Der Verfasser greift das neue Stichwort „Mut zur Erziehung“ auf und hält dessen kritische Hinterfragung für nötig. Er hält nichts von der Aufwärmung eines Tugendkatalogs, sondern ist der Meinung, daß Erziehung — insbesondere politische Erziehung — auf ein Verpflichtungsgefühl zu Verantwortlichkeit — und nur dies — hinauslaufen sollte. Hierzu gilt es, subjektive Motivationen zu wecken und zu stärken. Dem einzelnen muß vor allem klar werden, inwieweit er für sich selbst verantwortlich sein kann und auch sollte. Die „Eigenverantwortung” hat sowohl dem Selbst (der Selbstachtung) als auch der sozialen Umwelt zu gelten. Da man aber über die Entstehung von Motivationen der verschiedensten Art noch sehr wenig weiß und auch die Ansichten der Wissenschaftler hierüber auseinandergehen, plädiert der Verfasser für eine intensivierte Motivationsforschung. Er exemplifiziert deren Bedeutung nicht nur an der aktuellen Problematik der politischen Erziehung, sondern auch an dem in letzter Zeit rapid vor sich gehenden Wertewandel in unserer Gesellschaft.
I. Mut zur politischen Erziehung
„Mut zur Erziehung" — das ist in der Tat eine mutige Parole, scheinbar nicht zeitgemäß, dennoch wohl sehr fällig!
Allerdings, wenn diese „Erziehung" doch wieder nur auf „Bravheit" in den verschiedensten Formen und Kategorien von anno dazumal hinauslaufen sollte, dann würde Protest nicht lange auf sich warten lassen: Etwa „Restauration?" Aber hierzu hat bereits Bundesminister Schmude das Notwendige gesagt
Seinem Konzept entspricht auch — in etwa — das, was ich unlängst einmal über „Erziehungsziele heute“ niedergeschrieben habe. Hieraus kurz einige Stichworte:
über „Lern" -ziele und entsprechende Curricula scheint mir allmählich genug geredet und geschrieben worden zu sein. Man hat daraus vieles gelernt; aber der gewünschte Erfolg bei Schülern blieb trotzdem weitgehend aus — jedenfalls, was „politische Bildung" betrifft.
Welcher „gewünschte" Erfolg? Ein Vergleich mag es verdeutlichen: Bei Grammatik, Mathematik, Physik usw. bestehen die Unterrichtserfolge aus Lernerfolgen. Das erworbene Wissen und Können läßt sich dann sogar nachprü-fen, „messen." Um solchen Nachprüfens willen beschränkte man sich dann auch mit Vorliebe auf Wissenselemente im Politikunterricht. Wenn es hochkam, versuchte man darüber hinaus noch, bestimmte „Einsichten" (in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge) und „Einstellungen" (Bejahung der Demokratie) zu erzeugen; man glaubte, auch diese Faktoren zuverlässig nachprüfen zu können. Ob richtige Einsichten und verbal manifestierte Einstellungen zu entsprechendem Verhalten in der Praxis führen würden, das freilich mußte dahingestellt bleiben. Man konnte nur hoffen. Das Wollen und Streben des einzelnen Schülers blieb ebenso unerfaßt wie sein Beeinflußtwerden von Kameraden und außerschulischen „Mächten." Man weiß inzwischen, eine wie große Rolle solche Dritt-Mächte auf die Entwicklung eines Heranwachsenden ausüben können. Die Schule, die Lehrerschaft, scheint überfordert zu sein, wenn man von ihr erwartet, sie möge doch „erzieherisch" so einwirken, daß Vernunft die Oberherrschaft über die Jugendlichen behielte (oder wiedergewänne) oder gar, daß diese sich aus sich selbst her-aus entschließen, sich für die Erhaltung und Weiterentwicklung freiheitlich-demokratischer Grundsätze aktiv einzusetzen, sich zu „engagieren", sich zu „beteiligen." Denn dieses ist ja das eigentliche Ziel demokratischer Erziehung. „Der Vernunft zur Oberherrschaft verhelfen“ — ist das nicht bloß eine der anrüchigen „Leerformeln", mit denen man alles und nichts verbinden kann? Aber vielleicht haben auch Leer-formeln einen Sinn, indem sie eine konkrete Aufgabe stellen? Zum Beispiel die, nach jeweils vertretbaren Inhalten selbst zu suchen, d. h. nach jenem „Sinn", der für den einzelnen Lebenserfüllung bedeuten kann. Könnte nicht das „Suchen an sich" schon „sinnvoll" sein? „Vernunft" geht über „Einsichten" hinaus: Einsicht ist lern-und nachprüfbar, Vernunft entzieht sich allgemeingültigen Maßstäben. „Einsicht" heißt „Eingesehenes", also aus real Vorgefundenem schlüssig Gefolgertes, somit für den Augenblick „Feststehendes", „Gültiges" vereinnahmt zu haben. Ob dieses Eingesehene auch „vernünftig" ist, das — freilich — bleibt offen. Das Vernünftige ist immer nur das noch zu Suchende. Der „Stein der Weisen" wird nie end-„gültig“ gefunden. Der Mensch ist ständig auf der Suche nach dem, was er sich selbst und der Mitwelt schuldig zu sein annehmen darf oder soll, was für ihn zugleich Selbstverwirklichung und Verantwortlichkeit bedeutet; es liegt ständig im Zukunftsgerichteten der eigenen Lebensgestaltung, während das „Eingesehene" hierfür nur eine — freilich wichtige — erarbeitete, aber oft nur episodenhafte Ausgangsbasis darstellt Zu allem „Gelernten“ muß also noch das entscheidende „Selbstkonzept" (die „Ichfindüng"), die Suche nach dem individuell „Vernünftigen" hinzutreten, damit aus Gelerntem, Erfahrenem und Gefordertem das wird, was wir (seit je) „Bildung" zu nennen pflegen — zumindest den rationalen Teil der Bildung.
Aber genügt „rationale" Bildung (insbesondere auch für politische Bildung)? Besteht das Leben (insbesondere die Politik) nur aus „ratio", soll und kann es nur auf „rationale" Weise sinnerfüllt werden? Darf Emotionelles ausgeklammert werden?
Der Mensch ist eine unteilbare „personale" Einheit und Ganzheit. Wo „Verantwortung" mit im Spiele ist, dort sprechen Sensibilität und Emotionalität, spielt „Empathie" eine entscheidende Rolle mit. Nicht von ungefähr entstand vor langer Zeit die schöne Vokabel „Herzensbildung." Und nicht von ungefähr entsinnt man sich neuerdings wieder der alten Pädagogen Pestalozzi und Fröbel.
