Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

NS-Prozesse — viel zu spät und ohne System | APuZ 9-10/1981 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9-10/1981 NS-Prozesse — viel zu spät und ohne System Erinnern oder Vergessen? Überlegungen zum Gedenken an den Widerstand und an die Opfer des Nationalsozialismus Artikel 1

NS-Prozesse — viel zu spät und ohne System

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit vermehrten Strafverfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher versucht die Bundesrepublik Deutschland nach langer Zeit endlich, NS-Unrecht wenigstens juristisch zu sühnen. Die ständigen Verzögerungen von Ermittlungsverfahren und von Prozessen sind ein juristischer Skandal, der in der Justizgeschichte seinesgleichen sucht. Aber auch die politisch Entscheidenden sind von einer Mitverantwortung für die nachlässige Verfolgung von NS-Mördern nicht freizusprechen. Andererseits sind innenpolitisch diese Verfahren nie von einer breiten Öffentlichkeit getragen und unterstützt worden — im Gegensatz zu Verfahren gegen linke Terroristen. Das hat diesem Prozeß der Selbstreinigung geschadet. Die Medien haben weitgehend versagt. Die mangelhafte Berichterstattung hatte zur Folge, daß die moralische und juristische Notwendigkeit nicht begriffen wurde. Seit einigen Jahren — wohl nicht zuletzt als Folge der Fernsehserie „Holocaust" — ist bei der jüngeren Generation ein deutlicher Wandel festzustellen. Junge Leute interessieren sich für NS-Prozesse und fragen, warum jahrzehntelang dieses Thema verschwiegen worden ist. Eine Antwort darauf zu geben, ist schwer. Man kann jedoch antworten: Weil wir Älteren versagt haben. Ein solches Eingeständnis ist besser als jede Ausrede. Um das an einem aktuellen Beispiel zu zeigen: Der Düsseldorfer Majdanek-Prozeß ist für viele Hunderte junger Deutscher zum Lehrstück deutscher Vergangenheit geworden. Die Plätze im Zuschauerraum sind seit Mai 1976 ständig besetzt. Man muß über die NS-Zeit sprechen. Darin liegt ein Versuch, vergleichbarem Unheil vorzubeugen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe für Schulen und Organisationen. Damit muß bereits zu Hause begonnen werden.

Landgericht Gießen, 6. September 1945. Auf der Anklagebank fünf Männer, zwei von ihnen noch Jugendliche. Alle werden wegen Totschlags, Beihilfe zu diesem Verbrechen oder des „Eintretens in eine ernsthafte Verhandlung über einen Totschlag" verurteilt. Sie hatten am 10. April 1945, zwölf Tage nach der Befreiung der Gemeinde Wetterfeld bei Gießen, einen 64 Jahre alten Postbeamten kaltblütig durch Genickschuß umgebracht. Zu einer Verurteilung wegen Mordes konnte das Gericht sich nicht entschließen, weil eine „niedrige Gesinnung" bei den Tätern nach Ansicht des Gerichts nicht vorlag. Zwischen der Tat — 10. April 1945 — und dem Urteil — 6. September — lagen knapp fünf Monate. Es war der erste NS-Prozeß in der deutschen Justizgeschichte.

Im Oktober 1980 sollte vor dem Schwurgericht beim Landgericht Kiel das Strafverfahren gegen drei Männer beginnen, denen Beihilfe zum Mord an mehr als 20 000 Menschen vorgeworfen wird. Das war seit 1962 bekannt, also seit 18 Jahren. Dennoch sollte das Strafverfahren erst im Oktober 1980 beginnen — 36 Jahre nach der vorgeworfenen Tat.

Gegen die Totschläger von Wetterfeld konnte die Anklage noch viele Zeugen aufbieten, die davon wußten, daß der Postbeamte deshalb umgebracht worden war, weil er mit amerikanischen Besatzungssoldaten zusammengearbeitet haben sollte. Im Fall Ehlers, Canaris und Asche in Kiel gab es so gut wie keine Zeugen. Wer sie bei ihrer Tätigkeit gesehen hat, wurde in einem Vernichtungslager vergast.

Am 26. November 1975 hat vor einer Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf der inzwischen weltweit bekannte Majdanek-Prozeß begonnen. Nach mehr als fünf Jahren ist sein Ende nun endlich in Sicht. Von den ursprünglich 15 Angeklagten müssen sich inzwischen nur noch neun verantworten. Sie werden der Beihilfe zum Mord im Konzentrationsund Vernichtungslager Lublin-Majdanek in Polen beschuldigt.

Am 23. Oktober 1979 begann vor einer Großen Strafkammer des Landgerichts Köln das Strafverfahren gegen Kurt Lischka, Herbert Martin Hagen und Ernst Heinrichsohn. Vorwurf: Beihilfe beim Mord an mehr als 70000 Juden aus Frankreich. Am 30. Sitzungstag — es war der 11. Februar 1980 — konnte der Vorsitzende Richter Dr. Heinz Fassbender die Urteile verkünden. Die drei Männer wurden schuldig gesprochen und verurteilt.

Im Lischka-Prozeß konnte das Gericht weitgehend auf die Befragung von Zeugen verzichten, weil die Nazis über die „Endlösung der Judenfrage" in Frankreich genug Akten angelegt hatten. Im Majdanek-Prozeß mußte der Vorsitzende Richter Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr Zeugen vernehmen. Die meisten kamen aus dem Ausland, aus Polen, aus Israel, aus den USA und anderen Staaten. Wer nicht in die Bundesrepublik reisen wollte oder konnte, der wurde zu Hause befragt. Diese Reisen kosteten Zeit, Zeit und noch einmal Zeit. Geriet der Terminplan des Gerichts durcheinander, mußten Zeugen wieder in ihre Heimat geschickt werden und irgendwann wiederkommen; das Verfahren quälte sich dahin. Gegner von NS-Prozessen mißbrauchen den Majdanek-Prozeß als Beweis dafür, daß Strafverfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher heute nicht mehr geführt werden können. Der Lischka-Prozeß beweist das Gegenteil, wenn auch zu berücksichtigen ist, daß der Lischka-Prozeß ein Dokumentenverfahren im Gegensatz zum Majdanek-Prozeß ist.

