Wirtschaftspolitik in der Tschechoslowakei Konflikt zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen und machtpolitischen Interessen
Ji Kosta
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Zusammenfassung
In der Tschechoslowakei wurde nach einer kurzen Nachkriegsphase 1949 das zentral-administrative ökonomische System sowjetischen Typs übernommen. Diese Wirtschaftsordnung war durch eine vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie zu Lasten der Konsumgüterbereiche und der Infrastruktur sowie durch eine straffe zentralistische Planung und Leitung der Volkswirtschaft gekennzeichnet. Die Konsequenz der Übernahme des für ein industriell entwickeltes Land völlig unangemessenen sowjetischen Modells war eine zu Beginn der sechziger Jahre um sich greifende Wirtschaftskrise, der man durch die Einführung einer dezentral konzipierten Wirtschaftsreform Herr zu werden bemüht war. Die im Prager Frühling von 1968 in Gang gesetzte Demokratisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen fand ihren Ausdruck auch in einer erweiterten Konzeption des sozialökonomischen Systems, das durch eine Verknüpfung von volkswirtschaftlicher Rahmenplanung, markt-ähnlichen Steuerungsformen und Partizipation der Betriebsangehörigen an Entscheidungen zu charakterisieren ist. Nach der Niederschlagung der Reformbewegung durch die gewaltsame Intervention von außen (August 1968) wurden zwar die entscheidenden Reformelemente zurückgenommen; der wirtschaftspolitische Kurs nach 1970 hielt jedoch an einer stärkeren Nutzung monetärer Effizienskriterien fest, als dies vor der Reform der Fall war. Während in der ersten Hälfte der siebziger Jahre trotz immer wieder auftauchender Verschwendungserscheinungen und Reibungsverluste immerhin noch ansehnliche Wachstumsraten erzielt werden konnten, spitzten sich in der SSR die wirtschaftlichen Probleme im vergangenen Jahrfünft erheblich zu. Eine Verflachung des Wachstumstrends führte bei der gegebenen ungünstigen Wirtschaftsstruktur — einem Zurückbleiben der Dienstleistungs-und der Konsumgüterbranchen — zu erheblichen Versorgungslücken, ja zu einer völligen Stagnation des Lebensstandards. Nur halbherzige Reformansätze zu Beginn dieses Jahres deuten darauf hin, daß die aus wirtschaftlichen Gründen notwendige Abkehr von den zentral-direktiven Planungsformen infolge machtpolitischer Interessen der Funktionärsbürokratie vorerst auf Schranken stößt
I. Einleitung
Für die Beantwortung der Frage, ob es zu dem System der zentral-administrativen Wirtschaftsplanung sowjetischer Prägung eine Alternative gibt, welche die sozialistischen Grundprinzipien nicht sprengt, ist das tschechoslowakische Beispiel von besonderem Interesse. Denn gerade in diesem Land — insbesondere in seinem westlichen Teil (BöhmenMähren) — bestanden nach dem Zweiten Weltkrieg im Unterschied zu den übrigen osteuropäischen Gesellschaften besonders günstige Bedingungen für eine sozialistische Entwicklung, wie sie von den Theoretikern der Arbeiterbewegung prognostiziert worden war: ein hoher industrieller Reifegrad und das Vorhandensein bürgerlicher Verkehrsformen, folglich auch die Existenz jener sozialen Kraft, die Träger der Systemveränderung werden sollte, nämlich einer zahlenmäßig starken, politisch bewußten und gut organisierten Arbeiterschaft. Hinzu kamen folgende weitere spezifischen historischen Bedingungen Die von der kommunistischen Partei (KP) eingeleitete Transformationsstrategie konnte anfangs mit der Unterstützung weiter Bevölkerungskreise rechnen, so etwa einflußreicher Vertreter der Intelligenz, ferner derjenigen Umsiedler, die in die Grenzgebiete zogen, und schließlich vieler ehemaliger Landarbeiter und Kleinbauern, denen konfiszierter Boden von Großgrundbesitzern zugeteilt wurde. Forderungen einer „Demokratisierung", „Nationalisierung" und „planmäßigen Lenkung" fanden auch insofern Sympathien bei breiten Teilen der Bevölkerung, als Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise, die negative Rolle der kapitalistischen Westmächte gegenüber der Tschecho-Slowakei zum Ende der 30er Jahre und die aktive Rolle der KP im Kampf gegen den Hitler-Faschismus den alternativen Wegeiner sozialistischen Planwirtschaft wünschenswert erscheinen ließen.
Die Kommunisten nutzten den so entstandenen Vertrauensvorschuß, der durch ihre Linie eines „eigenständigen Weges zum Sozialismus" in der Periode von 1945 bis Anfang 1948 bestärkt wurde. Dieser autonome, den spezifischen tschechoslowakischen Bedingungen entsprechende Kurs wurde jedoch schon drei Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges von der nunmehr allein bestimmenden KPÖ aufgegeben.
Ohne auf die außen-und innenpolitischen Faktoren eingehen zu können, welche seit der zweiten Hälfte des Jahres 1947 eine radikale Abkehr von der eigenen Umgestaltung der alten Gesellschaftsordnung zugunsten einer kritiklosen Übernahme des sowjetischen Modells bedingten, sei hier festgestellt Im Zuge des ersten Fünfjahresplans (1949— 1953) wurde sowohl die extensive Industrialisierungsstrategie der Sowjetunion als auch deren zentralistisches Planungsmodell lückenlos von der politischen Führung des Landes akzeptiert. Dies bedeutete: Vorrang der Schwerindustrie als Kern eines forcierten Wachstums der tschechoslowakischen Volkswirtschaft und als industrielle Basis der übrigen Ostblockländer; Enteignung der Produktions-und Dienstleistungsbetriebe bis zum letzten Friseurladen und deren Ersetzung durch Staatsbetriebe und (besonders in der Landwirtschaft) durch Genossenschaften; Einführung zentralistisch-befehlsartiger Lenkungsformen, die primär an naturalwirtschaftlichen Mengenkennziffern (Stückzahl, Kilogramm) orientiert sind und monetäre Rechengrößen (Preise, Löhne, Kosten) lediglich ergänzend anwenden; Aufbau vertikal-hierarchischer Entscheidungsinstanzen, die auf das Prinzip der autoritären Einzelleitung gestützt sind.