Wie soll man denn nun die „Erziehungs" -Ziele (analog den ,, Lern" -zielen) benennen, wenn sie das ausdrücken sollen, was ich eben als Aufgabe einer zeitgemäßen Erziehung skizzierte?
Jede Substantivierung solcher seelischen Kategorien hat etwas von Vergewaltigung an sich — man zwängt in „Korsette" ein, was sich eigentlich gar nicht in eindeutige Begriffe einfangen läßt. Ich ziehe daher eine „verbale" Umschreibung vor und lasse einen Schulabgänger, dem ich den vollen, also (wohlgemerkt!) „idealtypischen“ Erfolg genossenen politischen Unterrichts unterstelle, über diesen Unterricht so urteilen: „Mit ist völlig klar geworden (psychologisch ausgedrückt: Ich habe verinnerlicht, introzipiert, internalisiert), daß auch ich aus Gründen (psychologisch ausgedrückt: motiviert durch Erkenntnisse und Gefühle)
— der Menschlichkeit, des mitmenschlichen Zusammenlebens — der Menschenwürde mich als Mitbürger dafür einsetzen muß, daß in unserem Staate eine freiheitlich-rechtliche demokratische Ordnung aufrechterhalten und fortentwickelt werden kann. Dieses „Muß“ entspringt bei mir nicht nur einer schlüssigen Einsicht, wie ich sie durch den Unterricht (und andere Erfahrungen) gewonnen habe (also einer Einsicht in Gesamtzusammenhänge, die unter anderem auch meine persönliche Mitbetroffenheit mit einschließt), sondern es entspringt auch einem in mir geweckten spontanen Verpflichtungs-Gefühlfür die Gewissens-verantwortung, die auch ich — wie jeder andere — gegenüber meinem Land, meinem Volk und gegenüber allen Mitmenschen mit zu tragen habe."
Wenn man diesen idealtypischen Erfolg politischer Erziehung kurz und pauschal substantivieren will, dann ließe sich das Erziehungsziel vielleicht wie folgt formulieren:
Erreicht werden soll beim Heranwachsenden ein Gefühl der persönlichen Mitverantwortung für das soziale Ganze bei aller rechtmäßigen Wahrnehmung subjektiver Interessen und Bedürfnisse, die einer angemessenen personalen Selbstverwirklichung dienen, verbunden mit Mut und Ichstärke.
Diesem Erziehungsziel ist die Selbstbestimmung des Bürgers sowohl als Befähigung^ auch als Bereitschaft, ja: Pflicht (im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten) immanent. Allerdings kann „Selbstbestimmung" in einem pluralistischen Gemeinwesen nie verabsolutiert werden, da sie sonst zu autarker Ideologisierung (Doktrinierung) ausarten und in „Entfremdung" umschlagen würde. Eine freiheitliche Demokratie wünscht sich zwar selbstverantwortliche (autonom entscheidende), aber zugleich auch um Objektivität und Toleranz bemühte Bürger. Sie wünscht sich — kurz gesagt — möglichst viele überzeugte Demokraten, anstelle von angepaßten oder widerwilligen „Staatsangehörigen".
Aus dem Gesagten folgt: Es kommt für die politische Erziehung jetzt mehr als bisher darauf an, daß in den Jugendlichen neben dem Erwerb von Wissen, Können und notwendigen Einsichten und neben der verbalen Bejahung sittlicher Grundwerte auch erreicht wird, daß Eigenmotivationen, und zwar nicht nur kognitiver, sondern auch affektiver Art, ausgelöst und lebendig werden — Motivationen, die die Entfaltung sowohl von gesunder subjektiver Zielstrebigkeit (dem Mut zu Selbstorien-B tierung anstelle von gelangweiltem Abwarten auf „Angebote") als auch von sensibler Verantwortungsbereitschaft gegenüber der Mitwelt mobilisieren.
Erziehungswissenschaft und Psychologie stehen hier vor noch weitgehend ungelösten Problemen. Es fehlt zwar nicht an Erprobungen, wie z. B. durch geeignete Textwahl und gezielte Unterrichtsmethoden die Einsicht zu bewirken, daß politisches Geschehen letztens auch jeden einzelnen mitbetrifft, also die Erlebniskategorie „Betroffenheit" zu konkretisieren. Nicht zuletzt bemühen sich behavioristisch-orientierte Ansätze in dieser Richtung. Diese erhöhen allerdings leicht die Gefahr, daß — wegen ihrer Reduktion auf möglichst subjektiv-programmierte „Konditionierungen“ — das Ursprüngliche, die wirklich autonome Entscheidungsbereitschaft und -fähigkeit der Persönlichkeit überspielt wird; damit würde dann gerade das für das Selbstwertgefühl so wichtige Innewerden der wirklichen Selbst-verantwortlichkeit verblassen. Aber auch subtilere Auslösungsmethoden, echte Selbstentscheidungsbedürfnisse zu aktivieren — solche, die dem eigenen Gewissen genügend Raum lassen —, werden erprobt. Nur: Man weiß leider noch zu wenig über die Entstehung von persönlichen Motivationen. Daher meine Schlußfolgerung: Motivationsforschung tut not.
II. Motivationsforschung tut not
1. Grundsätzliches Eine Hauptschwierigkeit bei der Motivationsforschung dürfte in der hochgradigen Komplexität dessen liegen, was wir „Motivation” (oder „Beweggrund") nennen und was sich schon dieserhalb einer operationistischen Faktorenanalyse, das heißt einer Aufgliederung in Einzel-faktoren, die sich isoliert messen und in ihrer Interdependenz abwägen ließen, entzieht, zumal da sich bewußte, vorbewußte und unbewußte Anteile der Motivationen nicht auseinanderdividieren lassen. Man kennt ja nicht einmal immer seine eigenen wirklichen Motivationen und begnügt sich dann gern — befragt — mit recht vordergründigen „Erklärungen”, ohne zu merken, daß man sich dann selbst etwas vormacht. Auch ist das Bedürfnis nach Kontrolle derjenigen Bedingungen bzw. Impulse, die für das eigene Handeln verantwortlich zu machen sind, bei den Menschen offenbar recht unterschiedlich ausgeprägt. Das Ermitteln jeweiliger Handlungsbedingungen, das „Zuschreiben" von Motiven, die „interne Verantwortlichkeitskontrolle" erhielt bei Fritz Heider die Bezeichnung . Attributionsforschung. ” Es wird hier gefragt: Welchem inneren oder äußeren Umstand ist es zuzuschreiben, wel-eher persönliche Impuls, welche Spontanregung und/oder Re-Aktion ist dafür verantwortlich zu machen, daß der einzelne (oder eine Gruppe) sich so entschied und so handelte und nicht anders? Da solche Zuschreibungen, soweit man sie bei sich selbst vornimmt, sehr leicht auf „Rationalisierung“, d. h. auf (mehr oder weniger bewußte) Selbstrechtfertigung hintendieren, wird klar, welch großes Forschungsfeld sich für eine objektive, also annähernd wirklichkeitsgerechte „Erklärung" politischen Handelns auftut. Hinzukommt, daß gewissenhaft denkende Menschen sich bei solcher Selbstkontrolle oft inneren Widersprüchen gegenübergestellt fühlen, wenn etwa die theoretische Einstellung und das praktische Verhalten nicht recht zusammenpassen wollen; die Psychologie spricht dann von „kognitiver Dissonanz". Von der Bedeutung, die man dem ganzen Problemkomplex seit einiger Zeit zuschreibt, zeugt die Tatsache, daß sich an der Universität Mannheim bereits ein „Sonderforschungsbereich Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung" etabliert hat.