Daß heute noch mutmaßliche NS-Gewaltverbrecher zur Verantwortung gezogen werden, hat zwingende rechtliche Gründe. Der Deutsche Bundestag hat im Jahre 1979 die Verjährung für Mord generell aufgehoben. Bei den Angeklagten in NS-Prozessen handelt es sich ausschließlich um Mordverdächtige. Daß diese Verfahren erst viel zu spät in Gang gekommen sind, müssen u. a.deutsche Politiker und Vertreter der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verantworten. Als die USA, Großbritannien und die Sowjetunion sich am November 1943 in der „Moskauer Erklärung" darauf festlegten, die Haupt-verbrecher des Nazistaates vor ein Internationales Militärtribunal zu stellen, begingen sie einen Fehler bei der Charakterisierung der Angeklagten. Sie nannten diese „Hauptkriegsverbrecher", das Verfahren in Nürnberg den „Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher“. Doch die meisten der 19 in Nürnberg angeklagten Männer hatten vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Etwa Julius Streicher mit seiner Mordhetze gegen Juden in dem . Kampfblatt'„Der Stürmer" oder der Generalgouverneur für Polen, Hans Frank, oder der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, oder der Reichsbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel. Ihre Verbrechen hatten mit Krieg, also mit Kämpfen an der Front, nicht das mindeste zu tun. Sie bereiteten vielmehr vor, was die Majdanek-Angeklagten später vollstreckten oder die Lischkas und Ehlers am Schreibtisch vollzogen. Was bereits während des Nürnberger Prozesses fehlte, war Aufklärungsarbeit; diese hätten sowohl die Alliierten als auch die deutschen Medien leisten müssen.

Oberstaatsanwalt Dr. Adalbert Rückeri, seit 1966 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart, einer der besten Kenner der Materie, hat dazu in seinem Buch „Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945— 1978" festgestellt 1): „Die Ursache dafür, daß man den millionenfachen Mord an Juden, politischen Gegnern und Geisteskranken vorwiegend als einen politischen, weniger dagegen als einen in erster Linie im kriminellen Bereich liegenden Vorgang wertete, mag nicht zuletzt in der Berichterstattung über den wegen seiner Bedeutung in der Öffentlichkeit am meisten beachteten Prozeß vor dem Internationalen Militär-gerichtshof in Nürnberg zu suchen sein. Militärische, politische und rein kriminelle Vorgänge wurden dort in einer Weise miteinander vermengt, daß es dem unbefangenen, um ein klares Bild bemühten Beobachter kaum noch möglich war, diesen Knäuel zu entwir. ren.“

Dr. Robert M. W. Kempner war in jenem Pro. zeß Stellvertreter des amerikanischen Anklä. gers Jackson. Der berühmte Jurist faßte am 17. Oktober 1979, seinem 80. Geburtstag, im Westdeutschen Fernsehen in einem Satz zusammen, was jenes große Verfahren zum Ziel hatte: „Es galt, einen Augiasstall zu säubern." Am selben Tag sagte er im WDR-Hörfunk zum Ergebnis dieses Strafverfahrens, den Richtern und Anklägern sei es gelungen, „den steinigen Weg zur Bundesrepublik, zu einer demokrati.sehen Bundesrepublik geebnet und dafür ge. sorgt zu haben, daß sich diese Republik entwickeln konnte, und daß Verbrecher oder Mittäter von Verbrechern eben nicht wieder an die Spitze kommen konnten."

Dies war gewiß eine wichtige Aufgabe des Nürnberger Verfahrens. Doch der Öffentlichkeit ist das damals nicht klar gemacht worden. Darunter leiden NS-Prozesse bis auf den heutigen Tag. Es sind Strafverfahren, die gegen die Öffentlichkeit geführt werden — im Gegensatz etwa zu Verfahren, in denen mutmaßliche Terroristen angeklagt sind.

Etwas anderes kommt hinzu: Im Herbst 1980 erschien in Köln eine Untersuchung zu der Frage, warum die Alliierten Auschwitz nicht bombardiert und dadurch den Massenmord wenigstens behindert haben. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle des späteren Hohen Kommissars in der amerikanischen Besatzungszone, John McCloy. McCloy ist es gewesen, der sogar in Nürnberg zum Tode verurteilte Massenmörder begnadigt hat. Das machte im Januar und Februar 1951 Schlagzeilen in der Weltpresse und stand im Zusammenhang mit dem Bemühen der Westalliierten um einen deutschen Verteidigungsbeitrag. Deutsche Politiker argumentierten damals sinngemäß, solange deutsche Soldaten noch in Nürnberg gehängt oder in alliierten Gefängnissen gehalten würden, könne die Öffentlichkeit keinerlei Verständnis für den Aufbau einer deutschen Armee haben. Dabei hätte man im Gegensatz dazu der Öffentlichkeit klarmachen müssen, daß SS-und SD-Führer als Leiter von Einsatzgruppen und Einsatzkommandos Chefs von Mordbrigaden waren, von denen sich auch oder gerade künftige deutsche Offi-B ziere und Soldaten mit allem Nachdruck distanzieren müßten. Dies aber ist damals versäumt und dadurch Schaden angerichtet worden. Was den Alliierten nicht angelastet werden kann, ist die Tatsache, daß in den Nürnberger Prozessen bei weitem nicht der ganze Umfang der NS-Verbrechen aufgedeckt werden konnte. Außerdem hatten sie im November 1943 in Moskau beschlossen, die Aburteilung nach Möglichkeit denjenigen Staaten zu übertragen, in denen die Verbrechen begangen worden waren — ausgenommen nur die „Hauptkriegsverbrecher". Für die anderen Verfahren wurden Gerichte in den vier Besatzungszonen zuständig, freilich keine deutschen. So wurden in der amerikanischen Zone Strafverfahren gegen Naziärzte geführt, die Menschenversuche unternommen hatten. Angeklagt wurden Juristen, aber nicht die Spitze der Naziterrorjustiz, also die Angehörigen des berüchtigten . Volksgerichtshofes". Vor Gericht gestellt wurden 18 Mitarbeiter des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS, der Verwaltungszentrale aller Konzentrationslager. Angeklagt wurden 14 Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes, verantwortlich für die „Endlösung der Judenfrage". Angeklagt wurden 24 Kommandeure von Einsatzgruppen und Einsatz-kommandos. Zu diesen letzteren stellt Adalbert Rückeri in seiner erwähnten Arbeit für den Zeitraum noch nicht einmal eines Jahres fest: „Die einzelnen Einsatzgruppen erstatteten dem Reichssicherheitshauptamt laufend Bericht über ihre . Erfolge'. Dort wurden die Berichte zu sogenannten . Ereignismeldungen UdSSR zusammengefaßt. Diesen . Ereignismeldungen'zufolge betrug die Zahl der Opfer bis einschließlich April 1942 bei der Einsatz-gruppe A rund 250 000, bei der Einsatzgruppe B rund 70 000, bei der Einsatzgruppe C rund 150 000 und bei der Einsatzgruppe D rund 90 000, insgesamt somit rund 560 000."

