Keine Angst, Marianne! Die französische Präsidentschaftswahl 1981
Karlheinz Reif
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I. Ca y est!
„Ca y est! Es ist erreicht!" jubelt die französische Linke am Abend des 10. Mai 1981, als die erste veröffentlichte Hochrechnung den zweifelsfreien Sieg ihres Kandidaten über den Repräsentanten der seit über 23 Jahren regierenden Bourgeoisie signalisiert: 51, 8% gegen 48, 2 %! Gefühle der Befreiung, des Stolzes, der tiefen Genugtuung und endlich des Siegesrausches nach einem Wahlkampf, in dem alles andere als eine ansteckende Siegeszuversicht schließlich den Erfolg brachte
Trotz vieler Anzeichen unter der Oberfläche des Ergebnisses aus dem ersten Wahlgang vom 26. April, trotz deutlicher Umfrageresultate vor dem zweiten: Es gab so wenige Franzosen, die an eine Niederlage Valery Giscard d'Estaings glauben wollten daß der Freitag vor der Entscheidung an der Pariser Börse verlief wie immer „Marianne" hatte keine Angst
Eingedenk der Tendenz der Franzosen in vielen Wahlen, im allerletzten Augenblick aus Angst vor zuviel Veränderung mehrheitlich bürgerlich zu wählen formulierte der französische Politologe Roland Cayrol am 4. Mai scheinbar paradox: „Die Chancen Mitterrands sind gut wie nie zuvor, weil und solange fast jeder damit rechnet, daß Giscard gewinnt."
So wurde das Verliererimage des sozialistischen Kandidaten zu einem heimlichen Trumpf für die Sozialisten. Außerdem: Er hatte Neuwahlen zur Nationalversammlung sobald wie möglich versprochen. Dies er-zeugte ein Klima, das gewisse Züge eines ersten Wahlganges aufwies: die endgültige Entscheidung fällt noch gar nicht.
Erst am Morgen nach der Wahl wacht die Börse auf. Erschreckt. Die Franzosen bleiben mehrheitlich gelassen
Entsprechend dem Ritual zum Staatsamt gekommener Parteiführer erklärt der Sieger in seiner ersten Rede: „Je ne suis pas le president des socialistes. Je suis le president de tous les Francais." — Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Franzosen! — Damit lockt man weitere Wähler; der nächste Wahlkampf hatte begonnen. Auch die Börse beruhigte sich wieder und wartete erst mal ab. Mit der Wahl des linksliberalen, antisowjetischen (doch nicht offen antikommunistischen) Sozialistenführers Francois Mitterrand zum Präsidenten der V.französischen Republik am 10. Mai 1981 und mit der Ernennung des prononciert „europäischen" Sozialdemokraten Pierre Mauroy zum Premierminister am 21. Mai ist nur der erste Schritt des Machtwechsels vollzogen. Der zweite Akt — die Wahl zur Nationalversammlung am 14. und 21. Juni — sollte entweder den Prozeß der Legitimitätssteigerung des Regimes und seiner Institutionen auf den neuen Höhepunkt führen, den die erste Machtübernahme durch die bisherige Opposition in einem demokratischen politischen System immer bedeutet oder das Regime und seine Institutionen jenem enormen Härtetest aussetzen, der in die Verfassungskonstruktion der „semi-präsidentiellen" V. Republik seit 1962 einprogrammiert ist: parteipolitisch unterschiedliche oder gar gegensätzliche Präsidial-und Parlamentsmehrheiten ). Im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien ist ein Machtwechsel in der V. Republik für den Herausforderer, für die Opposition, sehr viel aufwendiger und risikoreicher gewesen als die Verteidigung der Macht durch die Regierenden. Die „majorit sortante", die amtierende Mehrheit, mußte nur eine, die Opposition mußte zwei Wahlen mit jeweils zwei Wahlgängen gewinnen Das institutioneile System der V. Republik, insbesondere die Volkswahl der Präsidenten seit 1962 und das Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen