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Verbändestaat — oder was sonst? | APuZ 44/1980 | bpb.de

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APuZ 44/1980 Parlamentarisches System der Bundesrepublik Deutschland -Stärken und Schwächen. Tradition und Neubeginn Verbändestaat — oder was sonst? Vorschläge zu einer Parlamentsreform Die Verbeamtung der Parlamente. Ursachen und Folgen des Übergewichts des öffentlichen Dienstes in Bundestag und Landtagen

Verbändestaat — oder was sonst?

Jürgen Weber

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ist die Bundesrepublik ein Verbändestaat? Wenn damit gemeint ist, daß die großen Verbände bestimmen, was die gewählten Politiker tun oder lassen, dann sicherlich nicht, auch wenn dies eine wohlfeile Drahtziehertheorie immer wieder glauben machen will. Wenn damit aber die Tatsache beschrieben werden soll, daß die organisierten gesellschaftlichen Gruppen zu unserer Gesellschaftsordnung so selbstverständlich gehören wie die Finanzämter, Parteien oder Gerichte, dann ist diese Beschreibung sicherlich richtig. Besorgte Zeitgenossen befürchten immer wieder, die Stellung der Verbände zwischen Bürger und Politik habe zur Folge, daß der Staat handlungsunfähig werde und gegen den Widerstand mächtiger Einzelinteressen das für richtig Erkannte und für die Gesamtheit der Bürger Notwendige nicht mehr durchzusetzen vermag. Wenn wir uns aber nicht mit kulturkritischem Pessimismus zurfriedengeben wollen, dann sollten wir uns an einige Tatsachen halten: Demokratische Politik ist geradezu dadurch definiert, daß die verantwortlichen Amtsinhaber von der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen abhängen und daß Politik nicht einfach nach abstrakten Rationalitätskriterien, sachlogischen Imperativen oder auf Grund ideologisch bestimmter Zukunftsgewißheit betrieben werden kann. Im interventionistischen Daseinsvorsorgestaat der Gegenwart mit seinen umfangreichen wirtschaftsgestaltenden und sozialen Aufgaben spielen die Verbände eine wichtige Rolle, weil sie den staatlichen Repräsentanten als Informationslieferanten und Konsensbeschaffer gegenübertreten. Je gruppenspezifischer die staatlichen Maßnahmen und je komplizierter die regelungsbedürftigen gesellschaftlichen Probleme werden, um so stärker wird die Stellung der Verbände im Prozeß der Politikformulierung und des Politikvollzugs. Ohne die Einbindung der verbandsgesteuerten gesellschaftlichen Bedürfnisartikulation in die staatliche Entscheidungstätigkeit liefe diese das Risiko, im Vollzug zu scheitern, mehr Probleme zu schaffen, als sie zu lösen vermag, den Widerstand jener Gruppen zu provozieren, die sich übergangen oder ungerecht behandelt fühlen. Den Bürgern wiederum bieten die Verbände eine gewisse Garantie dafür, daß nicht über ihre Köpfe hinweg regiert wird; sie sichern ihnen den dauerhaften Zugriff auf die Politik aus konkreten Lebens-und Interessenlagen heraus.

In den ersten dreißig Jahren ihres Bestehens hat sich die Bundesrepublik Deutschland als ein pluralistisches Gemeinwesen erwiesen, in dem es — alles in allem genommen — erstaunlich gut gelungen ist, die organisierten gesellschaftlichen Gruppen trotz oftmals tiefgreifender Interessenkollisionen und widerstreitender Forderungen an die staatlichen Entscheidungsträger einzubinden in das, was man den demokratischen Konsens, die demokratische Gesamtverantwortung, nennen kann. Keine maßgebliche Gruppe hat dem politischen System letztlich ihre Loyalität versagt. Der Kampf um Durchsetzung der je eigenen Positionen und Forderungen — nicht selten mit harten Bandagen geführt —, die vehemente Kritik an geplanten oder getroffenen politischen Entscheidungen und an amtierenden Politikern durch einzelne Gruppen und ihre Repräsentanten sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Zusammenspiel von Staat und Verbänden sowie, im Bereich der Tarifautonomie, von Gewerkschaften und Arbeitgebern relativ gut funktioniert hat.

