Krieg vielleicht viel früher beendet worden. Das gleiche gilt für die Unterstützung des Schahs bis zum Ende oder der Portugiesen (als Natoverbündete) bis zu deren Ende in Afrika, was allerdings für die Beziehungen der Vereinigten Staaten zum schwarzen Afrika das Gegenteil bewirkte. Andererseits ist die Opposition gegen die Apartheidpolitik Südafrikas ein Versuch, in Schwarzafrika, der Dritten Welt, und bei den Liberalen und Schwarzen im eigenen Lande das Image der Vereinigten Staaten aufzupolieren.

Ganze Bürokratien versehen heute Öffentlichkeitsarbeit, und zwar nicht nur Behörden, die eigens dafür geschaffen werden, Propaganda zu betreiben, sondern auch Nachrichtendienste, deren Einflußnahme auf die Meinungsbil-

dung anderer Länder (und je geheimer, um so besser die Erfolgschancen) ebenso wichtig ist wie ihre Berichterstattungsrolle. Bei der Propagandatätigkeit haben die Medien, beson-

ders Rundfunksendungen ins Ausland, einen entscheidenden Anteil. Und da sich (besoners in Demokratien) fast alle zur Teilnahme rufen fühlen, haben Regierungen konstant I Koordinationsproblemen zu kämpfen:

er ist befugt, was zu sagen, wenn es darum geht, den Standpunkt eines Landes in der Welt zu vertreten?

Symbole, Rangordnung, Zeremonie etc. sind 9 ere Zeichen dafür, welchen Wert man auf bol US und Prestige legt. Welche Rolle Sym-

6 in der Diplomatie immer gespielt haben, ist hinreichend bekannt. Das gilt noch ganz unvermindert bis in unsere Tage. Man denke nur an offizielle Staatsbesuche mit ihrem ganzen Klimbim oder etwa an das Auftrumpfen des ehemaligen Schahs, der behauptete, sein Land würde demnächst im Rang den „Übermächten" gleichkommen (und der für diesen Zweck eine hypermoderne Militärmacht aufbaute und in Städten, denen es an Kanalisation mangelt, goldene Paläste errichtete), oder an Entwicklungsländer, die sich, hauptsächlich aus Prestigegründen die modernsten Düsen-flotten und Düsenflughäfen zulegen oder den Rang einer Atommacht anstreben. Oder man denke an den früheren Herrscher eines der ärmsten afrikanischen Länder, der sich den Titel Kaiser zulegte und dabei das bißchen Reichtum, das sein neues „Kaiserreich" besaß, für seine Krönung ausgab.

Anerkennung und Anerkennungspolitik werfen ein besonderes Licht auf die Imagerolle. Obwohl Anerkennung im Völkerrecht — und immer stärker auch in der Praxis — kaum mehr bedeutet als die Aufnahme und Aufrechterhaltung offizieller diplomatischer Beziehungen (im Falle einer Verweigerung der Anerkennung lassen sich tatsächliche Beziehungen leicht herstellen, indem man einfach Ausdrücke wie „Gesandtschaft" durch „Verbindungsstelle" oder ähnliches ersetzt), kann die Gewährung oder Verweigerung der Anerkennung von Staaten oder Regierungen in gewissen Fällen den Unterschied zwischen Stärke und Schwäche, ja gegebenenfalls zwischen Existenz und Nichtexistenz bedeuten.

Im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein hat die Anerkennungspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Lateinamerika Regime ins Leben gerufen bzw. zugrundegerichtet. Die sofortige Anerkennung durch die Großmächte war wahrscheinlich entscheidend für das Fortbestehen des Staates Israel. Die . Anerkennung" der PLO durch die Vereinten Nationen hat den Status dieser Gruppe gefestigt (das gleiche bewirkte in der Zwischenkriegszeit die Anerkennung der Jewish Agency für den Zionismus). Ganz allgemein ist Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen und anderen Weltorganisationen oder ähnliche . Anerkennung” durch diese Behörden ein von allen Staaten der Welt erstrebtes Statussymbol geworden: sie bedeutet Kollektivlegitimierung. Selbst mikroskopisch kleine Einheiten bestehen auf „souveräner Gleichheit" mit allen anderen; damit wird sich die Welt abgelege-ner Regionen und Randbevölkerungen bewußt, doch hat diese Entwicklung auch fast unüberwindbare Probleme für die Weltorganisation geschaffen (z. B. die Bildung großer Stimmblöcke, die meist wenig Reales vertreten, jedoch das Image einer Welt „gleichberechtigter" Völker stärken).

