Schulalltag im Dritten Reich Fallstudie über ein Göttinger Gymnasium
Ulrich Popplow
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Zusammenfassung
Die Zeitgeschichtsforschung hat die Frage der Jugenderziehung im Dritten Reich bisher fast ausschließlich von „oben" her gesehen: von den Gesetzen, Erlassen und Verfügungen, mit denen die obersten Partei-und Staatsverantwortlichen über Mittelstufen hinweg die verschiedenen Erziehungsinstanzen an der Basis „überschütteten“. Das Bild einer totalen Indoktrinierung und „Erfassung" der Jugend täuscht jedoch: aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen, ihrer Führer und Erzieher betrachtet, wird es „rissig" und erhält erhebliche „Verwerfungen“. Die nationalsozialistische Herrschaftsdurchsetzung stieß auch in diesem Bereich auf Resistenz, auf noch begrenzt eigenständige Institutionen und gewachsene Verhaltensnormen, die sich nicht widerstandslos gleichschalten ließen. Mit Recht hat deshalb Martin Broszat gefordert, „die Wirkungsgeschichte des NS-Regimes , von unten', von der sozialen Basis her zu dokumentieren". Das geschieht hier am Beispiel einer Oberrealschule (später: Oberschule für Jungen) einer deutschen Mittelstadt. Das heutige Felix-Klein-Gymnasium in Göttingen wird in das Spannungsfeld von zentraler Reglementierung und regionaler politischer Machtaufsplitterung — Kompetenzenrangelei zwischen der Stadt als Schulträger und der Kreisleitung wie den NS-Gliederungen als „Garanten der neuen Zeit" —, in den Schnittpunkt von diffusem Elternwillen und erzieherischem Impetus der Lehrerschaft und des Direktors gestellt. Äußerlich gedeckt durch die Mitgliedschaft vieler Lehrer in der Partei und ihren Gliederungen, wehrte sich die Schule gegen Flegeleien von HJ-Führer-Schülern, schützte ihre jüdischen Schüler, stand zu einem aus politischen Gründen amtsenthobenen Kollegen, zögerte trotz mancher ideologischen Konzessionen die Einführung neuer, NS-orientierter Lehrpläne und Lehrbücher hinaus, lehnte den Beitritt zur Nordischen Gesellschaft des Rassekundlers Günther ab, versagte ferner den NS-Gliederungen die Nutzung schulischer Einrichtungen und protestierte gegen die Entfernung eines Bildes der verfemten Käthe Kollwitz aus einer Schulausstellung. Im Kriege wahrte sie den Kontakt zu ihren ehemaligen Schülern, betreute die zum Luftwaffenhelfereinsatz kommandierten Soldaten-Schüler und holte die zu einem Schanz-Einsatz in das Frontgebiet von Arnheim deportierten Schüler zurück. Sie ließ sich durch Parteidekrete maßregeln, nicht aber in ihrer pädagogisch bestimmten Lehrer-Schüler-Einheit aufspalten, d. h. gleichschalten. Als ruhender Pol in diesem Kampf um erzieherische Selbstbehauptung, um Wahrung einer elementaren humanitas, erwies sich ein überragender Schulleiter.
Die Gesetze, Erlasse und Verordnungen, die sich nach 1933 als Springflut über das Erziehungswesen wälzten, kennen wir. Nur: haben sie auch die Fundamente einer an elementar-menschlichen Werten orientierten Pädagogik unterspülen können? Man wüßte gern im einzelnen, wie es in den Schulen ausgesehen hat. Eduard Spranger Die „Städtische Oberrealschule mit Reformrealgymnasium" — seit vier Jahren unter dieser neuen Benennung in ihrem modernen Gebäude — wechselte am 30. Januar 1933 mit 597 Schülern, 28 Lehrern und einem international angesehenen Direktor in die nationalsozialistische Zeit hinüber. Der Geist und das Unterrichtsklima im Felix-Klein-Gymnasium der Universitätsstadt Göttingen waren liberal-konservativ bestimmt gewesen. Deutschnationale Farbtupfer hatten sich bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt, und die wenigen braunen Einsprengsel waren zu farblos geblieben, als daß sie eine Warnung vor dem Kommenden hätten sein können. In den letzten Jahren der Republik hatten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auch die Schule erreicht. In dem Millionenheer der Arbeitslosen trieben viele Eltern mit, die für den Besuch der Oberrealschule pro Kind jährlich 240 RM — wenn sie von auswärts kamen: 300 RM — aufbringen mußten. Was waren da schon fünfzig ganze und vier halbe Freistellen, die die Stadt der Schule zur Verfügung stellte So wuchs unter Schülern wie Lehrern eine Stimmung, die sich in der dumpfen Empfindung ausdrückte: Es muß alles ganz anders werden, und die Wende zum Besseren steht kurz bevor.
Diese Wende sahen dann offensichtlich einige Schüler nach dem 30. Januar 1933 gekommen, als sie die Schule eigenmächtig und demonstrativ mit einer Hakenkreuzfahne beflaggten. Was heute als Bagatelle empfunden wird, hat die Gemüter damals außerordentlich erregt.
Abbildung 2
Abbildung 2
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Es blieb lange offen, ob der Oberprimaner Rempel und sein ebenfalls der SS angehörender Mithelfer vom Abitur zurückgestellt werden sollten. Sie hatten längst die Nerven ihrer Lehrer überstrapaziert, weil sie nach dem 30. Januar ständig in ihrer schwarzen SS-Uniform zum Unterricht gekommen waren. Es scheint: nur die Solidarisierung der Olb (Ober-prima) mit den gefährdeten Klassenkameraden — eine menschliche, keine politische Bekundung — hat die Schule vor der äußersten Maßnahme zurückschrecken lassen
In der Konferenz am 10. März 1933 klingt bereits der „Fall Küchemann" an: die „Reinigung" der Schule von einem angeblichen Kommunisten (Dok. Nr. 1). Direktor Lietzmann und das Kollegium standen zu Küchemann (Dok. Nr. 2). In einer Abstimmung sprachen sich alle Lehrer — mit Ausnahme des Stud. Ass. Kranz — für das Verbleiben von Küchemann an der Anstalt aus — doch vergeblich! Küchemann selbst hat diese kollegiale Solidarität tief bewegt und zum Widerspruch gegen seine Entlassung ermutigt. Hervorgehoben zu werden verdient in diesem Zusammenhang die entschlossene Haltung des „Vereins ehemaliger Oberrealschüler", der am 22. Mai 1933 in einer Mitgliederversammlung durch seinen Vorsitzenden Wilhelm Schütte Stellung beziehen ließ: „Er ehrte unter dem Beifall der Versammlung besonders den Lehrer R. Küchemann, der der eigentliche Schöpfer des Landheims ist; er habe in hohem Idealismus und stetem Streben unter größten Opfern dies Werk aufgebaut.“ Der Einspruch vor Gericht blieb für Küche-mann ohne Erfolg; der Schulträger fuhr zu schweres Geschütz auf (Dok. Nr. 3). Aber Direktor Lietzmann hielt zu dem Verstoßenen Kontakt richtete den Niedergeschlagenen auf und brachte es sogar fertig, den Ausgeschlossenen zum Beginn des Schuljahres 1941/42 in die Schule zurückzuholen und zu ihm zu halten (Dok. Nr. 4). Die volle Rehabilitierung erfuhr Küchemann 1943 mit der Wieder-berufung in das Beamtenverhältnis
Abbildung 4
Verzeichnis der Dokumente 1 Göttinger Tageblatt Nr. 87/12. 4. 1933.
2 FKG, Schularchiv, Schriftwechsel.
3 Popplow, Göttingen zwischen Demokratie und Diktatur, Handakten Gnade.
4 FKG, Schularchiv, Schriftwechsel.
5 FKG, Schularchiv, Protokollbuch, o. S. (handschriftlich). 6 FKG, Schularchiv, Protokollbuch VI, S. 26 (handschriftlich).
7 FKG, Schularchiv, Jahresbericht 1933/34, S. 1.
8 FKG, Schularchiv, Protokollbuch VI, S. 37 ff.
(handschriftlich).
9 Gespräch zwischen W. R. un⌐٧?
Verzeichnis der Dokumente 1 Göttinger Tageblatt Nr. 87/12. 4. 1933.
2 FKG, Schularchiv, Schriftwechsel.
3 Popplow, Göttingen zwischen Demokratie und Diktatur, Handakten Gnade.
4 FKG, Schularchiv, Schriftwechsel.
5 FKG, Schularchiv, Protokollbuch, o. S. (handschriftlich). 6 FKG, Schularchiv, Protokollbuch VI, S. 26 (handschriftlich).
7 FKG, Schularchiv, Jahresbericht 1933/34, S. 1.
8 FKG, Schularchiv, Protokollbuch VI, S. 37 ff.
(handschriftlich).
9 Gespräch zwischen W. R. un⌐٧?
Am Schicksalstag des 30. Januar, zugleich auch das Ende des Schuljahres 1932/33, hatte die Schule fünfzehn jüdische Schüler Neun von ihnen gaben als Glaubensbekenntnis „mosaisch" an, waren also Glaubensjuden; die übrigen teilten sich in Dissidenten, Konfessionslose, Reformierte und Lutheraner auf, galten also als freidenkende oder getaufte Juden. Sozial gehörten sie der jüdischen Mittel-und Oberschicht Göttingens an; vier von ihnen waren Professorensöhne. Was sie mit ihren „deutschen“ Mitschülern — bald sollte man von Ariern sprechen — teilten, war die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein ehemaliger Schüler und Lehrer der Schule hat die soziologische und psychologische Vielschichtigkeit des antijüdischen Ressentiments aus eigenem Erleben der Vor-und Weltkriegsjahre dargelegt: „Das ist das Anderssein. Ich habe nie begreifen können, daß der Mitschüler B., Sohn eines jüdisch-orthodoxen, sehr reichen Getreidehändlers, zwar sonnabends zur Schule kam, aber nicht schrieb (also auch keine Klassenarbeiten) und sich die Büchertasche durch Mitschüler tragen ließ. Ich hatte als Schüler einen jüdischen Freund, Ludwig Wronke, bei dessen Vater, dem Kaufmann Siegmund Wronke auf der Gröner Straße meine Eltern unsere Schuhe kauften. Vater W. war ein aufgeklärter, liberaler Jude, der zwar zur Synagoge ging, aber gern Mettwurst aß. Er liebte es, mich beim Abholen von Reparaturen in Gespräche zu verwickeln, besonders gern über den Antisemitismus. Dabei sagte er mir etwas, dessen tiefere Bedeutung mir erst nach 1945 klargeworden ist. Er sagte: . Nicht der bei meinen Glaubens-genossen nicht selten anzutreffende Reichtum nährt den Antisemitismus, sondern ihre unselige Gewohnheit, ihn zu zeigen.'[... •] Damit wird der Teufelskreis aller Minoritätendiskriminierung aufgezeigt: Der Diskriminierte reagiert auf den Vorwurf im Sinne einer Selbstbestätigung, die ihrerseits dem Diskriminierenden als Bestätigung seiner These erscheint. [... ] Zusammengefaßt: Das Verhältnis der Göttinger zu ihren jüdischen Mitbürgern war ohne Spannung. Man kaufte gern bei jüdischen Kaufleuten, da sie als reell galten. Das Familienleben der Juden galt als vorbildlich. Aber es waren unterschwellige Ressentiments vorhanden, deren sich eine hinreichend skrupellose Demagogie bedienen konnte. ”
Abbildung 5
Dokument Nr. G. Nr. 1498/2. 1.