Gewiß sind nicht wenige reformerische Impulse amtierender Regierungen durch den Widerstand der Betroffenen zurückgedrängt, verwässert oder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergehandelt worden (z. B. Reform des öffentlichen Dienstrechtes, Abwasserabgabengesetz von 1976, Kostendämpfungsgesetz von 1977, Besteuerung der Landwirtschaft). Und sicherlich finden sich Beispiele dafür, wie gutorganisierte Gruppen mit langem Atem, variantenreichen Methoden und immer wieder neuen Argumenten liebgewordene Besitzstände, den Status quo, verteidigen.

Wie kritikwürdig dieses Verhalten im einzelnen auch sein mag, so haben wir es dabei dennoch sozusagen mit dem Normalfall einer freiheitlichen Gesellschaft zu tun, in der die verantwortlichen Amtsinhaber von der Zustimmung der . Herrschaftsunterworfenen'abhängen und Politik folglich nicht einfach nach ab-

I.

strakten Rationalitätskriterien bzw. (vermeintlichen) sachlogischen Imperativen betreiben können, sondern nur in einem weit komplizierteren Geflecht von Überzeugungen, Interessen-und Machtpositionen, die es — je nach Sachlage — zu verändern, zu gewinnen oder zu überwinden gilt. Das bekannte Diktum von Max Weber, Politik sei dem Bohren von dikken Brettern zu vergleichen, findet hier seine Bestätigung. Nur der autoritäre Glaube an die allein seligmachende Problemlösungsfähigkeit einer Politik im Gewände der Technokratie sowie die in diktatorische Herrschaftspraxis umschlagende Gewißheit über den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung sind Positionen, von deren Warte aus jener ganz anders geartete Charakter freiheitlicher Politik fragwürdig und dysfunktional sein muß.

Im Falle der Bundesrepublik wird der unvoreingenommene Beobachter statt dessen feststellen können, daß die Masse der staatlichen Entscheidungen ganz unspektakulär im Zusammenwirken zwischen den entscheidungsbefugten Stellen und den betroffenen Verbänden zustande kommt, was letztlich ihre sachliche Richtigkeit und nicht zuletzt ihre Durchführbarkeit begründet. Kooperation und Konfrontation zwischen dem datensetzenden Staat und den um Abhilfe, Korrektur von Mißständen, Sonderregelungen etc. nachsuchenden gesellschaftlichen Gruppen sind eben legitime und je nach Problemlage sich abwechselnde Interaktionsweisen und Formen der politischen Gestaltung. Nur in der Perspektive einer rechten Pluralismuskritik mit ihrem an überholten Vorstellungen von staatlicher Souveränität geprägten Unbehagen an der Gruppengesellschaft sowie der linken Pluralismus-kritik mit ihrem theoretisch wie empirisch ungesicherten Maßstab einer als homogen gedachten, herrschaftsfreien Gesellschaft, in der es keine Unterschiede zwischen mächtigeren und weniger mächtigen Gruppen gibt, muß dieser Normalzustand als Mißstand erscheinen. Mit diesen Bemerkungen sollen nun keineswegs alle korrekturbedürftigen Fehlentwicklungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik verdeckt oder einfach achselzuckend hingenommen werden. Ganz im Gegenteil: Hilfreich sind aber nur solche Überlegungen, die sich an empirischen Sachverhalten und an den Prämissen unserer Verfassungsordnung orientieren, anstatt tradierte und in der deutschen politischen Kultur offensichtlich tief verankerte Vorurteile im modischen Gewand gängiger Systemkritik wieder aufleben zu lassen. Eine realistische Defizitanalyse des Verbändesystems in der Bundesrepublik, die mehr sein soll als literarische Fiktion, müßte sich schon in die „Niederungen" der empirischen Beschäftigung mit den Dingen begeben, wenn sie über die Bestätigung bloß vorgefaßter Meinungen hinaus will.