Zuweilen bewirkt Anerkennung, daß Staaten und Völker, die „außerhalb“ der Welt und der Weltbeziehungen gelassen waren, plötzlich Zugang finden. Ein Fünftel der Weltbevölkerung blieb „im Dunkel“ (dieses Fünftel in bezug auf die Welt außerhalb, und die Welt wiederum in bezug auf alles, was sich innerhalb dieses Fünftels abspielte), bevor China von den Vereinten Nationen und den wichtigsten Staaten anerkannt wurde; dasselbe galt für den zweiten deutschen Staat, bevor er vom Westen und besonders von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde. Das bedeutete mehr als den bloßen Namenswechsel vom „besetzten Gebiet" (wie die arabischen Extremisten Israel noch heute nennen) zur Bezeichnung als souveräner Staat mit dem dazugehörigen Status, oder wie im Falle Chinas, von der Bezeichnung „Banditengang" zur „Volksrepublik".

Anerkennung oder Nichtanerkennung haben eine tiefere Bedeutung. Der Mensch wird zum wahren Menschen durch Kommunikation mit anderen Menschen. „Homo communicans’ (und damit auch zoon politikon) trifft seinen Charakter als Mensch besser als etwa die Bezeichnung „homo faber" oder „homo oeconomicus". Von anderen anerkannt zu werden, ist für ein erfülltes Leben wesentlich. Völlige Isolation kann zum Selbstmord führen; Verbannung ist eine der grausamsten Strafen. Mangel an Kommunikation kann Identitätsverlust bedeuten. Die Isolierung einer Gruppe kann zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die Gruppen-mitglieder werden möglicherweise entfremdet und fallen der Verzweiflung anheim. Die Führung einer solchen Gruppe, die sich zutiefst verwundbar fühlt, wird möglicherweise aggressiv. Daß Israel von den meisten seiner Nachbarn nicht anerkannt wird, ist die schwerste Bürde, die dieser Staat zu tragen hat; ebenso ergeht es den palästinensischen Arabern, die ihre Gruppenidentität als Nation suchen. So mag sich im Symbolismus, in der Imagepflege, im Prestige mehr verbergen als oberflächlich-äußerliches Gehabe oder (mehr oder minder) lächerliches Getue. Diese Erscheinungen betreffen einen wesentlichen Aspekt menschlicher und damit internationaler Beziehungen: „Wer erscheint als was in den Augen anderer" gehört zu den Grundelementen bei der Formung der Weltbilder, die das Handeln bestimmen

VI. Auf dem Wege zu einem einheitlichen Weltbild der Zukunft

Seit das moderne Staatensystem Normen entwickelt hat, die die zwischenstaatlichen Beziehungen rechtlicher Regelung unterwerfen sollten, ist die Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen strittig und häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen gewesen. Ob sich diese Normen, Regeln und Prinzipien mit Normen innerstaatlicher Rechtssysteme vergleichen lassen, sei hier dahingestellt. Interessant für eine Untersuchung von Bewußtwerdung, Weltauffassung usw. ist vielmehr, daß eine rechtliche Interpretation der Welt eine mögliche Art und Weise ist internationale Beziehungen zu „sehen". Eine solche Sicht betrachtet die Welt als ein in sichge schlossenes Normensystem, in dem alle Verhaltensmuster und Aktionen an Rechtsnormen gemessen werden, so daß jegliches Geschehen entweder als legal oder illegal erscheint. Das ist natürlich das Gegenteil von einem Weltbild, in dem die Welt als Arena ungeregelten Machthandelns erscheint. Aber in einem Zeitalter, in dem eine Weltorganisation gegründet wurde, um selbst Machtbeziehungen rechtlichen Grundsätzen zu unterwerfen (wie dies in der Charta der Vereinten Nationen geschieht), ist es vielleicht nicht mehr so „unrealistisch“ wie vordem, die Welt als juristischen Kosmos zu begreifen.