Das Aufpfropfen dieses Planwirtschaftsmodells auf die sozialökonomischen Strukturen der ÖSSR erwies sich nach einiger Zeit als fatal. Zwar konnten in den 50er Jahren ungeachtet volkswirtschaftlicher Verschwendungserscheinungen und Versorgungslücken gewisse Wachstumserfolge verbucht werden Dies war auf die Nutzung extensiver Ressourcen wie überschüssiger Arbeitskräfte und nicht erschlossener Rohstoffe zurückzuführen (wenngleich auch hier die Reserven weit geringer waren als in den meisten osteuropäischen Ländern). Den anfänglichen Aufschwung begünstigten weitere Faktoren der Nachkriegs-periode, wie der allgemeine Nachholbedarf, ein besonderes Engagement vieler Bürger in Erwartung der Aufbauperspektiven, die Nutzung des konfiszierten Vermögens u. a. m.
Nach Ausschöpfung all dieser Wachstumsressourcen verschlechterten sich jedoch die Bedingungen grundlegend und führten nach 1960 zu einem Eklat In dieser Zeit ordnete die Staatsführung nach vorübergehender Lokkerung des Planungssystems eine Rezentralisierung an, die mit der Aufstellung überzogener Planziele für den bevorstehenden dritten Fünfjahrplan (1961— 1965) einherging. Die Konsequenz war ein völliger Zusammenbruch der Planung, der in gravierenden Engpässen im Produktions-und Konsumgüterbereich, in einer Stagnation der Wachstumsraten und insbesondere des Lebensstandards seinen Ausdruck fand. Im Jahre 1963 schrumpfte das Nationalprodukt (nach östlicher Definition ohne „nichtproduktive" Dienstleistungen) um mehr als 2 %, die Versorgungslücken vergrößerten sich, die Krise war offenkundig.
Angesichts der sich rapide verschlechternden Lage in der tschechoslowakischen Volkswirtschaft fanden die Stimmen von Wirtschaftswissenschaftlern, die bereits zum Ende der fünfziger Jahre das zentralistische Planungssystem scharf kritisiert hatten, in zunehmendem Maße Resonanz Sie waren es gewesen, die nach den ersten Schwierigkeiten der Jahre 1960/61 vor einer Rücknahme der von ihnen als halbherzig eingeschätzten Reformansätze von 1957/58 gewarnt hatten. Diese konsequenten Kritiker der „zentral-direktiven Planung und Leitung" interpretierten die sich abzeichnenden Reibungsverluste und Engpässe primär als Produkte des alten Systems, während die Parteispitze zunächst die entgegengesetzte Argumentation vertrat, die da lautete: „Solange wir am Planzentralismus festhielten, erzielten wir hohe Wachstumsraten, erst mit der Lockerung zentral-direktiver Planungsformen begann die Misere."
Die Argumentation der Reformökonomen ging von einer theoretischen Analyse der Wirkungsweise des „direktiven" — d. h. befehlsartigen — Planungssystem aus Der hohe Zentralisierungsgrad der wirtschaftlichen Entscheidungen sei zum einen im Hinblick auf die Komplexität der Informationen nicht zu bewältigen. Mit wachsender Zahl und Variabilität der ökonomischen Prozesse nehme die Quantität und die Veränderungsrate der Informationsströme zwangsläufig zu. Die Bewältigung der Informationsprobleme erfordere mithin dezentrale Entscheidungsstrukturen. Zum anderen führe die Logik der verbindlichen Planungsauflagen, die der Betrieb von den übergeordneten Planungsinstanzen erhält, bei gegebener Ressourcen-und Güter-knappheit zu wachsenden Interessendivergenzen zwischen den zentralen Planorganen und den Produktionseinheiten: Die Unternehmensleitung sei an einem möglichst niedrigen Produktionssoll und an möglichst hohen Zuteilungen von Arbeitskräften, Material und Investitionsmitteln interessiert, mit anderen Worten: an „weichen Plänen". Da nun die übergeordneten Planungsinstanzen auf die Informationen der Betriebe angewiesen sind und deren Realitätsgehalt im Detail nicht überprüfen können, müssen sie eventuelle Fehlinformationen in Kauf nehmen. Die Betriebe können auf diese Weise niedrigere Produktionsauflagen und höhere Arbeits-bzw. Kapitalzuteilungen erreichen, wodurch Effizienzverluste im System eingebaut sind. Sowohl das Problem der Informationsbewältigung als auch das der Austragung von Interessenwidersprüchen sei, so die Argumente der Reformer, viel eher durch regulierte Marktbeziehungen zu lösen als durch zentral-administrative Planung. Die gravierende Zuspitzung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die nach der angeordneten Dezentralisierung zutage trat, gab den Kritikern recht. Die Parteiführung suchte notgedrungen nach neuen Lösungen. Angesichts der um sich greifenden Wirtschaftskrise entschied sie sich schließlich, die Gruppe der kritischen Ökonomen unter der Leitung von Ota ik mit der Erarbeitung eines Reformkonzepts des Planungssystems zu betrauen. So entstand — freilich nicht ohne interne Diskussionen und oft schwierige Auseinandersetzungen mit der politischen Führung des Landes — allmäh-lieh der Entwurf des „Neuen Systems der planmäßigen Lenkung", das im Januar 1965 vom ZK der KPC gebilligt wurde und ab 1966 Schritt für Schritt eingeführt werden sollte Die Grundzüge des Reformmodells von 1965 können stichwortartig so umrissen werden 1. Ersetzung des bisher zentral festgelegten, detaillierten und verbindlichen Volkswirtschaftsplanes durch einen indikativen Rahmenplan, der die großen Entwicklungslinien der Volkswirtschaft aufzeigt;
2. Festlegung eines Gefüges wirtschaftspolitischer Instrumente und Regeln (Preis-, Investitions-, Einkommens-, Steuer-, Kredit-und Devisenpolitik etc.) anstelle der traditionellen vollzugsverbindlichen Kennziffern und Direktiven (die nur vorübergehend bzw. in Ausnahmebereichen beibehalten werden sollten);
3. im Zusammenhang mit Punkt 2 das Wirksamwerden eingebauter Marktbeziehungen (horizontale Direktkontakte zwischen Zuliefer- und Abnehmerbetrieben, ein Teilbereich frei auszuhandelnder Preise, Orientierung an der Rentabilität etc.).