Hilfreich war in diesem Sinne zweifellos die in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten in Gang gebrachte Diskussion über die nicht konfliktfähigen und nicht organisationsfähigen Interessen unserer Gesellschaft, die — im organisierten Pluralismus ohne schlagkräftige und artikulationsfähige Organisationen — allzu leicht an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Güterzuteilung geraten. Dazu gehören ebenfalls die Überlegungen, wie das Verhältnis der Verbandsführungen zu ihren Mitgliedern einzuschätzen und gegebenenfalls im Sinne der stärkeren Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder zu ändern ist. Diese und andere Probleme sind es wert, weiter durchdacht und im Blickfeld der wissenschaftlichen und allgemeinen Öffentlichkeit gehalten zu werden. Hier kann darauf nicht eingegangen werden. Wir wollen uns statt dessen im folgenden mit einer Frage beschäftigen, die in jüngster Zeit die Verbändediskussion in der Bundesrepublik bestimmt — der Frage nämlich, ob die staatlichen Einrichtungen in unserem Lande überhaupt noch in der Lage sind, angesichts des organisierten Pluralismus eigenverantwortliche Politik zu betreiben und die Interessen der Allgemeinheit durchzusetzen. Es geht um das, was auch die „innere Souveränität" des Staates genannt wird, von der nicht wenige Beobachter behaupten, sie werde durch die Kooperation von Staat und Verbänden (insbesondere Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften) in Frage gestellt.

III.

Von der fortschreitenden Unregierbarkeit entwickelter Industriegesellschaften ist häufig die Rede, von „Gegenregierungen", „Nebenregierungen" in der Gestalt machtvoller Verbände im Wirtschafts-und Arbeitsbereich, von einem Rückfall in eine quasi-ständestaatliche Aufsplitterung des doch eigentlich im Staat konzentrierten Herrschaftsmonopols, von der gefährlichen Verschwägerung der Großorganisationen (Korporationen) mit der Staatsmacht. Es bleibe einmal dahingestellt, welche dieser Hypothesen für andere westliche Industrieländer Gültigkeit beanspruchen können. Auf die Bundesrepublik bezogen — und nur von diesem Land ist hier die Rede — ist auf jeden Fall festzustellen, daß solche und ähnliche Diagnosen eher geeignet sind, Verwirrung zu stiften, weil sie von verfassungspolitisch falschen Voraussetzungen ausgehen und durchaus richtige Beobachtungen mit falschen Schlußfolgerungen versehen.

In diesem Zusammenhang ist zweierlei zu beachten: Einmal ist die vom Grundgesetz normierte freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie, die einen grundrechtlich verbürgten Mitwirkungsanspruch der Bürger und ihrer Zu-B sammenschlüsse an der Staatswillensbildung zur Voraussetzung hat, notwendigerweise ein Verbändestaat. Diese Zusammenschlüsse ermöglichen erst den dauerhaften Kommunikationsprozeß zwischen Staat und Bürger, der für eine lebendige Demokratie unabdingbar ist. Dieser wechselseitige Vorgang, durch den staatliche Maßnahmen an individuelle Lebens-und Interessenlagen gebunden werden und der zugleich die Voraussetzungen für deren Durchsetzbarkeit schafft, ist ein wichtiger Aspekt der Legitimation von Herrschaft — insbesondere unter den Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft, in der der Staat regelnd in nahezu alle Lebensbereiche eingreift.

