Die Opfer und die Täter -Rechtsextremismus in der Bundesrepublik
Wolfgang Benz
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Zusammenfassung
Rechtsextremismus ist nach Begriff und Inhalt durch folgende Kriterien bestimmbar: Aggressiver Nationalismus, Militarismus, Intoleranz und Unfähigkeit zu politischen Kompromissen, Antisemitismus und Rassismus, Propagierung einer autoritären oder diktatorischen Staatsform, latente Bereitschaft zur gewaltsamen Durchsetzung dieser Ziele. Unter den derzeit rund 17 000 Mitgliedern von Organisationen mit rechtsextremer Zielsetzung in der Bundesrepublik stellt die NPD mit etwa 8 000 Anhängern immer noch die größte Gruppe. Die Organisationen der „National-Freiheitlichen Rechten", in deren Mittelpunkt die „Deutsche National-Zeitung" steht, konkurriert in gewissem Maß mit der NPD. Am unübersichtlichsten ist die zahlenmäßig kleinste, aber besonders aktive und gefährliche Gruppe der Neonazis (etwa 1 300 Personen bilden deren organisierten Kern). Die Aktivitäten der Neonazis haben seit 1974 in der Bundesrepublik ständig zugenommen; Ende 1977 kam es zu den ersten terroristischen Gewaltakten. Besondere Anziehungskraft haben die neonazistischen Gruppierungen, die auch mit entsprechenden Organisationen im Ausland Zusammenarbeiten, auf Jugendliche. Trotz der äußeren Zersplitterung gibt es zahlreiche Querverbindungen innerhalb der einzelnen Organisationen und Richtungen. Rechtsextreme Neigungen finden sich aber auch jenseits der eindeutig zu klassifizierenden Organisationen; sie sind, außer in Krisenzeiten, kaum quantifizierbar und nach Meinung des Verfassers normalerweise auch nicht gefährlich. Zusammen mit den organisierten Rechtsradikalen kann die Affinität eines bestimmten Teils der Gesellschaft zum rechten Extremismus freilich unter entsprechenden Bedingungen zu einem bedrohlichen antidemokratischen Konfliktpotential anwachsen. Rechtsextremismus ist daher, ungeachtet seiner geringen zahlenmäßigen Stärke, nicht nur ein mehr oder weniger großes latentes Sicherheitsproblem und deshalb mit Aufmerksamkeit zu beobachten; er hat in Deutschland auch eine besondere historische Dimension. Das zeigt sich nicht zuletzt in der rechtsradikalen Propaganda, in der die Spanne von der Verharmlosung des „Dritten Reiches" bis zu seiner Verherrlichung reicht.
Versuch einer Ortsbestimmung
Einer theoretisch-exakten Definition sowohl des Begriffs Rechtsextremismus als auch seiner Inhalte stehen erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Die Gesinnung und die daraus entspringenden Bestrebungen — Organisationen, Publikationen, Aktionen —, die unter die Bezeichnung Rechtsextremismus oder Rechtsradikalismus subsumiert werden, können als politische Erscheinungsform immer nur annähernd bestimmt werden, da ihr keine allgemein verbindliche, wissenschaftlich entwikkelte und systematisch faßbare Ideologie zugrunde liegt Es gibt nicht einmal eine Übereinkunft, ob „Extremismus" oder „Radikalismus" die richtige Kategorie ist, unter der die Aktivitäten der äußersten Rechten — um die es aber immerhin unbestritten geht — einzuordnen wären. Gute Gründe veranlaßten jene amtlichen Stellen, die mit dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieser Republik — der Einhaltung der verfassungsmäßigen Garantien also — betraut sind, seit einigen Jahren nicht mehr von Radikalismus, sondern von Extremismus zu sprechen. Radikalität, so lautet das Argument dafür, sei an sich nichts Übles: Man könne, solange man nur den Rahmen des Grundgesetzes einhalte, alle nur möglichen politischen Ideen in radikaler Form vertreten. Extremisten aber stünden nicht mehr auf dem Boden demokratischen Konsenses.
Die Unterscheidung ist einleuchtend, solange sie Theorie bleibt oder, andersherum, sie ist nützlich zur Eingrenzung des Auftrags der amtlichen Stellen, die zum Schutz der Verfassung berufen sind. Aber auch die Definition des Begriffs „verfassungsfeindliche Zielset-zung" ist schwierig. Es gibt keinen Mechanismus, der, ohne große Umstände angewendet, sicher und schnell anzeigt, ob und wie verfassungsfeindlich eine Gruppe, Organisation oder Publikation ist In der Vorbemerkung zum Verfassungsschutzbericht 1978, in der der Bundesminister des Innern Auftrag und Umfang der (rein beobachtenden) Tätigkeit des Verfassungsschutzes umreißt, distanziert sich der verantwortliche Minister ausdrücklich von einer Ausuferung des Begriffs „verfassungsfeindliche Zielsetzung", sowohl in der politischen Diskussion als auch in der Aufklärungsarbeit. Die Bundesregierung lege Wert darauf, „nur solche Zielsetzungen als . verfassungsfeindlich'zu bezeichnen, die gegen die grundlegenden Verfassungsprinzipien gerichtet sind": „Diese Verfassungsprinzipien sind die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."
Vorabdruck aus dem in Kürze in der Reihe „Fischer Taschenbuch“ erscheinenden Band: „Rechtsradikalismus. Randerscheinung oder Renaissance?", herausgegeben von W. Benz. Als brauchbare Kriterien zur Einordnung politischen Verhaltens wird man die gedanklichen Inhalte, die angestrebten Ziele und die zu deren Erreichung angewandten Methoden als Angelpunkte der Untersuchung benützen. Die Kategorien Gesinnung — Zielsetzung — Methoden liefern einigermaßen sichere Indizien, wenn bei der Konstruktion des Rasters, durch das gesiebt werden soll, die Maßstäbe allgemeiner demokratisch-liberaler Überein-stimmung, der Grundvoraussetzung unserer staatlich-gesellschaftlichen Verfassung, angewendet werden. Wichtige Kriterien für einen solchen Rahmen wären demnach:
— Nationalismus in aggressiver Form, verbunden mit Feindschaft gegen Ausländer, Minderheiten, fremde Völker und Staaten; militant-deutschnationales oder alldeutsches Gedankengut. — Antisemitismus und Rassismus, biologistische und sozialdarwinistische Theorien.
•— Intoleranz; der Glaube an Recht durch Stärke; Unfähigkeit zum Kompromiß in der politischen Auseinandersetzung; elitär unduldsames Sendungsbewußtsein und Diffamierung Andersdenkender.
— Militarismus; Streben nach einem System von „Führertum" und bedingungsloser Unterordnung und nach einer entsprechenden autoritären oder diktatorischen Staatsform.
— Verherrlichung des NS-Staats als Vorbild und Negierung oder Verharmlosung der in seinem Namen begangenen Verbrechen.
— Neigung zu Konspirationstheorien (z. B. die Annahme, Regierung, Wirtschaft, Gesellschaft usw.seien durch irgendwelche bösartigen Minderheiten korrumpiert).
— Latente Bereitschaft zur gewaltsamen Propagierung und Durchsetzung der erstrebten Ziele.
Trotz dieses eindeutigen Katalogs bleibt die Ortsbestimmung des Rechtsextremismus immer noch problematisch. Ganz abgesehen vom politischen Standort, persönlichem Erfahrungshorizont und Temperament des Analytikers funktionieren die angegebenen Indikatoren nicht so wissenschaftlich-exakt wie Lackmuspapier, das im Reagenzglas untrüglich Säure anzeigt. Die erträgliche Konzentration der rechtsradikalen Säure — um im Bild zu bleiben — ist ebenso schwer bestimmbar wie der Reaktionspunkt, an dem die Essenz in Verbindung mit bestimmten Katalysatoren gefährlich wird. Ein wesentliches Problem liegt also in der Abgrenzung, in der Frage: Wo beginnt der Radikalismus extrem zu werden, und wo wird der Extremismus verfassungsfeindlich? Der biedere Reaktionär, der immer noch dem treuen Glauben anhängt, Hitler habe die Autobahnen erfunden und auch sonst per Saldo mehr Gutes als Böses bewirkt, ist damit ebensowenig schon ein Rechtsextremist wie das brave Mütterlein, das unbeirrt der Über-zeugung anhängt, es sei von einem moralischen Sumpf und allgemeiner sittlicher Verkommenheit umgeben (diese Vermutungen gehören nämlich auch in den Katalog rechtsradikaler Ansichten). Oder gar der gesammelte Zitatenschatz aus nationalistischen Kraftsprüchen, grobschlächtigen Diffamierungen und säbelrasselnden Ankündigungen, der sich auch aus den Reihen der politischen Mitte sammeln läßt. Verbalradikalismus und ultranationalistisches Phrasengeschmetter im Eifer der Debatte oder kalkuliert beim Stimmenfang dürfen noch nicht mit rechtsextremer Gesinnung und Zielsetzung gleichgesetzt werden; das ist bei der Analyse und Standortbestimmung des Rechts-extremismus wohl zu beachten. Denn das Verrücken der Grenzlinie zwischen Konservativen und Rechtsradikalen bzw. zwischen „Rechtskonservativen" (dieser ebenfalls unscharfe Begriff, der zunehmend als Hilfsmittel zur Auslotung des eher trüben Gewässers in dieser Randzone dient, weist auf das Dilemma hin) und „Rechtsextremisten" kann ebenso gefährlich für die Demokratie werden wie extreme Bestrebungen jenseits demokratisch-liberaler Übereinstimmung.
Daß diese Grenzlinie oft genug im Dunkeln verläuft (und alles andere als scharf gezogen ist), mag man bedauern, aber diese Grenzlinie ist auch die Teststrecke für Toleranz und Liberalität; zum Trost und als Warnung rufen wir uns zwei Bemerkungen aus der Zeit, als die Republik in den Kinderschuhen steckte, ins Gedächtnis.
Der amerikanische Hochkommissar McCloy, von Amts wegen zur Beobachtung der politischen Szene in der Bundesrepublik berufen, schrieb 1951 in seinem „Bericht über Deutschland": „Im allgemeinen verwerfen die großen politischen Parteien — die SPD und die beiden großen Mittelstandsparteien, die CDU und die FDP — die Ansichten ... extremistischer Parteien. Aus einer Reihe von Gründen fühlen sich die politischen Führer der gemäßigten Parteien jedoch von Zeit zu Zeit verpflichtet, auch ihrerseits nationalistische Tendenzen an den Tag zu legen. Der Wunsch, an die Macht zu kommen oder an der Macht zu bleiben, die Rücksichtnahme auf das ständig wachsende Nationalbewußtsein und das Bestreben, nicht zuzulassen, daß die radikalen Nationalisten als die einzigen Verfechter des deutschen Patriotismus auftreten — all dies spielt bei derartigen Äußerungen mit, vor allem während der Wahlkampagnen. Bis zu einem gewissen Grade handelt es sich dabei um eine natürliche Entwicklung, die von vornherein zu erwarten war."