Die sukzessive Einführung dieser Reformelemente in den Jahren 1966 und 1967 stieß zunehmend auf Barrieren politisch-institutioneller Art, so etwa in der Gestalt von Eingriffen des Parteiapparates in das Wirtschaftsgeschehen, auf dem Gebiet der Kaderauswahl in den Betrieben, im Bereich der Mitbestimmungsrechte, die von den Betriebsangehörigen als unzureichend empfunden wurden. Der allgemeine Demokratisierungsprozeß in der tschechoslowakischen Gesellschaft, der im Prager Frühling von 1968 seinen Höhepunkt erreichte, schuf die notwendigen Voraussetzungen für die Überwindung der politischen Schranken, die eine konsequente Durchsetzung der Wirtschaftsreform und damit auch eine Verstetigung des in Gang gekommenen wirtschaftlichen Genesungsprozesses behinderten. Das markanteste Phänomen war die im Sommer 1968 eingeleitete Errichtung von Werktätigenräten in den Betrieben. Das „dezentral-technokratische Reformmodell" schlug in ein „dezentral-partizipatorisches Modell" eines sozialistischen Wirtschaftssystems um.
Der bereits 1965 einsetzende Aufschwung, der bis 1968 andauerte, deutete an, daß der eingeschlagene Reformweg erfolgreich angetreten worden war. Die Bemühungen um eine Weiterführung der Wirtschaftsreform, deren Einzelelemente häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen waren, und die günstigen Entwicklungstendenzen in der tschechoslowakischen Volkswirtschaft fanden mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen vom August 1968 und den politischen Folgeereignissen im Lande ein gewaltsames Ende. Die Ursachen und Begleitumstände des tragischen Endes der Prager Reformbewegung sollen hier nicht erörtert werden Vielmehr wird an dieser Stelle zunächst der Frage nachgegangen, in welcher Richtung sich die Wirtschaftspolitik der 70er Jahre bewegte und wie das daraus resultierende Wirtschaftssystem gekennzeichnet werden kann.
II. Das Wirtschaftssystem der siebziger Jahre
Abbildung 2
Indikatoren der tschechoslowakischen Wirtschaftsentwicklung 1971-1979 Tabelle 2 Nationalprodukt A B Industrieproduktion A B Agrarproduktion A B Lebensstandard C D jährliche Wachstumsraten in Prozent 1971-75') 5, 7 3, 4 6, 1 3, 9 1, 5 2, 4 4, 8 3, 4 1976 4, 1 1, 5 5, 1 2, 7 -6, 7 -5, 0 2, 8 1, 9 1977 4, 2 4, 7 1, 6 4, 3 14, 1 13, 3 2, 8 1, 8 1978 4, 1 1, 4 4, 9 2, 1 -6, 2 -4, 7 3, 5 1, 4 1979 2, 6 0, 7 2, 5 -6, 0 1, 2 -6, 5 ) Jahresdurchschnitt; A: Tschechoslowakische Statistik (Nationalprodukt nur in produ摒Ç
Indikatoren der tschechoslowakischen Wirtschaftsentwicklung 1971-1979 Tabelle 2 Nationalprodukt A B Industrieproduktion A B Agrarproduktion A B Lebensstandard C D jährliche Wachstumsraten in Prozent 1971-75') 5, 7 3, 4 6, 1 3, 9 1, 5 2, 4 4, 8 3, 4 1976 4, 1 1, 5 5, 1 2, 7 -6, 7 -5, 0 2, 8 1, 9 1977 4, 2 4, 7 1, 6 4, 3 14, 1 13, 3 2, 8 1, 8 1978 4, 1 1, 4 4, 9 2, 1 -6, 2 -4, 7 3, 5 1, 4 1979 2, 6 0, 7 2, 5 -6, 0 1, 2 -6, 5 ) Jahresdurchschnitt; A: Tschechoslowakische Statistik (Nationalprodukt nur in produ摒Ç
Trotz zeitweiliger Änderungen deutet die Wirtschaftspolitik, die von der tschechoslowakischen Staatsführung im vergangenen Jahrzehnt anvisiert wurde, eine während des gesamten verflossenen Jahrzehnts unveränderte Stoßrichtung an. Sie bestand zum einen in einer der Planungs-und Lenkungsentscheidungen durch Rücknahme der meisten (nicht aller) Reformschritte, zum anderen in dem Bemühen um eine Vervollkommnung der alten Plankennziffern, die im Unterschied zum traditionellen System sowjetischen Typs nunmehr stärker Effizienzkriterien anstelle der Mengenauflagen genügen sollten
Die Abkehr von dem Reformmodell der 60er Jahre erfolgte schrittweise. Sie begann wegen der Produktionsausfälle nach der August-Invasion von 1968 und den darauf folgenden Panikeinkäufen der Bevölkerung mit restriktiven Maßnahmen, die unter den Bedingungen eines Preisstopps Lohnsteigerungen zu verhindern und Investitionsvorhaben einzuschränken hatten. Hand in Hand mit dieser wirtschaftspolitischen Roßkur wurde die be-triebliche Rätebewegung, die von den Sowjets als besonderer Dorn im Auge betrachtet wurde, nach und nach zurückgedrängt. Darüber hinaus wurde mit den beiden Fünfjahrplänen (1971— 1975; 1976— 1980) ein Wachstum des Investitionsvolumens angestrebt, das — wenn auch in stark abgeschwächter Form — an die frühere Vorrangstellung der Kapitalakkumulation vor den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung erinnerte. So betrug die geplante Wachstumsrate der Investitionen 6, 2 %, die des persönlichen Verbrauchs bzw.des Einzel-handelsumsatzes jedoch 5, 1— 5, 5 % für 1971— 1975 und für das folgende Jahrfünft (1976— 1980) 6, 4— 6, 7 % (Investitionen) und 4, 3— 4, 6 % (Einzelhandel) Wie noch zu zeigen sein wird, verlief die tatsächliche Entwicklung besonders in der zweiten Periode im Bereich des Konsums weit ungünstiger, als es das Plansoll angezeigt hatte.