Daß sich die bisherige Motivationsforschung bei uns bevorzugt mit Leistungsmotivationen befaßt, ist wohl kein Zufall. Besonders hieran ist ja z. B. jeder Lehrer und Ausbilder interessiert. Erziehungspraxis und Sozialpsychologie, besonders auch die Psychologie der politischen Bildung gehen aber nun einen Schritt weiter und fassen auch das allgemeine Verhalten, besonders das „gesellschaftliche Rollen-verhalten" ins Auge; als „Rolle“ bezeichnet man dabei heute meist das, was von einem Menschen aufgrund seines Gewordenseins auf der Suche nach dem, was er sich selbst und der Mitwelt schuldig zu sein annehmen darf oder soll, was für ihn zugleich Selbstverwirklichung und Verantwortlichkeit bedeutet; es liegt ständig im Zukunftsgerichteten der eigenen Lebensgestaltung, während das „Eingesehene" hierfür nur eine — freilich wichtige — erarbeitete, aber oft nur episodenhafte Ausgangsbasis darstellt.
Zu allem „Gelernten“ muß also noch das entscheidende „Selbstkonzept" (die „Ichfindüng"), die Suche nach dem individuell „Vernünftigen" hinzutreten, damit aus Gelerntem, Erfahrenem und Gefordertem das wird, was wir (seit je) „Bildung" zu nennen pflegen — zumindest den rationalen Teil der Bildung.
Aber genügt „rationale" Bildung (insbesondere auch für politische Bildung)? Besteht das Leben (insbesondere die Politik) nur aus „ratio", soll und kann es nur auf „rationale" Weise sinnerfüllt werden? Darf Emotionelles ausgeklammert werden?
Der Mensch ist eine unteilbare „personale“ Einheit und Ganzheit. Wo „Verantwortung" mit im Spiele ist, dort sprechen Sensibilität und Emotionalität, spielt „Empathie" eine entscheidende Rolle mit. Nicht von ungefähr entstand vor langer Zeit die schöne Vokabel „Herzensbildung." Und nicht von ungefähr entsinnt man sich neuerdings wieder der alten Pädagogen Pestalozzi und Fröbel.
Wie soll man denn nun die „Erziehungs" -Ziele (analog den ,, Lern" -zielen) benennen, wenn sie das ausdrücken sollen, was ich eben als Aufgabe einer zeitgemäßen Erziehung skizzierte?
Jede Substantivierung solcher seelischen Kategorien hat etwas von Vergewaltigung an sich — man zwängt in „Korsette" ein, was sich eigentlich gar nicht in eindeutige Begriffe einfangen läßt. Ich ziehe daher eine „verbale" Umschreibung vor und lasse einen Schulabgänger, dem ich den vollen, also (wohlgemerkt!) „idealtypischen“ Erfolg genossenen politischen Unterrichts unterstelle, über diesen Unterricht so urteilen: „Mit ist völlig klar geworden (psychologisch ausgedrückt: Ich habe verinnerlicht, introzipiert, internalisiert), daß auch ich aus Gründen (psychologisch ausgedrückt: motiviert durch Erkenntnisse und Gefühle)
— der Menschlichkeit, des mitmenschlichen Zusammenlebens — der Menschenwürde mich als Mitbürger dafür einsetzen muß, daß in unserem Staate eine freiheitlich-rechtliche demokratische Ordnung aufrechterhalten und fortentwickelt werden kann. Dieses „Muß" entspringt bei mir nicht nur einer schlüssigen Einsicht, wie ich sie durch den Unterricht (und andere Erfahrungen) gewonnen habe (also einer Einsicht in Gesamtzusammenhänge, die unter anderem auch meine persönliche Mitbetroffenheit mit einschließt), sondern es entspringt auch einem in mir geweckten spontanen Verpflichtungs-Gefühlfür die Gewissens-verantwortung, die auch ich — wie jeder andere — gegenüber meinem Land, meinem Volk und gegenüber allen Mitmenschen mit zu tragen habe."
Wenn man diesen idealtypischen Erfolg politischer Erziehung kurz und pauschal substantivieren will, dann ließe sich das Erziehungsziel vielleicht wie folgt formulieren:
Erreicht werden soll beim Heranwachsenden ein Gefühl der persönlichen Mitverantwortung für das soziale Ganze bei aller rechtmäßigen Wahrnehmung subjektiver Interessen und Bedürfnisse, die einer angemessenen personalen Selbstverwirklichung dienen, verbunden mit Mut und Ichstärke.
Diesem Erziehungsziel ist die Selbstbestimmung des Bürgers sowohl als Befähigung^ auch als Bereitschaft, ja: Pflicht (im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten) immanent. Allerdings kann „Selbstbestimmung" in einem pluralistischen Gemeinwesen nie verabsolutiert werden, da sie sonst zu autarker Ideologisierung (Doktrinierung) ausarten und in „Entfremdung" umschlagen würde. Eine freiheitliche Demokratie wünscht sich zwar selbstverantwortliche (autonom entscheidende), aber zugleich auch um Objektivität und Toleranz bemühte Bürger. Sie wünscht sich — kurz gesagt — möglichst viele überzeugte Demokraten, anstelle von angepaßten oder widerwilligen „Staatsangehörigen".
Aus dem Gesagten folgt: Es kommt für die politische Erziehung jetzt mehr als bisher darauf an, daß in den Jugendlichen neben dem Erwerb von Wissen, Können und notwendigen Einsichten und neben der verbalen Bejahung sittlicher Grundwerte auch erreicht wird, daß Eigenmotivationen, und zwar nicht nur kognitiver, sondern auch affektiver Art, ausgelöst und lebendig werden — Motivationen, die die Entfaltung sowohl von gesunder subjektiver Zielstrebigkeit (dem Mut zu Selbstorien-B tierung anstelle von gelangweiltem Abwarten auf . Angebote") als auch von sensibler Verantwortungsbereitschaft gegenüber der Mitwelt mobilisieren.