Und wenig später, im letzten Quartalsbericht für 1951, ist im gleichen Zusammenhang zu lesen: „Bedauerlicherweise rührt auch die Mehrzahl der bekannten politischen Parteien immer mehr die nationalistische Trommel. Von Einzelpersonen oder ganzen Gruppen, zum Teil sogar von maßgebenden Vertretern von Landesverbänden wurden scharf nationalistische Auffassungen vorgetragen — sei es aus Überzeugung, sei es als Mittel zum Stimmenfang. Selbst mehrere Bundesminister haben es nicht verschmäht, diesen Ton anzuschlagen. Man versucht hier offenbar, die Anhänger rechtsradikaler Kreise an sich zu ziehen oder Verluste der eigenen Partei zu vermeiden, indem man sich genau so nationalistisch gebärdet wie die Extremisten selbst. Zwar kann man für diese Methode Verständnis aufbringen, doch sollte heute eigentlich jeder erkannt haben, daß sie letzten Endes keine Lösung bringt, weil erfahrungsgemäß das Schüren des extremen Nationalismus in einem circulus vitiosus endet. Verabreicht man erst einmal das Narkotikum des radikalen Nationalismus, dann zeigt sich alsbald die Notwendigkeit, die Dosis zu vergrößern. Und was noch schlimmer ist: diejenigen, die mit diesem Mittel arbeiten, finden bald heraus, daß sie sich auf die Dauer nicht auf Worte beschränken können, sondern zu Taten schreiten müssen, um die sonst drohende Ernüchterung zu vermeiden. Daher muß dieser Kurs, wenn man ihn längere Zeit verfolgt unweigerlich zur allgemeinen Katastrophe führen."
Den Trost mag man darin finden, daß es zur Katastrophe in bisher 30 Jahren nicht kam, auch darin, daß die SPD damals ebenfalls gemeint war, wenn der amerikanische Beobachter vom nationalistischen Gebaren der gemäßigten Parteien sprach. Die Warnung freilich besteht weiter.
Historische Parallelen sollte man nur mit Sachkenntnis und in lauterer Absicht zu ziehen versuchen (das Hindonnern von „Gleichungen" ä la Sozialismus — Nationalsozialismus kann ins eigene Auge gehen); dies vorausgeschickt gilt immer noch, daß die „Harzburger Front", jenes Bündnis der bürgerlichen Deutschnationalen Volkspartei, dem politischen Veteranenverein „Stahlhelm" und anderen vaterländischen Verbänden mit der NSDAP den wirkungsreichsten Rechtsextremisten der deutschen Geschichte salonfähig machte: Adolf Hitler.
Der organisierte Rechtsextremismus
Jeder Versuch, die organisierten Bestrebungen, die eindeutig ins rechtsextremistische Spektrum gehören, zu klassifizieren, wird sich an den aufgezählten Merkmalen orientieren müssen. Sie dienen als Minimalcharakteristika. Die mitgliederstärkste Organisation ist trotz ihrer Mißerfolge, inneren Unsicherheit und wachsenden Resignation immer noch die NPD, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (1979 hatte sie noch etwa 8 000 eingeschriebene Mitglieder). Die Partei hatte ab Herbst 1964 das Potential „alter Rechter" aufgefangen und neu formiert, das ehedem in der Deutschen Reichspartei organisiert war. Die DRP ihrerseits, im Januar 1950 gegründet, war die Nachfolgerin der Deutschen Rechts-parteiund einiger Splitterparteien gewesen und hatte überdies nach dem Verbot der neonazistischen „Sozialistischen Reichspartei" 1952 einen Teil von deren Mitgliedern aufgefangen. Nach der faktischen Selbstauflösung der DRP im Juni 1964 hatte der aufhaltsame Aufschwung der NPD begonnen. Schlüsselfigur der NPD wie ihrer Vorgänger war Adolf von Thadden als unermüdlicher Gründer, Organisator und Scharfmacher der fünfziger und sechziger Jahre.
Weitgehend in Konkurrenz zur NPD steht die Gruppierung „National-Freiheitliche Rechte", das Imperium des in vieler Hinsicht erfolgreichen Dr. Gerhard Frey. Rückgrat der Freysehen Unternehmungen ist die „Deutsche National-Zeitung", das nach der „Zeit" auflagen-stärkste Wochenblatt in der Bundesrepublik. Die Postille war — vor der Ära des geschäfts-tüchtigen Verlegers Frey — mit Mitteln der Bundesregierung und finanzieller Unterstützung der Amerikaner 1951 als „Deutsche Soldaten-Zeitung" entstanden. Das ziemlich bedeutungslose Blättchen, das als Traditionsund Interessenorgan den Wehrgedanken in der jungen Republik fördern und stärken sollte (daher der Name, daher die Finanzspritzen), hatte Ende der fünfziger Jahre abgewirtschaftet, der Verlag stand vor der Pleite. Gerhard Frey übernahm Ende 1958 das Blatt, gründete einen neuen Verlag (der ihm seit 1960 allein gehört) und änderte schließlich den Namen in „Deutsche National-Zeitung" Die Zeitung, die ihren Zenit allerdings überschritten zu haben scheint (gelegentliche Auflagen-spitzen von rund 165 000 Exemplaren Ende der sechziger Jahre sind etwa 100 000 Exemplaren wöchentlich, von denen längst nicht alle verkauft werden, gewichen), dient mit ihren Nebenblättern als Hausorgan für die verschiedenen Bewegungen, Parteien, Initiativen der „National-Freiheitlichen Rechten" des Gerhard Frey. Unter dem Dach des 1972 gegründeten „Freiheitlichen Rats“ firmieren die „Deutsche Volksunion (DVU)", der „Bund für deutsche Einheit — Aktion Oder-Neiße e. V. (AKON)", der „Deutsche Block", die „Gemeinschaft Ost-und Sudentendeutscher Grundeigentümer und Geschädigter — Bundesverband e. V", der , Jugendbund Adler" und die „Wiking-Jugend".
Die National-Freiheitlichen kämpfen gegen die „Umerziehung", das „Joch der Kollektivschuld", gegen „Kriegsschuld-und Greuelpropaganda", gegen den Staat Israel, sie schönen das Bild Hitlers und des Dritten Reiches, sie fordern — neuerdings mit einer „Volksbewegung für Generalamnestie" (VOGA) — „den überfälligen Schlußstrich durch Generalamnestie für jedwedes behauptete oder tatsächliche Unrecht im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg".
Von der politischen Wirkung, die eher abzunehmen scheint, einmal abgesehen, florieren die Unternehmungen der „National-Freiheitlichen". Was das Zeitungs-und Buchversandgeschäft nicht bringt, das spielen die Immobilien ein, über die Dr. Frey reichlich verfügt, z. B.
steuerbegünstigte Anlagen in Berlin oder Garagen in München. Darauf gründet sich auch ein Vorwurf, dem sich die Polit-Verleger innerhalb der rechtsextremen Szene ausgesetzt sieht: Er verstünde es, aus allem in erster Linie ein Geschäft zu machen, heißt es auch unter seinen 5 000 Anhängern.
Innerhalb der rund 17 000 organisierten Anhänger des Rechtsextremismus — so die Schätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz für 1979 — werden etwas über 1 300 Personen zu den neonazistischen Aktivisten gerechnet Dieser dritte Sektor im rechtsextremistischen Spektrum ist am lockersten organisiert, rund zwei Dutzend „Gesinnungsoder Initiativkader", sind, mit Ausnahme der „Wehrsportgruppen", überwiegend ohne feste Organisationsstruktur tätig. Untereinander sind die einzelnen Zirkel und Gruppen aber personell verflochten, und sie arbeiten eng zusammen. Mit steigender Tendenz sind die neonazistischen Kreise seit 1974 in der Bundesrepublik aktiv. Ende 1977 kam es zu den ersten terroristischen Gewaltakten, die sich in der Folgezeit fortsetzten. Im ersten Halbjahr 1979 wurden 890 rechtsextremistische Ausschreitungen (gegenüber 992 im ganzen Jahr 1978) registriert. 1978 gab es 88 rechtskräftige (und 62 Ende 1979 noch nicht rechtskräftige) Verurteilungen sowie 610 laufende Ermittlungsverfahren; in der ersten Hälfte des Jahres 1979 verurteilten die Gerichte 97mal rechtskräftig (weitere 102 Urteile waren Ende 1979 noch nicht in Kraft), 837 Ermittlungsverfahren liefen gleichzeitig. Die Zahlen geben Anhaltspunkte für die Größenordnung des Problems
Für alle Neonazi-Gruppen gilt, daß sie Provokationen und Aktionen einer argumentativen Auseinandersetzung vorziehen; für Publizität sind sie in jedem Fall dankbar; ob sie in den Medien negativ oder positiv beurteilt werden, ist ihnen dabei ziemlich egal. Konspiratives Verhalten ist die Regel, insbesondere bei den militanten Kleingruppen. Das ideologische Rüstzeug, insgesamt ein Konglomerat aus rassistischen, antisemitischen, völkisch-kollektivistischen, demokratie-und parteienfeindlichen, totalitären Sprüchen und Parolen, kann ohne intellektuelle Anstrengung erworben und nachvollzogen werden. Die emotionalisierten Ideologie-Schablonen erleichtern sowohl die Verständigung zwischen den „Führern" und ihrer „Gefolgschaft“ als auch die politische Artikulation nach außen. Die Alters-gruppe der 20-bis 30jährigen ist auf neonazistischem Feld unverhältnismäßig stark vertreten. Die Finanzierung der Aktivitäten erfolgt zum großen Teil durch Spenden. Aus den Buchungsunterlagen des landflüchtigen ehemaligen Rechtsanwalts Manfred Roeder ging z. B. hervor, daß für die „Deutsche Bürgerinitiative e. V." im Jahr 1978 und im 1. Quartal 1979 172 893, 72 DM gespendet worden waren Der Bückeburger Prozeß, in dem im Herbst 1979 erstmals Rechtsextremisten wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt wurden, erbrachte den Nachweis, daß auch Raubüberfälle zur Mittelbeschaffung dienen. Verlags-und Vertriebsgeschäfte mit einschlägiger Literatur bringen auch bei den Neonazis etwas Geld in die Kassen.