Betr. Kommunistische Betätigung in Schulen und Lehrer-kreisen. An den Herrn Oberpräsidenten der Provinz Hannover Abt. f. d. höhere Schulwesen Hannover 2 19. April 193 3 Dass Organisationen kommunistisch gesinnter Lehrer in den letzten Monaten hier in Göttingen hervorgetreten seien, ist nicht beobachtet worden. Ebenso ist über eine Verhetzung der Schuljugend durch kommunistische Propaganda in irgend einer Form mir nichts Näheres bekannt geworden. Ein Schüler ist, wie ich un⌐٧?
Dokument Nr. G. Nr. 1498/2. 1.
Betr. Kommunistische Betätigung in Schulen und Lehrer-kreisen. An den Herrn Oberpräsidenten der Provinz Hannover Abt. f. d. höhere Schulwesen Hannover 2 19. April 193 3 Dass Organisationen kommunistisch gesinnter Lehrer in den letzten Monaten hier in Göttingen hervorgetreten seien, ist nicht beobachtet worden. Ebenso ist über eine Verhetzung der Schuljugend durch kommunistische Propaganda in irgend einer Form mir nichts Näheres bekannt geworden. Ein Schüler ist, wie ich un⌐٧?
Nur eine Schule, die solch aufmerksam beobachtende und kritisch analysierende Schüler erzog, konnte sich antisemitischen Herausforderungen gewachsen zeigen. Sie tat es in der Revolution von 1918/19 und sie tat es — und das wiegt schwerer — nach der Machtergreifung Hitlers 1933. Sie unterlief im Mai 1933 einen Erlaß des Preußischen Kultusministers, die „arische" bzw. „nichtarische" Abstammung betreffend, indem sie auf Zeit spielte (Dok. Nr. 5) — mit Erfolg; denn die erwarteten Fragebogen trafen nicht ein, und die Schule konnte auf eine Meldung verzichten. Sie unterband pubertäre Gewaltstreiche gegen jüdische Schüler (Dok. Nr. 6), und sie bekannte sich zu ihrem durch Freitod aus dem Leben geschiedenen jüdischen Schüler Ludwig Meininger (Dok. Nr. 7, 8). Die Lehrer der Schule scheuten dabei nicht die Auseinandersetzung mit einem von der HJ gesteuerten Großteil der Schülerschaft Menschlicher Anstand stand hier gegen ideologische Indoktrinierung bzw. Verführung. Und jener setzte sich durch, nicht zuletzt dank der Persönlichkeit des Direktor-Stellvertreters Baustaedt, von dem ein Kollege und späterer Direktor der Schule sagte: „Ja, der war intelligent und hatte wirklich Format!" Vielleicht war es kein Zufall, daß gerade in seiner Klasse ein jüdischer Schüler lange nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 noch im Herbst 1937 das Abitur machen konnte (Dok. Nr. 9). Selbst 1942, im Jahr der „Endlösung“, der erbarmungslosen Juden-vernichtung, hielt Direktor Lietzmann seine Schule für einen jüdischen „Mischling" offen — die pädagogisch-psychologischen Risiken verantwortungsvoll abwägend. Er scheiterte an der vorgesetzten Schulbehörde (Dok. Nr. 10, 11).
Abbildung 6
Dokument Nr. 3
Dokument Nr. 3
Am 30. Januar 1933 hatte noch kein Lehrer der NSDAP angehört. Als die Abteilung für das höhere Schulwesen beim Oberpräsidenten in Hannover am 16. 9. 1935 eine Aufstellung über die Parteimitgliedschaft erbat, meldete die Schule sechzehn Lehrer — Direktor Lietzmann eingeschlossen Das war mehr als die Hälfte des Kollegiums. Sie alle waren zwischen dem 1. März und dem 1. Mai 1933 in die Partei eingetreten. Die Motive reichten von vordergründiger Anpassung b 9. 1935 eine Aufstellung über die Parteimitgliedschaft erbat, meldete die Schule sechzehn Lehrer — Direktor Lietzmann eingeschlossen 13). Das war mehr als die Hälfte des Kollegiums. Sie alle waren zwischen dem 1. März und dem 1. Mai 1933 in die Partei eingetreten. Die Motive reichten von vordergründiger Anpassung bis zu wirklicher Überzeugung. Entsprechend unterschiedlich war auch ihr Engagement in der Partei, den Gliederungen und angeschlossenen Verbänden. Da gab es — überblickt man die Jahre bis 1945 — einen Kreisamtsleiter, einen Kreisrevisor, einen Hauptstellenleiter, einen Ortsgruppenleiter, einen Ortsgruppenamtsleiter, einen Blockleiter — um nur die Funktionen in der Partei selbst zu nennen 14). Das alles waren Nebentätigkeiten, die weder das Verhältnis der Kollegen untereinander noch das der Lehrer zu den Schülern beeinflußte. Manches wirkte komisch: wenn einer der jüngeren Lehrer es nur zum SS-Oberscharführer gebracht hatte, während der Hausmeister als SS-Untersturmführer — später Obersturmführer — sein unmittelbarer Vorgesetzter in der SS war; wenn ein fünfzigjähriger, baumlanger Studienrat zum Hauptgefolgschaftsführer der HJ aufrückte und in kurzen Hosen herumlief; wenn der an den NS-Feiertagen in goldstrotzender Uniform auftretende Ortsgruppenleiter wegen fehlender Stiefel Ledergamaschen trug und von den Schülern als „beingeschädigter Goldfasan" verspottet wurde.
Abbildung 7
Dokument Nr. 4
Dokument Nr. 4
Die Uniformen uniformierten nicht das eigene Urteil und bremsten auch nicht den Mut, es vorbehaltlos auszusprechen. So rief der Pg. Studienrat Henze dem Gauleiter Streicher, der 1935 in einer Großkundgebung auf dem Schützenplatz die Studenten in „blaßgesichtige Brillenträger“ und „Hurenböcke" klassifizierte, über die vieltausendköpfige Zuhörerschaft hinweg zu: „Es gibt auch anderer 15) Der-selbe Lehrer betrat am Morgen nach der „Reichskristallnacht“ das Lehrerzimmer mit den laut herausgestoßenen, vor Entrüstung bebenden Worten: „Ich schäme mich!" 16) Er war nicht der einzige, der zu seiner Überzeugung stand. Drei Lehrer etwa weigerten sich unbeirrt, dem NSLB beizutreten, obwohl sie damit die Berechtigung verloren, Studienreferendare auszubilden Dabei waren sie keineswegs Gegner des Regimes, sondern beharrten nur darauf, daß es Entscheidungen gab, die in ihrem eigenen, ganz individuellen Ermessensspielraum lagen.
Abbildung 8
Dokument Nr» 8
Dokument Nr» 8
Wenn in mancher Hinsicht die partei-, gliederungs-und verbandsgebundenen Lehrer die Schule gegen nationalsozialistische Eingriffe und Ansprüche abdecken konnten: es gab doch zwei Lehrer, die den Rahmen sachverbundener Kollegialität sprengten. Der eine wurde bereits genannt: Studienassessor Wilhelm Kranz. Er war der Schule, an der er schon in früheren Jahren beschäftigt gewesen war, im Herbst 1932 zugewiesen worden. Der ehrgeizzerfressene Karrierist isolierte sich schnell: mit seinem Nein zu Küchemann, mit seinem Verlangen, möglichst schnell an möglichst vielen NS-Schulungs-und Fortbildungskursen teilzunehmen, mit seinem Einstieg in die „große Politik“.
Abbildung 9
Dokument Nr, 10
Dokument Nr, 10
Am 31. 3. 1933 wurde er Senator der Stadt Göttingen. Wenn auch Schüler und Eltern ihm zujubeln mochten, seine Kollegen, der Oberbürgermeister Dr. Jung und selbst der Kreisleiter Dr. Gengier taten das nicht. Im Gegenteil: alle hatten den notorischen Querulanten und Intriganten bald „gefressen" „Was am Theater gespielt wird, bestimme ich", tönte er in der Schule Sein Ziel war, den Intendanten des Göttinger Theaters, Stiegler, „abzuschießen" und an dessen Stelle seinen Günstling Bucheid, einen NS-Journalisten, zu setzen. Damit noch nicht ausgefüllt, bemühte er sich — zusammen mit anderen Senatoren —, Oberbürgermeister Jung „abzusägen". Beides mißglückte, und in den Augen von Jung war Kranz nur noch eine „Minuskreatur“ Am 23. November 1933 „flog“ er aus dem Senat -Die Luft im Rathaus wurde reiner, die in der Böttingerstraße 17 dicker. Preisfrage: Wie hatte Kranz überhaupt in diese Stellung kommen können? Vermutung: weil er ein alter Parteigenosse war. Diese Version hatte Kranz selbst verbreitet — aber stimmte sie? Viele Kollegen zweifelten und hielten ihn für einen . April-Gefallenen“ . Sicher ist: Kranz war ein Lehrer, der Politisches mit Schulischem vermengte und beides wiederum mit Persönlichem 1935 wurde die Schule von ihrer Persona non grata erlöst
Abbildung 10
Dokument Nr. 11
Dokument Nr. 11
Der zweite Problemfall ist anders gelagert. Ein beruflich enttäuschter Lehrer fand sich offensichtlich bereit, NS-Instanzen Interna aus der Schule, insbesondere dem Kollegium zu übermitteln. So galt er als Spitzel der Kreisleitung und brachte den „deutschen Blick“ ins Lehrer-zimmer. Man sah sich erst um, bevor man regimekritische Äußerungen tat. Ein Lehrer erinnert sich: „Bei unserem Schulfest auf dem Rohns spielte im November 1935 — wie immer in unserem Schulorchester — der jüdische Schüler Rudolf Hahn (Bratsche oder Zweite Geige) mit. Der liebe 'Kollege'protestierte bei der Kreisleitung: , Man mutet dem Vertreter des Kreisleiters zu, nach der Pfeife eines Juden zu tanzen.“ Ein anderer Fall: „Einmal übte ich mit den Klassen im Musiksaal das Lied , Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten'ein. Der Komponist ist zweifellos ein Nichtjude gewesen, bei dem Autor muß das offen bleiben. In den Nachschlagewerken hieß es: Aus dem Niederländischen'. Da hat doch tatsächlich jemand'der Kreisleitung mitgeteilt: In der Oberrealschule singt man jüdische Lieder.“
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Dokument Nr, 14
Dokument Nr, 14
Gut unterrichtete Lehrer der Schule sahen die Tätigkeit des beargwöhnten Kollegen anders: Er arbeitete nicht als Informant der Kreisleitung, sondern war V-Mann (Vertrauensmann) des SD, des Sicherheitsdienstes der SS. Als solcher zeichnete er für seine Auftraggeber alles auf, was er an Meinungsäußerungen über die Maßnahmen von Partei-und Staatsorganen in der Schule hörte Aber was immer er getan hat, sichtbar geschadet hat er niemandem — sehr im Unterschied zu Kranz! So viel an NS-Bejahung oder -Kritik von außen in das Kollegium drang, die eigentlich indoktrinierende Linie bestimmte als Sprecher der übergeordneten staatlichen Instanz in Hannover Regierungsdirektor Dr. Pusch. Noch niemals in der Geschichte der Schule hatte es einen solch sonderbaren Dezernenten gegeben (Dok. Nr. 12, 13). Zu dümmlich, um ernst genommen zu werden, zu kleinkariert-fanatisch, um Resonanz zu finden Mit Recht stufte man ihn dennoch als politisch gefährlich ein, und alle atmeten auf, als er im Juli 1941 der Schule auf natürlichem Wege genommen wurde Sein Nachfolger als Dezernent, Oberschulrat Dr. Moeller, hat sich niemals zu solchen Belehrungen verstiegen, wie Pusch sie für angemessen hielt. Allerdings war das schon eine Zeit, in der der ideologische Mörtel an und in den Schulen bedenkliche Risse zeigte.