Außerdem wurden in der amerikanischen Besatzungszone Strafverfahren wegen Verbrechen in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Mittelbau-Dora und Flossenbürg geführt. Von den angeklagten 1941 Personen wurden 1517 verurteilt, 324 von ihnen zum Tode. Von diesen Urteilen wur-den freilich die meisten nicht vollstreckt. Die . Todeskandidaten'sowie die zu lebenslangem Freiheitsentzug Verurteilten waren, von einigen Ausnahmen abgesehen, Mitte der fünfziger Jahre wieder freie Bürger.

Nicht anders sah es in der französischen Besatzungszone aus. Ohne hier auch so ins einzelne zu gehen wie bei der US-Zone, hat Rükkerl festgestellt, daß spätestens 1957 alle „Lebenslangen" wieder in Freiheit waren

In der britischen Besatzungszone ein ähnliches Bild: Auch hier NS-Prozesse wegen der Verbrechen in den Konzentrationslagern Auschwitz, Bergen-Belsen und Natzweiler gegen insgesamt 1085 Beschuldigte, doch 1957 wurde der letzte der „Lebenslangen" wieder auf freien Fuß gesetzt. Und so konnte es niemanden verwundern, daß NS-Prozesse vor deutschen Gerichten in der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis und meistens auf strikte Ablehnung stießen. Denn wenn sogar die Siegermächte Gnade vor Recht ergehen ließen, so brauchte die deutsche Justiz sich erst recht nicht zu bemühen.

Etwas anderes kam hinzu: Die deutsche Justiz wurde für sämtliche NS-Verbrechen erst am 1. Januar 1950 zuständig. Bis dahin durften nur Verbrechen an Deutschen und an Staatenlosen durch deutsche Gerichte verfolgt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren gegen 5 228 Personen Strafverfahren durch Urteile a 228 Personen Strafverfahren durch Urteile abgeschlossen worden. Rückeri stellt dazu einschränkend fest: „Daß es sich dabei allerdings hauptsächlich um minderschwere Delikte gehandelt hatte, zeigt die Tatsache, daß nur insgesamt 100 wegen Tötungsverbrechen ergangene Verurteilungen in erster Instanz festzustellen sind." 4)

Nachdem die deutschen Behörden für alle NS-Verbrechen zuständig geworden waren, kam es eigenartigerweise keineswegs zu einer Flut von Ermittlungsverfahren. Rückeri erklärt das u. a. damit, daß die Staatsanwälte „in der Regel nach wie vor mit der Bewältigung der aktuellen Alltagskriminalität bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet" 5) waren. Dies war vermutlich aber nur einer der Gründe. Die Unlust der Öffentlichkeit gegenüber NS-Verfah-ren hatte sich selbstverständlich auch auf die Justiz übertragen; es fehlte das persönliche Engagement, das erst später entstand, Im Laufe der Jahre verschwanden auch nach und nach die Nazi-Juristen aus der Justiz, wenngleich viel zu spät. Häufig war ferner das Ausmaß der Verbrechen so unvorstellbar, daß oft ein simpler Trick genügte, um außer Verfolgung gesetzt zu werden. Dazu Rückeri: „Gegenüber einem mit den organisatorischen Zusammenhängen, insbesondere mit der zur Tat-zeit bestehenden polizeilichen Befehlsstruktur nicht vertrauten Ermittlungsbeamten oder Staatsanwalt konnte ein Beschuldigter oft genug mit einem schlichten Bestreiten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe erreichen, daß das Verfahren mangels hinreichenden Schuldbeweises eingestellt wurde. Begünstigt wurde dies noch dadurch, daß manche dieser Beschuldigungen so unfaßbar erschienen, daß es einem rechtlich denkenden Menschen ohnehin schwer fiel zu glauben, daß sich solche Dinge überhaupt zugetragen haben könnten."

Außerdem arbeitete inzwischen die Zeit für die NS-Verbrecher. Zehn Jahre nach der Befreiung, also im Frühjahr 1955, waren alle Straftaten verjährt — mit Ausnahme von Mord und vorsätzlicher Tötung. Ein Jahr darauf kam freilich endlich die entscheidende Wende. Daß es ein NS-Verbrecher war, der sie bewirkte, ist gleichermaßen grotesk wie befriedigend. Es ging um einen hohen SS-Führer, vergleichbar einem Oberst in der Wehrmacht, der nach dem Überfall auf die Sowjetunion Massenmorde an Juden in der Nähe der Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Litauen zu verantworten hatte. Nach dem Kriege legte er sich einen falschen Namen zu und erschlich sich die Leitung eines Flüchtlingslagers in Baden-Württemberg. Die Sache mit dem falschen Namen flog jedoch auf, woraufhin der SS-Führer entlassen wurde. Hätte er nun geschwiegen, wäre er vermutlich nie angeklagt worden. Doch er versuchte durch Gerichtsurteil, wieder in den Staatsdienst eingestellt zu werden. Dies wurde ihm zum Verhängnis und brachte eine Welle von NS-Verfahren in Gang. Denn die Presse berichtete über den Streit und dadurch erfuhr ein Mann von dem Fall, der den Mörder 1941 beobachtet hatte. Das war der Beginn des Ulmer Einsatz, gruppenprozesses. Während dieses Verfah. rens wurde endlich einer größeren öffentlich, keit klar, daß viele Massenverbrechen noch nicht gesühnt waren.

Diese zufällige Entdeckung ist keineswegs ein Ruhmesblatt für die deutsche Justiz, aber auch die amerikanischen Gerichte müssen einen Teil der Schuld für diese späte Erkenntnis tragen. Immerhin hatten sie in ihrer Besatzungs. zone in den ersten Nachkriegsjahren Führer von Einsatzgruppen und Einsatzkommandos angeklagt, einige zum Tode verurteilt, wenige sogar hinrichten lassen. Zeugenaussagen und Dokumente waren folglich verbanden. Doch wohl auch wegen der Gnadenakte des US-Hochkommissars John McCloy mochten später deutsche Gerichte an die Verbrechen jener Mordeinheiten nicht mehr herangehen. Man glaubte, sich in der Gewißheit wiegen zu können, die Alliierten hätten den Deutschen diese Drecksarbeit abgenommen und außerdem könne es ja so schlimm nun auch wieder nicht gewesen sein. Immerhin hatte McCloy ja begnadigt. Doch der Ulmer Prozeß enthüllte vor den Augen der Welt, wie die Nazis gewütet hatten. Der Schock war einigermaßen heilsam, gab er doch den Anstoß dazu, endlich eine zentrale Ermittlungsstelle zu schaffen. Es ist jene Behörde in Ludwigsburg, die Adalbert Rückeri nunmehr seit 14 Jahren mit Umsicht, Engagement und Erfolg leitet. In einer Verwaltungsvereinbarung zwischen den Justizministern und Justizsenatoren wurde festgelegt, daß diese Stelle „alle erreichbaren einschlägigen Unterlagen über die von ihr aufzuklärenden Straftaten zu sammeln, zu sichten, von einander abgrenzbare Tatkomplexe herauszuarbeiten und den Verbleib der Täter festzustellen’ habe