Der zweite Punkt, den es zu beachten gilt, ergibt sich aus dem eben genannten Tatbestand: Die Demokratie der Bundesrepublik wurde von den Verfassungsvätern zugleich als Sozialstaat konzipiert. Dies bedeutet, daß dem Staat in umfassender Weise Aufgaben der Daseinsvorsorge zufallen. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen sich der Staat im wesentlichen auf die Sicherung der Rechts-und Eigentumsordnung sowie der äußeren Sicherheit der Bürger beschränkte, Wirtschaft und Gesellschaft weitgehend aber sich selbst überließ. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert griff in Deutschland der Staat im Zuge der raschen Industrialisierung durch den Bau von Eisenbahnen, Schiffahrtsstraßen, durch eine differenzierte Zollgesetzgebung und durch sozialpolitische Maßnahmen in das wirtschaftliche Geschehen ein. Die Zerstörungen und gesellschaftlichen Umbrüche im Gefolge des Ersten und noch mehr des Zweiten Weltkrieges führten schließlich zu einem gewaltigen Anwachsen der staatlichen Aufgaben. Waren die staatlichen Stellen nach 1945 zunächst vollauf mit der Verwaltung des Mangels und der Not, der Beseitigung der Trümmer und der Wiederankurbelung der wirtschaftlichen Produktion befaßt, so oblag ihnen alsbald die Stimulierung und Förderung des Wiederaufbaus in allen Bereichen; vom Wohnungsbau bis zur Eingliederung von zwölf Millionen Flüchtlingen, von der Kriegsopferversorgung über den Lastenausgleich bis zum Außenhandel erstreckten sich die Aktivitäten des Staates, die neben seine klassischen Funktionen traten.

Die Bewältigung der Kriegsfolgen, die Sozialpflichtigkeit als Verfassungsprinzip und die daraus abgeleitete Erkenntnis, daß die Marktkräfte zur Verhinderung unerwünschter Folgen (Monopolbildung, Inflation, Arbeitslosigkeit, konjunkturelle Überhitzung und Einbrüche, Umweltprobleme) staatlicher Eingriffe bedürfen, die sich in einer Unzahl von Gesetzen, Verordnungen, Novellierungen und Planungsdaten niederschlagen, haben sich stimulierend auf die Bildung und die Aktivitäten von Verbänden ausgewirkt. Diese Entwicklung, die die Bundesrepublik in den letzten 30 Jahren genommen hat und in deren Gefolge der Staat zu einer gewaltigen Organisation zur Umverteilung des erwirtschafteten Bruttosozialproduktes (BSP) geworden ist (heute werden rund 48 Prozent des BSP von den Öffentlichen Händen einschließlich der Sozialversicherungsträger ausgegeben), ist kein Sonderfall, sondern fügt sich in das Bild, das alle westlichen Industriestaaten bieten.

IV.

Die hier nur grob skizzierte Entwicklung des Staates zum umfassenden Leistungsträger ist die primäre Ursache für die Existenz und die Aktivitäten jener großen Zahl von Interessengruppen, die den politischen Entscheidungsprozeß unserer Demokratie so nachhaltig beeinflussen. Je umfassender der Staat ordnend, regelnd, steuernd, Leistungen erbringend, fördernd, stützend und ausgleichend in Wirtschaft und Gesellschaft eingreift, um so mehr Gruppen melden sich zu Wort, formulieren ihre Bedürfnisse und Belange, versuchen sich ihre Anteile am Sozialprodukt zu sichern. Aus ihren Forderungen, die in der politischen Arena gegenüber den wahlabhängigen Politikern geltend gemacht werden, erwachsen nicht selten neue staatliche Aufgaben.

Auf der anderen Seite — dies wird allzu häufig übersehen — wäre der Staat (konkret: die Parlamente, die Politiker, die Verwaltung) völlig überfordert, wollte er ohne die durch die einschlägigen Verbände vermittelten Informationen gesetzgeberisch tätig werden. Ein Blick in das Bundesgesetzblatt für eine einzige Legislaturperiode genügt, um diesen Zusammenhang zu erkennen. Die Technizität der zu regelnden Materien, die vom grünen Tisch in den Parlamentsausschüssen und Ministerien aus nur selten erkennbaren Besonderheiten der Lebensumstände bestimmter Bevölke-rungskreise, Produktionsbedingungen etc. sowie die nur schwer abschätzbaren Folgen gesetzgeberischer Eingriffe und die besonderen Probleme ihres Vollzugs erfordern geradezu die kontinuierliche Fühlungnahme, Aussprache und Zusammenarbeit von Politik, Verwaltung und Verbänden. Nicht alle die in der Bundesrepublik schätzungsweise aktiven 5 000 Verbände sind ständig in diesen Kommunikationsprozeß einbezogen, wohl aber immer dann, wenn es um ihre spezifischen Interessen geht, und das gilt zweifellos für die knapp 1000 Verbände, die sich gegenwärtig bereits in die beim Deutschen Bundestag eingerichtete Liste („Lobby-Liste“) eingetragen haben und im Bonn-Kölner Raum eigene Vertretungen besitzen.