Erziehungswissenschaft und Psychologie stehen hier vor noch weitgehend ungelösten Problemen. Es fehlt zwar nicht an Erprobungen, wie z. B. durch geeignete Textwahl und gezielte Unterrichtsmethoden die Einsicht zu bewirken, daß politisches Geschehen letztens auch jeden einzelnen mitbetrifft, also die Erlebniskategorie „Betroffenheit" zu konkretisieren. Nicht zuletzt bemühen sich behavioristisch-orientierte Ansätze in dieser Richtung. Diese erhöhen allerdings leicht die Gefahr, daß — wegen ihrer Reduktion auf möglichst subjektiv-programmierte „Konditionierungen" — das Ursprüngliche, die wirklich autonome Entscheidungsbereitschaft und -fähigkeit der Persönlichkeit überspielt wird; damit würde dann gerade das für das Selbstwertgefühl so wichtige Innewerden der wirklichen Selbst-verantwortlichkeit verblassen. Aber auch subtilere Auslösungsmethoden, echte Selbstentscheidungsbedürfnisse zu aktivieren — solche, die dem eigenen Gewissen genügend Raum lassen —, werden erprobt. Nur: Man weiß leider noch zu wenig über die Entstehung von persönlichen Motivationen. Daher meine Schlußfolgerung: Motivationsforschung tut not.
II. Motivationsforschung tut not
1. Grundsätzliches Eine Hauptschwierigkeit bei der Motivationsforschung dürfte in der hochgradigen Komplexität dessen liegen, was wir „Motivation" (oder „Beweggrund") nennen und was sich schon dieserhalb einer operationistischen Faktorenanalyse, das heißt einer Aufgliederung in Einzel-faktoren, die sich isoliert messen und in ihrer Interdependenz abwägen ließen, entzieht, zumal da sich bewußte, vorbewußte und unbe-wußte Anteile der Motivationen nicht auseinanderdividieren lassen. Man kennt ja nicht einmal immer seine eigenen wirklichen Motivationen und begnügt sich dann gern — befragt — mit recht vordergründigen „Erklärungen“, ohne zu merken, daß man sich dann selbst etwas vormacht. Auch ist das Bedürfnis nach Kontrolle derjenigen Bedingungen bzw. Impulse, die für das eigene Handeln verant-
zu machen sind, bei den Menschen wortlich offenbar recht unterschiedlich ausgeprägt. Das Ermitteln jeweiliger Handlungsbedingungen, das „Zuschreiben" von Motiven, die „interne erantwortlichkeitskontrolle" erhielt bei Fritz V Heider die Bezeichnung „Attributionsforschung."
Es wird hier gefragt: Welchem inneren oder äußeren Umstand ist es zuzuschreiben, wel-eher persönliche Impuls, welche Spontanregung und/oder Re-Aktion ist dafür verantwortlich zu machen, daß der einzelne (oder eine Gruppe) sich so entschied und so handelte und nicht anders? Da solche Zuschreibungen, soweit man sie bei sich selbst vornimmt, sehr leicht auf „Rationalisierung", d. h. auf (mehr oder weniger bewußte) Selbstrechtfertigung hintendieren, wird klar, welch großes Forschungsfeld sich für eine objektive, also annähernd wirklichkeitsgerechte „Erklärung“ politischen Handelns auftut. Hinzukommt, daß gewissenhaft denkende Menschen sich bei solcher Selbstkontrolle oft inneren Widersprüchen gegenübergestellt fühlen, wenn etwa die theoretische Einstellung und das praktische Verhalten nicht recht zusammenpassen wollen; die Psychologie spricht dann von „kognitiver Dissonanz". Von der Bedeutung, die man dem ganzen Problemkomplex seit einiger Zeit zuschreibt, zeugt die Tatsache, daß sich an der Universität Mannheim bereits ein „Sonderforschungsbereich Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung" etabliert hat.
Daß sich die bisherige Motivationsforschung bei uns bevorzugt mit Leistungsmotivationen befaßt, ist wohl kein Zufall. Besonders hieran ist ja z. B. jeder Lehrer und Ausbilder interessiert. Erziehungspraxis und Sozialpsychologie, besonders auch die Psychologie der politischen Bildung gehen aber nun einen Schritt weiter und fassen auch das allgemeine Verhalten, besonders das „gesellschaftliche Rollen-verhalten" ins Auge; als „Rolle" bezeichnet man dabei heute meist das, was von einem Menschen aufgrund seines Gewordenseins und seiner „Aufgaben" normalerweise „erwartet“ -wird.
In einer freiheitlichen Demokratie sollte aber wohl bei diesem Problemkomplex eine noch andere Blickrichtung des Interesses von Bedeutung sein: Ich meine den Bereich des aus nicht erwarteten (scheinbaren und echten) Eigen-Impulsen herrührenden Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns Denn die Zukunft einer sich noch entwickelnden Demokratie hängt ja gerade von dem persönlichen verantwortungsbewußten Engagement und damit dem Einfallsreichtum, der schöpferischen Phantasie des einzelnen mit ab. Mit einer gut eingeübten „Partizipation“ nach bestehenden Regeln und auf Appelle hin ist es noch nicht getan. Man braucht darüber hinaus auch etwas von dem, was bei manchen Anstoß erregt, vom „Fortschrittsdenken", man spricht manchmal von „konkreter Utopie". Fortschrittsdenken empfindet schon mancher als „entseelend", als „entfremdend", „entpersönlichend." Aber man braucht bei dem Worte „Fortschritt" ja nicht unbedingt und nur an Technik und Wirtschaftswachstum (an noch mehr Komfort, aber auch an Humanisierung) zu denken, man kann „Fortschritt" auch auf geistige und sittliche Höherentwicklung im allgemein-menschlichen Bereich beziehen; jeder weiß, wie sehr es in der ganzen Welt an dem gebricht, was man (etwas pathetisch) „Verwirklichung von Menschentum" nennen mag; bei uns wird es durch reines Zweckdenken ja eher verdrängt als stimuliert. Die bei der Jugend aktuell gewordene „Sinnkrise" läßt darauf schließen, daß ihr nicht nur die vorherrschende Mentalität „der Gesellschaft" Unbehagen bereitet, sondern daß sie auch bei sich selbst ein Vakuum verspürt, das mit eigenen sinnvollen Motivationen zu füllen ihr nicht gelingen will. Die Frage ist also: Könnte man helfen, könnte man sinnvoll stimulieren?