Nationen einschließlich der Großmächte waren schon immer damit einverstanden, gewisse Bereiche der internationalen Beziehungen rechtlicher Regelung zu unterwerfen (Vertragsrecht, Schiedsgerichtsbarkeit, Regelung von Ansprüchen mehr technisch-ökonomischer Natur usw.), und die Tatsache, daß sie heute wenigstens zu vermeiden suchen, als . Angreifer“ abgestempelt zu werden oder ein Gebiet „widerrechtlich" erworben zu haben, deutet darauf hin, daß sie trotz des Nicht-vorhandenseins einer Zwangsorganisation „glaubwürdig" zu handeln versuchen, d. h. im Einklang mit selbstauferlegten Rechtsnormen. Auch ist es vielleicht bezeichnend, daß sich die mit den Vereinten Nationen gekoppelten Weltbehörden bemühen, den Ländern der Welt die Dringlichkeit der großen Weltprobleme klarzumachen und sie dazu zu bringen, die zur Lösung dieser Probleme erforderlichen Regeln anzuerkennen.

Es könnte also eine Chance bestehen, daß trotz aller partiellen, provinziellen, oft miteinsnder in Widerspruch stehenden Weltbilder der Vergangenheit (und der Gegenwart) Völkerrecht und internationale Organisation azu beitragen, daß man sich in bezug auf die ukunft der Aufgaben bewußt wird, die nur gemeinsam durchgeführt werden können. Tatsächlich zwingt sich in großen Teilen der Welt, esonders der Dritten Welt, die ja einen immer größeren Teil der Menschheit umfaßt, s andig mehr die Erkenntnis von der entscheidenden Wichtigkeit der Weltprobleme — wie 6s Welternährungsproblems oder des Weltbgyokerungsproblems — auf, insbesondere s 6L en Menschenmassen, die von Armut geagen sind, keine sinnvolle Beschäftigung M en und deren Jugend in den Elendsvier;

n er wachsenden Riesenstädte ohne Hoffmit aufwächst. Zwar sind Armut und die dasch verbundenen Probleme so alt wie die Gelc te der Menschheit, aber in einer Zeit, in der sie allen Gesellschaftsformen ihren Stempel aufdrücken und sich über alle Kontinente ausbreiten, nehmen sie einen qualitativ anderen Charakter an, dies insbesondere, wenn man bedenkt, was für einen Lebensstandard Technik und „Modernisierung“ bewirken können — ein Gegensatz, der unverhüllt ans Licht kommt, wo Slums und hochmoderne Wohnbauten in wörtlichem Sinne „Seite an Seite" beieinanderliegen. Wir haben gesehen, wie die Bedingungen in den „Entwicklungs" -Ländern deren Regierungen und die von ihnen verfolgten „Staatsinteressen" in den Augen der Massen ihrer Legitimität berauben. Man kann annehmen, daß der Aufstand dieser Massen ein Weltbild entstehen lassen wird, das jenen Weltproblemen, die mit ihrer Unglückslage Zusammenhängen, Vorrang einräumt.