Diese Vereinbarung war deshalb von erheblicher Bedeutung, weil es zuvor außerordentlich schwierig war, die Zuständigkeit eines Gerichts zu bestimmen. Diese richtet sich nämlich nach dem Ort der Tat oder dem Wohnsitz des Täters. Der Tatort lag in den meisten Fällen irgendwo in Osteuropa, wo kein deutsches Gericht zuständig war, und der Täter hatte sich versteckt. Durch die Übertragung der Vorarbeiten an eine Zentrale konnten nun zum einen bis dahin unbekannte Verbrechen entdeckt und solange an der Beweissicherung gearbeitet werden, bis ein Tatverdächtiger ermittelt war. Danach wurde das gesamte Aktenmaterial der zuständigen Staatsanwaltschaft übergeben. Rückerl über die Funktion seiner Behörde in diesen Verfahren „Die Aufgabenstellung der Zentralen Stelle bewirkte praktisch eine Umkehrung der bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen bis dahin geübten Verfahrensweise. Die Untersuchungen setzten nun nicht mehr erst auf eine Anzeige gegen einen Tatverdächtigen hin ein, wie es bisher die Regel war; vielmehr lösen wie auch immer geartete Hinweise auf eine strafrechtlich noch verfolgbare Tat (womit Rückerl Mord und Mordbeihilfe meint, d. V.) die Ermittlungen nach den noch unbekannten oder noch nicht ausfindig gemachten Tatbeteiligten aus. Die Frage nach der Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft, an deren Beantwortung vorher gelegentlich die Einleitung eines Verfahrens scheitern mußte, stellt sich nun nicht mehr zu Beginn der Untersuchungen, sondern zu einem Zeitpunkt, an dem der Sachverhalt zumindest in großen Zügen aufgeklärt und wenigstens ein Tatverdächtiger ermittelt ist.“

Am 1. Dezember 1958 begann die Zentrale Stelle in Ludwigsburg mit ihrer Arbeit und konnte noch vor Jahresende, also innerhalb eines Monats, 64 Vorermittlungsverfahren einleiten.

Im Jahre darauf waren es bereits 400.

Sie galten vor allem den Einsatzgruppen und Einsatzkommandos sowie den Mordstätten Auschwitz, Belzec, Sobibor, Treblinka und Chelmno

Die Staatsanwälte und Richter in Ludwigsburg standen freilich auch unter einem erheblichen Zeitdruck, den nicht sie verschuldet hatten: Am 8. Mai 1960 verjährten nach damals geltendem Recht alle NS-Verbrechen außer NS-Morden. Die Verjährungsfrist für diese Straftaten betrug nämlich 15 Jahre. Der Gesetzgeber war, als er diese Frist festlegte, davon ausgegangen, daß ein Mensch, der sich so lange hatte verstecken können, nicht mehr gefährlieh sei. Ihm sollte die Rückkehr ins bürgerliche Leben erleichtert werden — durch die Verjährung.

Bei den NS-Verbrechen handelte es sich jedoch um systematischen Massenmord, ein Delikt, das bis dahin unbekannt gewesen war. Hinzu kam, daß viele NS-Verbrecher sich mit Hilfe ihrer Umwelt hatten verstecken können. Sie warteten nur auf den 8. Mai 1960, um auftauchen zu können. Den Experten in Ludwigs-burg blieb also nicht mehr viel Zeit. NS-Totschläger hätten bereits am 8. Mai 1960, NS-Mörder fünf Jahre später, also am 8. Mai 1965, nicht mehr belangt werden können.

Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer als Bundeskanzler schien der juristischen Bewältigung der NS-Zeit freilich ebenso wie die Öffentlichkeit keine große Bedeutung beizumessen. Warum auch? Damals waren NS-Prozesse unpopulär — und sind es weitgehend auch heute noch. Gewiß, im Nationalarchiv der USA in Washington durften Mitarbeiter der Ludwigsburger Zentrale im Sommer 1960 nach noch nicht aufgespürten Verbrechen und Verbrechern suchen, jedoch nicht in den Archiven jener Staaten, in denen die Nazis am schlimmsten gehaust hatten. Dies waren Polen und die Sowjetunion. Im Jahre 1960 lagen die Beziehungen zwischen den Staaten des Ostblocks und der Bundesrepublik Deutschland noch weitgehend auf Eis. Aber dennoch hätten gerade jene Archive manche neue Fährte bringen können — und haben sie auch gebracht, wie sich leider erst viel später nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen herausstellte.

Zur Zeit werden NS-Prozesse u. a. in Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Kiel, Hildesheim, Bochum, Hannover und Braunschweig geführt. In den meisten Verfahren geht es um Verbrechen in Polen oder in der Sowjetunion

Obwohl die Schwerpunkte der NS-Verbrechen eindeutig im Osten zu suchen sind, hatte es die Bundesregierung noch im Sommer 1960 abgelehnt, osteuropäische Archive benutzen zu lassen. Adalbert Rückeri stellt dazu fest „Im Sommer 1960 erhielten der damalige Leiter der Zentralstelle und zwei seiner Mitarbeiter Gelegenheit, mehrere Wochen lang im amerikanischen Nationalarchiv — World War II Records Division — in Alexandria bei Washington deutsche Aktenbestände auszuwerten, die von amerikanischen Dienststellen nach Abschluß der in Deutschland geführten Militärgerichtsprozesse in die USA gebracht worden waren. Die dabei ausgewählten Dokumente, die sodann in Form beglaubigter Film-kopien der Zentralen Stelle überlassen wurden, enthielten wiederum zahlreiche Hinweise auf bisher strafrechtlich nicht verfolgte NS-Verbrechen. Einer Anregung, auch mit den östlichen Staaten, insbesondere mit Polen Kontakt mit dem Ziel einer Auswertung der in den dortigen Archiven befindlichen Dokumentenbestände aufzunehmen, ist die Bundesregierung zu dieser Zeit nicht gefolgt.''