Die Gefahr, daß sich bei Ermutigung zu spekulativem politischen Denken realitätsferne Ideologien, abstrakte Utopismen und fanatisch vertretene Dogmatismen ausbreiten könnten, wovor ja besonders Karl Popper warnt, scheint mir zur Zeit weniger groß zu sein als die andere, daß die neuerdings zu beobachtende Gleichgültigkeits-und Lustlosigkeitswelle, ja die „Verweigerung" unter Heranwachsenden eine Verlebendigung und damit Weiterentwicklung der Demokratie unterbinden und statt dessen die Bürokratie stärken; im Gefolge: Unterwürfigkeit aus reiner Opportunität — Obrigkeitsmentalität Es kommt also auf das Verlebendigen von Motivationen an, die sich im einzelnen Mitbürger bilden, sobald ihm politisches Geschehen als ein Etwas, das jeden vital angeht, bewußt geworden ist. Dazu muß man freilich deren Entstehung besser kennen, als es bisher der Fall gewesen ist.
Dabei ist anzumerken, daß das ermutigende Auslösen persönlicher Motivationen natürlich nichts „Indoktrinierendes" beinhalten darf. Auch schon das prinzipielle Kritisieren kann indoktrinierend wirken, es zielt auf einen Gegenpol, ohne ihn besonders ausdrücken zu müssen. Erst jenseits kritischer Distanzierung beginnt innovatives Fortschrittsdenken. Bevor „Kritik" zu einem generellen Leitmotiv („Prinzip Kritik") wird, würde ich eher für ein „Prinzip Verantwortung" plädieren, sozusagen als Vorstufe für das (Blochsche) „Prinzip Hoffnung." Für die Hoffnung nämlich, daß dann von selbst vorwiegend konstruktive Motivationen ans Licht kommen. (Vielleicht muß man dem Terrorismus dafür dankbar sein, daß durch das Aufflammen destruktiver Motivationen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft so vehement auf die Motivationsproblematik hingelenkt worden ist. 2. Begriffliches und Methodisches In Teil I dieses Aufsatzes stellte ich eine Motivation besonders heraus: das „Verpflichtungsgefühl" für die Gewissensverantwortung, die ein Demokrat sowohl gegenüber seinem Selbst, seiner Entfaltung als Mensch als auch gegenüber seiner sozialen Umwelt empfindet. Da nun neben dieser erwarteten „Rolle" des Staatsbürgers auch jede andere, also nicht erwartete Motivation von Belang für das politische Geschehen werden kann, benötigt deren generelle Erforschung als eines wichtigen Schicksalsfaktors eigentlich zunächst einer gültigen Definition oder doch zumindest einer begrifflichen Einkreisung alles dessen, was dem psychischen Sachverhalt, den wir „Motivation" nennen, zugeordnet werden kann. Eine solche übereinstimmende Definition gibt es indessen unter den Fachleuten noch nicht. Das ist kein Wunder, denn man benutzt den Ausdruck „Motivation“ bisher nur als begriffliches „Konstrukt", d. h. als einen Behelfsbegriff, entstanden aus dem Bedürfnis, sich über diesen noch nicht identifizierten Sachverhalt bzw.dessen Auswirkungen trotzdem verständigen zu können.
Aul die Schwierigkeit, dieses „X" begrifflich einzukreisen, wies besonders D. Görlitz in dem Artikel „Motivationen: Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer Ortsbestimmung im Rahmen der Allgemeinen Psychologie" hin. H. Heckhausen begann seinen Aufsatz •Motivation: Kognitionspsychologische Aufspaltung eines summarischen Konstrukts"
mit der These: „Motivation soll Fragen nach dem Wozu des Handelns beantworten." Aus den verschiedenen Psychologischen Lexika und Handbüchern läßt sich beim Stichwort Motivation" entnehmen, daß es kaum möglich ist, dieses komplexe Phänomen forschend so in den Griff zu bekommen, daß auch ein Laie, der sich informieren möchte, sofort versteht, " as denn nun mit „Motivation" genauer gemeint sei Geht es bei „Motivation" tatsächlich nur um ein „Wozu?" des Handelns? Um eine (wie es im Heckhausen-Artikel auch heißt) „Gerichtetheit auf bestimmte Ziele?"
Oder sind stets auch Kausales und Unbewußtes mitzudenken, die für ein Handeln verantwortlich zu machen sind — wie etwa Triebentladungen und Gewohnheiten? In der oben skizzierten sogenannten , Attributions" -forschung, die ja besonders danach fragt, wem oder welchem Umstand man eine Verantwortung zuschreibt, werden Kausal-und Final-Motivationen gleichwertig nebeneinander behandelt Genügt es zu fragen, worauf Terroristen — sich selbst rechtfertigend — im Grunde hinauswollen, reicht es aus (wie in Aufrufen gefordert), nach den „geistigen Verursachungen" des Terrorismus forschen zu lassen, oder müssen die Untersuchungen vor allem auch „nicht-geistige“ Handlungsimpulse mit einbeziehen? Die öffentliche Diskussion scheint sich hauptsächlich um ein Herausfinden triftig erscheinender Argumente zu bemühen. Der Kampf gegen Terrorismus wäre dann (abgesehen vom Administrativen) gleichbedeutend mit einem Kampf nur gegen Irrwege des Denkens, d. h. nur gegen kognitive und finale, statt auch gegen nicht-kognitive und kausale Motivationen.
Im nicht-wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird vielfach der Begriff „Motiv" gegenüber „Motivation" bevorzugt. Gibt es einen Bedeutungsunterschied?
Von „Motiven" wird besonders häufig in der Kriminaljustiz gesprochen: „Was waren Ihre Tatmotive?" (wenn man nicht schlicht fragt: „Warum taten Sie das?" oder „Was bezweckten Sie?). Der Richter hat dann (wenn er Glück hat) ein bestimmtes Einzelmotiv in der Hand, mit dessen Hilfe er seine Tat verbal, gemäß den Paragraphen, einordnen kann. (Kausal etwa: infolge . Armut und Hunger”, „aus Eifersucht" usw. — final etwa: „einem anderen helfen wollend", „um zu imponieren" usw. — oder komplex: „zu gemeinsamer Aktion angesteckt".)