Die folgende Aufzählung neonazistischer Vereinigungen ist unvollständig und möglicherweise zum Teil veraltet, weil manche Gruppen im Zuge exekutiver Maßnahmen „verschwunden" sind und dafür andere neu gegründet wurden. Einige Organisationen, wie die von Erwin Schönborn in Frankfurt a. M. 1977 gegründete „Aktionsgemeinschaft Nationales Europa (ANE)'1, sind (vorübergehend?) inaktiv oder waren, wie die „Deutsch Arabische Gemeinschaft" oder die „Bürgerinitiative gegen Terrorismus und Fünf-Prozent-Klausel" (ebenfalls Schönborn-Gründungen) mehr Firmenschilder zur Abwicklung der ebenso emsigen wie bösartigen Flugblattagitation des Initiators. Am meisten machte Schönborn durch seinen „Kampfbund Deutscher Soldaten (KDS)" von sich reden; im Januar 1980 sorgte er durch die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistische Demokratische Arbeiterpartei (NSDAP)" wieder für Aufsehen.
Um die „Deutsche Bürgerinitiative" Manfred Roeders, der seit seiner Verurteilung (wegen Verunglimpfung des Staates und Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) vom Ausland her agitiert, ist es stiller geworden. Nicht dagegen um die „Bürger-und Bauerninitiative (BBI)" des Journalisten Thies Christophersen, der als Publizist („Die Bauernschaft") und Organisator neonazistischer Treffen landauf landab sein Unwesen treibt. Die . Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS)" des ehemaligen Bundeswehrleutnants Michael Kühnen, eine militante und uniformiert auftretende Gruppe von einigen Dutzend Aktivisten, ist durch die Verurteilung ihrer Hauptaktivisten (Raubüberfälle, Einbrüche in Munitionsbunker der Bundeswehr, bewaffneter Überfall auf ein Biwak der niederländischen Armee) anscheinend lahm-gelegt, jedenfalls konnten weder die „Wehrsportgruppe" noch die geplante „Werwolf-Untergrundorganisation", die mit dem erbeuteten Geld und den Waffen finanziert und ausgerüstet werden sollten, gegründet werden. Erwähnenswert sind vielleicht noch die „DeutschVölkische Gemeinschaft" in Rastatt, die „Unabhängigen Freundeskreise", die „Kampfgruppe Großdeutschland" in Frankfurt bzw. Offenbach (die für das Blatt „Das Braune Bataillon" verantwortlich ist), die „Nationalrevolutionäre Arbeiterfront" in Bremen (ihr Kampfblatt heißt „Der Werwolf"), eine Gruppe in Hanau (sie druckt „Das Schwarze Korps“) oder die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands — Partei der Arbeit" in München.
Die besonders mitgliederstarke „Wehrsportgruppe Hoffmann", am 30. Januar 1980 verboten (mit welchem Erfolg, wird sich zeigen), ist für den Waffenfetischismus und das konspirative Verhalten derartiger Aktionsgruppen typisch, aber auch für das ideologische Defizit mancher neonazistischer Vereinigungen: Die Zeitschrift der WSG, vom gelernten Werbegrafiker Hoffmann opulent gestaltet, bildete vornehmlich den „Chef" des paramilitärischen Turnvereins ab und in zweiter Linie die ebenso narzißtisch verehrten und geliebten Waffen („Unser Hotchkiss" als Bildbeschreibung zum ausgeleierten Schützenpanzer der Bundeswehr). Zur Versorgung der fanatisierten Jünglinge mit Gedanklichem springen befreundete Organisationen in die Bresche. „Das braune Bataillon" oder „Das Schwarze Korps" gehörten zum geistigen Arsenal der WSG-Leute und außerdem natürlich die Erzeugnisse der bekannten NS-Apologeten strenger Observanz. Mit Rüstzeug versehen werden die neonazistischen Zirkel in der Bundesrepublik aber auch vom Ausland her. Der Amerikaner Gerhard (Gary Rex) Lauck, der von Lincoln/Nebraska aus seine NSDAP-AO (Auslands-bzw. Aufbauorganisation) betreibt, versorgt sie nicht nur mit seinem „NS-Kampfruf", sondern auch reichlich mit anderen Pamphleten, Plaketten, Aufklebern, die in ganz Westeuropa zu finden sind. Zwischen Lauck und deutschen NSDAP-Nachfolgeorganisationen in der Bundesrepublik gibt es zahlreiche Verbindungslinien, ebenso zwischen deutschen Neonazis und der „National Socialist Party of America" der „Deutschen Befreiungsfront" innerhalb der „White Power Movement" in USA oder dem Verlag „Samisdat Publishers Ltd." in Toronto, der rassistische und antisemitische Schriften in Deutschland vertreibt. Zur neonazistischen „British Movement" bestehen natürlich ebenso Verbindungen wie zu den österreichischen Neonazis der „Aktion Neue Rechte (ANR)".
In die grobe Klassifizierung der drei Kategorien NPD, National-Freiheitliche Rechte und Neonazis passen nicht die mal konkurrierenden, mal kooperierenden Vereinigungen wie „Deutsches Kulturwerk Europäischen Geistes (DKEG)" oder die „Gesellschaft für freie Publizistik (GfP)", der „Bund Heimattreuer Jugend", etliche Verlage und Zeitschriften, die zu keiner Organisation gehören und scheinbar im Alleingang operieren, in Wirklichkeit allerdings mindestens durch gemeinsame Zielsetzungen einander eng verbunden sind.
Die schlummernden Neigungen
Im amtlichen Bericht über Erfahrungen aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen im Jahre 1962 findet sich der ahnungsvolle Satz, es werde nicht verkannt, „daß in der Bevölkerung der Bundesrepublik auch rechtsradikale Neigungen schlummern können, die keinen Niederschlag in den Mitgliederzahlen rechtsextremer Gruppen oder dem Stimmenanteil nationalistischer Parteien bei Wahlen finden"
Meßbare Anhaltspunkte für solche Vermutungen bieten am ehesten die Ergebnisse der Demoskopie. Die folgende Frage war von August 1962 bis 1975 sechsmal Gegenstand einer Meinungsumfrage in der Bundesrepublik: „Alles, was zwischen 1933 und 1939 aufgebaut worden war und noch viel mehr, wurde durch den Krieg vernichtet Würden Sie sagen, daß Hitler ohne den Krieg einer der größten Staatsmänner gewesen wäre?" Mehr als ein Drittel der Befragten war im Durchschnitt jedesmal der Meinung, Hitler wäre einer der größten Staatsmänner gewesen (1962: 36 %; 1963: 35 %; . 1964: 29%; 1967: 32 %; 1972: 35%: 1975: 38 %).
Die gegenteilige Meinung wurde im Durchschnitt von weniger als der Hälfte der Befragten vertreten (1962: 43 %; 1963 und 1964: 44 %;
1967: 52%; 1972: 48 %; 1975: 44%) Es wäre interessant, die angezeigten Trends zu untersuchen. Warum glaubten 1964 nur 29 % an Hitlers staatsmännische Größe gegenüber 38 % 1975 und warum verneinten sie 1967 52 %, 1975 aber nur 44 %? Wir wollen statt der eher abstrakten Demoskopie aber zwei konkrete Fälle betrachten, die paradigmatischen Charakter haben:
Am Biertisch in einer kleinen Stadt im Badischen waren zwei Männer ins Gespräch und dann in Streit geraten. Der eine, Studienrat und honoriges Mitglied lokaler Vereine, hatte lautstark seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, daß „zu wenig Juden vergast worden seien"; er hatte die Schändung jüdischer Friedhöfe gutgeheißen und noch reichlich weitere Proben seiner Gesinnung geliefert. Der Adressat dieser Äußerungen, ein Kaufmann, war aufgrund seiner jüdischen Abstammung im Konzentrationslager gewesen. Als er dies zu erkennen gab, bedauerte der Studienrat nicht etwa seine Auslassungen, sondern den Umstand, daß man seinen Gesprächspartner bei der Ausrottung vergessen habe. Der Antisemit wurde ein halbes Jahr später verhaftet, dann zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt (Billigung von Verbrechen, Beleidigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener). Bemerkenswert an dem Fall war, daß zunächst einmal ziemlich viele ehrbare Bürger, darunter seine Vorgesetzten bis hinauf ins Kultusministerium, sich abmühten, die Geschichte unter den Teppich zu kehren. Erst als die Sache immer wieder auch im Ausland Schlagzeilen machte, wurde die kriminelle und politische Dimension der Angelegenheit gewürdigt. So richtig zur Sensation wurde die Geschichte, als sich der Studienrat durch Flucht seinem Haftbefehl entzog und in Ägypten, Libyen und Afghanistan herumgeisterte, bis er nach jahrelanger Odyssee schließlich doch im bundesrepublikanischen Gefängnis landete. Die Daten zum „Fall Zind": Der Streit am Biertisch war im April 1957 gewesen, verurteilt wurde Zind im April 1958, die Flucht nach Ägypten fand im Dezember 1958 statt, im August 1960 wurde er in Neapel verhaftet, im April 1961 verweigerte Italien endgültig seine Auslieferung, im Juli 1970 wurde der heimwehkrank Gewordene auf dem Düsseldorfer Flughafen verhaftet.
Das andere Beispiel ist neuesten Datums. Ein honoriger Bürger, Bürgermeister gar, der kurz zuvor das 25jährige Jubiläum als Kommunalpolitiker begangen hatte, wird im Juli 1978 unter Anklage gestellt, an der Deportation französischer Juden zwischen 1942 und 1944 mitgewirkt zu haben. (Der heutige Bürgermeister und Rechtsanwalt will nach eigener Darstellung als SS-Mann im . Judenreferat" der Sicherheitspolizei in Paris seinerzeit nur Autotüren zugemacht und Akten getragen haben.) Die Parallele der beiden Fälle liegt natürlich nicht im Vergleich der Äußerungen eines bösartigen Antisemiten zwölf Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, der an der Vernichtung der Juden sicherlich nicht aktiv beteiligt war, mit der Tätigkeit eines Handlangers der Vernichtung, der wahrscheinlich gar kein bösartiger Antisemit war, von dem jedenfalls aus der Zeit nach 1945 keine entsprechende Äußerung, ja, überhaupt nichts Negatives bekannt wurde. Die Parallele liegt im Verhalten der Mitbürger, Kollegen, Nachbarn, die sich in beiden Fällen schützend vor die Beschuldigten stellten.