Auch die zahlenmäßig noch schwerer zu erfassende „Bürgerinitiativbewegung" im Bereich des Umweltschutzes, aus deren Reihen sehr häufig grundsätzliche Kritik an die Adresse der „etablierten" Parteien und ihrer Repräsentanten in den Parlamenten und Regierungen gerichtet wird, haben sich diesem „Gesetz" der Verbandsbildung durch Staatsintervention nicht entzogen, sondern einen eigenen Bundesverband gegründet und bedienen sich der gegebenen Möglichkeiten, um auf die Regierungen in Bonn und in den Landeshauptstädten Einfluß zu nehmen. Wir können also sagen, daß die Verbände — so unterschiedlich sie im einzelnen auch hinsichtlich der von ihnen jeweils vertretenen Interessen, ihrer Mitgliederzahl, Finanzkraft und Durchsetzungsfähigkeit sein mögen — zur bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit gehören wie die Finanzämter, Parteien oder Polizeidienststellen. Nun provoziert natürlich die erwähnte wechselseitige Abhängigkeit von Staat und Verbänden — ihr Aufeinanderangewiesensein zur Steigerung der Effektivität staatlichen Handelns bzw. zur Geltendmachung partikularer Interessen — die Frage, ob unter diesen Bedingungen der Staat, d. h. die amtierende Regierung, überhaupt noch über genügend Handlungsmöglichkeiten verfügt, um gegebenenfalls auch gegen die eine oder andere Gruppe oder gar mehrere zusammen durchzusetzen, was gerade nicht populär ist, was mit Einkommenseinbußen oder Gewinn-rückgängen verbunden wäre, um nur zwei Beispiele zu nennen. Wie steht es also mit den Entscheidungsspielräumen des demokratischen Staates in einer pluralistischen Gesellschaft, die ja zur Durchsetzung von allgemeinen Interessen gegenüber Sonderinteressen, zur Geltendmachung zukünftiger Ziele (z. B. Energiesicherung) gegenüber kurzfristigen Zielen dienen sollen?

Theoretisch verfügt jede gewählte Regierung über diese Handlungsspielräume, da sie sich auf die generalisierte Zustimmung einer Wählermehrheit stützen kann. Skeptiker weisen jedoch sofort darauf hin, daß viele Verbände im Bundestag über einzelne Abgeordnete vertreten sind — insbesondere die großen Berufs-, Wirtschafts-, Arbeitnehmer-und Sozial-verbände —, daß die Verbandsaffinität vieler Abgeordneter, die einseitige Verbandsfärbung bestimmter Ausschüsse (z. B. Agrarausschuß, Sozialausschuß, Wirtschaftsausschuß) und schließlich ihre aus jahrelanger Kooperation mit den einschlägigen Ministerien erwachsenen guten Beziehungen die theoretisch vorhandenen Entscheidungsspielräume der Politik in der Praxis stark einschränken.

Hier empfiehlt sich eine Unterscheidung zwischen zwei Gattungen von Verbänden, die diesen Befund zu differenzieren in der Lage ist. Gemeint sind die „normalen" Verbände wie der Bauernverband, die Vertriebenenverbände, Geschädigtenverbände, Sportverbände, kirchliche oder sonstige wertorientierte Organisationen, die ihre Belange verfechten können, ohne jedoch autonome Entscheidungsmöglichkeiten zu besitzen. Demgegenüber setzen die Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände im Rahmen der ihnen verfassungsmäßig garantierten Tarifautonomie durch die Lohnabschlüsse mit ihren umfassenden Auswirkungen auf Preise, Geldwert, Beschäftigung, internationale Konkurrenzfähigkeit Daten, die den wirtschaftspolitischen Zielen der amtierenden Regierung zuwiderlaufen können.