Abbildung 12
Abbildung 12
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Zwar hatte man solcher Verwitterung rechtzeitig vorbeugen wollen, als man von 1933 an die Lehrer in immer größerem Umfange zur Teilnahme an Lagern, Tagungen und Übungen bewegte -Aber mit „freiwilligem Zwang" ging es nur so lange gut, wie die allgemeine politische Wetterlage auf „schön“ stand. Mit dem 1. September 1939 veränderte sich die NS-wie die Schulwelt grundlegend. Warnzeichen hatte es schon vorher gegeben: als der Oberpräsident in Hannover am 24. September 1938 eine Aufstellung der Wehrpaßinhaber anforderte und am 10. November 1938 auf . vertraulich-eigenhändigem" Wege — unter Umgehung des Schulträgers — nichts Geringeres als eine geheime Mobilmachungsvorkehrung für die Schule traf
Abbildung 13
Dokument Nr. 21
Dokument Nr. 21
Wenn das alles die Lehrerseite betraf: wie sah es umgekehrt mit jener der Schüler aus? Wie bekam das Regime diese auf dem Umweg über die Lehrer in den Griff? Denn eben dies wollte es. Gegen Lehrer wie Schule waren die Jungen grundsätzlich durch die HJ eingestellt worden. Aber da nun einmal alle noch so neunmal-klugen ideologischen Spruchweisheiten keine konkrete Wissensvermittlung zu ersetzen vermochten, blieben Unterrichtsformen wie Stoffe weiterhin das A und O der schulischen Arbeit. Zunächst geschah nicht allzu viel Neues. An den nationalen, bald: nationalsozialistischen Feiertagen gab es künftig Schulfeiern — Tag von Potsdam Hitlers Geburtstag 1.
Abbildung 14
Abbildung 14
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Mai Muttertag 9. November — groß-zügige Urlaubsbewilligungen — Reichsparteitag in Nürnberg Erntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln — oder sogar schulfrei Ergänzend kamen alle möglichen Gedenkstunden, Filmveranstaltungen, Ausstellungen und ähnliches hinzu Erst der Krieg schraubte das üppige Indoktrinierungsfeuer dann auf Sparflamme zurück. Das erfolgte zu einem Zeitpunkt, wo so manchen schon dieser Kult der „NS-Schulgemeinde“ anzuöden begann. Immer die gleichen Reden zu hören, überforderte selbst die gutwilligsten Schüler. Zumal die Schuljahre, Schulhalbjahre und mitunter sogar Schulvierteljahre mit Flaggenparaden eröffnet und geschlossen wurden. Ohne Kernsprüche ging es auch dabei nicht ab.
Abbildung 15
Abbildung 15
Abbildung 15
Besonderes Gewicht wurde vom Sommer 1934 an dem Staatsjugendtag beigemessen. Der Oberpräsident forderte darüber Berichte von der Schule an (Dok. Nr. 14). Seit Frühjahr 1936 erübrigte sich ein Ersatzunterricht, weil 99 Prozent der Schüler im DJ und in der HJ Tritt gefaßt hatten. Dafür wurde der Schule die HJ-Fahne verliehen. Damit nicht genug: Regierungsdirektor Pusch war gerade zu Beginn seiner Amtszeit um eine totale ideologische Ausrichtung der künftigen Abiturienten bemüht und ordnete dafür einen vierzehntägigen Landheimaufenthalt der Abschlußklassen an. Anschließend erwartete er einen schriftlichen Bericht über diese Schulungswochen. Ein Jahr lang zögerte die Schule die Antwort hinaus. Diesmal aber unterlag sie im Spiel auf Zeit. Brüsk verlangte Pusch am 24. April 1935: „Die Erledigung meiner Verfügung vom 14. Mai 1934 [... ] wird hierdurch in Erinnerung gebracht und nunmehr umgehend [unterstrichen] erwartet.“ Rasch entwarf Baustaedt die Antwort und überarbeitete sie sachlich wie sprachlich (Dok. Nr. 15). Kaum ein anderes Dokument im Schriftwechsel der Schule zeigt solche Spuren der Hast, ja des überstürzten: mit Pusch war nicht zu spaßen. Diese weltanschauliche Schulung von angehenden Abiturienten blieb ein einmaliger Vorgang. Unter der politischen Indoktrinierungsmaschinerie verkümmerte das wirkliche, das freiheitliche Gemeinschaftsleben der Schule. Dabei brauchten Lehrer wie Schüler und Eltern Ventile, um sich wieder einmal für Stunden menschlich-ungezwungen geben zu können. Das geschah 1935 1936 und in modifizierter Form noch 1938 (Tag der offenen Tür) Dann würgte der Krieg solche Möglichkeiten menschlicher Begegnung ab. Ehemaligen Schülern — hineingezwungen in die Gnadenlosigkeit des Krieges — blieb nur noch die Erinnerung, „wie schön doch die Tage in Göttingen auf der Schule gewesen waren"
Abbildung 16
Dokument Nr. 26
Dokument Nr. 26
Bei aller Gemeinsamkeit, die Schüler und Lehrer verband: Konflikte zwischen den Institutionen Schule und Hitlerjugend waren unvermeidlich. Sie zeichneten sich früh ab. Im Protokoll der Gesamtkonferenz vom 16. Juni 1933 heißt es: „Es wird gewünscht, daß maßgebende Herren auf die Hitlerjugend einwirken, daß sich Übungen nicht zu lange ausdehnen. Herr Kranz nimmt hierzu Stellung — Herr Direktor weist darauf hin, daß die Eltern als nächste Instanz zu verständigen sind." Hier wird die Grundeinstellung Lietzmanns erkennbar, die er in allen nachfolgenden Auseinandersetzungen mit der HJ und anderen nationalsozialistischen Gliederungen durchzuhalten bemüht gewesen ist: Unterricht und schulische Erziehung sind Aufgaben, denen nur die Schule selbst in Zusammenarbeit mit den Eltern gerecht werden kann. Andere Tendenzen und Ansprüche können berücksichtigt werden, aber immer nur so weit, wie sie den Vorrang des Schulischen und Pädagogischen nicht in Frage stellen. Auf eine kurze Formel gebracht: Schule ist Schule, HJ-Dienst ist HJ-Dienst. Und die Oberrealschule wehrte sich von Anfang an gegen Eigenmächtigkeiten und Disziplinlosigkeiten von HJ-Mitgliedern und -Führern (Dok. Nr. 16). In den zwölf Jahren des Dritten Reiches hat es nur zwei Fälle gegeben, in denen Schüler wegen ihres NS-Engagements nachversetzt oder versetzt wurden. Beide gehören in die Anfangsphase der NS-Zeit und stellen Ausnahmen dar. Und auch die Modifizierung der Schulträgerschaft hatte nur geringe Lebenskraft: vom Schuljahr 1934/35 an waren der Stadt als Patronatsbehörde „Jugendwalter der Anstalt" beigegeben worden. Zu dieser Kontrollinstanz gehörten Prof. Dr. Reich, Fuhrwerkbesitzer Quentin, Lehrer Reimer, Studienrat Dr. Wüster und Bannführer Heintzmann (HJ). Im Frühjahr 1936 wurde diese totgeborene Institution kommentarlos aufgelöst: zusammengetreten war sie ohnehin nicht ein einziges Mal
Abbildung 17
Dokument Nr. 29
Dokument Nr. 29
Die schwerste Belastungsprobe in der Auseinandersetzung mit einer NS-Gliederung erlebte die Schule 1937, als sie mit pädagogischem Rückgrat der mächtigen SS Paroli bot. Der junge, energische Studienassessor Seidel — Jahrzehnte später, in den sechziger Jahren, kommissarischer Leiter der Schule —, Direktor Lietzmann und das Kollegium beurteilten das Verhalten eines Schülers als das, was es war: eine spätpubertär-renitente Ungehörigkeit. Der Schüler R., Mitglied der SS, hatte sich den Anordnungen seines Sportlehrers permanent widersetzt und sich sogar zu Handgreiflichkeiten hinreißen lassen. Als die vorgesetzte Behörde — Pusch! — beklemmt-verle-gen rückfragte, ob „Seidel schon früher Disziplin-Schwierigkeiten gehabt [hätte]" und ob R. sich „auch sonst Widersetzlichkeiten [hätte] zuschulden kommen lassen", antwortete Lietzmann entschlossen und bestimmt, daß das nicht zuträfe. Dennoch änderte Pusch knieweich die „Verweisung" R. s in eine . Androhung der Verweisung"
Abbildung 18
Dokument Nr, 28
Dokument Nr, 28
Wenn man heute die Abituraufsätze jener Jahre liest (Dok. Nr. 17, 18, 19), ist man betroffen von der geistigen Unselbständigkeit und gedanklichen Armut so vieler Prüflinge Die deutschtümelnde Tradition hatte sich im Fach Deutsch bereits vor Hitler so stark entwickelt (Dok. Nr. 17), daß die Nationalsozialisten auf diesem Boden mühelos weiterbauen konnten (Dok. Nr. 18, 19). Gewiß kam dem bei den hier vorgelegten Auszügen die Themenwahl entgegen. Bei literatur-und textgebundenen Themen war das nicht so ohne weiteres gegeben, und die Themenstellung der Deutschaufsätze blieb in den ersten Jahren auch noch erstaunlich neutral und sachbezogen. Aber das änderte sich: zwar nimmt sich der Lektüreplan des Schuljahres 1938/39 (Dok. Nr. 20) alles in allem noch erträglich aus, wenn auch Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Kleist, Hebbel — um nur sie zu nennen — sich bereits die Nachbarschaft des Mittelmaßes der Carossa, Frenssen, Grimm, Griese, Freytag, Löns und gar erst die der NS-Ideologen und -Barden Hitler, Rosenberg, Schirach, Vesper, Pleyer und Beumelburg gefallen lassen müssen. Auffallend das Fehlen von Benn und Ernst Jünger, die in den Anfangsjahren mit dem Regime geliebäugelt hatten! Eindeutig ist demgegenüber die Tendenz der deutschen Aufsatzthemen desselben Schuljahres 1938/39 (Dok. Nr. 21). Hier spürt man keinen Niederschlag oder gar die kritische Diskussion der qualitativ wertvollen Literatur. Statt dessen beherrscht der Be-, richtiger: Gesinnungsaufsatz das Feld. Zweifellos hätten sich die Machthaber noch stärkere NS-Akzente gewünscht, aber das hier Gebotene ist doch schon peinlich genug
Abbildung 19
Dokument Nr. 30
Dokument Nr. 30
Erstaunlich lange brauchten die Nationalsozialisten, um neue Richtlinien und Lehrpläne zu entwerfen. Bis 1937/38, ja mitunter sogar bis 1940 griffen sie sprunghaft und ohne eine er-kennbare pädagogisch-politische Linie mit Erlassen und Anweisungen in den Lehrinhalt und die Stundenzahl der einzelnen Unterrichtsfächer ein In der Oberrealschule begann es mit einer Direktive für den Biologie-unterricht Sie überließ allerdings der Schule die Initiative, wie sie sich eine fächerübergreifende Behandlung von Vererbungsund Rassenlehre vorstellte (Dok. Nr. 22). Unsystematisch wurden dann andere Fächer durch ad-hoc-Entscheidungen gegängelt, eingeschlossen Bildungseinrichtungen wie die Schülerbücherei. In diesem Falle war es nicht mehr die Entfernung von „Schundliteratur", sondern die von Büchern, die nicht mehr der veränderten Parteiauffassung des Sommers 1934 entsprachen