Das Bild, das wir von der Zukunft haben, wird die Zukunft gestalten. Wir haben gesehen, daß die Weltbilder und Erwartungen, die die Zukunft betreffen, noch sehr unterschiedlich sind. Futurologie beschäftigt sich mit Zukünften im Plural. Aber es scheint, daß heute zum ersten Mal ein wahrhaft planetares Weltbild plausibel erscheint. Es ergibt sich aus der Sicht der Astronauten von der kleinen bläulichen Kugel Erde, der Bewußtwerdung von ihrer Einzigartigkeit, ihrer Begrenztheit und ihrer Verletzlichkeit. Heute können ihre Bewohner noch ihre Zahl planen — und begrenzen, damit für alle Platz bleibt, können sie ihre Rüstungen planen und begrenzen, ihre knappen Rohstoffe planmäßig aufteilen und dahin wirken, daß ihre zerbrechliche Biosphäre erhalten bleibt. Dieses Weltbild „von außen“ ist natürlich auch nur eines von vielen Weltbildern. Doch die anderen sind provinziell, antagonistisch und tragen unter den neuen Bedingungen weltweiter Interdependenz das Risiko der Zerstörung, wenn nicht gar der Auslöschung der Menschheit in sich. Und so stellt sich selbst dem Wertrelativisten das globale Weltbild deshalb fundamentaler dar als alle anderen, weil es dem Wert des überlebens der Menschheit, ohne den alle anderen Wertmaßstäbe bedeutungslos werden, den Vorrang einräumt. Eine Ethik, die auf Menschheitsüberleben abstellt kann Weltbild und Aufmerksamkeit der Menschen und ihre Handlungen auf zwei Hauptgebiete lenken: auf das der „Sicherheit" und „Konfliktlösung" und auf die weniger machtbezogene und allgemeinere globale Ebene, auf der es darum geht, einen begrenzten Planeten und seine Ressourcen für eine wachsende Weltbevölkerung zu erhalten. Was das erstere Gebiet anlangt, so gewinnt hier die sogenannte Konfliktforschung besondere Bedeutung. Wie bereits ausgeführt, stellt sich gewissen Weltbildern und Ideologien die Welt (und besonders eine Welt nuklearer Über-mächte) als antagonistisch dar. Der „Kalte Krieg" brach aus als Ergebnis bestimmter gegenseitiger Fehlrezeptionen von Aggressivität. Höchstwahrscheinlich waren beide Seiten „in Wirklichkeit", d. h. in ihrer Eigeninterpretation, verteidigungsorientiert. Aber das Sicherheitsdilemma, das ihnen Wachsamkeit gegenüber den scheinbaren Angriffsabsichten des Gegners gebot, erlaubte es ihnen nicht, für den „Ernstfall" unvorbereitet zu sein. Wenn man jedoch seine Rezeptionsbereitschaft ausweitet, und zwar so, daß man die Befürchtungen und die darauf beruhenden Erwägungen der anderen Seite zur Kenntnis nimmt, d. h. sich in den anderen hineinversetzt, so kann das den Antagonismus abschwächen und Entspannung, Rüstungskontrolle und ähnliche Methoden der „Konfliktlösung" möglich machen. Im Augenblick gleiten wir wieder in eine Lage ab, die an die Frühzeit des Kalten Krieges erinnert; und zumindest auf amerikanischer Seite ist die imageproduzierende Propagandamaschine, in der sich antikommunistische Ideologie und die Interessen des „militärisch-industriellen Komplexes“ vereinigen, dabei, das „FreundFeind" -Bild von zwei sich tödlich bekämpfenden Welten neu aufzupolieren Auf diesem Wege liegt das Ende der Menschheit. Aber es gibt zumindest ein ermutigendes Zeichen des Fortschritts: Da beide Seiten sich der Gefahr gegenseitiger Vernichtung bewußt sind, stimmen sie wenigstens (noch!) darin überein, daß ein totaler Atomkrieg „unannehmbare" Folgen hätte. Nur wenn Politik und Strategie weiterhin auf dieser Einsicht basieren, gibt es noch Überlebenschancen.

Die andere Ebene — die der demographischen, ökologischen und Ressourcenprobleme — erfreut sich wachsender Bewußtheit in der Öffentlichkeit. Und dies nicht nur bei den Völkern der Dritten Welt, sondern bei den Menschen überall. Wenn eine explodierende mexikanische Bevölkerung tagtäglich auf die amerikanisch-mexikanische Grenze drückt und droht, die westliche Hälfte der Vereinigten Staaten zu überschwemmen, kann man selbst mit einem engstirnigen nationalistischen Weltbild dem entsprechenden Weltproblem nicht mehr ausweichen; wenn die Kontrollen der OPEC oder eine Revolution im Iran die industriellen Länder von ihren lebenswichtigen Energiequellen abschneiden, so kommt die öffentliche Meinung in diesen Ländern nicht mehr um die Überlegung herum, daß man Rohstoffe erhalten und das, was vorhanden ist, gerecht verteilen muß; wenn Riesentanker ihre Ladung ins Meer schütten und Ozeane und Küsten verpesten, wenn die Luft nicht mehr einzuatmen, das Wasser nicht mehr zu trinken ist und der Boden (ja selbst der menschliche Körper) mit Chemikalien verseucht wird, dann können die Menschen allmählich dessen gewahr werden, daß eine Globalpolitik und globale Kontrollen im Interesse jedes einzelnen Menschen liegen und daß „nationale Interessen" dem universalen Interesse an einer lebenserhaltenden Umwelt weichen oder mit ihm verschmelzen müssen. Dennoch kann es sein, daß hier, wie auf dem Macht-und Sicherheitssektor, das engstirnige Weltbild überwiegen wird. Anstatt daß man vernünftige Lösungen aushandelt, maßvol und im Bewußtsein, daß Opfer nötig sind, scheint die Flucht nach vorn um öl, um Land, um alles, was noch zu haben ist, in vollem Gange zu sein.