Hinter solchen gegenständlichen Verdichtungen, wie sie das Substantiv „Motiv" zu erkennen gibt, steckt aber ja meistens ein vorausgehender komplizierter Entstehungsprozeß, in dem verschiedenartige dynamische Faktoren — bewußt und unbewußt — zusammengewirkt haben; diesen ganzen Entstehungsprozeß wollen wir hier „Motivation“ nennen. Motivationsforschung ist also hier gleichbedeutend mit Prozeßanalyse (Prozeßdiagnostik). Für Prozeßanalysen greift die Psychologie im allgemeinen zu Experimenten mit Versuchspersonen. Bei z. B. Leistungsmotivationen lassen sich entsprechende Versuchsanordnungen noch durchführen. Auch wenn es gilt, „Exemplarisches“ einsehbar und dadurch praktisch verwertbar zu machen, lassen sich Experimente vertreten, sofern dabei ein meßbarer Verallgemeinerungsgrad ermittelt werden kann. Beispiele hierfür: die Urteilsansteckung (Experimente von Krech und Crutchfield 1962) oder der Autoritätsgehorsam entgegen eigenen Gewissensregungen (St. Milgram 1960)
Nicht experimentell arrangiertes Sozialverhalten eines Individuums jedoch, das sich sozusagen „auf freier Wildbahn" bewegt und manifestiert, bleibt in seinen Motivationskomponenten (wie etwa Gefühlsansteckung, unbewußte Wertungen, Persönlichkeitsausstrahlung, Identitätsunsicherheit usw.) inkommensurabel, weil es ja von ständig wechselnden Außen-und Innenbedingungen mitbestimmt wird und auch selbst sehr unterschiedliche Konstanz aufweisen kann. Es kommt hier ja auf das Sich-Ereignen und dessen richtig zu interpretierende psychologischen Hintergründe an, nicht auf den Einzelfall (wie in der Therapie), sondern auf das mehr oder weniger verbreitete Vorkommen von Motivationen, die eine besondere Aktualität erlangten. Man ist daher auf psychologische Interpretationen dessen angewiesen, was man an „Indizien" (Symptomen) vorfindet bzw. zum Vorschein bringen kann. Dazu bedarf es freilich — neben genügend Sachwissen über Soziales — besonders auch psychologischer Kenntnisse und psychologischen Einfühlungsvermögens. Gespräche (wenn möglich auf Tonband), Nieder-schriften (wo vorhanden, auch Tagebücher) und Biographisches werden Haupterkundungsquellen bleiben müssen. Indirekte Auskünfte werden nur mit großem Vorbehalt gewürdigt, dafür erhält um so mehr Gewicht alles spontan (aktuell unbeeinflußt) Manifestierte des einzelnen.
Etwaigen Bedenken gegen ein solches Verfahren wegen „mangelnder" Objektivität läßt sich weitgehend durch unmittelbare Kontrolluntersuchungen Rechnung tragen. 3. Terrorismus-Motivationen Die in letzter Zeit aktuellste Motivationsforschung galt und gilt dem Terrorismus: Welche Erscheinungen in unserer Gesellschaft mögen die Aufständischen (man denkt dabei vornehmlich an die „gutbürgerliche", großenteils akademische Jugend) motiviert haben, so fanatisch vorzugehen, wie es eine kleine Minderheit von ihnen tat? Man möchte den zugrunde liegenden „Sinn" so deutlich herausstellen, daß er sich für jedermann in ein Nichts auflöst: Es ist doch „sinnlos", zur Erreichung von Zielen, die nur Schemen sind, auch noch rohe Gewaltmethoden anzuwenden! Dies vermochten wohl zum Teil einige Soziologen und Politologen aufzuweisen. Aber in vielen Fällen sind hauptentscheidend ja gar nicht geistige Moti-1 vationen (und wo doch, da sind sie meist so eingefressen, daß Gegenargumente nichts mehr fruchten, zumal da ja nicht alles, was die junge Generation empört, fundiert zu widerlegen ist; ein übrig bleibender Rest genügt fanatisch Engagierten durchaus, um stur zu bleiben), sondern irrationale Impulse. Man wird daher nicht umhin können, das ganze Umfeld der Motivationen, die in der Biographie der Terroristen und ihres Anhangs eine Rolle spielen, zu diagnostizieren. Hierfür sind dann in erster Linie die Jugendpsychologen zuständig. Irrationale Motivationen wird man besonders bei den Gehilfen und Mitläufern der führenden Terroristen zu suchen haben. Nicht etwa, weil es bei den Vordenkern und Wortführern nicht auch sehr wesentliche irrationale Momente gäbe (sie kamen bereits, wenn auch noch nicht genügend klar, ins Scheinwerferlicht), sondern weil die Psychologie des Mit laufens und Mitmachens noch stark vernachlässigt worden ist, obwohl es auf der Hand liegt, daß die Anführer (die nur . Angebenden ebenso wie die ehrlichen Idealisten) erfolglos bleiben müßten, könnten sie nicht mit einer leicht zu gewinnenden, leichtgläubigen zahlreichen Gefolgschaft rechnen. „Mitläuferpsychologie" kam vielleicht auch deshalb zu kurz, weil die Öffentlichkeit interessierter nach „Argumenten" und utopischen Zielvorstellungen fragt; auch lesen sich diese ja leichter: geläufige Stichwörter genügen.
Nun läßt sich feststellen, daß selbst ein so „kognitiv”, so „rational" anmutendes Wort wie „Sinnkrise" (oder „Sinnvakuum") bei den Jugendlichen durchaus nicht frei von irrationalen Entstehungskomponenten aufgefaßt wer den darf Denn schon verhältnismäßig kleine Verzweiflungsepisoden im Privatleben eines jungen Menschen lassen ihn mitunter alles" für „sinnlos" halten. Wenn dann zu rechter Zeit ein Freund, ein Kamerad, eine Gruppe zur Stelle ist, um diese psychische Notsituation, dieses „soziale" Hilfsbedürfnis durch das Angebot einer „neuen" Sinnerfüllung auszunutzen, dann ist ein labiler Charakter (und nicht nur ein solcher) schon als dankerfüllter und treuer Gefolgsmann (oder als Gefolgsfrau)
gewonnen, ohne daß er (oder sie) voll begriffen hat, worum es gehen soll Auf das „Begreifen“ kommt es bei solchen Anwerbungserfolgen. oft gar nicht an. Neben „Frustrationskompensation" (wie im eben angedeuteten Fall)
kommen als wesentliche Motivationsfaktoren noch andere nicht-kognitive vor, so etwa die schlichte Persönlichkeitsausstrahlung eines Anführers, evtl, verstärkt durch Imponiergehabe, oder der suggerierende Gebrauch von Schlagworten, deren Gehalt zu prüfen viel zu viel Mühe erfordern würde (er wird ja auch bereits von den anderen anerkannt), oder psychische Ansteckung durch eine Gruppe, die enthusiastisch einem Aufbruchssignal, einer Parole gehorcht usw. In der Fachsparte „Werbungspsychologie" spielt Manipulationsforschung ja seit langem eine hervorragende Rolle — nur: wenn es um Politik geht, beschränkt sie sich meist auf Fragen der Wahl-beeinflussung und umgeht das heikle Gebiet her Entstehung von Sozialmotivationen bei Jugendlichen. (In der Schule bleibt für derartige Studien ja auch kein Raum.)