Wie sind nun die einzelnen Bereiche der Wirtschaftspolitik zu kennzeichnen? Um dem Leser das wirtschaftspolitische Bild der 70er Jahre zu vervollständigen, sollen im weiteren die Leitungsstrukturen, die Planungsinstrumente, die Preisregelungen, die Lohnpolitik und weitere Anreizformen im einzelnen kurz skizziert werden.
Leitungsstrukturen Im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren erfuhr in der jüngeren Vergangenheit die mittlere Leitungsebene der „Produktionswirtschaftlichen Einheiten“, einer Art Branchen-vereinigungen, eine deutliche Stärkung — ein Trend, der sich in ähnlicher Weise in anderen osteuropäischen Ländern abzeichnet [z. B. in der DDR die „WB", die jüngst von den „Kombinaten“, einer Art staatlicher Großkonzerne, abgelöst wurden J. In der tschechoslowakischen Fachpresse wird — vermutlich im Einvernehmen mit der offiziellen Auffassung der Parteiführung — auf die Vorzüge des Organisationstyps „Konzern" hingewiesen, der eine vergleichsweise straffe Zentralisierung und Hierarchisierung innerhalb der Unternehmensvereinigung bedeutet. Vielleicht spielt hier immer noch die auf Lenin zurückgehende Euphorie für zentralistisch geführte Großbetriebe eine Rolle, die in der Sowjetunion seit eh und je vorhanden ist. Nicht ohne Belang ist schließlich, daß Betriebe, die einer konzernartigen Generaldirektion unterstellt sind, weit stärker reglementiert werden können, als dies bei den „entfernteren" Ministerien der Fall war.
Planungsinstrumente Die traditionelle Methode der Planungsbilanzen, in denen das Aufkommen (nach Produktionszweigen, Import) von Gütern mit deren Verteilung (nach Abnehmerbranchen, privatem Verbrauch, Export) auszugleichen ist, steht nach wie vor im Zentrum der Arbeiten an der Aufstellung der Jahres-und Fünfjahrpläne. Nachdem im Zuge der Planungsreform von 1965— 1968 die Zahl dieser Bilanzen und der von ihnen abgeleiteten betrieblichen Plan-auflagen und Kennziffern (in Natural-und Geldgrößen) stark reduziert worden war, erhöhte sich deren Anzahl im 5. Fünfjahrplan zunächst wiederum auf 380. Für den folgenden 6. Fünfjahrplan wurden 590 Erzeugnisbilanzen aufgestellt, wobei die Zahl der verbindlichen Lieferkennziffern um 10— 15 % angehoben wurde.
Die Erfüllung der vollzugsverbindlich festgelegten Kennziffern, die von den Bilanzen abgeleitet werden, soll durch eine verbesserte Handhabung der Lieferverträge zwischen Abnehmerbetrieben, die das entsprechende Plan-soll in ihren Beschaffungsplänen festgelegt haben, und den Zulieferbetrieben, die ihr Soll im Absatzplan verankert haben, gewährleistet werden. Derartige Verträge enthalten u. a. eine Sortiment-und Terminpräzisierung der im Plansoll festgelegten Gesamtmenge.
Die wichtigsten monetären Instrumente, die es nun zu behandeln gilt, sind a) die betrieblichen Finanzmittel (Gewinn, Abführungen, Steuern etc.), b) Preise und c) Löhne (einschließlich Gehälter).
Im Unterschied zum „Bruttoeinkommen" (Nettowertschöpfung), das in der Reformperiode in der Regel als Erfolgsmaßstab eingeführt wurde, soll nun der Gewinn die Funktion des betrieblichen Effizienzkriteriums übernehmen. Da jedoch — entsprechend dem zentral-administrativen Planungsmodell — die Produktionsmenge vorrangiges Planerfüllungsziel darstellt, kann die Gewinnorientierung erst in zweiter Linie auf die unternehmerische Entscheidung Einfluß nehmen. Positive Effekte des Gewinns sollen durch „Normative" gewährleistet werden, die eine Abzweigung erwirtschafteter Mittel für Prämien-und dezentrale Investitionszwecke implizieren. (Ein derartiges Lenkungsinstrument wurde bereits im Zuge einer früheren tschechoslowakischen Planungsreform vom Jahr 1958 vorübergehend eingeführt und entspricht auch ähnlichen Planungsformen der DDR. Im Unterschied zur radikaleren Reform Ungarns bleibt jedoch der Gewinn in der ÖSSR und der DDR vollzugsverbindliche Kennziffer
Die wichtigsten betrieblichen Abführungen bzw. Steuern sind in den 70er Jahren die „Gewinnabführung", die „Vermögensabführung" und ein „Beitrag zur Sozialversicherung". Die drei genannten Abführungen haben nicht nur eine Fiskalfunktion zu erfüllen; von ihnen wird darüber hinaus eine Lenkungswirkung erwartet, die zu rationellen Faktorallokationen beitragen soll. Die Sätze sind in Abstimmung mit den übrigen makro-ökonomischen Geldgrößen, insbesondere den Preisen, Löhnen und der Umsatzsteuer (die nicht einheitlich, sondern ähnlich wie vor der Reform in weiten Bereichen als Differenzsteuer berechnet wird), festgelegt Das Problem dieser Konstruktion einer betrieblichen Ergebnisrechnung, die Effizienzsteigerungen bewirken soll, liegt wohl nicht so sehr darin, ob es nicht bessere Lenkungsinstrumente bzw. günstigere monetäre Relationen geben könnte als diejenigen, die eingeführt wurden. Die Kernfrage besteht darin, inwieweit überhaupt monetäre Planungsformen wirksam werden können, wenn sie den vollzugsverbindlichen Kennziffern der Produktionsmenge untergeordnet sind.