Hier liegt die Herausforderung für Intellektuelle, insbesondere für Forscher auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen Intellektuelle sind berufsmäßig Theoriebild-ner, d. h. Imageproduzenten. Ideen und Ideolo-gien, Bewußtsein und Weltbilder sind stets zu erst von „Philosophen" entwickelt wordr Diejenigen unter uns, die der Notlage 5 Menschheit gewahr geworden sind, müssen ihre Elfenbeintürme verlassen und alles daransetzen, ihre Forschungsergebnisse den Nichtfachleuten (sowohl den einfachen Menschen als auch den politischen Führungsschichten zu vermitteln. Wir müssen versuchen, die Bewußtseinsbildung zu gestalten und darlegen, was geschehen muß(z. B. Begrenzung des Bevölkerungswachstums), was geschehen kann (auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle z. B., oder der Erhaltung der Rohstoffe, oder der Bekämpfung von Umweltverschmutzung) und was nicht geschehen darf (Weltraumkolonisierung z. B., weil sie zu viel Energie kostet). Ebensowenig wie die anderen Zweige der Sozialwissenschaften kann es sich die Wissenschaft von den internationalen Beziehungen heute noch leisten, „reine Wissenschaft" zu bleiben; sie muß zur kritischen Aufklärung werden, d. h. zu einer „Philosophie der Praxis" -

Fussnoten

Fußnoten

  1. sich mtheorie und ähnliche Theorien beschäftigen nommnauptsächlich damit, wie die Dinge wahrge-mmn men werden, nicht damit, wieviel Wahrgenom-nen or idoch ist das Ausmaß des Wahrgenomme-naleRT ndlegend für die Analyse der internatio-über dbeziehungen. Aus der Fülle der Forschungen sende d 5aWiender Rezeption sei nur auf das umfas-tion amndbri llante Buch von Robert Jervis, Percep-verwiesd M! sperc^Ption in International Politics, scharfssen, das reichhaltig dokumentiert und sehr dunge h ® iskutiert, wie die Rezeption Entscheigen beeinflußt.

  2. In Mitscherlichs Worten hat ein Prozeß der „Derealisierung" der gerade vergangenen Realität des Dritten Reiches stattgefunden (Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967, S. 40). Ich selbst hatte anläßlich einer Feldstudie von deutschen Einstellungen in den frühen fünfziger Jahren Gelegenheit festzustellen, daß für den größten Teil der Deutschen die jüngste Geschichte sozusagen 1945 begonnen hatte, während nur eine Minderheit die Zeitspanne von 1933 bis 1945 in ihre Erinnerungen miteinbezog (siehe meinen Aufsatz „German Officialdom Revisited", World Politics Bd. 7 (1), Oktober 1954, S. 63 ff.).

  3. Wie Berichterstattung, selbst seitens der CIA, über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, über Oppositionsströmungen, über Abweichler in der Führung usw. von der amerikanischen Botschaft in Teheran und von Washingtoner Politikern behindert wurde, siehe in entsprechenden Artikeln in der New York Times vom 21. Dezember 1978, 7. Januar 1979 und 25. Januar 1979, wie auch bei Richard Rovere, Affairs of State, in der Zeitschrift The New Yorkervom 22. Januar 1979, S. 107ff. Ein CIA-Agent, der versuchte, kritischer über den Iran zu berichten und der daraufhin zurücktreten mußte, schloß daraus: „Die Politik bestimmt so ziemlich die Berichterstattung, anstatt umgekehrt" Und so war es möglich, daß Präsident Carter dem Schah anläßlich eines Iran-Besuches noch Anfang 1979 folgendes sagen konnte: „Der Iran stellt unter der großartigen Führung des Schah eine Insel der Stabilität in den unruhigeren Gegenden der Welt dar. Das ist Ihr Verdienst, Majestät, und zeugt für Ihre Führung und für die Achtung, die Bewunderung und die Liebe, die Ihnen von Ihrem Volke entgegengebracht wird."