Und dies, obwohl bereits im Frühjahr 1960 Polen über seine Militärmission in Berlin Dokumente zur Verfügung gestellt hatte und sowjetische Beamte für einen NS-Prozeß „eine große Zahl von Originaldokumenten ...dem Bundesarchiv in Koblenz zur Anfertigung von Fotokopien vorlegten'' Die Bereitschaft sowohl der Volksrepublik Polen als auch der Sowjetunion, der deutschen Justiz zu helfen, stand also außer Frage. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer mit Fritz Schäffer als Justizminister ging auf diese Bereitschaft jedoch nicht ein, weil Dokumente aus osteuropäischen Archiven angeblich nicht zuverlässig seien. Dies ist ein weiterer wesentlicher Grund dafür, daß viele dieser Strafverfahren zu spät in Gang gekommen sind. In den sechziger Jahren war es nicht nur leichter, noch Täter und Zeugen zu finden, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit für diese nicht zu bewältigende „Bewältigung der Vergangenheit" zu interessieren, ihr klar zu machen, daß diese Prozesse in deutschem Interesse nötig waren und sind. Der langjährige Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Henry George van Dam — ein Mann, der viel für die Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Israel getan hat — stellte dazu einmal fest „Manche nannten diese Prozesse ein Unglück für das deut.sehe Volk, weil hierdurch Erinnerungen an Ereignisse wachgerufen werden, an die man sich nicht gern erinnern läßt. Das Unglück besteht aber darin, daß derartige Geschehnisse mög. lieh waren, und es ist ein Glück für Deutschland, daß Verfahren geführt wurden, die eine Umkehr zu rechtsstaatlichem Denken zeigen.“ Erst im November 1964 bequemte sich die Bundesregierung, die ganze Welt um Hilfe bei der Suche nach Dokumenten über NS-Verbrechen zu bitten. Nach der damals geltenden Gesetzgebung sollten sogar NS-Morde am 8. Mai 1965 — 20 Jahre nach der Befreiung — verjähren. In einem Aufruf forderte die Bundesregie, rung dazu auf, der deutschen Justiz entsprechendes Material zur Verfügung zu stellen. Der Deutsche Bundestag schloß sich am 9. Dezember 1964 diesem Aufruf an. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg wurde beauftragt, alles Material systematisch auszuwerten. Mitte Dezember reisten Angehörige der Zentrale nach Warschau, um erste Gespräche im dortigen Justizministerium zu führen. Die polnischen Partner waren sofort zur Zusammenarbeit bereit. Anfang Februar 1965 begannen Ludwigsburger Experten ihre Arbeit in Warschau; sie blieben dort einen Monat. Rückerls Bilanz „Die Ergebnisse bestätigten die Vermutung, daß die polnischen Archive in einem noch nicht überschaubaren Umfang Beweismaterial für bisher strafrechtlich nicht verfolgte Verbrechen enthielten. Sie zeigten außerdem mit ernüchternder Deutlichkeit, daß die in dem Aufruf der Bundesregierung vom 20. November 1964 zum Ausdruck gebrachte Vorstellung unrealistisch war, von ausländischen Staaten in größerem Umfang zur Verfügung gestelltes Dokumentenmaterial könnte noch vor dem 8. Mai 1965 ermittlungsmäßig soweit aufbereitet werden, daß zumindest in der Mehrzahl der darin genannten Fälle nationalsozialistischer Mordverbrechen rechtzeitig eine Unterbrechung der Verjährung möglich wäre.“ Das jahrelange hinhaltende Taktieren der Bundesregierung hatte jetzt immerhin zur Folge, daß der Deutsche Bundestag die Verjährung vom 8. Mai 1965 auf den 31. Dezember 1969 hinausschob. Die Abgeordneten bedienten sich eines Tricks, weshalb das Problem der Verjährung noch zweimal das Parlament beschäftigen sollte. 1965 beschloß man, die Jahre von 1945 bis 1949 bei der Verjährung außer acht zu lassen, weil die Bundesrepublik in jener Zeit noch kein souveräner Staat war.

Doch auch nach Ablauf jener vier zusätzlichen Jahre war klar, daß noch ganze Verbrechens-komplexe unbearbeitet waren, und so entschloß sich die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag, die Verjährung für Mord von 20 auf 30 Jahre zu verlängern — womit allerdings bei diesem Beschluß bereits feststand, daß das Thema . Verjährung'die Parlamentarier erneut in die Bonner Arena fordern werde: eben im Jahre 1979, weil man nämlich zu jenem Zeitpunkt bereits voraussehen konnte, daß danach auch bis dahin noch nicht ermittelte Verbrechen und Verbrecher bekannt werden würden. Außerdem wäre der Bundesrepublik außenpolitisch Schaden entstanden, wenn der Bundestag über NS-Verbrechen den Deckmantel der Verjährung ausgebreitet hätte. Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, war allerdings nicht unproblematisch: Man entschloß sich, die Verjährung für Mord generell aufzuheben und drückte sich damit an dem klaren Bekenntnis vorbei, daß die NS-Morde keine Alltagskriminalität, sondern Verbrechen waren, die der Staat gebilligt und deren Täter der Staat geschützt hatte.

Kurz vor der Aufhebung der Verjährung erreichte die Bundesrepublik unerwartetes Lob aus Israel. Generalstaatsanwalt Gabriel Bach attestierte: „Wir erkennen die gute Führung der NS-Prozesse in der Bundesrepublik an und wissen um die große Mühe, die sich Richter und Staatsanwälte geben." Bachs Lob verschwieg andere „große Mühe", und zwar jene, die sich mutmaßliche Massenmörder geben, einen NS-Prozeß gegen sie auf die lange Bank zu schieben oder ganz zu verhindern. Dafür einige Beispiele, die auch zeigen, warum NS-Prozesse hierzulande viel zu spät in Gang gebracht worden sind.