Im übrigen wurden die Lehrbücher aus der Zeit der Weimarer Republik benutzt, und das weit über 1937 hinaus. Als Lietzmann in einer Gesamtkonferenz am 16. Juni 1939 über die neu erscheinenden Lehrbücher sprach, wies er ausdrücklich auf die noch geltende Liste mit den bisherigen Lehrbüchern hin Erst Ende August/Anfang September 1940 diskutierten die Fachkonferenzen die neuen Lehrbücher und „segneten“ ihre Einführung ab Dabei hatte die Schule durchaus eigenwillige Entscheidungen getroffen: sie deckten sich nur in zwei Fächern mit denen der sonstigen Schulen Preußens und der der anderen Länder Diese Verzögerung in der Benutzung neuer Bücher — und das hieß die Beibehaltung der alten Lehrbücher — mußte der nationalsozialistischen Umformung der Lehrinhalte deutliche Grenzen setzen. Siebeneinhalb Jahre Unterricht mit den aus demokratischem Geist geschriebenen Unterrichtswerken gegenüber noch verbleibenden viereinhalb Jahren mit den aus nationalsozialistischem Ungeist erwachsenen: war das eine Form des passiven Widerstandes? Soviel ist gewiß: man hätte schneller wechseln können, aber man ließ sich aus pädagogischem Verantwortungsbewußtsein Zeit. Zeit gewonnen, viel gewonnen! Das galt gerade damals. Ähnlich handelte die Schule in der Frage der neuen Richtlinien, der Lehr-, Stoff-und Lektürepläne. Vorreiter waren die Sportlehrer oder — wie sie damals hießen — Leibeserzieher. Sie legten in einer Gesamtkonferenz den Kollegen der anderen Fächer ihre neue herausgehobene Funktion dar: sie waren jetzt verantwortlich für die Persönlichkeitsbeurteilung der Schüler (Kriterien: a) körperlicher Zustand, Entwicklung, b) charakterliche Beurteilung) und verkörperten zugleich als Vorbild die „Führer zur Wehrreife" Die anderen Fächer folgten im Abstand von einem Jahr und nach weiteren längeren Verzögerungen. Und die Umbenennung der Schule und ihrer Klassen? Jene erfolgte mit dem Beginn des Schuljahres 1937/38 diese ein Jahr später Auch hier hatte man es nicht eilig gehabt.
Diese taktische, nein schon strategische Konzeption, die sich in deutlichen Umrissen abzeichnet, ist neben dem Grundkonsens des Kollegiums vor allem dem Direktor der Schule zu verdanken: Professor Dr. Walther Lietzmann — einem Zivilisten in uniformierter Zeit. Wie hatte doch ein junger, durch die NS-Zeit geprägter Schüler über ihn geurteilt? „Lietzmann war als Lehrer angesehen, aber als . Mann'eine Flasche: total unmilitärisch. Der konnte zu Führers Geburtstag noch nicht einmal eine Flaggenparade in Gang bringen. Angetreten in U-Form auf dem Schulhof, am rechten Flügel jeweils der Klassenlehrer! Dann sprach Lietzmann, nicht zu viel, nicht zu wenig — gerade das, was erforderlich war. Aber Kommandos konnte er nicht geben, der ca. 1, 60 bis 1, 65 Meter große und nur Zivil tragende Mann. Er hatte einen Bauchansatz und machte deshalb auf uns schon einen komischen Eindruck. Sein Renommee war sein Professorentitel. Man sagte uns: Das ist Deutschlands größter Mathematiker, und das beeindruckte uns natürlich auch wieder. Er war nach unserem Eindruck der einzige, der keine Parteiabzeichen trug." Ganz anders das Urteil eines reifen Schülers, der ihn in den beginnenden dreißiger Jahren erlebte: „Wenn er am anderen Ende des Flurs erschien, nahm ich schon innerlich Haltung an. Er war eine Respektperson sondergleichen.“
Schließlich die Wertung eines Schülers der zwanziger Jahre, der anschließend als Ehemaliger in den dreißiger und vierziger Jahren Kontakt zu seiner neuen-alten Schule bewahrte: „Lietzmann war der entscheidende Mittelpunkt der Schule im Dritten Reich. Antinationalsozialistisch — trotz der äußerlichen Parteimitgliedschaft von 1933. Eine durch und durch integre Persönlichkeit Seinem Vorbild war es wohl auch zu verdanken, daß die Schule in den braunen Jahren insgesamt einen zivilen Charakter bewahrte. Denn dieser Eindruck herrschte vor.“
Lietzmann selbst hat einmal die Anforderungen genannt, die nach seiner Meinung ein Direktor haben müsse (Dok. Nr. 23). Ebenso hat er sich über die angeborenen Eigenschaften geäußert, die einen Erzieher ausmachten — was man eben hätte oder nicht hätte, jedenfalls nicht lernen könne (Dok. Nr; 24). An beiden Maßstäben ist er selbst zu messen, und da kann er wahrlich bestehen — so schwierig er im einzelnen für seine Kollegen menschlich auch gewesen sein mag (Dok. Nr. 25).
Wohl nur ein Mann solchen Zuschnitts konnte die Schule ohne Schädigung ihrer geistigen Substanz durch die Wirrnisse der NS-Jahre führen. Das ging nicht ohne Kompromisse und Kratzer ab, und so manchen Abstrich hat auch Lietzmann machen müssen. Aber selbst dann suchte er vor allem einer seiner direktorialen Eigenschaften treu zu blei-ben: der Konsequenz. So lehnte er den Antrag des Marinesturms auf Benutzung des Schulhofs mit der hintergründig-sarkastischen Bemerkung, „der Schulhof [sei] nicht als Truppenübungsplatz angelegt“ worden, ebenso entschieden ab wie die vielen vorangegangenen und nachfolgenden Wünsche der NS-Gliederungen, vor allem der HJ’ -Ging es dabei um die Benutzung der Aula oder anderer Innenräume der Schule, wies er immer auf die Fußbodenschäden hin, die durch die Nagelschuhe und -stiefel entständen. Diese widerspruchs-bereite, sachorientierte Haltung trug ihm die Achtung und Unterstützung der Göttinger Oberbürgermeister Bruno Jung und Albert Gnade ein: jener schätzte in der Phase nahender Schulreformen seinen fachlichen Rat, dieser nahm ihn in einem persönlichen Brief an den Staatssekretär im Reichspropagandaministerium vor rüden Angriffen der HJ in Schutz. Auf der anderen Seite rückte ihn seine Konsequenz in schulischen Angelegenheiten — ob jenen des Gebäudes oder denen des Unterrichts — in die kritische Optik der NS-Instanzen, vorrangig der HJ und der Kreisleitung.
Die Schule hatte Glück im Unglück: mit einem solchen Direktor — und den noch verbliebenen vertrauten Lehrern — wurde sie in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gestoßen und überlebte diese. Je grauer sich die Jahre in der Schule färbten, um so mehr wuchs unter Lehrern wie Schülern das Gefühl: solange Lietzmann Chef ist, wird für uns menschlich getan, was getan werden kann. Das gab Hoffnung in hoffnungsloser Zeit. Hier ist grundsätzlich zu fragen: wie standen die Schüler in diesen wie in den vorangegangenen Jahren ideologischer Verführung zu ihrer Schule? Die Antwort kann — bei aller Differenzierung im einzelnen — nur lauten: positiv bejahend. Und das ist durchaus kritisch-eingeschränkt formu-liert Der Pendelausschlag reicht vom . Abgesehen von den Lehrern X, Y, waren es erfreuliche, abwechslungsreiche Jahre in der Böttingerstraße" bis zum „Wenn ich in meinem Leben jemandem etwas zu verdanken habe, dann dieser Schule mit ihren Lehrern!" Darauf folgen Einzelheiten, die oft eine bewegende Identifizierung mit der Schule verraten, die von Dankbarkeit zeugen und die von erschütternder Suche nach einer bergenden Heimat inmitten einer Zeit totaler Heimatlosigkeit sprechen. Dies gilt vor allem für die im Kriege stehenden Soldaten, Lehrer wie Schüler, für die vorzeitig zum RAD und zum Luftwaffenhelfereinsatz ein-bzw. abberufenen Schüler und für die Angehörigen der gefallenen Schüler. Wer sich durch die vielen Briefe, die an Direktor, Lehrer und Mitschüler geschrieben worden sind hindurchgelesen hat, zweifelt nicht: im Konflikt Schule-HJ hatte letztere nie eine Chance. Ob vor dem Kriege oder während der Schreckensjahre 1939/45: im Zweifelsfalle für die — „unsere" — Schule
Vom Allgemeinen zum Besonderen: das entscheidende institutioneile Ereignis für die Schule in den Kriegsjahren war 1941/42 die Umstellung des Schuljahres von Ostern auf den Sommer/Herbst Aber die Schwierigkeiten waren bald gemeistert. Länger wirkten nach und belasteten das Schulleben die frühzeitigen Einberufungen: vor allem die der noch sehr jungen Schüler zum Dienst als Luftwaffenhelfer Blieb hier doch die Schule verpflichtet, für die unterrichtliche Weiterbildung zu sorgen. Nur für zwei Helfer-Gruppen konnte die Schule eigene Betreuungslehrer stellen Lietzmann selbst kümmerte sich um alle eingesetzten Schüler und suchte sie mehrfach in ihren Stellungen auf. Für die Jungen-Soldaten war er ein wirklicher Schüler-Vater
Aber auch hier kam es zu einem Konflikt, der die Schule und ihren Direktor wieder einmal im Grundsätzlichen herausforderte (Dok. Nr. 26, 27): Lietzmann ließ Federn, aber er bewahrte Konsequenz — und menschliche Güte. Das üble Nachspiel hat er selbst handschriftlich festgehalten — ein außergewöhnliches Dokument! Doch der nächste Zusammenstoß mit den NS-Gewaltigen folgte auf dem Fuße. Erstaunlicherweise hat er kaum einen Niederschlag in den Schulakten gefunden Anfang September 1944 wurden sechzig fünfzehnjährige Schüler der Schule zum Schippeinsatz in das Frontgebiet von Arnheim in Holland transportiert. Das war ein Skandal, wie es ihn in den gewiß recht überraschungsreichen Jahren des Dritten Reiches noch nicht gegeben hatte (Dok. Nr. 28, 29, 30, 31 32). Der Schule brachte er erstmals die Gestapo ins Haus, und Lietzmann trug er nicht nur den peinlichen Auftritt des Kreisleiters Gengier in der Schule ein, sondern auch die Einberufung zu einem Schulungs-Lehrgang der Gauleitung in Bad Harzburg.