Er sei ein braver Mann gewesen, der Bürgermeister Heinrichsohn, hochangesehen, honorig. Für seine Umgebung ist es — natürlich — unfaßbar, daß er (seit Oktober 1979) als Angeklagter im Kölner Lischka-Prozeß sich wegen schwer vorstellbarer Untaten (und sei es „nur“ der technischen Vorbereitung derselben) verantworten muß. Man distanziert sich keineswegs von ihm. Die Bürger seiner Gemeinde halten es genauso wie er selbst nicht für notwendig, daß er wenigstens bis zum Ende des Prozesses sein Bürgermeisteramt ruhen läßt; erst als H. am 11. Februar 1980 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wird, trennt er sich notgedrungen von seinem Amt als Bürgermeister.
Man distanziert sich dafür um so schärfer von dem französischen Ehepaar Klarsfeld, das auch in dieser Angelegenheit die öffentliche Meinung bewegen und zum Ingangkommen des Prozesses beitragen mußte.
Der ganze Mechanismus kleinbürgerlicher Selbstbehauptung in der Stunde der Gefahr wurde in diesem Fall eindrucksvoll auch vor der Fernsehkamera demonstriert: Die Stammtischrunde nimmt H. in Schutz; er habe viel für die Gemeinde getan, und was vor 1945 geschehen ist, gehöre nicht mehr zur Sache. Der lokale CSU-Vorsitzende wiederholt vor der Reporterin dreimal, daß H.der beste Mann für das Amt des Bürgermeisters war und immer noch ist, daß seine SS-Vergangenheit keine Rolle spielL Der Kollege von der SPD hatte keine Zeit die Dokumentationen zu den Vorwürfen gegen H. zu studieren (er hat schon so viele Akten zu lesen); übrigens sei H. ja „erst 1944" in die SS gegangen. Auch sein Fazit: Nichts Schlimmes ist an diesem Menschen. Der Pfarrer ist informierter, aus erster Hand, der Bürgermeister hat ihn (ein bißchen?) über seine Vergangenheit aufgeklärt. Der Pfarrer ist damit zufrieden und findet nur Gutes an H. Die Dokumentationen des Ehepaars Klarsfeld, die den Stein ins Rollen brachten, hat er nicht zur Kenntnis genommen: Die Klarsfelds interessieren ihn nämlich nicht.
Um es nochmals zu betonen: Es geht hier nicht um die Vorwürfe gegen H., es geht nur um die Reaktion seiner Mitbürger. Ihr Verhalten ist typisch für die irrationale Abwehr der Vergangenheit — die Bürger von Bürgstadt sind keineswegs besonders provinziell und spießig, sie repräsentieren eher die politische Normalität schlechthin. Man kann einen ganzen Katalog von Abwehrreaktionen zusammenstellen und die Stimmigkeit der Liste tagtäglich am Arbeitsplatz, in den Medien, am Stammtisch, in den Parlamenten überprüfen. In diesen Katalog deutscher Urängste gehört der psychologisch leicht erklärliche Versuch, durch „Vergessen" und Nichterwähnen Probleme aus der Welt zu schaffen. Die Furcht, sich zu erinnern, wird scheinbar rationalisiert durch den Kern-satz, daß man das eigene Nest nicht beschmutzen dürfe. Den solcherart auf Reinlichkeit Bedachten unterläuft dabei nur der ständige Denkfehler, daß das längst beschmutzte Nest nicht dadurch sauber wird, daß man den Unrat vergißt oder zudeckt
Die banale Verwechslung von „Kollektivschuld" und gemeinsamer historischer Verantwortung führt zu einer weiteren Reaktion, einer der ärgerlichsten und gefährlichsten: dem Aufrechnen. Der von alliierten Bombengeschwadern bewirkte Untergang Dresdens löschte die Verbrechen des NS-Regimes nicht aus; die Drangsalierung und Vertreibung Deutscher aus ihrer Heimat am Ende des Krieges kann nicht mit der Judenverfolgung „verrechnet" werden. Daß 3, 3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern umgekommen, umgebracht worden sind, läßt sich durch fanatische Bemühungen oberlehrerhafter Toren, die im Fach Geschichte dilettieren, weder ungeschehen machen noch durch Beweise deutscher Leiden (an denen ja niemand zweifelt) beschönigen.
Zur Abwehr des Leidensdrucks dient auch die Verharmlosung von Realitäten; Beispiel dafür ist die der Selbstberuhigung dienende Vermutung, die Konzentrationslager seien (zwar strenge, aber immerhin doch nur) Besserungsanstalten gewesen, in denen vorwiegend kriminelle Elemente ihren wohlverdienten Aufenthalt gehabt hätten. (In der Tat saßen in den Konzentrationslagern auch Kriminelle, die dort als Kalfaktoren der SS Hilfsdienste bei der Mißhandlung der der Mehrzahl Insassen leisten durften.) Notfalls, unter dem Eindruck aufklärender Bemühungen etwa, wird alles, was im deutschen Namen an Unrecht verübt wurde, mit der Generalbehauptung „Es war halt Krieg" vom Tisch gefegt.
Nicht mehr weit ist nach solcher Argumentation der Weg zum Mißtrauen gegen ehemalige KZ-Häftlinge und Verfolgte des NS-Regimes überhaupt; es gehört zu den elenden Hinterlassenschaften des Dritten Reichs, daß die Antifaschisten, die damals nicht zur Anpassung an das System der Menschenverachtung bereit waren, heute keineswegs besonders hoch im allgemeinen Ansehen stehen. Ob sie Trost finden in den Verdächtigungen, denen Widerstandskämpfer und Emigranten immer noch ausgesetzt sind? Ihnen gegenüber reicht die Skala bürgerlicher Vorurteile vom Vorwurf vaterlandslosen Verhaltens über die pauschale, oftmals eher moralisch als politisch gemeinte Abqualifizierung als Kommunisten bis hin zum Verdacht des „Verrats an Deutschland". Die Aufzählung solcher — wohlgemerkt bürgerlicher, nicht rechtsextremer — Verhaltensweisen, die ihren Ursprung im Bemühen haben, mit der Vergangenheit „fertig" zu werden, ist nicht erschöpfend. Bedenklich sind diese und verwandte Reaktionen deshalb, weil sie das Feld für rechtsextremes Agieren bereiten, weil sie ein gefährliches Potential in der demokratisch verfaßten Gesellschaft am Leben erhalten. Darin liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal für die Beurteilung von rechtem und linkem Extremismus: Der symptomatisch gefährlicher ausgeprägte Extremismus der Linken entbehrt nämlich eines über Randgruppen der Gesellschaft hinausgehenden „schlummernden" Potentials.
Ohne das Erbe der zwölf Jahre des Dritten Reiches wäre Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik wie in anderen Staaten auch in erster Linie eine statistische Größe des politischen Lebens und vermutlich eine eher harmlose Randerscheinung oder, wenn man nach unserem Definitionsversuch Rechtsextremismus als Steigerungsform von Rechtsradikalismus versteht, bei entsprechender Größenordnung, bei kriminellem, terroristischem Ausmaß also, ein Problem der inneren Sicherheit. Die historische Hypothek macht aber in Deutschland jede Art von Rechtsradikalismus, auch in per se zunächst harmloser Erscheinungsform, zum politischen Problem von unvergleichbarer und einzigartiger Dimension. Wo anders liegen denn die Ursachen für die deutsche Teilung, für den Verlust der Ostgebiete, für die Vertreibung, für Millionen Tote und Krüppel, für die weiteren Folgen des von Hitler angezettelten Weltkriegs — wo anders als in der Politik der 1933 erfolgreichen Rechtsextremisten? Mit den Folgen dieses historischen Rechtsextremismus bleiben auch die Nachgeborenen, Unbeteiligten, Unschuldigen konfrontiert, auch wenn sie es oft spät und dann fassungslos, bei Auslandsreisen etwa, konstatieren.
Die Opfer und die Täter — historische Dimensionen des Rechtsextremismus
Es ist folgerichtig, daß der Vorschlag, den 30. Januar jeden Jahres zum „Nationalen Bußtag" zu deklarieren, „zu einem Tag also, der dem Gedanken der Buße gehört — nicht für unsere persönlichen Sünden, sondern für das, was im Namen Deutschlands gesündigt wor-den ist", von einem Emigranten stammt. Arnold Brecht, prominenter Beamter und Demokrat der Weimarer Republik, der 1933 ins amerikanische Exil ging und nach 1945 in beiden Ländern zu Hause war, erklärte sich ausdrücklich bereit mitzubüßen, als er den Gedanken formulierte. Es ist müßig, über die Wirkungen eines solchen Bußtags, wäre er realisiert worden, zu spekulieren — „das würde symbolisch, läuternd und befreiend etwas ausdrücken, was auf vielen Seelen lastet und nach einem kultisch allgemeinen Ausdruck zu verlangen scheint" —, die Idee jedenfalls rührt von der Erkenntnis, daß selbstbefreiendes Erinnern heilsamer wäre als verklemmtes Verdrängen und Abwehren der Vergangenheit.
Die Bilanz der Auseinandersetzung mit dem moralischen Erbe der deutschen Vergangenheit sieht also eher ungünstig aus. Zu fragen bleibt noch, wie mit der materiell und juristisch faßbaren Hinterlassenschaft des NS-Regimes in der Bundesrepublik umgegangen wird. Im materiellen Bereich wurde frühzeitig und nicht kleinlich reagiert. Das schnelle Ingangkommen von Entschädigungszahlungen und „Wiedergutmachungs" -Leistungen gehört zu den großen und bleibenden Verdiensten Konrad Adenauers, und darin unterscheidet sich die Bundesrepublik sehr positiv von der DDR, die diesen Teil des düsteren Erbes glatt ausschlug.
Betrübliche Aspekte gibt es natürlich auch auf diesem Feld, von bürokratischen Unzulänglichkeiten angefangen bis hin zu schwer verständlichen Fällen, in denen ehemalige Funktionäre des NS-Staates besser gestellt sind als dessen Opfer, die Fristen versäumt haben. Das trifft z. B. für Spätaussiedler aus Ostblockstaaten zu, die vor 1945 Verfolgungen erlitten, aber erst Ende der siebziger Jahre in die Bundesrepublik kamen. Peinlich ist auch, daß die ab 1980 geplante Abschlußzahlung an die „Jewish Claims Conference" auf dem Hintergrund eines parteipolitischen Kompromisses ausgehandelt wird, der möglicherweise Opfer und Täter zueinander gesellt — zu den Verfolgten nämlich jene Gruppe von Beamten und Soldaten, die nicht entnazifiziert worden sind und daher ihren Platz im öffentlichen Dienst auf Dauer verloren haben; dieser Personenkreis wird möglicherweise zusammen mit den Opfern noch einmal „entschädigt".