Am 2. Oktober 1943 kam in Berlin ein Telegramm folgenden Inhalts an:..... Ich bitte, den folgenden Bericht dem Herrn Reichsaußenminister unverzüglich zuzuleiten: 1. Die Juden-aktion in Dänemark ist in der Nacht vom 1. zum 2. 10. 1943 ohne Zwischenfälle durchgeführt worden. 2. Vom heutigen Tag an kann Dänemark als entjudet bezeichnet werden, da sich hier kein Jude mehr legal aufhalten und betätigen kann .. . Das Telegramm war u. a. unterzeichnet von Dr. Werner Best, dem „Bevollmächtigten des Deutschen Reiches" in Dänemark. Best ist jetzt 77 Jahre alt. Ein dänisches Gericht hat ihn nach dem Kriege zum Tode und in einem zweiten Verfahren zu zwölf Jahren Haft verurteilt — auch wegen seiner aktiven Beteiligung am dänischen Holocaust, dem mehr als 7 000 Juden zum Opfer gefallen sind. 1951 wurde Best in Dänemark begnadigt und lebt seitdem unbehelligt in der Bundesrepublik. Dabei war Best nicht nur in Dänemark „tätig“, sondern in vielen Staaten Europas — freilich , nur'von seinem Schreibtisch aus als Chef der Abteilung I im Reichssicherungshauptamt. Von Berlin aus erteilte er die Mord-befehle an die Einsatzgruppen, die in Polen und der Sowjetunion hinter der Front Bezirk für Bezirk „judenfrei" machten. Doch hat er wegen dieser Verbrechen noch nicht vor Gericht gestanden. Nach glücklicher Heimkehr aus Dänemark engagierte die Firma Hugo Stinnes den tüchtigen Juristen als Justitiar ihrer Industrie-und Handelsgesellschaft in Mülheim an der Ruhr, wo er bis zu seiner Pensionierung arbeitete. Erst Mitte der sechziger Jahre nahm die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den SS-Gruppenführer a. D. (Generalleutnant) wegen seiner Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt auf. Am 11. März 1969 wurde er in Untersuchungshaft genommen — wegen des Verdachts der Beihilfe am Mord von 11 000 Angehörigen der polnischen Intelligenz. Eine Spruchkammer in West-Berlin hatte ihn dafür 1958 nur zu einer Sühnestrafe in Höhe von 70 000 DM verurteilt — als „besonders aktiven Förderer des Nationalsozialismus"! Als er nach kurzer Zeit wieder aus der U-Haft entlassen wurde, entbrannte ein Streit um die Frage, ob Best noch verhandlungsfähig sei und ob das Verfahren in Berlin geführt werden müsse. Die Entscheidung darüber fällte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe im Dezember 1979 — zehn Jahre nach der Verhaftung! — und verwies die Strafsache Best an das Landgericht in Duisburg, wo der Prozeß so bald freilich nicht eröffnet werden dürfte. Richter wie Staatsanwälte müssen sich mit der Anklageschrift vertraut machen. Daß Werner Best noch nicht vor Gericht gestellt worden ist, muß also auch die deutsche Justiz verantworten — bis hin zum Bundesgerichtshof.

Ein anderer Fall, der das Selbstverständnis der deutschen Justiz noch greller beleuchtet: die Angehörigen des Volksgerichtshofes. Die Blutrichter jenes Tribunals haben in den beiden letzten Nazijahren fast 5 000 Todesurteile verkündet. Die Hauptverhandlungen waren keine Beweisaufnahmen, sondern haßerfüllte Beschimpfungen, Kaskaden von Gemeinheiten — jedenfalls im 1. Senat unter seinem Vorsitzenden Roland Freisler. Dennoch hat es bisher nur einen einzigen Prozeß gegen einen der „Richter" jenes „Gerichtshofes" gegeben: gegen Hans Joachim Rehse. Er wurde im Sommer 1967 von einem Schwurgericht in West-Berlin wegen Beihilfe zum Mord und Rechtsbeugung zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. In einem Revisionsverfahren erlangte Rehse freilich seinen Freispruch. Die Revisionsinstanz Bundesgerichtshof befand nämlich im Dezember 1968, der Volksgerichtshof sei ein ordentliches Gericht gewesen! Bei dieser unglaublichen Entscheidung wäre es geblieben, hätte nicht wieder einmal ein Mann die Initiative ergriffen, der schon viel für die Wiederherstellung des Rechts in der Bundesrepublik getan hat: Dr. Robert M. W. Kempner. Am 18. März 1979 erstattete Kempner beim Generalstaatsanwalt des Landgerichts Berlin, Schultz, Strafanzeige gegen alle Mitglieder des Volksgerichtshofes. Der Forderung des Juristen Kempner schlossen sich drei Tage später etwa 40 SPD-Bundestagsabgeordnete mit der Begründung an, der „geschichtliche Schandfleck 1'Volksgerichtshof müsse endlich getilgt werden. Am 25. Oktober 1979 schließlich gab der Berliner Justizsenator Gerhard Meyer bekannt, er habe angeordnet, die Ermittlungen gegen alle Staatsanwälte und Richter jenes Gerichtshofs wieder aufzunehmen. Hätte nicht Kempner diese längst zu den Akten gelegte Angelegenheit aufgegriffen, wäre jenen Blutrichtern vermutlich ein be. schaulicher Lebensabend vergönnt geblie. ben.

Drittes Beispiel: Staatssekretär Dr. Albert Ganzenmüller. 1956 waren gegen ihn die Ermittlungen aufgenommen worden wegen des Verdachts der Beihilfe zum tausendfachen Mord. Ihm wurde vorgeworfen, zumindest in der Zeit von Juli 1942 bis ins Frühjahr 1943 dem Reichssicherheitshauptamt „Transport, raum” für den Holocaust in den Vernichtungs. lagern Belzec, Sobibor und Treblinka zur Ver. fügung gestellt zu haben. Ganzenmüller war nach dem Kriege nichts geschehen. Auch das Landgericht Düsseldorf hatte es zunächst ab. gelehnt, die Hauptverhandlung zu eröffnen „mangels hinreichenden Tatverdachts". Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat der Beschwerde der Staatsanwaltschaft später stattgegeben und so begann der Prozeß am 10. April 1973. Am 3. Mai 1973 konnten die Ju. stizbeamten im Sitzungssaal 111, wo seit November 1975 der Majdanek-Prozeß geführt wird, die lange Reihe von Akten freilich wieder wegräumen. Den 68jährigen hatten Herzbeschwerden heimgesucht. Er war verhandlungsunfähig geworden, als Staatsanwalt Alfred Spiess ihm Zeugen präsentierte, u. a. Ganzenmüllers frühere Sekretärin, die bezeugen konnte, daß Ganzenmüller durchaus wußte, wozu Eichmann dringend Güterwaggons brauchte. Zu dem — ausgesetzten — Verfahren wäre es vermutlich gar nicht gekommen, hätte sich nicht der damalige Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Dr. Josef Neuberger, nachdrücklich dafür eingesetzt.