  4. Eine Ersatzzeitung, die dem Gannett-Zeitun konzern gehört und damals in meine in einem ort gelegene Wohnung geliefert wurde, erbrad drastische Beweise dafür, wie wenig „Welt durchschnittlichen amerikanischen Zeitungs 2 zugänglich gemacht wird: Zeitungen dieses 'tungskonzerns widmen von ihren täglichen 11 120 Spalten ganze vier der Berichterstattung Ausland und Außenpolitik, während Nachnc aus der „Gesellschaft“ etwa 20 Spalten erhalte der Sport ungefähr 25. Dieser „Information 58 wäre ich mir nicht „bewußt" geworden, hattm nicht danach einen Artikel in der New Yorg über den Gannett-Konzern gelesen (sienemi Kleinfield, The Great Press Chain, in: New mes Magazine vom 8. April 1979, S. 41 ff-) -

  5. John H. Herz, The Nation-State andthe U Ii World Politics, New York 1976, Einführung Dort auch eine Darstellung meines eigenen des in seinen verschiedenen Ausgestaltung

  6. über Futurologie in all ihren Aspekten berisbtt zusammenfassend Ossip K. Flechtheim, Fu u — Der Kampf um die Zukunft, Köln 197

  7. Er hätte vielleicht seinem Gesandten nicht so bereitwillig geglaubt, wenn er nicht durch seine antikommunistische Ideologie prädisponiert gewesen wäre, in jeder Ecke Kommunisten zu sehen (eine ähnliche Voreingenommenheit wirkte sich auf die Vietnam-Situation noch viel ernster aus).

  8. Untersuchungen darüber, wie Länder andere Länder, wie Staaten andere Staaten sehen, gebührt Vorrang in der Erforschung der internationalen Beziehungen. Welches Bild haben sich z. B. die Deutschen von Amerika gemacht, vom 18. Jahrhundert bis heute? Das schließt das Amerikabild der politischen und kulturellen Eliten sowie das des „Durchschnittsbürgers" ein, Stereotypen etc. Ebenso erhellend wäre natürlich eine entsprechende Untersuchung über das Bild, das Amerikaner von Deutschland hatten und noch haben. Oder das Deutschland-bild in den Augen von Franzosen, Engländern, Russen und umgekehrt. Eine interessante Sammlung und Analyse der wechselnden amerikanischen Rußlandbilder bietet Eugene Anschel, The American Image of Russia 1775— 1917, New York 1974, und American Appraisals of Soviet Russia 1917— 1977, Metuchen N. J. 1978. Aus solchen Untersuchungen geht der enge Zusammenhang zwischen nationalen Stereotypen und der Außenpolitik hervor.

  9. Intellektuellenwanderungen wie etwa die der deutschen Emigranten der dreißiger Jahre tragen oft Begriffe in die neue Umgebung. Der „politische Realismus" von Hans Morgenthau verwandelte sich auf diese Weise in die angeblich realistischen Einstellungen amerikanischer Politiker zum Kalten Kriege (wobei Morgenthaus Ideen wesentlich entstellt wurden).

  10. Eine kürzlich erschienene Studie über diesBek hung zwischen Ideologien und tatsächlicherAu Politik enthüllt, daß nur im Falle von Hitlers sentheorie dem ideologischeenn ZZiieell ddeerr VVoorrrraanngFa«e dem Nationalinteresse eini: gerä“ umt w" u" rde“; i" m der Sowjets ist das zumindaeesstt zzwweeifleeluhaufnt: G-eNa? v Schwab (Hrsg.), Ideology and Foreign Pohcy, York 1978; siehe insbes. mein Kapitel: «Pow 34 tics or Ideology?, The Nazi Experience 2S 1 p. und Severin Bialer, „Ideology and Soviet Foreng" licy", S. 76— 102.