Selbstkritische Besinnung über eigenes Handein („Selbstkontrolle") findet im Gefolge von Affektsituationen und Vorurteilsentladungen I nicht oft statt, denn wer möchte sich schon ei-
nem Selbstvorwurf aussetzen, etwa nur „ange; steckt“ oder „manipuliert“ worden oder einem primitiven Kurzschluß erlegen zu sein. Die Pa-
Tole „Veränderung!" erscheint manchen schontrotz ihrer Sinnleere — als ausreichende ^mnzumessung. Explorierende Psychologen " orden solche Selbsttäuschungs-„argumente"
nicht überbewerten, sondern sich lieber mit ei-
ner (inhaltlich gesehen) „Vakuumtheorie" ab-
linden und sich nur noch für Kausal-Prozessuales als Motivationshintergrund interessie-
Ten: Was zunächst als Finalmotivation erscheinen mag, stellt sich oft nur als Firnis her-4. Grundwerte im Wandel?
Wenn in letzter Zeit in unserem Lande ein Problem wie das des Wandels der Werte — ein Problem, das ja immerhin das individuelle Gewissen berührt — so aktuell geworden ist dann muß man sich fragen: Wie kommt das? Manche antworten darauf kurz und bündig: „Das liegt vor allem an der modernen Erziehung!“ Schlagworte wie „antiautoritär", „permissiv" „emanzipatorisch“ zeigen auf, was mit solcher Reaktion gemeint ist. Parallel hierzu streiten nach wie vor konservativ-traditionelle Standpunkte gegen fortschrittlich-liberale, aber in letzter Zeit etwas tiefer lotend als früher: Was steckt eigentlich hinterdiesen Bekenntnissen an Grund-Wertungen, Grundeinstellungen des Menschen — also abgesehen von der „Gängigkeit" der etikettierenden Parteibehaftetheit dieser Parolen und der verbalen Gewöhnung an sie? Lassen Antworten auf schematisierte (meist fallbedingte) Meinungsbefragungen Rückschlüsse auf individuelle Grundhaltungen zu? Wieviel Übereinstimmung besteht eigentlich noch und was beinhaltet heute die jetzt häufiger als je zitierte Formel von der „Würde des Menschen" im Artikel 1 des Grundgesetzes? Gibt es schon hier eine zunehmende „Pluralität“ der Auffassungen? Wer den Wandel unserer Grundauffassungen, die unser individuelles und kollektives Leben bestimmen, in seinen eigentlichen (internen und externen, kausalen und finalen, kognitiven und affektiven) Motivationen genauer verstehen möchte, der ist auf tiefer lotende Motivationsforschung angewiesen, wobei ich jetzt nicht an Psychoanalyse denke. Je mehr man über zugrunde liegende Motivationen weiß, die das gemeinschaftliche Leben beeinflussen, um so besser könnten die Hauptverantwortlichen, also die, die über irgend eine Steuerungsmöglichkeit verfügen, dafür sorgen, daß bei der erwarteten demokratischen Selbstbestimmung des Bürgers, zumal während der Persönlichkeitsreifung, vor allem auch ethische Orientierungsmarken im Auge behalten werden.
Wenn man nun von „den Werten" spricht (vielleicht gar von deren Rangordnung), so wird in diesem Substantiv bereits ausgedrückt, daß man damit etwas „Objektives" oder „Objekti-viertes", ein für sich Bestehendes als gegeben unterstellt — ein „Soll", das man entweder respektiert oder nicht respektiert. Man denkt dann gewöhnlich nicht darüber nach, wie es wohl zu solchen substantivistischen Verdichtungen, zu Wertfixierungen gekommen sein mag und daß ihnen ein übereinstimmendes Werten, ein psychischer Vorgang also, vorausgegangen sein muß, einerlei ob gerade diesem Werten durch eine Autorität nachgeholfen worden ist (eine „Indoktrination" stattgefunden hat) oder ob es unter den zusammenlebenden Menschen, aus ihren Bedürfnissen heraus, sich durch (vielleicht stillschweigende) Übereinkünfte von selbst entwickelt hat.
Hier soll nun nicht, so interessant es auch wäre, vom Ursprung und von der Entwicklung der Werte in der Menschheit, von „Mythos und Magie" die Rede sein, sondern vom Jetzt und Hier. Auch in der aktuellen Diskussion wurde über die Frage gestritten: „Grundwerte — von oben gesetzt oder von unten entwikkelt?
Da mit dem Ausdruck „Grundwerte" ausgedrückt wird und auch werden soll, daß es unter all dem, was sich wandelt, doch ein Etwas geben muß, das Bestand hat, einen „Grund" -bestand, einen „Minimalkonsensus“ (alle Parteien drücken das auch aus), erscheint es um so wichtiger, daß man weiß, was den Bürgern jetzt vor allem anderen für ihre menschliche Selbstverwirklichung am Herzen liegt. Die bisher geltenden „Grundwerte" stehen aber offenbar nicht mehr sehr fest auf ihrem Sockel; das zeigt die aktuell gewordene Diskussion um sie deutlich an.
Dabei zeigte sich auch, daß über die Entstehung jeweils geltender Grundwerte die Ansichten auseinandergehen. Die einen meinen, Grundwerte müßten „gesetzt", gleichsam von „zuständiger" Seite her, etwa von der Kirche oder vom Staat, „dekretiert" oder jedenfalls abverlangt werden, und es gelte dann, deren Respektierung durch alle Bürger abzufordern. Die Regierenden seien verpflichtet, diese Werte zu „schützen", und zwar vor Nichtachtung, Verdrängung, Überspielung, Verfälschung. Als Prototyp für eine solche Auffassung könnte man die Gesetzestafeln von Moses mit ihren „Zehn Geboten" betrachten. Aber heute geht es nicht mehr ohne genügenden
Grad von Resonanz in der Bevölkerung ab. Was als festzuhaltender Grundwert erklärt wird, daß muß auch den Wertgefühlen entsprechen, die in der jeweiligen Epoche in den Menschen lebendig sind. Es wird nicht mehr einfach „gehorcht" — von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja auch sich wandelnde Reaktionsweisen herausfordern, hier ganz zu schweigen. Um richtig „anzukommen", bedarf es heute der Rücksichtnahme auf die in der Bevölkerung vorherrschenden Motivationen ihrer geistigen Orientierung und ihrer „Suche nach dem Sinn".