Seit dem vom Bundestag am 4. Juli 1979 beschlossenen Gesetz gibt es keine Verjährung mehr für Mord. 30 Jahre nach der Konstituierung der Bundesrepublik wurde dadurch gewährleistet, daß nationalsozialistische Gewalt-verbrechen wenigstens theoretisch geahndet werden können, auch wenn sie erst jetzt oder künftig bekannt werden. Gewährleistet ist immerhin auch, daß niemand sich mit seinen Untaten öffentlich — in Illustrierten, in Memoiren und dergl. — brüsten kann, weil keine Verfolgungsmöglichkeit mehr besteht. Drei Jahrzehnte lang war das Problem durch halbherzige Lösungen aufgeschoben worden.
1965, als die Frage der Verjährung zum ersten Mal akut wurde, war die Frist bis zum 31. Dezember 1969 verlängert worden; das „Berechnungsgesetz" vom April 1965 hatte den Frist-beginn auf den 1. Januar 1950 verlegt, mit der Begründung, daß in der Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1949 durch besatzungsrechtliche Maßnahmen der ordentliche Fristenablauf gehemmt war. Trotz der Ermittlungsergebnisse der 1958 errichteten „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" in Ludwigsburg, die damals schon erkennen ließen, daß noch zahlreiche unaufgeklärte und ungesühnte Taten auf die Justiz warteten, zog sich der Gesetzgeber auch 1969 noch einmal durch einen Kompromiß (Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord von 20 auf 30 Jahre, für Delikte wie Totschlag und Beihilfe zum Mord von 15 auf 20 Jahre) bis 1979 aus der Affäre. Man hatte 1965 wie 1969 auf eine „natürliche" Lösung des Problems gehofft oder geglaubt, die Gerichte hätten bis zum jeweiligen Schlußtermin genügend Zeit Freilich gibt es sehr ernst zu nehmende juristische Argumente zugunsten der Verjährung, freilich können Verfahren gegen NS-Gewaltverbrecher angesichts der Diskrepanzen zwischen Tatbeständen (wenn einem Angeklagten z. B. mehrtausendfacher Mord zur Last gelegt wird), angemessenem Strafrahmen, Beweisnot, Alter und Gesundheitszustand von Angeklagten und Zeugen zur Farce werden.
Und verständlich ist es auch, daß in der öffentlichen Meinung der Wunsch nach dem alles amnestierenden „Schlußstrich" überwog.
In einem Gutachten zum Verjährungsproblem, das eine der Bundestagsfraktionen bei einem Abgeordneten bestellt hatte, finden sich unter dem Datum 4. Januar 1969 unter einer Fülle ähnlicher politischer Argumente die folgenden Sätze: „Ich glaube nicht, daß die Internationalen Jüdischen Organisationen ihre Unversöhnlichkeit in gleichem Maße wie in den verflossenen Jahren aufrechterhalten werden, nachdem wir von einer maßgebenden New Yorker Zentrale eine schriftliche Anerkennung für das von ihr als Jair'bezeichnete Entschädigungsschlußgesetz bekommen haben."
Und wenig später heißt es: „Ich halte es nicht für günstig für die Verteidigungsbereitschaft unserer Soldaten, die, sollte es je noch einmal zu einer Auseinandersetzung mit dem Osten kommen, wieder mit einem neuen Partisanenkrieg rechnen müssen, wenn ihre Väter ohne jede zeitliche Begrenzung wegen Kriegshandlungen im Zusammenhang mit der Partisanenbekämpfung verfolgt werden können. Das gilt um so mehr, als alle solche Gewalttaten, die unsere Kriegsgegner selbst gegen die Zivilbevölkerung begangen haben, alsbald amnestiert worden sind. Auch für das Rechtsbewußtsein der Vertriebenen, die bei und sogar nach Kriegsende die Ermordung zahlreicher Angehöriger erleben mußten, wäre das Messen mit zweierlei Maß, das wir schon seit mehr als zwanzig Jahren zu tragen haben und das durch die rückwirkende Unverjährbarkeit verewigt würde, auf die Dauer unerträglich. Die innerpolitischen Gefahren für die Stabilität unserer demokratischen Ordnung könnten sich sprunghaft steigern."
In diesen Äußerungen, die auch innerhalb der Fraktion, die das Gutachten bestellt hatte, Unmut auslösten, ist so ziemlich alles enthalten, was die Vergangenheitsabwehr an Rüstzeug liefert: Gläubiger, die trotz Abfindung unversöhnlich bleiben, Feinde, gegen die es zusammenzustehen und womöglich bald wieder zu kämpfen gilt, die eigenen Leiden und schließ-lieh gar das Gespenst innenpolitischer Unruhen. Die politische Unmoral der Argumentation liegt einmal in der Annahme, durch Entschädigungszahlungen sei Nichtwiedergutzumachendes erledigt; dies müsse durch Wohl-verhalten der Empfänger honoriert werden. Zum anderen besteht sie in der Verharmlosung des Tatbestands der Verbrechen, die durch die Verjährung amnestiert werden sollten. Der Gutachter reduzierte die Materie auf Erscheinungen des Partisanenkriegs, während es in Wirklichkeit um die Greuel in den Konzentrationslagern, um die Einsatzgruppen der SS, um die Deportation und Vernichtung der europäischen Judenheit und ähnliche Dimensionen ging. Schließlich wurde durch Aufrechnen eigener und fremder Untaten das ganze Problem griffbereit vereinfacht.
Das Beispiel aus dem Jahre 1969 steht hier lediglich zum Beweis dafür, daß die Kategorien politischer Zweckrationalität gegenüber dem ethischen Grundproblem der gerechten Sühne für nationalsozialistische Gewalttaten ebenso unzulänglich sind wie juristische Argumente. Das angeführte Beispiel verbirgt auch keinen Vorwurf an falsche Adressen (daher ist auch die Frage, welcher Abgeordnete des Deutschen Bundestags seinerzeit das umfängliche Gutachten produzierte, heute nicht mehr interessant).
Wiederaufbau statt Trauerarbeit
Wie wenig die historische Dimension des Rechtsextremismus im allgemeinen Bewußtsein präsent ist — nicht nur für die Nachgeborenen sind ja NSG-Prozesse, Verjährungsdebatten, Wiedergutmachungsleistungen und ähnliche Kristallisationspunkte in der Regel schwer nachvollziehbare Abstrakta, deren reale Hintergründe entweder verdrängt oder im günstigen Falle als Relikte lustlos gebotenen Geschichtsunterrichts bekannt sind —, zeigte sich anläßlich der Holocaust-Serie, die im Januar 1979 vom Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Nach anfänglichem Bangen erwies sich die Sendereihe als das Medienereignis schlechthin. Die Serie löste eine Lawine der Betroffenheit aus. 30 000 Telefonanrufe wurden in den Rundfunkanstalten registriert, unzählige Briefe kündeten vom Aufgewühlt-sein der Nation. Die Reduzierung der NS-Vernichtungspolitik auf eine Familie, die Privatisierung, die die Identifikation mit dem Schicksal einer jüdischen Familie erlaubte, hatte nicht nur einen hohen Grad emotionaler Bewegung bewirkt, sondern auch eine in dieser Breite einmalige Konfrontation mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Bei der Einmaligkeit blieb es aber auch. Der nachfolgende Aufklärungsboom auf dem Buchmarkt, in Zeitschriften, in Diskussionsforen verebbte bald. Spätestens im Mai 1979 war „Holocaust“ kein Thema für das breite Publikum mehr.
Es gibt viele Ursachen für das abweisende Verhältnis zur neueren Geschichte im privaten wie im öffentlichen Bewußtsein. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch im Frühjahr 1945 wurden Apathie und Schrecken bald durch den Widerwillen gegenüber den Besatzungsmächten abgelöst. Nahm man in der französischen und sowjetischen Besatzungszone vor allem die Reparations-und Demontagepolitik übel, so richtete sich die Abneigung womöglich noch stärker gegen die als „Umerziehung" bis zum heutigen Tag geschmähten Demokratisierungsabsichten der Amerikaner und Briten. Der gerade von diesen beiden Besatzungsmächten auch bald forcierte Wiederaufbau schien für die nötige Trauerarbeit keine Zeit zu lassen.
Ansätze dazu wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche („Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden" hatte es gegeben; sie waren aber entweder schnell vergessen oder denaturierten zum Alibi, auf das man später verweisen konnte. In der sowjetischen Besatzungszone bzw.der DDR war Antifaschismus als politisches Konzept verordnet worden, das darüber hinaus als Instrument für die grundlegende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Strukturen diente. Dadurch geriet in Westdeutschland schon der Begriff Antifaschismus in Mißkredit Antifaschistisches Bewußtsein war aber auch, ganz abgesehen davon, daß es im gesamten Deutschland nicht den politischen Mehrheits-Konsens bestimmte (die Nationalsozialisten hätten, wenn das der Fall gewesen wäre, nicht bis zum bitteren Ende durchhalten können), keine tragfähige Konzeption für einen staatlichen Neubau nach dem Krieg. Neben den rund 8, 5 Millionen NSDAP-Mitgliedern wurden die Sympathisanten, die Nutznießer, die Anpassungswilligen zum materiellen Wiederaufbau ebenso gebraucht wie die Unbelasteten und die Gegner des NS-Regimes. Die Entnazifizierung, als große Säuberungsaktion mit dem Minimalziel des Elitenaustauschs geplant und eingeleitet, kam schnell ins Stocken und wurde schließlich eingestellt, nicht zuletzt auf Veranlassung der Initiatoren. Betroffen waren ohnehin oft genug die Falschen: Die Minderbelasteten, die mehr oder weniger harmlosen Opportunisten anstatt der zwar belasteten, aber unentbehrlichen Experten und Technokraten. Gerade solche fanden sich sogar bald wieder auf Staatssekretär-und Ministersesseln, sie wurden wahrscheinlich so sehr gebraucht, daß die darin liegende Diskreditierung der neuen Ordnung einfach in Kauf genommen werden mußte. Bei Bedarf werden sie, auch heute noch, dann vom jeweiligen politischen Gegner in monatelangen Verfahren, bei hartnäckigem Anklammern des Stürzenden an seine Position, das in einen allmählichen freien Fall übergeht, bei mäßigem Interesse des Publikums von der politischen Bühne entfernt.