in Präsidentschafts-wie Parlamentswahlen, hat gravierende Auswirkungen auf die Struktur und Funktion des Parteiensystems gehabt die erst nach dem Abtreten de Gaulles und seines gaullistischen Nachfolgers Pompidou während der Präsidentschaft des Nicht-Gaullisten Valry Giscard d’Estaing voll zum Tragen kamen die „Präsidentialisierung" der Parteien und die „Quadripolarisierung" des Parteiensystems Unter den Bedingungen knapper Mehrheitsverhältnisse zwischen den beiden Lagern, wie sie Frankreich seit der Regeneration seiner Sozialdemokratie und deren — bei Aktzeptie-rung der Institutionen der V. Republik konsequenten — Bündnispolitik mit den Kommunisten seit der Wahl zur Nationalversammlung 1973 charakterisieren, gewinnt die Interaktion derStrategien der viergroßen politischen Formationen,
die Rivalität nicht nur zwischen, sondern insbesondere innerhalb der beiden Lager, außerordentliche Bedeutung. Beide Kandidaten der Wahl zum 10. Mai 1981 sind Meister der langfristigen politischen Strategie. Beide haben 1962 (!) begonnen, die Duelle von 1974 und 1981 vorzubereiten. Gemeinsam haben sie die Prophezeiung des zuvor kommunistischen Gaullisten Andr Malraux aus 16 der Anfangszeit'des Regimes widerlegt, in wenigen Jahren werde zwischen Gaullisten und Kommunisten nur noch das Nichts sein. Der kritische Faktor, der Giscard 1974 zu seinem Triumph und 1981 zu seiner Niederlage führte, sein strategischer Rechenfehler also, heißt Jacques Chirac.
II. Die langfristigen Strategien
Abbildung 3
Abkürzungen
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Als der 36jährige Valery Giscard d’Estaing sich Ende 1962 von seinen (nicht-gaullistischen) konservativen Fraktionskollegen trennt, die die Algerienpolitik des Generals meist scharf bekämpft haben, um sich aktiv für die Verfassungsänderung zur Einführung der Volkswahl des Staatspräsidenten einzusetzen, ist er schon Finanzminister. Nach der Parlamentswahl, die dem Referendum folgt, schließt er sich jedoch nicht den Gaullisten an, sondern gründet innerhalb der Regierungsmehrheit eine eigene Fraktion: die republicains ind 6-pendants Das Ziel steht schon damals fest: Giscard d’Estaing will Präsident der Republik werden Seiner Parlamentsfraktion fügt er einen Parteiapparat im Lande bei, die F. N. R. I. und sichert ihr 44 Sitze in den Wahlen von 1967. U. N. R. und R. I. haben zusammen einen Sitz mehr als die Opposition: de Gaulle ist auf seine Unterstützung angewiesen. 1969 stellt er sich beim Referendum über die Reform des Senats gegen de Gaulle, der verliert und zurücktritt. Valry Giscard d’Estaing unterstützt die Kandidatur Pompidous und wird wieder Finanzminister. Sein Staatssekretär heißt Jacques Chirac, damals 37 Jahre alt Als Pompidou 1972 seinen Premier Chaban-Delmas entläßt, weil dieser ihm zu eigenständig und zu „links" ist, bleibt Giscard d’Estaing Finanzminister in den drei darauffolgenden Regierungen Pierre Messmers. 1974 stirbt Pompidou; Chaban kandidiert für die Gaullisten, Giscard für „die Mitte" Giscard schlägt Chaban im ersten Wahlgang mit Abstand, weil er auf seiner Seite Jacques Chirac (inzwischen Innenminister) hat — unterstützt von weiteren 42 „pompidolistischen" Abgeordneten und Ministern. Chirac verfolgt das Ziel, Chaban zu stoppen und später selbst Präsident zu werden, wenn Giscard verbraucht ist oder — nach kurzem, aber katastrophalem Zwischenspiel der Union de la Gauche — Frankreich gerettet werden muß. Giscard schlägt den Einheitskandidaten der Linksunion, Francois Mitterrand, im zweiten Wahlgang knapp mit 424 000 Stimmen und ernennt Jacques Chirac zum Premier.