Preispolitik Die Preispolitik der 70er Jahre folgt keinem eindeutigen Konzept. Zunächst wurden durch eine Anfang 1970 in Kraft getretene Verordnung alle Großhandelspreise entsprechend ihrem Niveau vom 1. Januar 1969 sowie auch die meisten Einzelhandelspreise auf dem Stand vom 30. Juni 1969 eingefroren. Diese Maßnahme war durch den bedrohlichen Inflationsdruck auf dem Konsumgüter-und Investitionssektor begründet. Dadurch wurde eines der wichtigsten indirekten Steuerungsinstrumente des Planungssystems lahmgelegt, auf das sich die Reform gestützt hatte. Der Preisstopp wurde zwar als vorübergehender Schritt präsentiert; die Wirtschaftspolitiker räumten jedoch selbst ein, daß sich diese Maßnahme auf längere Sicht ungünstig auf die Bedarfs-orientierung der Produktionsbetriebe und Handelsorganisationen auswirken müßte. Nachdem das Preismoratorium 1973 aufgehoben worden war, kehrte man jedoch zu der Vorreformpraxis einer zentralen Preisbildung bei Standardprodukten des Einzelhandels zurück; Preise für „neue Produkte" wurden trotzdem nach bestimmten Regeln zum Teil dezentral, gleichzeitig jedoch unter strenger Kontrolle der Behörden gebildet.
Das offiziell hervorgehobene Bemühen um ein stabiles Einzelhandelspreisniveau konnte unter den Bedingungen des Kostenanstiegs — der in besonderem Maße auf die sprunghafte Anhebung der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt, aber auch auf Reibungsverluste in der Binnenwirtschaft zurückzuführen ist — nicht aufrechterhalten werden (ansonsten wären im Interesse eines Ausgleichs der entstandenen Finanzlücken entweder Subventionen notwendig gewesen, oder man hätte öffentliche Ausgaben kürzen bzw. andere staatliche Einnahmen anheben müssen).
Die Heraufsetzung verschiedener Konsumgüterpreise wurde häufig unter dem Vorwand der Neuartigkeit der Konsumgüter präsentiert (diese Art von Preisanhebungen findet in der offiziellen Statistik des Preisindex kaum Berücksichtigung). Eine zentrale Erhöhung der Preise in größeren Schüben wird infolge der gefährlichen politischen Konsequenzen, insbesondere bei Gütern des Massenbedarfs, in der Tschechoslowakei kaum vorgenommen. Dennoch sahen sich die Wirtschaftspolitiker wegen der steigenden Importpreise und des Kostenanstiegs nach längerem Zögern im Juli 1977 doch gezwungen, Preise für einige Nahrungsmittel (Kaffee, Kakao, Schokolade u. a. m.) und Industrieprodukte (Stoffe, Bekleidung, Glas, Porzellan u. a. m.) erheblich anzuheben. Die gleichzeitig durchgeführte Preisreduzierung für andere, vor allem langlebige Konsumwaren (Kühlschränke, Fernsehgeräte u. a.) konnte die Verluste für die Konsumenten bei weitem nicht ausgleichen.
Die Neufestlegung der Großhandelspreise zum 1. Januar 1977, bei der der rapide Anstieg der Importpreise für Roh-und Brennstoffe berücksichtigt werden mußte, führte zu erheblichen Veränderungen des Preisniveaus und der sektoralen Preisrelationen. So stieg das Preisniveau für Produkte der Grundstoffindustrien um 8, 4 %, während es in der verarbeitenden Industrie um 6, 4 % zurückging. Nachdem bei ausgewählten Rohstoffen, vor allem Brennstoffen und Energieleistungen, der Preisanstieg sogar im Durchschnitt 52 % ausmachte, wurde der Materialverbrauch für die Betriebe kostspieliger (insgesamt um 5 Punkte). Damit bezweckten die Planer einen sparsameren Einsatz von Grundstoffen, die zum überwältigenden Teil importiert werden mußten. Andererseits wurden die Preise von Infi vestitionsgütern im Zuge der Neuberechnungen erheblich herabgesetzt, wodurch die Substitution des immer knapper werdenden Produktionsfaktors Arbeit durch Kapital stimuliert werden sollte.
Lohnpolitik Auf dem Gebiet der Lohnpolitik gilt nach wie vor die Lehrbuchformel, die Entlohnung müsse der Quantität, Qualität und der gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeit entsprechen, mit anderen Worten: der Leistungslohn, das Prinzip der „materiellen Interessiertheit", soll als vorrangiges Instrument zur Steigerung der Arbeitsmotivation dienen.
Durch die 1971 angekündigte und von 1972 bis 1975 durchgeführte Neuordnung des tariflichen Lohn-und Gehaltsgefüges wurde nun eine „genauere und leistungsgerechtere“ Entlohnung der Arbeiter und Angestellten angestrebt. An der Erfolgsbeteiligung, die in der Reformperiode eingeführt wurde, hielt man zunächst in etwas modifizierter Form — bei jedoch geringeren Anteilprämien — fest. Die so-genannten Normative, das sind die Verhältniszahlen von Planerfüllung und Prämien-fonds, wurden zu einem zusätzlichen Mittel der Leistungsstimulierung.
Die unterschiedlichen Lohntarife richten sich nicht nur nach den branchenmäßigen und regionalen Planprioritäten. So werden traditionellerweise nach wie vor Löhne in den Tarifkatalogen der Schwerindustrie vergleichsweise höher angesetzt als in der Leichtindustrie und im Dienstleistungssektor (freilich gibt es auch innerhalb dieser Bereiche erhebliche Differenzen). Die Anhebung von Lohnsätzen für bevorzugte Tätigkeiten kann auch insofern als Berücksichtigung des Knappheitsaspektes interpretiert werden, als die Planprioritäten (Bergbau, entlegene Regionen etc.) häufig für die Arbeitskräfte wenig attraktiv sind und daher ein knappes Angebot nach sich ziehen. An den (statistisch nicht erfaßten) extremen Einkommensprivilegien der Funktionärs-schicht dürfte sich im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren kaum etwas verändert haben. Auch die Direktorengehälter, die in den 50er Jahren nach offiziellen Berichten etwa das Dreifache eines Arbeiterlohnes ausgemacht haben dürften, in Wirklichkeit aber infolge außerordentlicher Prämien höher lagen, stehen vermutlich im gleichen Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen der Beschäftigten wie früher.