Der Rest war für die Schule im wahrsten Sinne des Wortes Schweigen: ihre Beschlagnahme als Lazarett, der Einsatz von Schüler-Kindern für die Entladung von Flüchtlingen — Erschöpften, Kranken, Sterbenden — täglich vier-bis fünfmal — die Verlegung des Unterrichts im Frühjahr 1945 ins Freie, ins „Elefantenklo" (Göttinger Volksmund für ein Bismarckdenkmal) und auf die Schillerwiese Das letzte amtliche Dokument trägt das Da-tum des 3. April 1945: die Schule entließ 29 Schüler zum RAD. Fünf Tage später rückten die Amerikaner in Göttingen ein. Der einzige Direktor der Stadt, der nicht entlassen wurde, war Prof. Dr. Walther Lietzmann. Er ging unverzüglich an den Neuaufbau seiner Schule in der Böttingerstraße 17 Dokument Nr. 1 Der neue Kurs auf dem Rathaus 12 Anträge der Fraktion der N. S. D. A. P.des Bürgervorsteher-Kollegiums an den Magistrat der Stadt Göttingen 12. Da festgestellt wurde, daß die als kommunistisch eingestellt bekannten Lehrer Herbert Küchemann, Knaben-Mittelschule, Rudolf Küchemann, Oberrealschule, sowie die Lehrerinnen Fräulein Ziems und Fräulein Adomeit, Mädchen-Mittelschule, noch bis unmittelbar vor den Osterferien ihr Lehramt versehen haben, wird der Magistrat gebeten, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß diese Lehrkräfte bei Beginn des neuen Schuljahres keinen Unterricht mehr erteilen.
Die national gesinnte Elternschaft Göttingens würde es als unerträglich empfinden, die Erziehung ihrer Kinder weiterhin kommunistisch gesinnten Lehrkräften anvertrauen zu müssen.
Dr. R. Ambronn Stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der N. S. D. A. P. Dokument Nr. 5 Gesamtkonferenz: 17. 5. 1933, 10. 23 h (Große Pause)
• • • 6. Verfgg. d. Oberpräs. vom 11. 5. 33, unter Nr. 0. P. 2395 II/2, G. über die jüdischen Schüler an höh. u. mittleren Schulen Die Festlegung der in Frage kommenden Schüler soll noch einige Tage hinausgeschoben werden, um das Eintreffen von Fragebogen abzuwarten.
Ende: 10. 47 h Lietzmann Meyer Dokument Nr. 6 Klassenkonferenz der Ullla: 29. November 1935 Am letzten Freitag ist der Oberprimaner Hertz nach dem Unterricht auf der Nikolaistr. von Schülern belästigt worden. Herr Wundram stellte dabei die Schüler Probst, Ziegler, Rannenberg, Wellhausen der Ullla fest. Die Untersuchung ergibt, daß Probst Hertzs Rad festgehalten hat, während die andern Schüler ihn mit ihren Rädern am Weiterfahren gehindert haben. Das Verhalten der Schüler verursachte einen Auflauf auf der Straße. Da es sich um einen jüdischen Schüler handelt, ist der Vorfall besonders schwerwiegend. Die Klassenkonferenz bestraft deshalb die 4 Schüler mit je 4 St. Arrest. Außerdem wird ihr Benehmen ihren Jungvolkführern mitgeteilt.
Lietzmann Kauenhowen Dokument Nr. 7 C_h_r_o_n_i_k_ der__ S_c_h_u_l_e__ 1932/24 ================================================================ Am 26. 1. 1934 starb plötzlich im Alter von 14 Jahren der Schüler der U Illb Ludwig Meininger.
Er stand zu seiner neuen Klasse in einem guten kameradschaftlichen Verhältnis und seine Mitschüler mochten ihn gern. Seine Klasse und Abordnungen aus den übrigen Klassen gaben ihm das letzte Geleit. Wir werden ihm ein treues Andenken bewahren! ================================================================ Dokument Nr. 9 Rudolf Hahn kam ein halbes Jahr vor seinem Abitur in unsere Klasse. Er wurde akzeptiert und respektiert. Er war das, was man einen " netten Kerl" nennt. Wenn es auf seinem Abiturzeugnis unter " Allgemeiner Beurteilung" heißt: " Sein Betragen war stets gut, sein Auftreten immer taktvoll und bescheiden", dann kann ich dem voll zustimmen. Als wir ins Landheim gingen, fragte uns Klassenlehrer Baustaedt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn Hahn mitkäme. Das hatten wir nicht, aber Rudolf Hahn blieb von sich aus zurück -um uns nicht zu belasten. Denn er wußte, was uns unbekannt war: jüdische Schüler waren seit 1935 von Landheimaufenthalten ausgeschlossen. Baustaedt verhielt sich zu ihm wie zu uns allen: positiv, fördernd, wohlwollend. Wir hatten Hahns schwierige Lage nicht voll erkannt, wenn man auch spürte, daß er zu den Verfolgten gehörte. Über eine geplante Emigration hat er sich nicht geäußert. Wir wußten, daß er vermögend war, aber das war für uns unwichtig. Dokument Nr. _ 12 Allgemeine Konferenz: 16. Dez. 1933, Beginn 11 h Der Dezernent der Anstalt, Herr Regierungsdirektor Dr. Pusch, hält im Anschluß an seine Revision der Anstalt eine Besprechung mit dem gesamten Lehrerkollegium ah. Er drückt seine Zufriedenheit mit der Arbeit der Schule aus. Es sei notwendig, mit aller Anspannung zu arbeiten, denn der deut. Erzieherstand schaffe die Grundlagen für das neue Reich. Voraussetzung für das Gelingen dieser Arbeit sei, daß alle Lehrer 100 %ige Nationalsozialisten sind. Der Nationalsozialismus erstrebe die Ganzheit, die Ausbildung aller drei Seelenfunktionen sei nötig. Verstandesmenschen könnten nicht ganze Nationalsozialisten werden. Wer nicht mit ganzem Herzen Nationalsozialist sein könne, müsse ausscheiden.
Zum Schluß seiner Ausführungen gibt der Dezernent noch einige Richtlinien für die weitere Arbeit der Anstalt.
In der Reifeprüfung dürften die Anforderungen in den neueren Sprachen nicht übersteigert werden.
Der Erlaß über Rassenkunde müsse in der Reifeprüfung auch von den ethischen Rächern berücksichtigt werden, nicht allein von der Biologie. Es sei unmöglich, alle Prüflinge über ihre Kenntnisse in den Gebieten des Erlasses besonders zu prüfen.
Der deutsche Aufsatz sei der beste Gradmesser für die geistige Reife des Prüflings. Er sei besonders zu berücksichtigen bei der Wertung. Auch auf Rechtschreibung und Sprachrichtigkeit sei bei den Aufsätzen besonderes Gewicht zu legen.
Zum Schluß weist der Dezernent darauf hin, daß im allgemeinen zu wenig schriftliche Arbeiten geschrieben würden. In 01 seien 7 Aufsätze zu fordern, der Prüfungsaufsatz müsse der 8te sein.
Im Französischen seien in VI 15-20 Arbeiten im Jahr zu schreiben.
Im Deutschen seien auf der Mittelstufe jährlich 8 Aufsätze zu schreiben, außerdem Diktate.
Aus dem Kollegium werden noch einige Fragen aufgeworfen.
Die vom Examen zurückgewiesenen Schüler der 01 sollen in der 01 bleiben, da sie bereits nach einem halben Jahr zum Examen zugelassen werden können. Der Dienst im J. V. und in der H. J. solle an den beiden arbeitsfreien Nachmittagen stattfinden. Die Schulpflichten seien neben dem Dienst voll zu erfüllen. Die Verantwortung dafür trage der Schüler selbst.
Schluß 12 h Lietzmann Kauenhowen Dokument Nr. 13 Abitur -Pusch, Träger des goldenen Ehrenzeichens, geistig wie körperlich klein, früherer Oberstudienrat in Peine, war aus Hannover erschienen. Er führte den Vorsitz. Geprüft wurde in Religion, und zwar ausgerechnet der Sohn unseres Kollegen " Schorse" Eickemeyer, der ein bißchen begriffsstutzig war. Thema: Jesus Christus, der Arier. Pusch gab dem Prüfling dauernd Hilfen: " Wer war denn die Mutter?" " Maria." " Ja. Wo stammt die denn her?" " Aus Galiläa." " Woran erinnert Sie das Wort Galiläa?" Schweigen, dann:
" An die Gallier." " Na also! Was können Sie daraus schließen?" Der Kandidat paßte. Pusch: " Bei der Völkerwanderung muß ein Teil der Gallier nach Palästina gekommen sein. Maria aus Galiläa. Was können Sie also daraus schließen?" Endlich kam er darauf, daß Maria wohl eine Arierin gewesen sei. Nun war der Vater an der Reihe: Joseph. " Das ist doch nicht der Vater gewesen. Wer war .der Vater?" Das wußte der Prüfling natürlich ebenso wenig wie wir anderen auch. " Ja, haben Sie denn niemals die Legende gehört, die besagt, daß ein germanischer Zenturio der Vater gewesen sein soll?" Das wußte er. " Also, wenn wir das als wahr annehmen, dann war Jesus Christus ein Arier." Die Komik war kaum noch zu überbieten. Aber Pusch war noch nicht am Ende. Er zog das Bild von Hannibal mit dem Helm aus der Tasche. " Zu welcher Rasse gehörte Hannibal?" " Karthago -Semiten!" " Nun sehen Sie ihn sich doch mal an! Hannibal, das wissen Sie doch: Kriegführer, die Römer besiegt!" Hannibal wurde dann auch noch arisiert. Das war Pusch, Regierungsdirektor und Dezernent unserer Schule, ein Hundertfünfzigprozentiger. nationalsoz. Schrifttum in Poesie und Prosa. -Alles in lebendigem Zusammenhang mit dem von der Jugend dieser Stufe schon Miterlebten mit gelegentlichen geschichtlichen Rückblicken (Der 30. Januar 1933, der Tag von Potsdam, der Tag der nationalen Arbeit, der 12. November 1933, Hindenburgs Tod und Staatsbegräbnis, die Volksabstimmung am 19. August 1934, die Saarkundgebung am 26. August 1934, Parteitag in Nürnberg, Erntedankfest auf dem Bückeberg etc.