Der nichtvollzogene Selbstreinigungsprozeß, für den die Vergeßlichkeit einiger Politiker ihrer eigenen Vergangenheit gegenüber nur ein Symptom ist, tradierte das rechtsradikale Restpotential in die nunmehr demokratische Gesellschaft Bei gegebenen Anlässen, wirtschaftlicher Rezession, Inflation oder Arbeitslosigkeit etwa, kann es rasch aufgefüllt werden. Dazu kommen die Wirkungen der latenten Abwehr der historischen Erfahrung, die sich darin manifestieren, daß der Rechtsextremismus in seinen heutigen Erscheinungsformen isoliert vom damaligen, aber auch isoliert von seinen Wurzeln, betrachtet wird und vor allem unter zwei Aspekten als interessant gilt: wegen der Reaktion des Auslands und als Sicherheitsrisiko, wenn er offen ins Terroristische ausufert. Unter diesen Aspekten werden rechtsextremistische Bestrebungen amtlicherseits vor allem beobachtet.
Rechtsextremismus als Sicherheitsproblem — amtliche Reaktionen
Der große Schrecken kam am Weihnachtstag des Jahres 1959 über die Bundesrepublik. Die Kölner Synagoge war mit antisemitischen Parolen und Hakenkreuzen besudelt worden. Die beiden Täter, 23 und 25 Jahre alt, wurden schnell gefaßt und bald verurteilt. Die Publizität, die das Ereignis fand, führte zu einer Welle von ähnlichen Schmierereien in der ganzen Republik und weit über deren Grenzen hinaus, die sich erst Ende Januar 1960 verlief, als die Angelegenheit für die Medien keine Nachricht mehr war. Bis zum 20. Januar hatten die Ereignisse Aktualitätswert gehabt, durch die Schlagzeilen der Weltpresse, die die Initial-zündung der Weihnachtsnacht bis Ende Dezember ausgelöst hatte, durch den Beginn des Strafprozesses gegen die beiden Täter (5. Januar 1960), durch Gegendemonstrationen (8. Januar 1960), durch eine Ansprache des Bundeskanzlers im Deutschen Fernsehen (15. Januar 1960) und durch eine Erklärung des Bundestagsvizepräsidenten (20. Januar 1960).
Der allen Demoskopen geläufige Eskalationsprozeß (Initialereignis — Publizität — vielfach verstärkte Nachahmung — allgemeine Aufregung), der sich auf allen nur denkbaren Ebenen immer wieder abspielt, bei Linksextremisten ebenso wie bei den „Geisterfahrern" auf der Autobahn, war in Gang gekommen. Aber die Weihnachtsnacht 1959 und ihre Folgen hatten besondere Qualität, sie zogen entsprechende Wirkungen im Ausland und Reaktionen amtlicher Stellen nach sich: Prozeßbeginn gegen die Täter innerhalb von vierzehn Tagen nach der Tat, kultusministerielle Erlasse zur systematischen Belehrung in allen Schulen (ab 13. Januar 1960) und politische Erklärungsversuche in Gestalt eines „Weißbuchs", das die Bundesregierung im Frühjahr 1960 veröffentlichte In diesem Weißbuch wurde auch der Verdacht kultiviert, die Hintermänner der antisemitischen und neonazistischen Umtriebe säßen in der DDR respektive der sowjetischen Besatzungszone, wie man damals amtlich noch lieber sagte. Die Untersuchung der Tatmotive von 234 Urhebern antisemitischer und nazistischer Vorfälle ergab 48 % „unpolitische Rowdy-und Rauschtaten" (113 Täter), 24 % „Affekt-und Rauschtaten aus unterschwellig antisemitischen, nazistischen und antidemokratischen Motiven" (56 Täter), 15 % „Kinderkritzeleien" (35 Täter), 5 % „pathologische Motive" (13 Täter) und 8% Täter mit „rechts-oder linksextremistischer Gesinnung'1 (17 Personen).
Die unterschwelligen politischen Beweggründe —• NS-Vergangenheit, Mißgunst gegen Empfänger von Wiedergutmachungsleistungen, antidemokratisches Unbehagen usw. — waren ebenso leicht nachweisbar und durch Beispiele zu belegen wie die rechtsextreme Gesinnung von 17 Tätern, denen vielfach entsprechende organisatorische Bindungen (wie den beiden Kölner Initialtätern, die der Deutschen Reichspartei angehörten) nachgewiesen werden konnten. Wie aber bewies die Bundesregierung den inhaltsschweren Weißbuch-Satz (auf Seite 41): „Einige der Taten dieser Gruppe wurden durch kommunistische Täter begangen": Mit nicht weniger als drei Beispielen, und zwar folgenden: Zwei von drei Männern, die am 19. Januar 1960 in Lehrte Haken-kreuze, SS-Runen und die Parole . Juden raus" geschmiert hatten, waren einmal Mitglieder der FDJ gewesen und hatten 1951 (!) die kommunistischen, Weltjugendfestspiele in Berlin besucht. Der dritte „Kommunist", ein 27jähriger, der am 19. Januar 1960 in einer Wirtschaft in Ahlen antisemitische Äußerungen getan hatte, war vor seiner Flucht aus der DDR Volkspolizist und Funktionär der FDJ gewesen.
Auf sieben Seiten wurde dann der allgemeine Nachweis kommunistischer Hintergründe der Vorfälle versucht Als Hauptargumente dienten einzelne Propagandatorheiten der DDR-Publizistik, etwa des Kalibers, daß die antisemitischen Ausschreitungen vom Bonner „Amt für Psychologische Kriegsführung" im Rahmen einer verordneten „Nationalen Welle" verübt worden seien. Konkrete Anhaltspunkte, die über die Beweiskraft der Tatsache, daß auch die beiden Kölner Initialtäter Vergnügungsreisen nach Ost-Berlin und Leipzig unternommen hatten, hinausgingen, konnten nicht angeboten werden.
Ganz ohne Zweifel erfreut jede neonazistische Aktion in der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag die amtlichen Stellen in der DDR, und entsprechend ist das publizistische Echo (freilich braucht es nicht zwingend bestimmte Ereignisse, um die Maschinerie der DDR-Publizistik in Schwung zu halten). Es bedarf allerdings großer Kühnheit, aus den Krokodilstränen, die reichlich wegen des Neofaschismus, Militarismus, Nationalismus etc. in der Bundesrepublik in den Medien der DDR vergossen werden, auf Urheberschaft, Steuerung oder Finanzierung der Ausschreitungen in der Bundesrepublik durch „die Kommunisten" zu schließen. — Auch der Reichstagsbrand im Februar 1933 war für die Nationalsozialisten eine wunderbare Gelegenheit zur Verfolgung der KPD und eine einzigartige Chance zur Stabilisierung der Diktatur, daraus allein folgt aber noch nicht, daß Hitler-Anhänger die Urheber waren. Es ist immer sehr bequem, Nutznießern die Urheberschaft anzulasten; Adenauer hatte schon 1951 öffentlich feststellend vermutet, daß es enge Bindungen zwischen Rechtsradikalen und Kommunisten gebe und daß beide Gruppen aus der gleichen Quelle finanziell unterstützt würden Solche Behauptungen haben ein zähes Leben; und trotz des Faktums, daß den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik auch Anfang des Jahres 1980 keinerlei Erkenntnisse für die Vermutung kommunistischer Infiltration, Steuerung oder Finanzierung rechtsextremer Aktivitäten, Publikationen oder Organisationen vorliegen, darf man sicher sein, daß auch künftig einschlägige Dogmen verkündet werden. Dogmen bedürfen keiner Beweise.
Argumentationsgewohnheiten mancher Politiker, gestern wie heute, sind nun keineswegs mit der offiziellen Reaktion der Bundesregierung gegenüber der rechtsextremen Szenerie zu verwechseln. Regierungen und deren bürokratischer Apparat, zumal in Deutschland, haben aber die Eigenart, unangenehme Nachrichten, wenn sie schon nicht vermeidbar sind, in möglichst milder Form zu verabreichen. Und zu den widrigen Gegenständen gehören, dank der historischen Hypothek der Hitler-jahre und der entsprechenden Aufmerksamkeit im Ausland, rechtsradikale und gar neonazistische Umtriebe.
Die Berichte über die Arbeit des Bundesamts für Verfassungschutz, die der Bundesminister des Innern alljährlich vorlegt sind daher eine auf den ersten Blick beruhigende Lektüre. Regelmäßig wird in diesen Berichten, nach detaillierter Darlegung der Aktivitäten, Mitgliederzahlen, Auflagenkurven, bilanziert, daß keine nennenswerte Gefahr von rechts droht. Wenn man die jeweils einen Jahresbericht abschließende „Beurteilung" der rechtsextremistischen Bestrebungen in ihre Einzelteile zerlegt und diese dann in chronologischer Folge nach systematischen Gesichtspunkten neu zusammenfügt, entschleiert sich jedoch das zunächst eher harmlose Bild. Aus den Verfassungsschutzberichten ab 1969 kann man dann folgendes herausdestillieren: 1. Gefährlichkeit der Rechtsradikalen 1969/70 (Bericht über den Zeitraum von zwei Jahren, die abschließende Beurteilung gab es noch nicht, statt dessen wurde die Einleitung verwendet): „Die ablehnende Haltung der Öffentlichkeit hat die rechtsextremen Gruppen noch mehr als in den Vorjahren in die Defensive gedrängt." Für 1971 heißt es: „Insgesamt kann festgestellt werden, daß der Rechtsradikalismus nach wie vor keine ernsthafte Gefahr für die innere Sicherheit und die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland bedeutet." Fast gleichlautend 1972 und 1973: „Eine Gefahr für die innere Sicherheit ... bildete der Rechtsradikalismus* auch im Jahre 1973 nicht.“ Im nächstem Jahr: „Die rechtsextremistischen Gruppierungen sind 1974 weiterhin unbedeutende, die Sicherheit des Staates nicht gefährdende Randerscheinungen", und auch 1975 stellten sie „nach wie vor keine die Sicherheit des Staates gefährdende Kraft dar". Wiederum fast gleichlautend die Diagnose für 1976; und auch 1977 galt der Rechtsextremismus keineswegs als „politische Kraft, die den Bestand unseres Staates und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gefährden könnte“. 1978 bildete er „keine Gefahr". 2. Resonanz der Rechtsradikalen in der Bevölkerung
„In den Jahren 1969 und 1970 nahmen in der Bundesrepublik Deutschland Wachsamkeit, kritische Distanz und Abwehrbereitschaft gegenüber dem Radikalismus von rechts weiter zu." Das Fazit für 1971: „Rechtsradikale Parteien besitzen derzeitig keine Chance, auf die politische Willensbildung der Bevölkerung ... bestimmenden Einfluß zu nehmen. „Fast identisch ist der Befund für 1972 und 1973: „kaum Resonanz in der Bevölkerung". 1974 war es den Rechtsextremen nicht einmal mehr gelungen, „in der Öffentlichkeit größere Beachtung zu finden". 1975 allerdings wurde eine „vermehrte Beachtung“ festgestellt, gottlob blieben sie „trotz der Schwierigkeiten in der Wirtschaft und der Zunahme an Arbeitslosen politisch unbedeutend". 1976 und 1977 stießen die Neonazis „durchweg", 1978 bei der überwiegenden Mehrheit der Bürger auf schärfste Ablehnung. 3. Qualitative Veränderungen auf der rechtsradikalen Szene Im Bericht für 1969/70 gibt es keine eindeutige Erwähnung, allenfalls die Bemerkung, daß die „rechtsextremen Gruppen noch mehr als in den Vorjahren in die Defensive gedrängt" waren. Für 1972 wurde offenbar Schlimmes befürchtet, denn vorsorglich hieß es im Bericht für 1971, es müsse mit einem weiteren Anstieg der rechtsextremistisch motivierten Widerstandshysterie, mit Krawallen, Ausschreitungen, Gewalt-und Terrorakten gerechnet werden". Und weiter: „Im Vergleich zu den Vorjahren ist der Rechtsradikalismus aggressiver und militanter geworden. Teilweise sind kriminelle und auch terroristische Züge sichtbar."