Giscards Ziel: den darniederliegenden Gaullismus mit Hilfe Chiracs zu giscardisieren, ihn aber durch Zusammenfassung aller nicht-gaullistisch bürgerlichen Kräfte „der Mitte" zu einer neuen dominanten Partei in Schach zu hal-ten, um so die Auswahl zwischen einer giscardistisch-gaullistischen und einer giscardistisch-sozialistischen Parlamentsmehrheit zu haben. Dazu muß er die Gaullisten und die Kommunisten isolieren und marginalisieren, um, wenn sie genug geschrumpft sind, durch Wiedereinführung des Verhältniswahlrechts Sozialisten und Giscardisten vom Zwang zu Wahlbündnissen zu befreien: „La France souhaite tre gouvern au centre!" Frankreich möchte in der Mitte regiert werden.
Um in der V. Republik an die Macht, d. h. mit einem eigenen Präsidenten ins Elysee zu kommen, war es für die französische Sozialdemo-kratie, die sich durch ihre Kolonialpolitik sowie durch ihre Beteiligung an den permanenten, unproduktiven Regierungsumbildungen und -stürzen in der IV. Republik desavouiert hatte, erforderlich, — daß sie sich organisatorisch, programmatisch und personell regenerierte; — daß sie die institutioneilen Rahmenbedingungen und Spielregeln des neuen Regimes zumindest in ihrem Kern akzeptierte und folglich ein enges politisches Bündnis mit der kommunistischen Partei einging um für das kommunistische Elektorat dauerhaft glaubwürdig als Vertretung einer „linken" Politik (spätestens) im zweiten Wahlgang von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wählbar zu sein, ja sogar angesichts einer Aufforderung der kommunistischen Parteiführung zur Stimmenthaltung wählbar zu bleiben; — daß sie als Partei eindeutig stärker wurde als die Kommunisten, um ein „Abspringen im letzten Moment" des rechten Flügels im eigenen Elektorat zu verhindern; — daß sie sich schließlich als so deutlich von der kommunistischen Parteiführung nicht mehr erpreßbar erwies, um für genug Wähler der Mitte, die von der Politik des bürgerlichen Präsidenten enttäuscht waren, unbelastet attraktiv zu sein (und es im zweiten Wahlgang zu bleiben), ohne die Zustimmung der kommunistischen Wähler (spätestens im zweiten Wahlgang) zu verlieren. Dies waren die strategischen Lehren, die Francois Mitterrand aus dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 1965 und 1969 zog 24). Nach der „Gründung des neuen PS aus der alten SFIO" durch Alain Savary 1969 brachte Mitterrand 1971 (Parteitag von Epinay) seine Vereinigung politischer Clubs CIR 25) in die neue Partei ein und übernahm die Führung. 1972 wurde das Programme commun de gouverne-ment de la gauche zwischen PS und PC ausgehandelt und beschlossen, dem sich eine Linksabspaltung vom PRS, das MRG unter Robert Fabre, anschloß. In die Parlaments-und Kantonalwahlen 1973, in die Präsidentschaftswahl 1974, die Kantonalwahlen 1976 und die Kommunalwahlen 1977 ging die Linksunion geschlossen. Rasch entwickelte diese eine außerordentliche Dynamik, die jedoch fast ausschließlich dem PS zugute kam, bei stagnierendem und oft leicht absinkendem Stimmenanteil des PC 26). Als die Auswirkungen der Wirtschaftskrise spürbar wurden und der PC es immer weniger attraktiv fand, an die Regierung zu kommen, um doch nur „die Krise verwalten" zu können, dabei die Vormacht in der Linksunion aber immer deutlicher an den PS abgeben zu müssen, nahm die PC-Führung die Zusammenarbeit des PS mit der SPD im „Bund der sozialdemokratischen Parteien der EG” und den Entwurf einer gemeinsamen Plattform für die Europawahl zum Anlaß, bei der von ihr erzwungenen Verhandlung über die Aktualisierung des Gemeinsamen Programms die Forderungen so hochzuschrauben, daß Mitterrand und Fabre leichtes Spiel hatten, die Verhandlungen scheitern zu lassen, aber die Schuld dafür glaubwürdig dem PC anzulasten 27). Mitterrand war am Ziel: Er mußte nur noch den PS geschlossen auf glaubwürdigem Linkskurs halten, um als „Alleinvertreter" des Programme commun die Wahl zur Nationalversammlung 1978 zu gewinnen, bzw. — im Falle einer Niederlage — abzuwarten, bis die Mißerfolge Giscards und seines höchst unpopulären Ministerpräsidenten Raymond Barre bei der Verarbeitung der Krise ihm bei der Europawahl die deutliche Herabstufung des PC zugunsten des PS sowie eine deutliche Mehrheit der Linken gegenüber der Rechten einbrachten. Dann würde er zum ersten Mal echte Chancen auf einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl 1981 haben.