Dem national-politischen Unterricht in der die Klassen IV -UIII umfassenden Abteilung U 1 liegt der folgende Plan zugrunde:
Der Nationalpolitische Unterricht knüpft vornehmlich an nationale Feiertage und nationalsozialistische Feste und Veranstaltungen, sowie an die Persönlichkeiten an, welche die nationalsozialistische Bewegung und den Staat von heute tragen. Häufige Rückblicke auf die Geschichte unseres Vaterlandes, auf seine grossen Männer, sowie auf frühere Verhältnisse politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art werden notwendig sein. Hieraus ergibt sich eine reiche Mannigfaltigkeit zu behandelnder Stoffe. Nachstehend einige Beispiele:
1. Der Tag von Potsdam (Deutschlands Niedergang nach dem Kriege, Versailles, die nationale Bewegung, Hindenburg und Hitler).
2. Der Tag der nationalen Arbeit (Der Klassenkampf, der soziale Friede im Dritten Reich, Wert und Anerkennung der Arbeit unserer Volksgenossen). 3. Der Reichsparteitag (Der Parteienstaat vor 1933. Die nationalsozialistische Partei: ihre Entstehung, Ziele, Wege, Führer, ihr Kampf und ihre Opfer.)
Weitere Anlässe sind: Saarkundgebung, Fest der deutschen Schule, Erntedankfest auf dem Bückeberg, Volkstrauertag für die Gefallenen des Weltkrieges, Tanneberg-Gedenkfeier usf.
Hilfsmittel: Das neue nationalsozialistische Schrifttum, z. B. die " Schriften zu Deutschlands Erneuerung; Die Lese-bogen von Goerlich zur Geschichte oder die von Beltz, Die Schülerzeitschrift " Hilf mit", Atlas, Geschichts-und Erdkundebücher, Bildersammlungen für den Geschichts-und Erdkundeunterricht, Zeitungen.
[Durchschlag -ohne Unterschrift”! Dokument Nr. 15
Die beiden Oberprimen, zusammen 32 Schüler, waren vom Montag, d. 2. Juli, bis Freitag, d. 13. Juli 1934, im Landheim der Oberrealschule in Eddigehausen unter Leitung des Oberstudienrates Baustaedt Die 14 Tage dienten der Nationalpolitischen Erziehung, dem Heimatgedanken, sowie dem Gelände-und Wehrsport. Die allgemeine Einteilung des Tages war so, daß grundsätzlich mit Frühsport begonnen wurde, dann folgte die Flaggenparade. Am Vormittag wurden die unten genannten Themen besprochen, der Nachmittag war meist für körperliche Arbeit, Gelände-und Wehrsport bestimmt. Am Abend nach dem Essen trafen sich die beiden Klassen im Musiksaal des Landheims zum Singen und zu kameradschaftlichem Zusammensein.
Folgende Themen und Fragen wurden in den 14 Tagen im Gedankenaustausch mit den Abiturienten besprochen:
Adolf Hitler, Mein Kampf: Die Ursachen des Zusammenbruchs, Volk und Rasse, Der Staat, Staatsangehöriger und Staatsbürger, Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke, Gedanken über Sinn und Organisation der S. A.
A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts:
Volk und Staat.
Mythus und Typus.
Der Direktor hat an einem Vormittag mit beiden Klassen „Rassefragen auf biologischer Grundlage“ behandelt Im Anschluß daran wurden an verschiedenen Abenden besprochen: Platos Gedanken im „Staat“ und in den „Gesetzen", über die Erhaltung der Rasse sowie die gesch. Beurteilung Karls des Großen und Widukinds, Friedrich Barbarossas und Heinrichs des Löwen.
Lichtbildervorträge, welche die Verbundenheit von Volk und Heimat aufzeigen sollten, ferner Lichtbild-seiten aus den abgetretenen und den gefährdeten deutschen Grenzgebieten und aus Deutsch-Osterreich schlossen sich an.
Am Sonntag besuchten beide Klassen mit dem Lehrer geschlossen den Gottesdienst in der Kirche der Gemeinde.
Um die Oberprimaner in das Leben der Ortschaft einzugliedern, wurde an einem Abend ein gemeinschaftliches Beisammensein mit den Dorfbewohnern veranstaltet. Da die wirtschaftlichen Verhältnisse im Orte schwierig sind, wurde dieser Gemeinschaftsabend aus dem Saale des Landheims in die Gastwirtschaft von Voigt verlegt, um auf diese Weise die Wirtschaft anzukurbeln. Der Abend war so gedacht, daß 2 Stunden lang die Oberprimaner die Dorfbewohner mit Musik und Gesang, turnerischen und sportlichen Vorführungen und der Aufführung eines kleinen Singspieles unterhielten, dann kam Tanz und gemütliches Beisammensein zu seinem Rechte. Sorge machte die Frage, wie der Plan zur Kenntnis der Dorfbewohner gebracht werden könnte. In Verkleidung trugen die Klassen Plakate durchs Dorf, welche auf den Abend hinwiesen und ein volles Haus brachten. Das Ergebnis des Abends waren ausgezeichnete künstlerische und sportliche Leistungen der Oberprimaner und, trotz der zunächst vorhandenen gewissen Zurückhaltung der Dorfbewohner, eine wirkliche Verbundenheit aller Teile.
Als allgemeine Erfahrung kann gesagt werden, daß dieser 14tägige Aufenthalt der Oberprimen im Landheim, da er genügend vorbereitet war, in jeder Beziehung fruchtbar verlaufen ist und Lehrer und Schülern übereinstimmend viel Freude gemacht hat. Er hat das Zusammenleben zwischen Lehrer und Schüler vertieft, dem Lehrer die Möglichkeit einer viel reicheren Charakterbeurteilung der Abiturienten gegeben, und nicht zuletzt die Fühlung mit der bodenständigen Bevölkerung fester gestaltet. Dokument Nr. 16 Klassenkonferenz Olla: 7. 7. 19] 34 Beim Staffellauf der Schule ist Sarre, der Stammführer des Jungvolks ist, die ihm zugeteilte Strecke mit dem Rade durchfahren. Dadurch ist das Unternehmen, an dem die gesamte Schule beteiligt war, sinnlos geworden. Sarre wird auf die Pflicht der Vorbildlichkeit hingewiesen, die er als Führer hat. Das Unglaubliche seines Benehmens wird ihm vorgehalten.
Lietzmann Seyfarth Dokument Nr. 17 fas die Welt den Deutschen verdankt.
Es gibt einen Schiller, der den " Wilhelm Teil", und einen Goethe, der den " Faust" geschrieben hat. Es gibt einen Beethoven und einen Bach, die größten Tonlyriker der Welt. Es gibt einen Wagner, der das Musikdrama geschaffen hat, und es gibt viele andere mehr. Deutsche in der Technik, Deutsche in der Dichtkunst, Deutsche in der Musik! Überall führend. Was für ein Gebiet bleibt übrig, wo die Deutschen nicht an erster Stelle stehen? -Ach ja! Die Politik! Das ist die schwache Seite (der Deutschen)! Hoffen wir, daß auch Deutschland in der Politik bald führend wird, daß die deutschen Stämme, die Parteien, daß das deutsche Volk bald einig ist! Und dann trotz Versailles: " Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt ..." Reifeprüfungsarbeit von P. M., 29. Januar 1955
Dokument Nr. 18 Jie ist des Führers Wort zu verstehen: " Wir stoppen den ewigen Gerzanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten"?
• • • Unsere Zukunft verlangt gebieterisch einen starken Staat. Dieser wird sich aber nur auf genügend großen räumlichen Grundlagen erheben können C. .. ] Aus der Notwendigkeit der angeführten Gründe ergibt sich aber auch das Verhalten gegenüber fremdvölkischen Ansprüchen. Es ist nicht angängig, ihnen Raum zu geben G.. -]Die gestellten Aufgaben (verlangen) einen besonderen Menschen, der willig und fähig ist, sie aufzugreifen und zu lösen. Sinnvoll wird es deshalb nur dann sein, den Osten als Siedlungsgebiet zu betrachten, wenn man sich bemüht, den Menschen zu formen, der dort notwendig ist. Darüber wollen wir uns klar sein: Es ist nicht leicht, sich durch Siedlung eine Existenz zu schaffen . . 1 Die Siedlung darf deshalb nur so weit gefördert werden, daß sie noch eine Auslese der wertvollen Kräfte ermöglicht.
Reifeprüfungsarbeit von H. K., 50. Hartung [sic] 1954 Dokument i. r, 19 Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!
• • • Damit komme ich zum Begriff der Pflicht und Ehre, dem Leitstern unseres Tuns und Lassens. Wir haben diesen Begriff als typisch nordisch und artbedingt erkannt. Deshalb ist dies Ehr-und Pflichtgefühl wieder zu neuem Entstehen in uns geweckt worden und bestimmt unser Handeln. Nur dieser Begriff ist es, der uns die seelische Freiheit und die stolze Verantwortungsfreudigkeit möglich macht. In ihrer Auswirkung ist die geistige Freiheit etwas so Ausschlaggebendes, daß wir ihre Bedeutung gar nicht hoch genug einschätzen können.
Träger der eben genannten Ideen ist die heutige Jugend. Angefangen auf der Schule, wird dieser Gedanke in den politischen Organisationen fortgesetzt, seien es H. J. oder S. A. Seinen Abschluß und Höhepunkt findet dieser Weg durch den Arbeitsdienst, der die Gedanken der Volksgemeinschaft, Ehre und Verantwortung in die Tat umsetzt. Wahrlich ein Weg, der Ehre in sich birgt und auf den wir stolz sein dürfen!
Reifeprüfungsarbeit von G. W., 28. Januar 1935
Dokument Nr. 20 Lektüreplan ===================== Deutsch 8na Schiller, Wallenstein; Goethe, Iphigenie, Faust I und II, 1;
tel; Zillich, Die Reinerbachmühle; Pleyer, Die Brüder Tommanhans; Lesebuch: Deutsches Erbe, Bd. 8.