Die vom Grundgesetz gewollte Autonomie der Tarifvertragsparteien grenzt damit bewußt den Handlungsspielraum des Staates im Bereich der Wirtschaftspolitik und mittelbar auch das große Feld der sozialen Sicherung ein. Ohne ein Mindestmaß an Zustimmung dieser Verbände kann keine Regierung ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen verwirklichen. Die „Konzertierte Aktion“, die der frühere Wirtschaftsminister Schiller auf der Grundlage des Stabilitätsgesetzes von 1967 ins Leben rief, um die am Wirtschaftsgeschehen beteiligten Gruppen zu einem aufeinander abgestimmten und an dem vom Wirtschaftsminister prognostizierten wirtschaftlichen Daten-kranz orientierten Verhalten zu bewegen, bringt deutlich genug zum Ausdruck, daß der Staat auf diesem Felde eben keine freie Handlungsvollmacht besitzt, nicht weil die genannten Verbände ihre Macht mißbrauchen, sondern weil es das Grundgesetz so will. So war die „Konzertierte Aktion" (bis sie 1977 vom DGB wegen der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeberverbände vor dem Bundesverfassungsgericht aufgekündigt wurde) ein Einflußinstrument der Regierung zur Absicherung des eigenen wirtschaftspolitischen Handlungsspielraumes, das jedoch — und hier kehrt sich das Beziehungsverhältnis zwischen Verbänden und Staat um — vom guten Willen, von der Kompromißbereitschaft und der verbandsinternen Durchsetzungsfähigkeit der Teilnehmer an der „Konzertierten Aktion“ abhing. Ob in dieser oder in anderen Formen sich vollziehend — eine Neubelebung dieser „Gesprächsrunde" im kleineren Kreis ist Anfang 1980 erfolgt —, der „Überredungsdirigismus" (von Beyme), den die verantwortlichen Politiker gegenüber den genannten Wirtschaftsverbänden praktizieren, zeigt die Begrenzung der staatlichen Steuerungsfähigkeit.

Wer darin jedoch eine Schwäche des demokratischen Staates erblickt, übersieht, daß die Tarifautonomie sicherstellt, daß nicht jeder Streik und nicht jede Lohnauseinandersetzung zur Staatskrise führt. Die hochgradige Verrechtlichung der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik (ganz im Gegensatz zu England) hat außerdem bislang immer noch dem Mißbrauch der Tarifautonomie einen Rie-gel vorgeschoben. Nicht zuletzt hat die Loyalität der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu diesem Staat mäßigend auf ihre Auseinandersetzungen gewirkt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die unternehmerische Investitionsfreiheit sowie die Freiheit der Verbraucher, zu kaufen, was sie wollen, wann sie wollen und ihr Geld nach eigenen Präferenzen auszugeben. Auch hier stößt die staatliche Wirtschaftspolitik an Bereiche der autonomen Entscheidung von einzelnen Bürgern und ganzer Gruppen, die allenfalls durch allgemeine Rahmenbedingungen („günstiges Investitionsklima", Steuererleichterungen, Subventionen etc.) beeinflußt, jedoch nicht gesteuert werden können und im Sinne unserer Verfassungsordnung auch nicht gesteuert werden sollen. Der bekannte Tatbestand, daß der Staat zwar für Wirtschaftswachstum, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und positive Außenhandelsbilanz sorgen soll und die wahlabhängigen Politiker auch dafür verantwortlich gemacht werden, ohne daß der Staat jedoch über ein Gesamtinstrumentarium zur Feinsteuerung eben dieser ökonomischen Prozesse und Einzelentscheidungen verfügt, provoziert geradezu die kontinuierliche Beratung zwischen den genannten Gruppen und der Exekutive.

Auch für die erstgenannten „normalen" Verbände, die auf der Grundlage von Art. 9 GG in der politischen Arena auftreten, ohne jedoch autonome Entscheidungsmöglichkeiten mit gesetzgeberischer Wirkung zu besitzen, läßt sich eine Fülle von Formen und Einrichtungen nachweisen, die auf einen ständigen Gedankenaustausch, auf Beratung und Zusammenarbeit mit dem Staat hinzielen, insbesondere im Bereich der Verwaltung. Auch hier zeigt sich in den letzten Jahren eine Tendenz zur Quasi-Verrechtlichung dieser Beziehungen.