Gegenüber dem Reformkonzept besteht ein wichtiger Unterschied darin, daß der Betrieb über die Entlohnung nicht aufgrund seiner Eigenkalkulation (im Rahmen der staatlichen Einkommenspolitik) verfügt, sondern ihm die Lohnsumme als verbindliche Höchstgrenze von oben vorgegeben wird. Im Vergleich zu dem zentral-administrativen System der Planung in den 50er Jahren, das neben der Lohnsumme auch die Durchschnittslöhne verschrieb, bedeutet dies nur eine unwesentliche Lockerung.
Die tariflichen Löhne, Leistungsprämien und weitere Personalaufwendungen (z. B. Ersatz für entfallene Löhne, Naturalvergünstigungen etc.) werden im betrieblichen Rechnungswesen als Kosten getrennt von dem sogenannten „Prämienfonds" geführt Im zweiten Fall geht es um Mittel, die vom erwirtschafteten Gewinn abgezweigt und einmal als Gewinnanteile, zum anderen als Sonderprämien für Führungskräfte, für „Sieger im sozialistischen Wettbewerb" und ähnliches verwendet werden. In mancher Hinsicht erinnert diese Regelung an die Reformmaßnahmen der Jahre 1965— 1968; der wichtigste Unterschied gegenüber der früheren Reformkonzeption besteht jedoch darin, daß im Prager Frühling von 1968 die Erfolgsbeteiligung mit einer Teilnahme der Arbeiter und Angestellten an den Unternehmensentscheidungen einherging („Werktätigenräte").
Das zweifache Anreizsystem — über Löhne und Erfolgsbeteiligungen — soll mit der Entwicklung der Arbeitsproduktivität und des Gewinns gekoppelt sein. Die Planer folgen dabei einer Faustregel der osteuropäischen Planungstheorie, derzufolge die Arbeitsproduktivität jeweils schneller und die Gesamtkosten langsamer steigen sollen als die Durchschnittslöhne. Betrachten wir die Lohnpolitik der 70er Jahre in ihrer Gesamtheit, dann wird deutlich, daß zwar das Prinzip des Erwerbsinteresses nach wie vor beachtet wird. Die beabsichtigte Wirkung dürfte jedoch infolge der Koppelung der Entlohnung mit den mengenmäßigen Plankennziffern — wenn überhaupt — nur in begrenztem Maße erreicht worden sein.
Gesamtcharakteristik Das Wirtschaftssystem, das sich in den 70er Jahren abzeichnete, unterschied sich nicht grundlegend von dem in den 60er bzw. 70er Jahren nur unwesentlich reformierten Planzentralismus in den übrigen osteuropäischen Ländern (mit Ausnahme Ungarns): die hierarchische Befehlskette von der Planzentrale bis zum Betriebsdirektor, von oben nach unten vom wachsamen Auge des jeweiligen Partei-organs kontrolliert, blieb unangetastet. Es ist nun zu untersuchen, ob das wieder etablierte zentral-administrative Planwirtschaftsmodell mit den wenigen Überbleibseln des Reformkonzeptes von 1965 in die gleiche Sackgasse geriet wie seinerzeit Anfang der 60er Jahre. Welches waren die Probleme der tschechoslowakischen Volkswirtschaft, die in den 70er Jahren zutage traten, welche Resultate der wirtschaftlichen Entwicklung sind festzustellen?
III. Resultate der wirtschaftlichen Entwicklung
Um dies vorwegzunehmen: Die Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung zeigen in der ersten Hälfte der 70er Jahre ein relativ günstiges Bild, das jedoch nicht von Dauer sein soll-Indikatoren te. Mit dem Jahre 1975 setzt ein besorgniserregender Abschwung ein, dessen Folgen schwer abzusehen sind (vgl. Tabelle 1).
Nach den Lohndrosselungen des zweiten Halbjahres 1969 und des Jahres 1970 konnten der vorübergehend ins Stocken geratene Wachstumstrend wieder aufgenommen und auch der Lebensstandard ab 1971 etwas angehoben werden. Die positive Tendenz (die in der offiziellen Statistik ohnehin etwas überzogen erscheint) ist insofern zu relativieren, als zum einen die Aufschwungsdaten hinter denjenigen der Reformperiode deutlich zurückliegen. Zum anderen sind Wachstumsraten allein — so wichtig sie angesichts der chronischen Unterversorgung in allen osteuropäischen Ländern auch sein mögen — kein ausschlaggebender Erfolgsmaßstab; das systembedingte Vorbeiproduzieren am Bedarf bedeutet nämlich, daß bei übermäßiger Lagerhaltung oft unbrauchbarer Vor-und Fertigprodukte gleichzeitig nachgefragte Produktions-und Konsumgüter fehlen.
Worauf ist nun die Tatsache zurückzuführen, daß trotz der Rückkehr zu zentralistisch-administativen. Planungspraktiken der Entwicklungstrend in der Tschechoslowakei zu Beginn der 70er Jahre nicht allzu ungünstig verlief? Die Antwort ist mehrschichtig. Es besteht kein Zweifel, daß in der Tschechoslowakei vorübergehend positive Faktoren im Spiel waren, die auf die Reformstrategie der späten 60er Jahre zurückzuführen sind
Als erster Pluspunkt sind fortbestehende Erfolge der tschechoslowakischen Agrarpolitik zu nennen, die 1966 mit dem zentralistischen Modell gebrochen hatte und der Rezentralisierung in der ersten Hälfte der 70er Jahre noch nicht zum Opfer gefallen war. So — und nicht nur aufgrund günstiger Witterungsverhältnisse — ist das bis 1974 fortdauernde Produktionswachstum in der Landwirtschaft zu erklären, das sich auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum und die Versorgung der Bevölkerung besonders günstig auswirkte.