III. Die Ausgangssituation: der Sieg in der Tasche
Abbildung 4
Frankreichs Regierungssystem
Frankreichs Regierungssystem
Um die Polarisierung an der Nahtstelle zwischen der nichtkommunistischen Linken und den „zentristischen" Parteien der Rechten zu überwinden, betreibt Giscard zu Beginn seines Septennats eine Politik der „döcrispation", der Entkrampfung Um die Spannungen in der Linksunion, ja deren Spaltung zu fördern und gleichzeitig die Gaullisten in eine Sackgasse zu manövrieren, veranstaltet er direkte Wahlen zum Europäischen Parlament. Um die offene Rebellion der Gaullisten zu verhindern, und weil dies seinen eigenen Vorstellungen von der richtigen Führungsstruktur der EG nahekommt, etabliert er gleichzeitig den Europäischen Rat
Planmäßig spaltet sich die Linksunion im Herbst 1977 und verliert die Parlamentswahl 1978. Planmäßig provoziert die Europawahl im von Chirac nach dessen Bruch mit Giscard 1976 zu einer schlagkräftigen Maschine wiedererstarkten neo-gaullistischen RPR schärfste Spannungen und eine empfindliche Niederlage. Planmäßig überrundet Giscards eigene UDF in der Kantonalwahl im März 1979 den RPR, wird premierparti de la majori-t^, und in der Europawahl im Juni 1979 den durch parteiinternen Machtkampf geschwächten PS, sie wird premier parti de la France.
Das Ziel ist erreicht: Giscards UDF dominiert. Die Gaullisten sind demoralisiert und uneins. Die Sozialisten sind mit den Kommunisten und untereinander zerstritten. Der PS stagniert, hat aber einen deutlichen Vorsprung vor dem PC. Die Kommunisten haben zwar in der Europawahl erstaunlich stabil abgeschnitten, aber sie richten ihre Energie ganz auf den Kampf gegen den PS und sind durch ihre kompromißlose Befürwortung der sowjetischen Invasion in Afghanistan völlig isoliert. Der Boden für eine Wiederwahl 1981, die sich gewissermaßen von selbst gewinnt, ist bereitet
Daß die ökonomische Situation seines Landes sehr ernst war, obwohl er nach Chiracs Rücktritt den „besten Ökonomen Frankreichs" (so Giscard), Raymond Barre, zum Premierminister gemacht hatte und dieser einen „Plan-Barre“ nach dem andern zur Senkung von Inflation und Arbeitslosigkeit ohne Erfolg in Angriff nahm, beunruhigte Giscard nicht. Man würde verstehen, daß angesichts des zweiten Ölpreisschocks die Ursachen außerhalb Frankreichs lagen, zumal Frankreich unter den Industrieländern noch eine relativ gute Figur machte. Die Staatsverschuldung war relativ bescheiden, der Franc war stabil, er durfte sogar zeitweilig helfen, die DM zu stützen. Allerdings: am Ende des Septennats, in dessen unfranzösischen Mut zum Liberalismus viele, vor allem deutsche Beobachter soviel Hoffnung gesetzt hatten, waren die Inflation und insbesondere die Arbeitslosigkeit in Frank-reich auf dem höchsten Stand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Daß eine ganze Serie von Skandalen die Idylle immer wieder in ein seltsames Licht tauchte, nahm der Präsident offiziell überhaupt nicht zur Kenntnis, auch wenn er persönlich involviert war
Seit 1977/78 hatte er offenbar die Hoffnung auf eine kurzfristig erfolgende Annäherung der Sozialisten an die Mitte aufgegeben und setzte, im Vertrauen auf die Reflexe des konservativen und legitimistischen Elektorats, auf „Ruhe und Ordnung", insbesondere in der Justizpolitik Gleichzeitig bedachte er kinder-reiche Familien, Behinderte, Rentner und Bauern mit großzügigen Hilfen aus der Staats-bzw. EG-Kasse
Daß seine Popularitätskurve seit April 1980 absank daß sein als kalt und hochnäsig empfundener Regierungsstil und seine Tendenz, sich persönlich in alles einzumischen immer mehr zum Thema der öffentlichen Diskussion wurde, focht ihn nicht weiter an. Angesichts der näher kommenden Wahl nahm man ihn eben als Kandidaten und nicht einfach als Staatspräsidenten wahr. Ein Grund mehr, möglichst lange offiziell nur als Präsident und nicht als Kandidat aufzutreten. Nach dem ersten Wahlgang, wenn es ums Ganze ging, würde man sich angesichts der „kollektivistischen Gefahr" schon wieder hinter ihn scharen. Schließlich erforderte auch die drastisch gefahrvoller gewordene internationale Lage Erfahrung, Festigkeit und Friedensbemühung und nicht Experimente
IV. „Große" und „kleine" Kandidaten
Abbildung 5
Präsidentschaftswahlergebnisse der V. Republik
Tabelle 2.