8nb C. F. Meyer, Das Amulett; Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, An die Ratsherren Deutscher Städte; Schiller, Die Räuber; Lessing, Minna v. Barnhelm, Hamburgische Dramaturgie, 17. Literaturbrief, Wie die Alten den Tod gebildet; Schiller, Wallenstein; Kleist, Prinz von Homburg; Hebbel, Agnes Bernauer;
Goethe, Götz von Berlichingen, Iphigenie, Faust I; Dwinger, Und Gott schweigt ...?; Pleyer, Der Puchner; Carossa, Wirkungen Goethes auf die Gegenwart; Goethe, Gedichte u. Balladen; Baldur v. Schirach, Goethe an uns; A. Rosenberg, Mythos des 20. Jahrhunderts; Will Vesper, Ein Tag im Leben Goethes (mit Goethes " Marienbader Elegie"); Alverdes, Gespräch über Goethes " Harzreise im Winter".
Goethe, Iphigenie, Faust I und II, 5; Frenssen, Jörn Uhl; Gulbranssen. Und ewig singen die Wälder; Fr. Griese, Das letzte Gesicht; Aus dem Lesebuch und aus Quellensammlungen: Schiller, Gedankenlyrik, Goethe, Lyrik und Balladen; Gedichte von Droste-Hülshoff, Meyer u. Fichte.
7na Immermann, Der Oberhof; Löns, Der Werwolf; Goethe, Götz v. Berlichungen; Schiller, Die Räuber; Kabale und Liebe.
7nb Schiller, Die Räuber, Kabale und Liebe; Goethe, Egmont; Lessing, Minna v. Barnhelm; Skakespeare, Macbeth; Meyer, Jürg Jenatsch;
Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichtses; Kleist, Michael Kohlhaas; Freytag, Soll und Raten; Bojer, Die Auswanderer, hrimm, Volk ohne Raum; Aus dem Lesebuch und Quellenschriften: Luther, Lessing, Herder. diesem wichtigen Kapitel wirklich vertraut machen und nicht nur durch gelegentliche interessante Kostproben über den Ernst der ganzen Frage hinweggetäuscht werden. Sie wird in diesem Jahre in den Stoff der beiden Klassen eingefügt, und wo es nötig erscheint, wird dafür der Stoff von 1870 -1890 gekürzt. Auf dem Gebiete der Rassenkunde sind wir Geschichtslehrer zum grossen Teil Laien, wir haben beschlossen, in Anlehnung an das bei Quelle und Meyer erschienene Buch von Steche eine kurze Einführung in die Rassenkunde zu geben. Auf dem Gebiete der Bevölkerungspolitik soll sich der Geschichtsunterricht in den beiden Klassen viel stärker als bisher auswirken. Die raumarmen und raum-reichen Völker der Erde, die übervölkerten Länder und ihre Sorgen, vor allem die Bevölkerungspolitische Not Deutschlands, die falsche Bevölkerungspolitik unserer Regierung in den letzten 50 Jahren, die neuen Grundlagen der gesamten Bevölkerungspolitik durch Adolf Hitler und Walther Darr werden im Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtungen von 1890 -1933 stehen.
d) Erdkunde: In U II wird in dem Kapitel " Völkische Gliederung Mitteleuropas" besonders eingegangen auf die rassenkundlichen und bevölkerungspolitischen Fragen unseres Volkes.
In 0 I ist bei der Behandlung der Kulturgeographie Deutschlands auf die Bevölkerungspolitik mehr Nachdruck zu legen als bisher. Dahinzielende Gedanken sollen sich immer wieder sowohl bei Besprechung des Bodens, der Grenzsäume wie auch der Bevölkerungsbewegung und der Gliederung des Volkes in den Vordergrund schieben. Die dafür erforderliche Zeit ist, da nur eine Wochenstunde zur Verfügung steht, zu gewinnen dadurch, dass nach Ermessen des Lehrers andere Kapitel knapper zusammengefasst werden (z. B. die Wirtschaft).
[Durchschlag -ohne Unterschrift] Dokument Nr. 23 Vorbedingung für einen Direktor ist, daß er ein guter Lehrer ist. Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Einige zusätzliche Eigenschaften seien angegeben:
Pünktlichkeit-manche, auch gute Lehrer, kommen morgens gern ein wenig zu spät oder im letzten Augenblick; es kann vor dem Unterrichtsbeginn noch plötzlich allerlei zu erledigen sein, was sich vorher nicht übersehen ließ.
Selbständigkeit : Der Direktor soll gar nicht immer fragen, Berichte an Vorgesetzte oder gleichgeordnete Behörden schreiben, sondern selbst entscheiden, wo irgend es im Rahmen seiner Befugnisse möglich ist.
Konsequenz : Mit gefaßten Beschlüssen ist durchzuhalten, auch wenn man während der Ausführung merkt, daß man es noch hätte besser machen können. Immer wieder auf halbem-Wege umkehren und von neuem anfangen bringt Unruhe in den Betrieb. Tradition ist auch in der Schule eine gute Sache.
Umgänglichkeit mit Lehrern, Schülern, Eltern, Behörden. Allerdings suaviter in modo, fortiter in re. Man muß auch " Nein" sagen können, wenn auch das " Ja" -sagen leichter ist.
Verläßlichkeit : Nicht mehr versprechen, als man unbedingt halten kann. Lieber weniger zusagen und nachher doch erfüllen.
Ruhig zuhören können, ohne aufzubrausen, selbst wenn*es zunächst reichlich viel ist, was einem zugemutet wird. Wenn die Munition verschossen, ist der Gegenangriff nicht mehr schwierig.
Dokument Nr. 24 So wichtig es auch sein mag, welchen Stoff jemand seinen Schülern darbietet und welche Methoden er dabei anwendet, für die Beurteilung eines Lehrers ist letzten Endes nicht das Was und Wie, . sondern seine Stellung zum Schüler entscheidend. Wie weit ein Lehrer Erzieher ist, das kann man eigentlich erst beurteilen, wenn man auf sein Wirken sieht, wie es sich nach vielen Jahren offenbart. Denn nicht erziehliche Worte sind entscheidend, sondern die ganze Art, wie sich der Lehrer selbst als Mensch dem Schüler gegenüber gibt. Es braucht gar nicht der scheinbar fehlerlose Mustermensch zu sein, ja der stößt mehr ab, als daß er anregt. Das im einzelnen zu beschreiben, ist unmöglich. Man fühlt es, oder man fühlt es eben nicht. Dokument Nr, 25 Lietzmann war ein merkwürdig zurückhaltender Mann, etwas spröde nd unbeholfen, aber durchaus nicht gehässig. Lietzmann war sicherlich ein guter Mathematiker, aber menschlich war er schwierig. Sein Hauptinteresse galt seinen Veröffentlichungen. Seine Sekretärin arbeitete praktisch nur für ihn. Als Direktor der Schule hielt er sich sehr abseits. Er kam zwar am Morgen in jeder Pause herauf in das Lehrerzimmer, sonst aber sah man von ihm überhaupt nichts. Ein einziges Mal ist er bei mir im Unterricht gewesen. Hinterher, und las tat er bei allen, keinen Ton! Man bekam nichts aus ihm heraus, vie er zu der Stunde oder'zu einem selbst stand. Das wirkte ein venig abkühlend für das Kollegium.
Taktisch war er geschickt: für die Reden an den NS-Feiertagen vählte er Kollegen aus, die Verbindungen zur Partei oder ihren Niederungen hatten. So ging er Schwierigkeiten, die von der Seite hätten kommen können, aus dem Wege. Bei solchen Anlässen, aber auch nur bei ihnen, wurde Uniform getragen -von Lehrern wie Schülern. Von jenen, wenn sie eine -wie immer gefärbte -hatten, von diesen, venn sie irgendeinen Führerrang besaßen. Eine besondere Bedeutung haben wir dem eigentlich nicht beigemessen. Im Gegenteil: im allgeneinen waren wir froh, in der Schule in Zivil erscheinen zu können, »eil wir bei den politischen Nebentätigkeiten ohnehin schon bis zum Überdruß in Uniform herumzulaufen hatten. Lietzmann war eigentlich böse, daß ich zu dem SS-Verein gehörte: mußte ich doch-1936, 1937 und 1938 zu den Parteitagen nach Nürnberg und dafür beurlaubt werben. Ich wollte das gar nicht und bat ihn: " Herr Direktor, sagen Sie doch nein!" Aber das wagte er nicht, um sich keine Laus in den Pelz zu setzen. Umgekehrt war die SS-Standarte an ihm wie an der Schule uninteressiert. Es gab im ganzen nur zwei Schüler, die der SS angehörten. Von denen war einer ein Tunichtgut, und Steinbrink bat mich, auf ihn ein Auge zu haben. Dokument Nr. 27
Vorfall bei der Beerdigung des Luftwaffenhelfers Reche.
Der Schüler der 6. Klasse. Wolfgang Harald Reche, ist seit dem 7. 12. 1943 im Gebiet von Braunschweig als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Luftwaffenhelfer unterstehen auch weiter schulisch ihrer Stammanstalt. Sie werden von Lehrern der Stammanstalt betreut. Die für sie ausgestellten Zeugnisse dienen dem Direktor der Stammanstalt als Unterlage dafür, ob er Versetzungen, Reifebescheinigungen aussprechen kann. Unter diesen Umständen habe ich es für meine Pflicht gehalten, mich ständig auf Grund der Berichte der Schüler, die auf Urlaub nach Göttingen kamen, und der Betreuungslehrer über die LwH auf dem laufenden zu halten. Ich bin dann auch in den Einsatzstellen der Jungen gewesen, habe mich nicht nur von ihrer schulischen Betreuung, sondern auch von ihrem militärischen Einsatz — dabei entscheidend von den militärischen Dienststellen unterstützt — unterrichtet. Die Schule steht also mit den L H auch während ihres Einsatzes in engster Berührung. Die LwH sind Schüler. Meines Wissens ist eine Betreuung durch die HJ in der gleichen Zeit nicht erfolgt.
Als ich Nachricht von dem Termin der Beisetzung von Reche auf dem Ehrenfriedhof in Göttingen mit militärischen Ehren erhielt, habe ich im Einverständnis mit dem Lehrerkollegium angeordnet, daß die Klassen 4 bis 7 sich an der Beisetzung beteiligen. Am Tage vor der Beisetzung erhielt ich dann einen Anruf aus der Bannleitung und zwar nicht vom Bannführer selbst. Ich wurde ersucht, so wie es in dem Schreiben von Herrn Wagner ausgeführt ist, auf den Einsatz der Schule zu verzichten und dafür die Schüler für die HJ zur Verfügung zu stellen. Ich habe versucht, dem Sprecher am Telefon meinen Standpunkt klarzumachen. Daß ich dabei gesagt habe: „Im Falle HJ—Schule geht stets die Schule vor", trifft nicht zu, das wäre auch sinnlos, denn alle Erfahrungen sprechen dagegen. Dagegen habe ich ausdrücklich hervorgehoben, daß ich die Beteiligung der HJ an der Beisetzung meinerseits für dringend erwünscht hielte. Nur war es der ausdrücklich mir von der Klasse des Reche durch ihren Klassenlehrer Studienrat Henze übermittelte Wunsch als Klasse bei der Beisetzung zugegen zu sein.