Viertes Beispiel: SS-Obersturmbannführer a. D. Dr. Kurt Lischka, in den entscheidenden Jahren des Holocaust in Frankreich stellvertretender Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes SD in Paris. Im März 1950 von einem Militärgericht in Paris in Abwesenheit wegen maßgeblicher Beteiligung an der Deportation Zehntausender Juden in die Vernichtungslager des Ostens zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt, hat er bis zum 12. Februar 1980 als freier Mann und erfolgreicher Kaufmann in der Bundesrepublik gelebt. Erst im Februar 1971 wurde zwischen Bonn und Paris ein Zusatzabkommen unterzeichnet, das die Verfolgung von Leuten wie Lischka ermöglichte, die schon in Frankreich abgeurteilt worden waren. Der Deutsche Bundestag Heß sich freilich mehr als drei Jahre, genau bis zum 30. Januar 1975, Zeit, ehe er diesen Vertrag ratifizierte. Es mußten erst die Klarsfelds sowie französische Widerstandskämpfer und NS-Opfer Druck ausüben, um Abgeordnete, Justiz und die Öffentlichkeit aus ihrem Tiefschlaf wachzurütteln. Im Oktober 1979 begann in Köln gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn der Prozeß wegen Beihilfe zum Mord an 70 000 Menschen. Am 11. Februar 1980, nach nur drei Monaten und 30 Sitzungstagen, konnte Richter Heinz Fassbender die Urteile verkünden: Lischka zehn, Hagen zwölf, Heinrichsohn sechs Jahre Freiheitsstrafe. Das Verfahren zeigte, daß NS-Prozesse auch heute noch geführt werden können. Es war gleichzeitig eine öffentliche Rüge für den Bundestag, weil auch durch seine Schuld mindestens drei Jahre ungenutzt vergangen waren. Auch dies gehört zum Kapitel NS-Prozesse.

Fünftes Beispiel: SS-Sturmbannführer Ernst Boje Ehlers, als SD-Chef in Brüssel verantwortlich für den Holocaust in Belgien und Nordfrankreich. Seit Juni 1962 haben NS-Verfolgte darauf aufmerksam gemacht, daß Ehlers einen einflußreichen Posten beim Landessozialgericht für Schleswig-Holstein in Schleswig innehat. Im Oktober 1962 leitete die Staatsanwaltschaft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren ein, in das auch Ehlers’ Stellvertreter SS-Standartenführer Dr. Konstantin Canaris sowie Ehlers'Judenreferent Kurt Asche einbezogen wurden. Das Landgericht Flensburg lehnte die Eröffnung einer Hauptverhandlung mit der Begründung ab, die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung sei äußerst gering. Fünfzehn (!) Jahre später, im Frühjahr 1977, ordnete das Oberlandesgericht Flensburg als vorgesetzte Dienststelle an, die Hauptverhandlung zu eröffnen. Zuständig wurde das Landgericht Kiel. Doch die drei angeklagten Juristen kannten und kennen sich in der deutschen Justiz aus. Sie legten beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde gegen den Prozeß ein: Sie fühlten sich nämlich in ihren Grundrechten verletzt. Es verstrichen mehr als zwei Jahre, ehe Karlsruhe am 23. November 1979 negativ über die Beschwerde der drei Juristen entschied. Es geht um den Mord an mehr als 20 000 Juden, die die während der Herrschaft von Ehlers, Canaris und Asche in die Gaskammern vor allem von Auschwitz verschleppt worden sind. Da es sich um ein ähnliches Verfahren wie den Kölner Lischka-Prozeß handelt, das Gericht auf Zeugen weitgehend verzichten kann, weil es viele Dokumente gibt, könnte der Kieler Prozeß so zügig geführt werden wie der in Köln unter Richter Heinz Fassbender. Lind dies vor allem deshalb, weil nur noch Asche vor Gericht steht. Canaris ist nicht mehr verhandlungsfähig und Ehlers hat sich am 4. Oktober 1980 das Leben genommen — wegen des bevorstehenden Prozesses. Daß es in Kiel 18 Jahre bis zum Beginn der Hauptverhandlung gedauert hat, haben Richter und Staatsanwälte zu verantworten. Die Angeklagten und ihre Verteidiger haben lange Zeit erfolgreich alles tun können, um dem Prozeß zu entgehen.

Sechstes Beispiel: das Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig. Seit 1963 arbeitet die Kölner Zentralstelle, die auch den Majdanek-Prozeß vorbereitet hat, an einem Sammelverfahren wegen der Verbrechen in diesem KZ. Die Öffentlichkeit erfährt nichts über den Fortgang der Ermittlungen. Wann und ob eine Hauptverhandlung eröffnet werden wird, scheint völlig offen zu sein. Das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen als Aufsichtsbehörde der Kölner Zentralstelle täte gut daran, dafür zu sorgen, daß die Öffentlichkeit endlich unterrichtet wird. Das Ministerium könnte die Vorbereitung eines Prozesses wegen der Verbrechen im KZ Groß-Rosen in der Nähe des früheren Breslau gleich mit einbeziehen. Denn auch dieses Verfahren wird von der Kölner Zentralstelle bearbeitet — seit knapp 20 Jahren.

Und um noch ein letztes Beispiel zu nennen: Legationsrat Horst Wagner war im NS-Außenministerium unter Joachim von Ribbentrop der Mann, ohne dessen Genehmigung kein Jude aus verbündeten Staaten deportiert werden durfte. Die Ermittlungen gegen Wagner begannen Anfang der fünfziger Jahre. Zu einem Urteil ist es nie gekommen, weil Wagner alle Tricks nutzte, die ihm die Paragraphen boten. Der letzte Versuch scheiterte Mitte der siebziger Jahre in Essen. Damals war Wagner allerdings so krank, daß er nicht mehr als verhandlungsfähig galt. Er hatte die Justiz mit deren eigenen Mitteln jahrzehntelang hingehal11 ten und sich schließlich aus der Verantwortung gestohlen.

An diese und andere NS-Prozesse hat der israelische Generalstaatsanwalt Gabriel Bach vermutlich nicht gedacht, als er der deutschen Justiz so hohes Lob zollte.

Nun mag es Bürger geben, die sich darüber freuen, daß viele NS-Verbrecher so lange ihren Strafverfahren ausweichen konnten und dies noch immer können. Die Deutsche Nationalzeitung trat schon immer für eine General-amnestie für NS-Täter ein. Aber auch die Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit der großen Öffentlichkeit gegenüber den Verbrechen wie den juristisch-politischen Verzögerungen ist ein Skandal.

Der frühere Rechtsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Adolf Arndt, meinte dazu am 10. März 1965 vor dem Parlament: „Wir haben nicht nur daran zu denken, daß der Gerechtigkeit wegen, auf die wir uns berufen, die überführten Mörder abgeurteilt werden sollen, sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen, schon allein durch den richterlichen Ausspruch, daß das hier ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre all derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in der Welt liegen. Nicht, daß wir Jüngstes Gericht spielen wollen; das steht uns nicht zu. Nicht, daß es hier eine justitia triumphans gäbe! Es geht darum, eine sehr schwere und im Augenblick leider noch ganz unpopuläre Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren, sondern daß wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr."