Präsidentschaftswahlergebnisse der V. Republik
Tabelle 2.
Jeder kann für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren, wenn mindestens 500 Parlamentarier, Conseillers Göneraux oder Bürgermeister seine Kandidatur unterstützen 64 Bewerber hatten ihre Kandidatur öffentlich angemeldet, zehn reichten sie schließlich offiziell ein.
Alle vier „großen Kandidaten" standen schon Anfang 1979, vor der Europawahl, fest, auch wenn sie erst viel später öffentlich angemeldet worden sind. Dabei gab es allerdings einen gravierenden Unterschied: nur die Kandidatur Marchais, der sie als erster bekanntgab, und Giscards, der sie als letzter formell erklärte waren in der eigenen Partei jeweils unumstritten
Die Rivalität der beiden ehemaligen Premierminister Michel Debr und Jacques Chirac prägte entscheidend die innerparteilichen Auseinandersetzungen im RPR im Vorfeld der Europawahl Die „dritte gaullistische Kandi-datur" ergab sich erst sehr viel später. Marie-France Garaud war zu dieser Zeit noch Mitglied der „Viererbande", persönliche politische Beraterin des RPR-Chefs und Bürgermeisters von Paris von der sie sich — nach der Niederlage bei der Europawahl unter schwersten innerparteilichen Druck geraten — am 11. Juni 1979 trennte
Michel Debras Ziel war es, mit Hilfe möglichst vieler gaullistischer Stimmen im ersten Wahlgang Giscard zu einer gaullistischeren Politik zu zwingen, jedoch nicht um den Preis, Giscards Sieg im zweiten Wahlgang zu gefährden. Als er sicher war, Chirac nicht zum Verzicht auf eine Kandidatur zwingen zu können, war er nur noch entschlossener, selbst zu kandidieren. Am 30. Juni 1980 verkündete er seine Kandidatur und begann sofort mit seiner Kampagne. Bevor Chirac seinerseits seinen Wahlkampf begann, erreichte Debr Umfrageergebnisse bis zu 6, 5% Da seine Empfehlung nach dem ersten Wahlgang, im zweiten für Giscard zu stimmen, gewiß war, fand er die Unterstützung von 42 (sic, vgl. 1974, s. o.) giscardistischen oder antichiracistischen gaullistischen Ministern, „Baronen" und Parlamentariern. Chirac benötigte möglichst viele Stimmen um jeden Preis. Schaffte es Giscard, würde er ihn zu gaullistischer Politik zwingen. Gewann Mitterrand, wäre er der unumstrittene Führer der gesamten Opposition und in bester Ausgangsposition für die nächste Präsidentschaftswahl (Chirac ist heute 49 Jahre alt, Giscard 55, Mitterrand 65, Michel Rocard 51). Marie-France Carauds Ziel war es, um jeden Preis die der Sowjetunion nachgebende Außenpolitik Giscards nach Afghanistan zu bekämpfen, sogar wenn sie Chirac schadete, dem sie außenpolitisch mehr vertraute, dem sie aber keine Chance gab, selbst die Wahl zu gewinnen. Auch wenn sie als konservative „Pompidoli Jahre alt, Giscard 55, Mitterrand 65, Michel Rocard 51). Marie-France Carauds Ziel war es, um jeden Marie-France Carauds Ziel war es, um jeden Preis die der Sowjetunion nachgebende Außenpolitik Giscards nach Afghanistan zu bekämpfen, sogar wenn sie Chirac schadete, dem sie außenpolitisch mehr vertraute, dem sie aber keine Chance gab, selbst die Wahl zu gewinnen. Auch wenn sie als konservative „Pompidolistin" Mitterrands Innenpolitik verabscheute, traute sie ihm allemal sehr viel mehr Entschlossenheit gegenüber der Sowjetunion zu als Giscard. Sie gab, erwartungsgemäß, vor dem zweiten Wahlgang keine Empfehlung für Giscard ab. In Umfragen erreichte sie bis zu 3 % 47).