Zweitens schlug der Strukturwandel zu Buche, der von den Investitionsrichtungen der spätern 60er Jahre ausgegangen war. So kam es, daß zu Beginn des folgenden Jahrzehnts die in Betrieb genommenen Anlagen stärker zur Expansion der Leichtindustrie (Holz-und Papierverarbeitung, Textil-und Bekleidungszweige, Baumaterialherstellung) als zur Erweiterung der Schwerindustrie (Bergbau und Energie, Metallproduktion und -Verarbeitung) beitrugen. Auf diese Weise ging mit dem Wirtschaftswachstum nun auch eine gewisse Anhebung des Lebensstandards einher.
Inwieweit — drittens — noch weitere Reformelemente, die beibehalten wurden, wie etwa die teilweise Koppelung der Weltmarktpreise mit den Binnenpreisen, die Regelung der Erfolgsprämien in den Betrieben u. a. m„ vielleicht auch ein etwas freieres Klima für das betriebliche Management, günstige Wirkungen gezeitigt haben, ist schwer auszumachen. Die Funktionsmängel der zentral-administrativen Planung blieben jedoch bestehen, wenngleich sie anfangs durch den Aufschwung überdeckt waren: die unzureichenden Produktivitätsfortschritte, die ungenügende Anpassung an die Bedarfsstrukturen und die allge-meine Innovationsträgheit Diese Schwächen sollten gemeinsam mit erschwerten außenwirtschaftlichen Bedingungen im weiteren Verlauf der 70er Jahre, wie im folgenden zu zeigen sein wird, die tschechoslowakische Wirtschaft vor neue Probleme stellen.
Die jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten waren in der Periode von 1975 bis 1979 erheblich niedriger als in den vorangegangenen vier Jahren. Besorgniserregend ist vor allem der fallende Trend von 4, 1 % (Nationalprodukt) und 2, 8 % (individuellem Verbrauch) im Jahre 1976 auf 2, 8 % (Nationalprodukt) bzw. 1, 2 % (persönlicher Verbrauch) im Jahre 1979 (dabei dürften die offiziellen Daten die tatsächliche Entwicklung eher beschönigen).
Nun wäre sicherlich der Schluß vereinfacht, die ungünstige Entwicklung sei allein auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik zurückzuführen. Denn erstens sind langfristige Trendverläufe bereits in früheren Perioden angelegt. Dies kommt zu Beginn der siebziger Jahre zum Ausdruck, als — wie gezeigt — positive Entwicklungen eher auf die vorangehende Reformstrategie der Jahre 1965 bis 1968 zurückzuführen sind. Zweitens können externe Einflüsse (witterungsbedingte Mißernten, verschlechterte Weltmarktbedingungen) mitunter kaum bzw. nur teilweise und auf längere Sicht durch wirtschaftspolitische Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden. Dies gilt für den gegebenen Zeitraum, in dem sich durch den ölpreisschock von 1973/74 für ein industriell entwickeltes, rohstoff-und insbesondere erdölarmes Land wie die ÖSSR eine völlig neue Situation ergab
Sicherlich: Die tschechoslowakische Volkswirtschaft war seit 1975, nachdem die Sowjetunion als Lieferant die Weltmarktpreise der OPEC-Länder aufgrund besonderer Regelun-* gen übernahm von der ungünstigen Relation der Import-und Exportpreise (Terms of Trade) besonders in Mitleidenschaft gezogen worden. Setzen wir die Terms of Trade 1970 gleich 100, dann ergibt sich bis 1977 eine Verringerung, also eine relative Verteuerung der Import-gegenüber den Exportpreisen, um rund 14 % Da mit der Sowjetunion eine dem gleitenden Durchschnitt der letzten fünf Jahre entsprechende Anpassung an die Weltmarktpreise des Erdöls vereinbart wurde (vgl. Anm. 18), ist die Verminderung der Terms in der gleichen Periode im tschechoslowakischen Osthandel geringer gewesen (12 %) als im Westhandel (18 %)
Die erheblichen Schwankungen der Agrarproduktion, insbesondere verursacht durch zwei Mißernten (1976, 1979), werden offiziellerseits als in erster Linie „witterungsbedingt" begründet Die negativen Resultate dürften aber auch auf unüberlegte Schritte in der Agrarpolitik zurückzuführen sein die in einer administrativ verordneten Zusammenlegung von Genossenschaften bzw. Staatsgütern und in den ungenügenden Anreizen für die Beibehaltung der Produktion auf den bislang privat bewirtschafteten Hofparzellen der Genossenschaftler, die eine wichtige Ergänzung der Nahrungsmittelversorgung dargestellt hatten, bestanden. In letzter Zeit scheint man jedoch die sich ungünstig auswirkenden Maßnahmen wieder zurückzunehmen.
Es ist offensichtlich, daß eine reformorientierte Agrarpolitik die externen, witterungsbedingten Störungen zumindest teilweise pa-ralysieren kann. Wie steht es aber um die von außen gesetzten Barrieren, die einem Aufschwung der tschechoslowakischen Wirtschaft aufgrund des Preisanstiegs am Rohstoffmarkt entgegenwirken? Die Betriebe mußten mehr für den Export produzieren, um die gleiche Menge importierter Waren zu bezahlen. Dennoch stieg die Verschuldung, die das kontinuierlich zunehmende Handelsdefizit andeutet (Daten über die Zahlungsbilanz werden nicht veröffentlicht). Wenn nun das Wachstum des im Inland verwendbaren Nationaleinkommens folglich geringer sein muß als das „produzierte" Nationaleinkommen, d. h.der Wert der produzierten Güter und Dienstleistungen — und dies bestätigen die Daten von 1975 bis 1978 —, dann lebt die tschechoslowakische Gesellschaft auf Kosten ihrer Zukunft. Dies gilt um so mehr, als bis 1978 eine — wenngleich langsame — Anhebung des Lebensstandards statistisch ausgewiesen wird (vgl. Tabelle 2).