Als jüngstes Beispiel sei nur auf die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" hingewiesen — einem Gesprächskreis von Vertretern der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) und Vertretern der Ärzteverbände, der Apothekerverbände, der Verbände der pharmazeutischen Industrie und der Krankenversicherungen, die sich auf der Grundlage des Kostendämpfungsgesetzes (1977) zweimal im Jahr auf Einladung des Bundesarbeitsministers zur Beratung der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zusammenfinden. Das Stichwort lautet auch hier .. Beratung", nicht „Entscheidung", doch wird man nicht übersehen können, daß der in den letzten Jahren gewachsene Problemdruck im Gesundheitswesen (Kostenexplosion) zu einer neuen, möglicherweise effektiveren Form der Zusammenarbeitvon Staat und Verbänden geführt hat. Daß dadurch allerdings den beteiligten Politikern die Hände gebunden seien, ist ein Ammenmärchen. Diese Art des beratenden und informierenden Zusammenwirkens zwischen Interessenten und staatlichen Repräsentanten hat eher zur Folge, daß erstere in eine Gesamtverantwortung einbezogen werden, der sie sich so einfach nicht entziehen können. Wie weit die Politiker auf die Vorstellungen dieser Gruppen eingehen, hängt von deren Einfluß auf das Wahlverhalten großer Wählermassen, ihrem spezifischen Störpotential, ihrer Fähigkeit zur Mitgliedermobilisierung, ihrer finanziellen Ausstattung, ihres Angebots von Sachverstand und Expertenwissen ab, um nur einige der wichtigen Faktoren zu nennen.

Ob diese zugunsten der einzelnen Verbände ins Spiel gebracht und wie sie neutralisiert werden können, hängt jedoch auch vom Amts-verständnis der Politiker in den Parteien, Parlamenten, Regierungen, von ihrer Einschätzung der öffentlichen Meinung und der Wählerreaktion, nicht zuletzt auch von ihrem eigenen Sachverstand ab. Da politische Entscheidungen immer unter Ungewißheit getroffen werden müssen, können besonders jene Verbände Einfluß ausüben, welche den Amtsinhabern im Staat verläßlich genug erscheinen, so daß sich aus der Zusammenarbeit mit ihnen das Maß der Ungewißheit und das heißt letztlich das Haftungsrisiko einer Fehlentscheidung gegenüber dem Wähler verringern läßt.

Alle diese Gesichtspunkte haben etwas mit der Zustimmungsbedürftigkeit von Politik im demokratischen Staat zu tun, in dem die Politiker und andere Amtsinhaber eben nicht schalten und walten können (und sollen), wie sie allein es für richtig halten, sondern wo immer erneut zu überprüfen ist, ob die Bürger sich den Argumenten der Politik auch anzuschließen gedenken oder ob dies nicht der Fall ist. Die Verbände sind zum einen besonders wirksame Frühwarnsysteme für die Politik, zum anderen aber auch Interpreten des Staates gegenüber ihren Mitgliedern. Wer als Politiker mit diesem Instrumentarium nicht umzugehen versteht, wird nicht reüssieren. Auf jeden Fall sind die hier geschilderten Strukturbedingungen des Verbändestaates in der Bundesrepublik freiheitsverbürgende Sicherungen gegen Omnikompetenzansprüche des Staates wie auch gegen die Sprachlosigkeit des Bürgers und den Egoismus einzelner Gruppen. Niemand wird darauf verzichten wollen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jürgen Weber, Dr. phil., geb. 1944; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Romanistik an den Universitäten Mainz und Straßburg; Dozent an der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Veröffentlichungen u. a.: Der Europarat und Osteuropa, Bonn 1972; Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, München 19802: Konflikt und Integration I—IV (= Akademiebeiträge zur Lehrerbildung, Bd. 1— 4), München 1975 — 1980 (Hrsg.); Die Zukunft der europäischen Integration (= Akademiebeiträge zur Lehrerbildung, Bd. 8), München 1978 (Hrsg.); Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3 Bde., München und Paderborn 1978 ff. (Hrsg.).