Marchais'Ziel war es, einen Sieg Mitterrands zu verhindern, um nach dem dann unvermeidlichen Auseinanderbrechen des PS die kommunistische Partei mit 25 oder mehr Prozentanteilen bei der Wahl zur Nationalversammlung 1983 auf die verschärften sozialen Auseinandersetzungen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise vorzubereiten. Er begann seinen Vorwahlkampf Anfang 1980 48).
Die längste und härteste Auseinandersetzung um die Präsidentschaftskandidatur einer Partei aber, von der gesamten „politischen Klasse"
Frankreichs mit äußerster Aufmerksamkeit und Spannung verfolgt, gab es bei den Sozialisten zwischen Francois Mitterrand und Michel Rocard. Sie begann am Abend des zweiten Wahlgangs zur Nationalversammlung am 19. März 1978 mit Rocards Distanzierung im Fersehen vom Programme commun de gou-
vernement de la gauche 49) und endete am 8. November 1980 mit der Rücknahme seiner schon angemeldeten Kandidatur durch Michel Rocard 50). Entscheidender Höhepunkt war der Parteitag von Metz vom 6. bis 8. April 1979.
Der inspecteur des finances und Wirtschaftsfachmann Michel Rocard, eine der Symbolfiguren des „Mai 68", langjähriger Führer und Präsidentschaftskandidat 1969 des kleinen linkssozialistischen PSU, äußerst mißtrauisch gegenüber dem PCF und daher immer skeptisch gegenüber der „Union de la-Gauche", war 1974 Mitglied im Beraterstab des Kandidaten Mitterrand und Ende desselben Jahres mit dem Großteil der Aktiven seiner Partei zum PS gestoßen 51). Dezentralisierung, Selbstverwaltung (autogestion), Indikativplanung, aber Marktsteuerung auch nationalisierter Unternehmen sind seine gesellschaftspolitischen Prioritäten. Nach der Niederlage von 1978 strebte er eine von dem PC vollkommen unabhängige, auf die nichtkommunistischen Gewerkschaften und die zahlreichen associations der Neuen Linken gestützte, auf das Elektorat am linken Rand der bürgerlichen Mehrheit zielende Strategie des PS für 1981 (unter seiner Kandidatur und mit Mitterrand als Parteichef) an. Seine außerordentlich große Popularität in der öffentlichen Meinung, aber auch innerhalb der sozialistischen, ja sogar der kommunistischen Wählerschaft ließen ihn seit Ende 1978 zunehmend als den weitaus aussichtsreicheren PS-Präsidentschaftskandidaten erscheinen als den „Mann der IV. Republik" und „ewigen Verlierer" Francois Mitterrand
Mitterrand bekämpfte ihn erbittert, nicht nur der eigenen Ambitionen auf das Präsidenten-amt wegen, sondern auch weil ihm Rocard weniger geeignet schien, in den Augen der kommunistischen Wähler den zweifelsfreien Linkskurs („ancrage ä gauche") zu personifizieren und weil die große Zahl seiner kompromißlosen Gegner in der mittleren und oberen Führungsschicht des PS eine Parteispaltung kaum vermeidbar erscheinen ließ. Mitterrand übernahm zwar zahlreiche Elemente der Rocardschen Strategie für sich, aber den Rivalen selbst hielt er auf größtmöglicher Distanz Michel Crepedu, der Führer des kleinen MRG (Linksliberale) seit dem Wechsel Robert Fab-res ins Lager Giscards 1978, setzte auf eine Niederlage Mitterrands und eine anschließende Übernahme der sozialistischen Parteiführung durch Rocard. Deshalb, und um dem Drängen seiner Parteibasis nachzugeben, kandidierte er gegen den erbitterten Widerstand der meisten MRG-Parlamentarier, die ihren Sitz alle dem Wahlbündnis mit dem PS im ersten Wahlgang verdankten und sich darum von Anfang an ganz auf die Seite Mitterrands stellten
Auch Huguette Bouchardeau (PSU) und Arlette Laguiller (LO) gaben schon vor dem 26. April die Parole „Am 10. Mai Mitterrand!“ aus, obwohl sie keinen Zweifel daran ließen, wie wenig sie ihn für einen’Sozialisten hielten.