Den Befürchtungen (den Hintergrund bildeten die Ratifizierung der Ostverträge und die Olympischen Spiele) für 1972 folgten indes keine rechtsradikalen Taten; im Bericht 1972 heißt es aufatmend lediglich: „Die weiter anhaltende Zersplitterung des organisierten Rechtsradikalismus und das Aufkommen nationalrevolutionärer Zielvorstellungen begünstigten allerdings die Bildung kleiner Gruppen mit konspirativen und militanten Tendenzen." 1973 ist eine „leichte Belebung bei rechtsradikalen Jugendorganisationen" erwähnt, 1974 die „stärkere Verbreitung [rechtsextremistischer] Publikationen". 1975 werden „die zum Teil spektakulären Straßenaktionen und Veröffentlichungen neonazistischer Kreise" genannt; 1976 ist von „verstärkter Tätigkeit von Neonazis" und von „zunehmender Bereitschaft, sich gewaltsamer Methoden zu bedienen" die Rede. 1977 registrierte man „Aktivitäten und Ausschreitungen fanatischer Einzelgänger und der verstärkt hervortretenden neonazistischen Gruppen"; sie führten zu dem Schluß, daß „der Rechtsextremismus als Gefahrenherd für die öffentliche Sicherheit weiterhin in Rechnung gestellt" werden müsse.
1978 schließlich heißt es gar: . Anlaß zur Besorgnis gibt dagegen die im Vergleich zum Vorjahr erneut erheblich gestiegene Zahl rechtsextremistischer Ausschreitungen und die zunehmende Bereitschaft zu bewaffneter Gewaltanwendung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die erstmals bei Neonazis festgestellten terroristischen Aktivitäten." 4. Maßnahmen und Mittel gegen Rechtsradikale Interessant ist hier vor allem, von welchen Abwehrmaßnahmen, wenn überhaupt, jeweils die Rede ist. Es ist nicht verwunderlich, daß die Heilmittel dem jeweiligen Trend folgen bzw. in „guten Jahren" gar keine Erwähnung finden. 1969/70 werden „publizistische» Aufklärung und politische Bildung" favorisiert, aber schon 1971 heißt es: „Dem gewalttätigen Aktionismus einzelner rechtsradikaler Gruppen kann im Wege der politischen Auseinandersetzung allein nicht begegnet werden. Als wirksames Mittel gegen die Aggressionen haben sich vor allem strafrechtliche und versammlungsrechtliche Maßnahmen erwiesen." 1972, 1973 und 1974 werden keine Abwehrmechanismen erwähnt. 1975 schien gegenüber neonazistischen Aktivitäten „auch künftig eine aufmerksame Beobachtung der rechtsextremistischen Bestrebungen durch die Sicherheitsbehörden" geboten. 1976 wird nichts ausgesagt, aber 1977 wird der auffallende Anstieg von Aktivitäten und Ausschreitungen „trotz entsprechender intensiverer Maßnahmen von Justiz-und Sicherheitsbehörden" beklagt. 1978 heißt es schließlich: „Die Tatsache, daß diese neonazistischen Täterkreise ihre Aktivitäten trotz aller Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden weiter verstärkt haben, zeigt, daß auch in Zukunft alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um geplante Ausschreitungen oder Gewalttaten möglichst frühzeitig zu erkennen und damit strafrechtliche Maßnahmen zu unterstützen."
Den amtlichen Berichten sind, mit einiger Mühe zwar, die Trends der rechtsextremistischen Szene zu entnehmen. Es ist aber auch einige Mühe und viel Aufmerksamkeit nötig, um aus den Medien ein einigermaßen zutreffendes Bild über die jeweils aktuelle Entwicklung bei den Rechtsextremisten zu gewinnen. Die Redaktionen sind nun sicherlich gut beraten, wenn sie nicht jede „Partei" -oder Vereins-gründung, nicht jede Pöbelei und nicht jede Provokation in den Rang einer Nachricht erheben. Durch mangelnde Berichterstattung kann aber auch der Eindruck entstehen, in der Bundesrepublik dürften die Täter von ehedem oder deren Nacheiferer ihre Opfer verhöhnen. Manchmal möchte man glauben, die alten Parolen und Phrasen würden ohne Protest wieder hingenommen. Die Grauen erregende Meldung, die über dpa Ende Mai 1979, als „Holocaust" gerade kein Thema mehr war, an alle Medien ging, könnte zu diesem Schluß verleiter: Ein früherer SS-Mann hatte mit Hilfe eines notorisch rechtsradikalen Anwalts der Journalistin Renate Harpprecht, die in einer Fernsehdiskussion im Januar im Anschluß an die „Holocaust" -Serie als Zeugin aufgetreten war, ein Verfahren wegen „Beleidigung und Volksverhetzung" angedroht, wenn sie die Ermordung ihrer Familie in einem Konzentrationslager nicht beweisen könne Die Meldung fand so gut wie keine Resonanz. Der Rechtsanwalt und sein Mandant hatten sich „diffamiert“ gefühlt, weil sie die „Vergasungsstory als eine längst durch Geschichtsforscher des Auslands und auch des Inlands widerlegte Greuelmär" halten. Diffamiert wurde allerdings die demokratische Öffentlichkeit, aber kaum jemand empörte sich darüber.
Ob die Öffentlichkeit es nicht bemerkt hat, nicht bemerken konnte, weil es kaum eine Berichterstattung über den Fall gegeben hatte?
Die rechtsradikalen Propagandisten der „Greuelmär 11 operieren ja mit der Uninformiertheit der Öffentlichkeit — sie selbst können eigentlich nicht so dumm sein, das zu glauben, was sie so penetrant behaupten. Die Technik dieser Agitation läßt sich an einem zentralen Exempel demonstrieren.
Zur Technik rechtsradikaler Propaganda
Im Mittelpunkt rechtsradikaler Propaganda steht die Leugnung oder Verharmlosung der Judenverfolgung unter dem NS-Regime. Keine Behauptung ist anscheinend unsinnig genug, als daß sie nicht immer wieder aus der Propaganda-Kiste hervorgezogen würde. Das reicht von der Leugnung der Existenz der Konzentrationslager, der Einsatzgruppen und Pogrome bis hin zu statistischen Kunststücken und abenteuerlichen Rechenexempeln über die Zahl der jüdischen Opfer. Mit besonderer Hartnäckigkeit wird die angebliche „ 6-Millionen-Lüge" bekämpft.
Tatsächlich ist die Zahl der ermordeten Juden nicht mit der wünschenswerten Exaktheit (die aber gewiß von den rechtsextremen Interessenten auch nicht anerkannt würde) zu bestimmen, und das hat viele Gründe. Auf der einen Seite gibt es keine, zumindest keine zureichenden Statistiken über die jüdische Bevölkerung Europas vor, während und am Ende der NS-Zeit, vor allem gibt es diese Statistiken nicht für die osteuropäischen Länder. Bei aller buchhalterischen Akribie hatten die nationalsozialistischen Henker kein Interesse daran, der Nachwelt Zahlen über ihre Morde zu überliefern; es gibt zwar authentische Erfolgsmeldungen der Einsatzgruppen, aber die in geradezu industriellem Maße betriebene Vernichtung in den Gaskammern erfolgte ohne Registrierung der Opfer, weder ihrer Namen noch ihrer Zahl. Trotzdem stammt die Schätzung, daß 5— 6 Millionen Juden der Vernichtungsmaschinerie zum Opfer fielen, aus nationalsozialistischer Quelle: Wilhelm Hoettl, der stellvertretende Gruppenleiter im Amt VI des Reichssicherheitshauptamts, bezifferte im Nürnberger Prozeß die Zahl der Opfer auf sechs Millionen Rudolf Höß, Kommandant des Lagers Auschwirz von 1940 bis 1943, gab am 5. April 1946 unter Eid zu Protokoll daß unter seiner Ägide allein in Auschwitz etwa drei Millionen Menschen, und zwar fast ausschließlich Juden, umgebracht wurden; Adolf Eichmann, als Leiter des , Judenreferats''im RSHA der Organisator der Verhaftungen, Deportationen und der schließlichen Ermordung der Juden im Einflußbereich der Nationalsozialisten in ganz Europa, sprach mehrmals, zuletzt bei seinem Prozeß in Israel, ebenfalls von etwa 5 Millionen. Wir wollen hier nur ein einziges Argument untersuchen, das bei den rechtsradikalen Propagandakunststücken immer wieder auftaucht und dem immer wieder ahnungslose Leser zum Opfer fallen: die angeblich vom Roten Kreuz stammende Zahl von höchstens 300 000 Verfolgungsopfern.