Arndt hätte dies auch in der letzten Verjährungsdebatte des Bundestages sagen können, denn populär sind NS-Prozesse bis auf den heutigen Tag nicht. Das gilt auf jeden Fall für viele Angehörige der älteren Generation, die die NS-Zeit selbst erlebt und nicht zu den Verfolgten gehört haben.

Bei der jüngeren Generation stellt sich die Lage anders dar. Ich habe während des Majdanek-Prozesses mit einigen Hundert jungen Deutschen gesprochen, und zwar vor und nach einer Hauptverhandlung. Vor Beginn waren die meisten Schüler, Lehrlinge oder Studenten der Auffassung, es sei nicht sinnvoll, so alte Leute noch anzuklagen. „Das könnte ja unsere Oma sein", haben viele junge Mädchen gesagt, nachdem sie die weiblichen Angeklagten ge.sehen hatten. Frauen, die sich durch nichts von den Großmüttern jener jungen Leute unterscheiden — äußerlich. Nachdem allerdings Zeugen aus dem Kreis der Opfer, von Weinkrämpfen geschüttelt, aschfahl, zitternd, berichtet hatten, wie eine der angeklagten Aufseherinnen einen Bluthund auf eine schwangere Frau gehetzt habe, der der Mutter das Kind aus dem Leib gerissen hat, wie KZ-Henker Häftlinge erdrosselt, ertränkt, erschlagen haben, war es mit dem „Hört doch auf" allemal vorbei. Nach solchen Aussagen hat kein rechtlich denkender Mensch Verständnis für das Argument, es müsse endlich Schluß sein mit diesen Prozessen.

Die Opfer können sich nicht mehr wehren. Sie und ihre Hinterbliebenen haben jedoch Anspruch auf diese Prozesse, so wie Adolf Arndt es im Bundestag formulierte.

Völlig abwegig ist hier das . Argument', auch die Siegermächte würden die von ihnen verübten Verbrechen nicht verfolgen. Es besteht, wie eingangs erwähnt, ein grundlegender Unterschied zwischen Kriegs-und NS-Gewalt-verbrechen. Die KZ-Schergen und Mörder in den Einsatzgruppen waren keine Soldaten, die kämpften. Es waren eiskalte Mörder. Nicht alle sind freiwillig zur SS, zur Gestapo, zum Sicherheitsdienst oder zu anderen verbrecherischen Organisationen gegangen-, etliche sind erst durch das Regime, durch die unumschränkte Herrschaft zu Mördern, Sadisten geworden. Rechtlich macht dies jedoch keinen Unterschied aus.

NS-Prozesse sind aber auch für die Glaubwürdigkeit unserer eigenen politischen Kultur erforderlich. Niemand soll später sagen können, die Bundesrepublik habe sich mit den Nazi-Verbrechern arrangiert. Daß sie gleich nach dem Kriege von der Gesellschaft wieder auf-B genommen wurden — so, als sei nichts geschehen —, ist schlimm genug. Der klare Trennungsstrich zwischen NS-Verbrechern und Bundesbürgern mit demokratischer Gesinnung ist nie deutlich gezogen worden. Auch dies ist ein Grund dafür, daß NS-Prozesse viel zu spät begonnen haben.

Inzwischen ist das Ende solcher Strafverfahren in Sicht. Die mutmaßlichen Täter werden älter, was aber für die Justiz kein Grund sein kann, ihre Ermittlungen einzustellen oder Hauptverhandlungen nicht mehr zu eröffnen. Viele dieser Leute erfreuen sich nämlich auch als Siebzigjährige bester Gesundheit. Dr. Kurt Christmann war Chef der Einsatzgruppe D., die mehr als 90 000 Menschen ermordet hat. Am 28. November 1974 war ein Strafverfahren gegen Christmann in München eingestellt worden. Staatsanwaltschaft und Polizei haben Christmann danach aber nicht aus dem Auge verloren. Am 13. November 1979 wurde der jetzt 72 Jahre alte Immobilienhändler in seiner Villa in München verhaftet. Die Beamten trafen ihn im hauseigenen Swimmingpool, wo er gerade sein Morgenbad beendet hatte. „Er schimpfte wüst, als man ihm die Festnahme eröffnete, und bezeichnete die Beamten als Gangster", berichtete die Süddeutsche Zeitung tags darauf. Von Reue also keine Spur. Am 19. Dezember 1980 ist er als Mordgehilfe zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. NS-Täter sehen sich heute mehr als Opfer denn als Täter. Dies ist auch eine Folge zunehmender rechtsradikaler, neonazistischer Aktivitäten, deren Ziel die Entkriminalisierung des NS-Staates ist. Doch so lange noch NS-Prozesse geführt werden, hat die Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich eingehend über die Verbrechen und die Täter zu informieren. Daß davon zu wenig Gebrauch gemacht wird, ist auch Schuld der Medien, die hier nicht hinreichend ihrer Aufgabe nachkommen, auch solche Vorgänge zu Themen zu machen, von denen die Öffentlichkeit angeblich nichts mehr wissen will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ebenda, Heidelberg, Karlsruhe 1979, S. 37.

  2. Rückeri, a. ’a. O. S. 19.

  3. Rückeri, a. a. O., S. 30.

  4. Rückeri, a. a. O„ S. 45.

  5. Rückeri, a. a. O., S. 46.

  6. Rückeri, a. a. O„ S. 51.

  7. Rückerl, a. a. O., S. 51 f.

  8. Rückerl, a. a. O., S. 53.

  9. Statistik über NS-Prozesse, 4/1980, Jg. 15, WN, Frankfurt 1980.

  10. A. a. O.. S. 56 f.

  11. Rückeri, a. a. O., S. 57.

  12. KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten. Dokumente aus den Prozessen gegen Sommer (KZ Buchenwald), Sorge, Schubert (KZ Sachsenhausen), Unkelbach (Ghetto in Czenstochau), hrsg. v. Dr. H. G. van Dam und Ralph Giordano, Frankfurt a. Main, 1962, S. 5.

  13. A. a. O., S. 60.

  14. Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplizen, Stuttgart, Wien 1961, S. 376.

  15. Stenograph. Berichte Dt. Bundestag, IV. WP, 170. Sitzung, 10. 3. 1964, S. 8553.

Weitere Inhalte