Es zeigt sich also, daß das Wirtschaftssystem nicht genügend Anpassungskräfte an die verschlechterte Situation entwickeln konnte. Auch weitere Hinweise der tschechoslowakischen Massenmedien sowie „inoffizielle" Berichte deuten darauf hin, daß die alten Krankheiten, wie Verschwendung von Ressourcen und Vorbeiproduzieren am Bedarf, diejenigen „hausgemachten" Schwächen darstellen, die einer Befriedigung der individuellen und kollektiven Bedürfnisse der Bevölkerung entscheidend entgegenwirkten. Diese Bremsfaktoren sind eben auf die Starrheit des bestehenden Planungssystems zurückzuführen
IV. Reformansätze zum Anfang der achtziger Jahre?
Es ist davon auszugehen, daß der Partei-und Staatsführung im Hinblick auf die bedrohliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Notwendigkeit einer Reformierung der Planungs-und Lenkungsinstrumente schon längere Zeit bewußt geworden ist. Dies belegt die Tatsache, daß seit Mitte der 70er Jahre in tschechoslowakischen Planungsgremien über eine „Vervollkommnung des Planungssystems" diskutiert wurde. Im Auftrag der Regierung ist eine Expertengruppe benannt worden, die konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen mit dem Ziel vorbereiten sollte, die bisherigen Mängel zu beseitigen. Aufgrund einer entsprechenden Regierungsverordnung wurde 1978 gemäß dem Entwurf dieser Fachkommission ein „umfassendes Experiment zur Steuerung der Effektivität und Qualität der Produktion" in 150 Betrieben gestartet, dessen Stoßrichtung in der Nutzung neuer Effizienz-kriterien und materieller Anreize bestand. Aufgrund der Erfahrungen mit diesem Experiment — so die offizielle Darstellung — verabschiedete die tschechoslowakische Regierung 1979 unter der Bezeichnung eines „Maßnahmenkatalogs des Systems der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft nach 1980" ein Dokument, auf dessen Grundlage in der Industrie, der Bauwirtschaft und den meisten Dienstleistungsbetrieben eine Vielzahl neuer wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Regelungen durchgeführt werden soll
Neben einer Kompetenzerweiterung der „Produktionswirtschaftlichen Einheiten", d. h.der Branchenvereinigungen, die einerseits zentrale Planbefugnisse übernehmen, andererseits die Entscheidungsspielräume der untergeordneten Einzelbetriebe einengen, werden Mengenkennziffern wie die „Bruttoproduktion" durch monetäre Effizienzinstrumente („betriebliche Eigenleistung", Rentabilitätsindikatoren etc.) ersetzt. Neben einem Gefüge von vollzugsverbindlichen Auflagen von oben sollen für Betriebe materielle Anreize geschaffen werden. Neben anspruchsvollen Planzielen, insbesondere aufgrund außenwirtschaftlicher Verpflichtungen im Rahmen des RGW, ist die Rede von Eigeninitiativen der Unternehmen. Diese kurze Charakteristik deutet auf die Widersprüchlichkeit des Konzepts hin.
Wenn Anfang 1980 seitens der Partei-und Staatsführung dennoch eine derartige Reform-entscheidung getroffen wurde („Beschluß des Präsidiums der KP und der Regierung der SSR zur Vervollkommnung des Systems der planmäßigen Leitung" dann ist diese „Flucht nach vorne" vermutlich durch die äußerst ungünstigen Resultate der wirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1979 zu erklären, die den pragmatisch orientierten Kräften um den Ministerpräsidenten Strougal und den Finanzminister Lr Auftrieb gaben.
Die Reformkonzeption ist allerdings mit dem tschechoslowakischen Modell von 1965 (die dem gegenwärtigen ungarischen marktwirtschaftlich orientierten „ökonomischen Mechanismus" ähnelt) nicht vergleichbar: Der Hauptunterschied liegt darin, daß das „vervollkommnete" System immer noch durch Aufschlüsselung der zentral vorgegebenen Kennziffern auf die Betriebe geprägt ist, während das „neue" System von 1965 (also drei Jahre vor dem „Prager Frühling", der über die Dezentralisierung hinaus die radikale Demokratisierung in Gestalt der „Werktätigenräte" nach sich zog) die befehlsartigen Sollziffern prinzipiell beseitigte: hier (wie in Ungarn) war das Unternehmen durch wirtschaftspolitisch regulierte Marktkräfte in Richtung der Planziele angeleitet worden. Insofern ist der neue Kurs m. E. zwar als Schritt nach vorne zu beurteilen, der jedoch keineswegs konsequent genug ist, um die viel beschworene Wende vom extensiven zum intensiven Wachstumspfad zu bewirken. In den umfassenden Verordnungen und Kundmachungen spiegelt sich wiederum „das Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Wachstums-und Effizienzerfordernissen einerseits und den politischen Herrschaftsinteressen der Machthaber andererseits ... Während die ökonomische Funktionsfähigkeit mehr Dezentralisierung, Flexibilität und außenwirtschaftliche Offenheit verlangt, gebietet die Aufrechterhaltung des Machtmonopols der Funktionärsbürokratie nach wie vor zentralistisch-autoritäre Entscheidungsstrukturen und eine gewisse Abgeschlossenheit der Binnenwirtschaft gegenüber der Außenwelt"
Ob diese eher halbherzig anmutenden Reformschritte ein „Durchwursteln" der tschechoslowakischen Volkswirtschaft in den nächsten Jahren ermöglichen werden, oder ob eine erneute Zuspitzung der Probleme zu einer radikaleren Reformalternative, etwa vom Typ des „Neuen ökonomischen Mechanismus" Un-garns, verhelfen könnte, bleibt abzuwarten.
Heinrich Georg (Jif 1) Kosta, Dr. rer. pol., geb. 1921 in Prag; 1962— 1968 Mitarbeiter des ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Prag; seit 1971 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere sozialistische Wirtschaftssysteme, an der Universität Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Sozialistische Planwirtschaft. Theorie und Praxis, Opladen 1974; Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei, Frankfurt 1978; zusammen mit J. Meyer, Volksrepublik China, ökonomisches System und wirtschaftliche Entwicklung, Frankfurt-Köln 1976; hrsg. zusammen mit J. Huber, Wirtschaftsdemokratie in der Diskussion, Köln-Frankfurt 1978.
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