  11. Der gesamte Komplex der „Beschwichtigungspolitik" sollte in diesem Licht betrachtet werden. Daß es richtig war, Hitlers Politik als Hegemonialpolitik zu sehen, wurde erst durch die Ereignisse bewiesen. Aber es gibt gewöhnlich mehr oder weniger aufschlußreiche Indikatoren. Das trifft heute auf die sowjetische Politik zu, wo die Analogie „München“ wahrscheinlich falsch ist. Aber wir können nur sagen „wahrscheinlich“. Persönliche „Macht“ liegt ebenfalls im Auge des Betrachters. „... Ich habe Macht in dieser Stadt, weil die Leute denken, ich stehe dem Präsidenten nahe. Sie denken, ich sehe ihn fortwährend. Ich sehe ihn gar nicht so oft, aber die Leute glauben es, und das gibt mir Macht." (Robert Strauss, zitiert von Elizabeth Drew, in: A Profile of Strauss, The New Yorker,!. Mai 1979, S. 50 ff. (115). Das Wort „Macht“ ist wie viele andere politische Begriffe (Gleichgewicht, „Kalter Krieg“ usw.) eine Metapher. Das Studium der Rolle der Metapher wie auch ganz allgemein der Rolle der Sprache (Linguistik und Etymologie) sollte auch in das Forschungsgebiet der internationalen Beziehungen mit einbezogen werden, (über Metaphern siehe den Artikel von Eugene F. Miller, Metaphor and Political Knowledge, in: American Political Science Review, Bd. 73 (1), März 1979, S. 155 ff.).

  12. Hier zeigt sich die Wichtigkeit von Untersuchungen über den Entscheidungsprozeß (Graham Allison u. a.). Ein „politischer Realismus“, der von der Annahme ausgeht, daß der politische Entscheidungsträger („der rationale Akteur“) nichts weiter a als homo politicus, der nach einem Maxi nur Macht strebt, oder daß der Geschäftsmann an homo oeconomicus ist, der Profitmaximie end die strebt, ist sicherlich falsch. In beiden Fallen Motive gemischt; die Mischung bestimm kreten Fall die Entscheidung.

  13. Als Beispiel für die Funktion von Symbolismus und Imagepflege können die Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten dienen. Die Führungsspitzen beider Länder wußten genau, daß der Friedensvertrag auf einen Separatfrieden zwischen Israel und Ägypten hinauslaufen würde, und dennoch fühlte sich Sadat verpflichtet, dauernd seine Rolle als Vertreter weiterer arabischer Interessen zu betonen, während Begin das Bild eines Mannes erhalten mußte, der niemals die israelischen Lebensinteressen durch eine Anerkennung einer palästinensisch-arabischen Nation — und sei sie noch so indirekt — aufs Spiel setzen würde. Ein noch zwingenderes Beispiel für die Rolle von Rang, Status und Prestige lieferte China mit seinem jüngsten Einfall in Vietnam. Es gab dort weder einen Grenzkonflikt noch ein sonstiges substantielles Problem. Aber China fand, es müsse sein Image als Großmacht

  14. Die ontologisch-philosophische Grundlegung einer solchen Minimum-Ethik der Verantwortung für die Bewahrung einer Zukunft, überhaupt für die Erde und eine auf ihr weiterlebende Menschheit (im Gegensatz zu aller bisherigen Ethik, die die Fortdauer der Menschheit als solcher „unbesehen“ an-nahm und annehmen durfte) liegt nunmehr vor. Siehe Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation,

  15. Das Obige wurde vor der durch die afghanische Krise hervorgerufenen Entfachung des „zweiten Kalten Krieges" geschrieben. Die nunmehr verschärfte Gefahr nuklearer Allvernichtung (des „Omnizids") beleuchtet in krasser Weise die Auswirkungen des beiderseitigen Unvermögens, sich in die „Sicht" des „Gegners" zu versetzen. Die Sowjets übersahen (oder minimisierten) die amerikanische Furcht vor gewaltsamer kommunistischer Expansion, während die amerikanische Führungsschicht, in plötzlicher Verkennung der Detente-Notwendigkeiten, die durch „Strafmaßnahmen" nur noch gesteigerte sowjetische Furcht vor westlich-chinesischer „Einkreisung" nicht in Rechnung stellt: Zwei Fehlrezeptionen, die die Welt wiederum in den Teufelskreis oder vielmehr die Teufelsspirale des Rüstungswettlaufs und der politischen und militärischen Konfrontationen zu führen droht.