Die Schweizer Zeitschrift „Der Turmwart" hatte im Dezember 1950 berichtet, daß alles in allem weniger als 1, 5 Millionen Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer umgebracht worden seien. Als Quelle für diese Behauptung wurde ein Bericht in den „Basler Nachrichten" vom 12. Juni 1946 angeführt der mit dubiosen Statistiken und Rechentricks operierte. Ab Januar 1955 griff ein Blatt neonazistischer Observanz, das damals unter dem Titel „Die Anklage" in Bad Wörishofen erschien, die Angelegenheit in einer Artikel-serie wieder einmal auf. Jetzt war ein Experte, ein „universell bekannter Nordamerikaner“, neu in die Debatte eingeführt worden, dem die Zahlen in den Mund gelegt waren; es war nur noch von 300 000 Opfern die Rede. Die Schweizer Quellenangabe wurde als „Beweis“ im umgekehrten Verhältnis zur weiter verharmlosten Zahl der Opfer aufgepäppelt, es hieß nämlich jetzt: „Die Schweizer Zentrale des Roten Kreuzes hat nunmehr mit der Herausgabe einer amtlichen Meldung die Angaben des Amerikaners Warwick Hesters, die wir in unserem Artikel „Die gemeinste Geschichtsfälschung" veröffentlichten, bestätigt. In der amtlichen Mitteilung der Schweizer Zentrale des Rotes Kreuzes heißt es ganz ein-deutig: „Opfer politischer, rassischer und religiöser Verfolgung in den Gefängnissen, Konzentrationslagern usw. zwischen 1939 und 1945: 300 000 (dreihunderttausend)" -
Ermuntert durch diese seriös erscheinende Quellenangabe berichteten nun auch unverdächtige Magazine über die Opfer des Zweiten Weltkriegs und übernahmen die angebotenen Zahlen. „Das grüne Blatt", ein Unterhaltungsmagazin der Regenbogenpresse, brachte 1955 einen Artikel, in dessen Vorspann es hieß: „Seit 1946 hat die Schweizer Zentrale des Roten Kreuzes amtliche Meldungen über die Kriegsverluste der einzelnen Länder gesammelt. Die jetzt vorliegenden Zahlen sind eine Bilanz des Grauens, eine ernste Mahnung an die Politiker von heute, alles zu tun, damit sich ein solches Blutbad nicht wiederholen kann." In der Gesamtzahl der „ 57 Millionen Opfer!" (so die Überschrift des Artikels) war dann wieder die Zahl von 300 000 Verfolgungsopfern enthalten
„Das grüne Blatt", das durch die Veröffentlichung zu Unrecht in den Verdacht neofaschistischer Tendenz geriet, distanzierte sich in einem Brief vom 6. Februar 1956 an den damaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, der um Aufklärung über die Quellen des Artikels gebeten hatte, entschieden von dieser Zahlenangabe und machte dabei aufschlußreiche Angaben über das Zustandekommen solcher Artikel:
„Wir brachten den von Ihnen zitierten Beitrag , 57 Millionen Opfer', um im Zuge der sich abzeichnenden Remilitarisierung allen Verantwortlichen einmal eine ernste Mahnung mit auf den Weg zu geben. Wir hatten den Artikel, der sich auf Angaben des schweizerischen Roten Kreuzes stützen sollte, von unserem ständigen Kopenhagener, auch in der Schweiz und Österreich vertretenen, Mitarbeiter, mit dem wir bislang noch nie Anstände gehabt hatten. Wir hatten auch mit diesem Aufsatz keine, nur eine darin genannte Zahl — die der in Konzentrationslagern umgekommenen Opfer — machte uns arge Scherereien. Sie ist, wie sich inzwischen herausstellte, offensichtlich falsch. Wir haben in der Angelegenheit auch schon eine lange briefliche Unterhaltung mit dem Bundestagsabgeordneten Kalbitzer geführt, weil man uns — dem GRÜNEN BLATT — in der Schweiz und auch in Deutschland, ein Eintreten für neofaschistische Belange unterschieben wollte, was bei uns nur erst ein Kopfschütteln, dann aber starke Verärgerung auslöste. Wir gingen der ganzen Sache energisch nach, leider verlief sie sozusagen im Sande. Die letzte Quelle wurde nicht bekannt. Unser Kopenhagener Mitarbeiter, dessen eigene Familie zum großen Teil in Konzentrationslagern umgekommen ist, der also völlig integer gegen Verdächtigungen ist, hatte den Aufsatz der . Wiener Wochenausgabe'entnommen, mit der er ein Austauschabkommen hat. Der Redakteur der . Wiener Wochenausgabe', der ihn geschrieben hatte, hatte die Angaben, wie er uns brieflich mitteilte, einer Schweizer Zeitung entnommen, er konnte allerdings nicht mehr angeben, ob es sich um , Die Tat'oder ein anderes Blatt gehandelt hatte."
Wie verhält es sich nun aber tatsächlich mit den „amtlichen Zahlen" des Roten Kreuzes? Sie haben niemals existiert, wie aus einem Brief des Chefs der Informationsabteilung des Comit International de la Croix-Rouge vom 17. August 1955 an den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte hervorgeht: „Statistische Aufstellungen über Verluste an Militärpersonen oder Deportierten können wir nicht verschaffen, da derartige statistische Arbeiten dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz nicht obliegen. Einerseits verfügt das Komitee über die hierzu erforderlichen Mittel nicht und andererseits beziehen sich die in der Kartei der Kriegsgefangenen-Zentrale enthaltenen Meldungen auf Gefangenschaftsnahme, Transfer in andere Lager, Freilassung usw., aber geben kein genaues Bild der gesamten Anzahl von Kriegsgefangenen. Statistiken, die diesen Angaben zu entnehmen wären, würden nicht nur eine sehr langwierige Arbeit erfordern, sondern auch ein ungenaues Endergebnis aufweisen. Bei weitem noch unvollständiger sind unsere Angaben über die sich seinerzeit in Deutschland befindlichen Häftlinge der Konzentrationslager. Wenn wir auch gegen Ende des Krieges Häftlingen Hilfe und Beistand gewähren konnten, so waren trotz zahlreicher Bemühungen Hilfsaktionen in dem gleichen Ausmaße wie zugunsten der Kriegsgefangenen nicht möglich, da dem Komitee hierzu die rechtlichen Grundlagen fehlten. (Das Abkommen zum Schutze der Zivilbevölkerung geht auf den 12. August 1949 zurück, an dem die in Genf tagende diplomatische Konferenz die 4 Genfer Abkommen zum Schutze der Kriegsopfer annahm.) Wie Sie aus diesen Ausführungen ersehen, beruhen die Angaben des deutschen Wochen-blattes auf keinen vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz gelieferten Informationen."
Dieses offizielle Dementi des Internationalen Roten Kreuzes in Genf nützte freilich wenig. Zehn Jahre später (und in der Zwischenzeit natürlich auch) beriefen sich Rechtsradikale in einem Offenen Brief an Kardinal Döpfner, der im NPD-Blatt „Deutsche Nachrichten“ abgedruckt wurde, wieder auf Zahlenangaben des IRK, und wiederum distanzierte sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz kategorisch von dieser Fälschung:
„Wir möchten eindeutig klarstellen, daß das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf überhaupt nichts mit diesen Behauptungen zu tun hat. Die Statistiken über die Kriegs-verluste und die Opfer politischer, rassischer oder religiöser Verfolgungen fallen nicht in sein Zuständigkeitsgebiet und haben nie dazu gehört.
Selbst wenn es sich um Kriegsgefangene handelt (die seit 1929 durch ein internationales Abkommen geschützt sind und für die wir, wie Sie wissen, einen Zentralen Suchdienst besitzen), wagen wir keine Zahlen zu nennen, da wir uns wohl bewußt sind, daß wir nicht im Besitze sämtlicher Auskünfte betreffend diesen Personenkreis von Kriegsopfern sein können. Um so mehr sind wir verpflichtet, uns jeglicher Schätzung zu enthalten, wenn es sich um Zivil-personen handelt, die zu jener Zeit durch keinerlei Konvention geschützt waren und sich somit der Aktion des Roten Kreuzes fast vollständig entzogen."
Über den Brief vom 11. Oktober 1965 an das Institut für Zeitgeschichte, aus dessen Original diese Sätze zitiert wurden, berichtete im Januar 1966 die Tagespresse, einschließlich zahlreicher Provinzzeitungen. Gestört hat das die rechtsradikale Propagandamaschinerie bis zum heutigen Tag wiederum nicht, allenfalls machen sich neonazistische Pamphletisten die Mühe, neue „amtliche" Angaben zu erfinden.
Heinz Roth z. B.fragte in einer 1973 verteilten Broschüre „Warum werden wir Deutschen belogen?": „Wußten Sie, daß die sicher beklagenswerten Verluste des jüdischen Volkes — nach Feststellungen der UNO, die keinen Grund hat, irgendein Volk besonders in Schutz zu nehmen — zweihunderttausend betragen haben?" Die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der UNO teilte dem Institut für Zeit-geschichte am 1. August 1974 auf eine entsprechende Anfrage mit, daß die „erwähnte Zahl von 200 000 jüdischen Opfern des NS-Regimes mit Sicherheit nicht auf Feststellungen der Vereinten Nationen beruht" Solche Beispiele ließen sich schier endlos fortsetzen: wir unterlassen es, um den seriösen Leser nicht zu langweilen. Für die rechtsradikalen Propagandastrategen aber hat der Unsinn der immer wieder neu gefälschten „Belege" Methode: Sie kennen ja die historische Wahrheit nur zu gut, müssen aber an der Negation der Tatsachen festhalten, bildet das Leugnen doch den einzigen Grund unter ihren Füßen.
Agitation nach diesem Muster wird von Rechtsextremen besonders gern mit Pamphleten und Flugblättern vor und in Schulen betrieben. Wenn in den Klassenzimmern dann NS-Parolen und Hakenkreuze erscheinen, ist die Aufregung groß. Doch trifft sie nicht selten die Falschen, nämlich die Verführten. Im Übereifer werden womöglich die Schüler bestraft, die Opfer mangelnder Aufklärung sind. Aber auch die Forderung nach einer Verbesserung des Geschichtsunterrichts allein hilft noch nicht viel, wenn gleichzeitig die Historiker in den Schulen als Alleinverantwortliche installiert werden sollen Was nutzt der beste Geschichtsunterricht, wenn der Physiklehrer im Nebenberuf rechtsradikale Propaganda treibt oder wenn der Sportlehrer die Turnhalle zum Agitationsfeld gegen historische Tatsachen umfunktioniert?
Wolfgang Benz, Dr. phil., geb. 1941 in Ellwangen, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München; Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft in Frankfurt, Kiel und München. Veröffentlichungen u. a.: Süddeutschland in der Weimarer Republik, Berlin 1970; Politik in Bayern 1919— 1933, Stuttgart 1971; Quellen zur Zeitgeschichte (Deutsche Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg, Band 3), Stuttgart 1973; Einheit der Nation. Diskussionen und Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der großen Parteien seit 1945 (zus. mit G. Plum und W. Röder), Stuttgart 1978; Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes, München 1979; Sommer 1939. Die Großmächte und der Europäische Krieg, Stuttgart 1979.
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