Kurze Zeit darauf rief mich der Kreisleiter an. Ich habe ihm meinen Standpunkt in der Angelegenheit auseinandergesetzt. Da er ihn nicht teilte, mir auch sagte, daß er inzwischen mit dem Oberbürgermeister gesprochen habe, sagte ich ihm, daß die Anordnung des Hoheitsträgers der Partei selbstverständlich für mich Befehl sei und daß ich deshalb meine Anordnung über die Beteiligung der Schüler rückgängig machen werde.
Kurze Zeit darauf rief mich der Oberbürgermeister an. Ich setzte auch ihm meine Ansicht auseinander. Er gab mir deutlich zu verstehen, daß er diese Ansicht durchaus begreiflich fände und bat mich, jedenfalls im Namen der Schule am Grabe zu sprechen. Am Grabe selbst erbot sich in liebenswerter Weise der Offizier, der die Abordnung der LwH führte, die Kränze der Schule und der früheren Klasse von Reche durch LwH tragen zu lassen. Ich habe dann dem Vertreter des Kreisleiters bei der Beisetzung gesagt, daß ich auf Wunsch des Oberbürgermeisters am Grabe für die Schule einige Worte sagen werde. Im übrigen bemerkte ich, daß eine Anzahl von Schülern, die von der HJ nicht erfaßt waren, ihrerseits an der Beisetzungsfeier teilnahmen. Am Grabe habe ich dann über unseren Schulkameraden, nachdem die anderen Vertreter gesprochen hatten, ein paar Worte gesagt.
Als mich die Eltern einige Tage danach aufsuchten, haben sie mir dafür ihren besonderen Dank ausgesprochen.
Zusatzbemerkung am 26. 5. 1944 (handschriftlich). Bei einer HJ-Veranst., bei der der Gauleiter erst auf d. Hofe d. Schule die angetretenen HJ u. BDM besichtigte u. dann in der Aula sprach, teilte mir der Bannführer, der mich zu dem Vortrag vorher eingeladen hat, kurz vor diesem mit: „Der Gauleiter wünscht nur HJ zu sehen."
Am heutigen Tage teilt mir dazu der Bannführer (dazu) ergänzend mit: Den Auftrag, mir das mitzuteilen, habe er vom Gauleiter erhalten, nachdem der Kreisleiter diesem den oben behandelten Vorfall mitgeteilt habe. Dokument Nr, 31 1944 wurden die Fünfzehnjährigen nach Holland geschickt. Es waren etwa 130 Schüler, von unserer Schule etwas über 60, das Gymnasium hatte 26 und die Mittelschule hatte 50. Da wurden als Begleitung Leute ausgesucht, die der Partei wegen ihrer kirchlichen Einstellung nicht sehr genehm waren. Auch ich war dabei. Wir wurden hier am Bahnhof verabschiedet. (Frage: Wer machte das?) Der Kreisleiter Gengier. Dann wurde uns gesagt: " Ihr geht dorthin und leistet'schöne Arbeit. Ihr'braucht nichts mitzunehmen, keine Lebensmittelkarten. Ihr werdet gut verpflegt, und es wird ausreichend für Euch gesorgt." Damals hatte Lietzmann mich gebeten, die Jungen wirklich zu betreuen.
Während der Fahrt -sie dauerte einige Tage -haben wir keinerlei Verpflegung erhalten. Dann kamen wir in Holland an, obwohl uns vorher versprochen worden war, wir kämen nicht in Feindesland. Wir wurden an drei verschiedenen Orten ausgeladen. Am ersten Ort meldete ich mich, und da sagten die: " Nein, Hitler-Jungen haben wir nichts zu sagen." An der zweiten Stelle erhielt ich die gleiche Antwort. An der letzten Stelle stiegen wir dann alle aus, und ich meldete zum drittenmal 130 Hitler-Jungen. " Haben wir keine Verfügung drüber!" war wieder die Antwort. Da bin ich zum Zugführer gerannt und habe ihn gefragt, wo er hinführe. " Nach Arnheim." Daraufhin sagte ich ihm, daß wir weiter mitwollten. Die 130 Schüler setzten sich wieder in den Zug, und in Arnheim sind wir dann ausgestiegen.
Wir sollten mehrere Tage da bleiben und uns ausruhen. Aber bereits am nächsten Mittag erhielten wir plötzlich einen Abmarschbefehl und kamen nach Doesburg. Da war eine Gruppe vom Arbeitsdienst, und von der erhielten wir zum erstenmal vernünftige Verpflegung. Wir wurden in einer Schule untergebracht und lagen dort auf Stroh. Dann wurden die Jungen alle eingekleidet, weiße Drillichanzüge, die man später umarbeiten konnte. Wir bekamen eine sehr erfreuliche Beschäftigung. Die Jungen haben an den Straßen Einmannlöcher graben müssen. Weil die klein sind, konnten die Jungen sie ausheben.
Das dauerte einige Tage. Wir wurden immer mehr, weil auch noch von anderen Schulen Schüler kamen. Wir waren schließlich etwa fünfhundert Menschen. Als die Löcher fertiggestellt waren, mußten die Jungen zusammen mit SA-Leuten einen großen Graben ausheben. Der sollte zur Panzerabwehr dienen.
Eines Tages, als die Jungen draußen beim Schanzen waren, erschienen plötzlich zwei Offiziere, mit roten Streifen an den Hosen, also vom Generalstab, und sagten, sie kämen im Auftrag von General Hoßbach, um sich hier einmal umzusehen. Hoßbachs jüngerer Sohn war mit unter den Jungen, und sie baten mich, ob sie nicht hinausfahren könnten. Der Sohn Hoßbachs fuhr mit zu einer Dienststelle und telefonierte mit seinem Vater. (Frage: Was hat Hoßbach nach diesem Telefongespräch getan?) Er hat sich beim Innenminister Himmler über den Zustand des Lagers und darüber beschwert, daß die Jungen gewissermaßen an der Front eingesetzt würden.
Der Innenminister gab die Sache an den Gauleiter weiter und dieser wieder an den Kreisleiter. Sie bekamen alle einen auf den Hut. Der Befehl traf ein, die Jungen herauszuziehen. Unsere Sachen wurden auf einen Lastwagen verladen, damit wir nicht so viel Gepäck hatten und ganz leicht marschieren konnten. Wir marschierten die ganze Nacht zurück und kamen gegen Morgen an die deutsche Grenze, wo wir zum erstenmal verpflegt wurden. Nach einem weiteren Marsch erreichten wir die erste deutsche Station. Dann wurden wir zurückgefahren und durchquerten das Industriegebiet. Überall sahen wir die Brände, die Bomben fielen.. Wir kamen aber gut durch bis nach Elze. Von dort konnten wir uns in Göttingen telefonisch ansagen. Alle Jungen kamen heil in Göttingen an. Ich war heilfroh, die Jungen endlich wieder zu Hause zu haben. Unterwegs hatte uns ein Hitler-Jugendführer nochmals dazu bewegen wollen, uns woanders noch einmal einsetzen zu lassen. Es hatten aber alle die Nase voll.
Ich ging am nächsten Tag in unsere Schule. Es waren zu der Zeit noch Eerien. Ich traf den Kollegen Baustaedt, der mir erzählte, daß mein Briefwechsel beschlagnahmt worden sei. Ich war von Lietzmann aufgefordert worden, die Jungen gut zu betreuen und alles zu schreiben, was passierte. Ich habe ihm dann auch von den Geschehnissen in Holland berichtet. Diese Briefe waren beschlagnahmt worden. Ich bin schnell nach Hause gelaufen und habe alles belastende-Material vernichtet, damit die Kriminalpolizei, falls sie käme, nichts fände.
Der Kreisleiter kam dann in die Schule, in die er uns beordert hatte, weil die Jungen Mordsgeschichten von ihren Erlebnissen in Holland erzählt hatten. Er sagte ihnen, daß das keine Beutefahrt gewesen sei und sie alle Sachen, die sie auf der Fahrt erhalten hätten, am Nachmittag in die Schule zu bringen hätten. Es ist natürlich nichts dorthin gebracht worden. Die Jungen dachten gar nicht daran, all die schönen Sachen wieder herzugeben.
Dokument Nr, 32 In Göttingen kursierten nach unserer Rückkehr die tollsten Gerüchte: was wir alles durchgemacht hätten, knapp dem Tode entronnen usw. Das Ganze wurde durch die Zeitungs-und Rundfunkberichte über Arnheim noch angeheizt. Dabei waren nicht einmal wir es, die das alles dramatisierten, sondern die zurückgebliebenen Klassenkameraden und die Eltern. Das nahm solche Formen an, daß wir ganz kurzfristig zu einer Versammlung in die Aula unserer Schule gerufen wurden. Der HJ-Bann hatte das in die Hand genommen. Auch die Arnheim-Fahrer vom Gymnasium und von der Mittelschule mußten erscheinen. Dann traten Gengier und der HJ-Führer Goldmann auf -Frof. Lietzmann war auch dabei. Goldmann neidete die Versammelten dem Gengier. Der hat uns eine Standpauke gehalten, die ziemlich ausführlich war, mit dem üblichen Brimborium vom Endsieg, dem Glauben an den Führer usw. garniert. Er beschwerte sich über die Gerüchte, die durch Göttingen schwirrten, und wir mußten ihm zugestehen, daß an ihnen viel-zutraf. Zum Schluß sagte er sinngemäß:
" Damit Ihr wißt, daß ich so etwas nicht durchgehen lasse, verweigere ich Euch die Verleihung des 'Westwall-Ordens'." Er hieß eigentlich anders, aber wir nannten ihn so. Den gab es seit 1938. Er hatte ein gelb-weißes Band, das wie das EK II getragen wurde. Die Hann. Münde-ner und die Northeimer Schüler haben den Orden bekommen. Mit dieser Verweigerung hatte Gengier bei uns verspielt. Aber es war sinnlos, sich gegen seine Strafe aufzulehnen. Die Gerüchtewelle wurde allerdings durch seine Verdonnerung gestoppt.
Ulrich Popplow, geb. 1925; Oberstudienrat am Felix-Klein-Gymnasium in Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Leibesübungen und Leibeserziehung in der griechischen Antike, Schorndorf 1972s; Ursprung und Anfänge der Leibesübung, in: Olympisches Feuer 1955, H. 1 u. 2; Stierspiele in Altkreta, in: Die Leibeserziehung 1964, H. 2; Reinhard Heydrich oder Die Aufnordung durch den Sport, in: Olympisches Feuer 1963, H. 8: Wozu Sportgeschichte?, in: Sportwissenschaft im Aufriß (hrsg. v. H. Nattkämper), Saarbrücken 1974, S. 22 ff.; Göttingen in der Novemberrevolution 1918/19, in: Göttinger Jahrbücher 24, 1976, S. 205 ff.; Die Machtergreifung in Augenzeugenberichten. Göttingen 1932— 1935, in: Göttinger Jahrbücher 25, 1977, S. 157ff.; Göttingen 1932— 1935. Ein Nachtrag, in: Göttinger Jahrbücher 27, 1979, S. 189 ff.
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