  16. . Philosophie der Praxis" ist ein marxistischer Begriff. Marx, dessen Zukunftsvision einer klassenlosen Gesellschaft unter dem Kommunismus utopisch war, war ein Genie, wenn er „kritische Aufklärung" über Vergangenheit und Gegenwart betrieb, besonders wenn er „falsches Bewußtsein", das sich in . Ideologien“ (im negativen Sinne des Wortes) widerspiegelt, anprangerte, wie etwa die Ideologie der Gleichheit in bürgerlichen Demokratien, hinter der sich Klassenherrschaft verbarg. Am Ende dieses Artikels folgt der Verfasser dieser Form „praktischen Philosophierens“, indem er versucht, die selbstzerstörerische Wirkung eines Nichtgewahrwerdens von globalen Bedrohungen aufzudecken, die von engstirnigen Weltbildern und Verhaltensmustern ausgeht. Aber es wäre ebenso utopisch wie die Zukunftserwartungen von Marx, wollte man einem unkritischen „Globalismus" verfallen und die ungeheueren Schwierigkeiten auf dem Wege zu globalen Zielen unterschätzen. Wie soll man zu einer gemeinsamen weltumspannenden Politik gelangen, wenn Milliarden von Menschen, die in über 150 staatlichen Einheiten organisiert sind, unzählige widersprüchliche Weltbilder, Bedürfnisse und Interessen haben und daher gar nicht umhin können, über die möglichen Zukünfte der Welt, sowohl was die Ziele als auch was die Mittel anlangt, verschiedener Meinung zu sein? Einige Voraussetzungen für Lösungen und einige Vorschläge finden sich oben, und mit einigen anderen habe ich mich in einem anderen Aufsatz befaßt (siehe: Legitimacy, Can we Retrieve it?, in: Comparative Politics, Bd. 10(3), April 1978, S. 317 ff.). Aber man darf nicht vergessen, daß radikale Veränderungen sowohl der Einstellungen wie der Politik und sowohl innerhalb der Länder (der industriellen wie der Entwicklungsländer) wie auch in bezug auf ihre Souveränität, die zwischen Staaten und internationalen Organisationen aufzuteilen wäre, Voraussetzungen für jegliche globale Lösung sind. Und in diesem Zusammenhang möchte ich nochmals die vorrangige Funktion von Information und Bewußtwerdung für die Herausbildung einer globalen Einstellung betonen. Allen, die durch Beteiligung an Wahlen oder sonstige politische Betätigung Stellung nehmen können, muß Gelegenheit gegeben werden, das umfassende Weltbild von der Dringlichkeit der Weltprobleme zu gewinnen, denen vor allen scheinbar näherliegenden, begrenzten Problemen Vorrang eingeräumt werden muß. Die Entstehung von Umweltschutzbewegungen in der ganzen Welt ist ein ermutigendes Zeichen für wachsende Bewußtheit. Man darf aber gerade hier den Einfluß engerer Interessen und Interessenvertreter auf Medien, auf Schulen etc. nicht unterschätzen. Deshalb habe ich in diesem Artikel die Wichtigkeit unzensurierter Medien so stark betont, die von äußeren Einflüssen so frei wie möglich sein müssen und deren Personal aus aufgeschlossenen Journalisten bestehen sollte, ausgebildet von weltoffenen Spezialisten auf den Gebieten der dreidimensionalen Informationen, die in diesem Aufsatz beschrieben worden sind.

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John H. Herz, geb. 1908 in Düsseldorf, Studium der Rechts-und Staatswissenschaften; 1933 aus dem Staatsdienst entlassen; 1933— 1938 Studium der internationalen Beziehungen in Genf; 1938 Auswanderung in die Vereinigten Staaten; dort an verschiedenen Universitäten tätig: 1952— 1977 am City College der New Yorker City University; seit 1977 emeritiert; Gastprofessuren u. a. an der Philipps-Universität Marburg und an der FU Berlin. Veröffentlichtungen u. a.: Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938 (Pseud. Eduard Bristler); Political Realism and Political Idealism, Chicago 1951, dt 1959; International Politics in the Atomic Age, New York 1959, dt. 1961; Staatenwelt und Weltpolitik, Hamburg 1974; The Nation-State and the Crisis of World Politics, New York 1976; Aufsätze und Buchbeiträge zu den Themengebieten: Völkerrecht, Rechts-und Staatstheorie, Außenpolitik und internationale Beziehungen und Komparatistik.