Andere meinen, es bedarf gar keiner „Kompetenz", keiner „Berufenen", die uns vorschreiben, wie wir uns geistig zu orientieren haben. Das entwickelt sich alles ganz von selbst Schließlich leben wir ja in einer Demokratie, einer „pluralistischen“ obendrein, in der Gewissensfreiheit grundgesetzlich gewährleistet ist (ja obenan steht) und wo Mehrheiten darüber zu entscheiden haben, ob, wann und wie sich etwas so Lebenswichtiges wie ein „Konsens“ über Grundwerte ändern soll. Eben dies ist eine Frage der sich ständig von selbst wandelnden Motivationen in einer demokratischen Gesellschaft. „Tua res agitur!“ (Helmut Schmidt) 18a).
Ob nun Selbst-oder ob nur Mit-bestimmung seitens der Staatsbürger — eine wesentliche Frage bleibt natürlich offen, nämlich ob die „Stimme des Volkes“ „vernünftig" (der Vernunft gehorchend, wie immer man diese Vokabel auch interpretiert) ausfällt oder nicht Dies aber hängt weitgehend von der geistigen und politischen Reife des Volkes ab. Und diese wiederum vom Erfolg der Erziehung und Bildung, die die Staatsbürger genossen haben; besonders aber der politischen Erziehung, da es hier ja vor allem um die aktive Bereitschaft um die Motivation zu mitverantwortlichem politischen Denken für ein gemeinsamens Ganzes geht. 5. Motivationelles in der politischen Erziehung
„Politische Bildung soll nicht indoktrinieren — so lautet ein altbekanntes Gebot (seit 1945); sie soll weder bestimmte Streberichtungen noch irgendwelche Präferenzen nahelegen. Wenn wir nun oben — in Teil I dieses Beitrages — als „Erziehungsziel“ hinstellten, es gälte, „Verpflichtungsgefühle" im Jugendlichen zu® Erwachen zu bringen und zu stärken — ist das nicht doch schon eine „Indoktrination"? Es überläßt dem Jugendlichen zwar noch selbst die Entscheidung über seine Streberichtung, seine Ideale und seine Präferenzen: „Indokriniere dich selbstl" — aber es enthält ja immerhin einen Appell: den Appell an ein Verpflichtetsein: „Urteile und handle so, daß du dies vor dir selbst (deiner Selbstachtung) und vor deiner Mitwelt verantworten kannst!“. Oder: „Laß dich nicht bevormunden, dort wo du selbst zuständig bist!" Insoweit also doch „Indoktrination“. Darüber hinaus kommt Politikunterricht natürlich nie an Wertungen vorbei; sie sollen ja sogar intensiv zur Diskussion gestellt werden. Aber gerade deswegen bedarf es (neben einer großen pädagogischen Sensibilität) auch noch eines besonderen Vertrautseins des Lehrers mit Motivationspsychologie. Es gilt ja — zumal in einer so kompliziert gewordenen Welt wie der unseren — jenen Punkt im rechten Augenblick wahrnehmen zu können, an dem sich ein Schüler seiner Eigenverantwortung innewird bzw. innewerden soll. Häufiger als je seit 1945 tauchen heute, wie man ja weiß, Gewissenskonflikte auf; dann hängt vieles von der Einfühlung und dem Takt des Lehrers ab.
Ein solches „vertrautes Umgehen" mit den nicht immer offen zu Tage liegenden Motivationen Jugendlicher macht also wohl neue Verlegungen für die Ausbildung zumindest derjenigen Lehrer nötig, denen die innere Persönlichkeitsreifung der jungen Generation anVertraut wird.
Es scheint mir übrigens, als ob es ein periodisches Auf und Ab der spontanen Engagenentsbereitschaft für Zukünftiges gäbe. Hö-hepunkte — oder vielmehr „Höhephasen" — Nativer Entfaltungsdynamik, die um aufbau-ende Sinngehalte nicht verlegen war, gab es, " enn ich mich recht entsinne, bei deutschen heranwachsenden besonders rund um die Jahre 1910 und 1920.
ie Deutsche Vereinigung für politische Bil-
ung bot kürzlich konkretere Anregungen in 41 richtige Problemrichtung — und die Psy-hologenvereinigungen der Bundesrepublik schlossen sich ihr gern an — durch die gemeinsame Herausgabe eines Preisausschreibens für Psychologen, Pädagogen und Soziologen. Sein Leitthema lautete: Wie kann den Heranwachsenden eine Orientierungshilfe für Selbstentfaltung und die Entwicklung einer verantwortungsbewußten Haltung gegeben werden, die sich durch sittliche Bindungen legitimiert? Dieses Leitthema wurde wie folgt differenziert: — Wo ist ein bedeutsamer Wandel von Werten und Normen in den modernen Gesellschaften, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland festzustellen; welche sozialen und sonstigen Umweltveränderungen sind weiterhin von Bedeutung?
— Welche Chancen und Gefahren für die gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen ergeben sich aus den vorfindbaren Wertstrukturen und den Umweltbedingungen? — Welche Wertdefizite und positive Wertentwicklungen lassen sich aus Wertstruktur und Umweltbedingungen ableiten?
— Wie lassen sich die Defizite vermindern oder überwinden? Wie können positive Entwicklungen gefördert werden?
— Welche Orientierungshilfen können Heranwachsenden für die Beantwortung nach der Frage nach dem Sinn des individuellen und kollektiven Lebens gegeben werden?
Auf diese Ausschreibung sind erfreulich viele Beiträge eingegangen; sie werden von der Jury derzeit noch geprüft
Walter Jacobsen, Dr. phil., geb. 1895, Oberregierungsrat a. D., Psychologe, früher Referent in der Bundeszentrale für politische Bildung, 1937 nach Schweden emigriert, wo er ein Institut für praktische Psychologie und Berufswahlfragen mitgründete und wissenschaftlich leitete. Veröffentlichungen u. a.: Individualität und soziale Rolle, Diss., Hamburg 1933; Wissenschaftliche Menschenkenntnis und ihre Anwendungen, Hamburg 1948; Aufsätze: Die Vergangenheit mahnt — Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/60; Ein Leck in den Bemühungen um politische Bildung, in: Die Deutsche Schule 12/62; Politische Grundeinstellungen in der Bundesrepublik, in: Schriftenreihe Politische Psychologie 1/63; Hat die politische Bildungsarbeit versagt?, in: Vorgänge 7/68; Die Rolle der Einstellungs-und Motivationspsychologie, in: Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, 1968; Antiautoritär — ein bloßes Schlagwort?, in: Vorgänge 4/69; Ungelöste Probleme in der politischen Bildungsarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/70; Selbstverwirklichung als politisch-psychologisches Problem, in: Das Parlament, 26/76; Stichwort „Politische Psychologie", in: Psychologisches Wörterbuch, 1 9779; Politpsychologische Anmerkungen zum Sozialisationsbegriff, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 11/77; Politische Psychologie — ein umstrittener Begriff?, in: Rothgerber/Hartmann, Politische Psychologie und Politische Bildung, München 1980.
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