Aber anders wäre das linkssozialistische und das trotzkistische Elektorat kaum zu mobilisieren gewesen. Auch Alain Krivine (LCR) erklärte am 30. Juni 1980 seine Kandidatur, brachte aber nicht die erforderlichen 500 par-rainages zusammen. Brice Lalonde konnte erst nach zähem Ringen zwischen verschiedenen Umweltschützer-Vereinigungen seine Kandidatur bekanntgeben Auch er kam allein nicht auf die 500 parrainages, worauf die UDF-Partei CDS mit den fehlenden Notabienunterschriften einsprang, denn ohne die Kandidatur eines „Grünen" lief Giscard Gefahr, unter ungünstigen Umständen (wie sie ja dann auch prompt eintraten) hinter Mitterrand aus dem ersten Wahlgang hervorzugehen, was das Rennen schon entschieden hätte.
V. Ein Wahlkampf voller „Effekte"
Abbildung 6
Präsidentschaftswahlergebnisse der V. Republik
Tabelle 2
Präsidentschaftswahlergebnisse der V. Republik
Tabelle 2
Der Wahlkampf war durch eine erstaunliche Zurückhaltung beim Austausch ideologischer Formeln und Parolen sowie durch eine bemerkenswert intensive Debatte über die sachlichen Details der programmatischen Positionen der Kandidaten gekennzeichnet Bis zu den verzweifelten Versuchen Giscards kurz vor dem zweiten Wahlgang, Mitterrand zum Kollaborateur des Vichy-Regimes zu stempeln blieben sowohl persönliche Herabsetzungen zwischen den Kandidaten als auch Anstrengungen, die Skandalgeschichte der V. Republik zum Wahlkampfthema zu machen, aus. Allerdings gab es für das satirische Wochenblatt Le Canard Echain^ keine Woche ohne Diamanten...
Nachdem Georges Marchais seine Vorwahl-Kampagne schon zu Jahresbeginn 1980 gestartet hatte, Michel Debr allein nach der Sommerpause keinen großen Neuigkeitswert für die Medien mehr hatte, Giscard und Chirac sich sorfältig bedeckt hielten, damit ihr Pulver bis zur heißen Phase trockenblieb, nachdem Mitterrand dem immer heftiger werdenden Drängen Rocards auf eine klare öffentliche Entscheidung schließlich mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur antwortete, aber bis Ende Januar, ja Anfang März 1981 keinen Wahlkampf betrieb, stürzten sich die Medien am 19. November 1980 mit Begeisterung auf die Erklärung des Vulgärkomikers Michel Colucci (Künstlername Coluche), er werde für das Amt des Präsidenten der Republik kandidieren.
Nicht nur die Auflagen seiner Schallplatten und die Besucherzahlen seiner Tourneen stiegen sprunghaft. Als Journalisten, Publizisten, Philosophen, Soziologen, Psychologen und Ju-risten — erst ironisch, dann immer tiefsinniger — in der Presse Gedanken darüber austauschten, was diese Kandidatur und ihr Echo über den Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, des politischen Systems, des regime Giscdrd zum Ausdruck brachte, als Meinungsumfragen die Erfolgsaussichten des zotenreißenden Schnellsprechers ausleuchteten und zweistellige Wahlabsichten (maximum 11 %) zutage förderten, wurden die Politiker unruhig. Sprecher aller Parteien nahmen in sorgfältig redigierten Texten Stellung zu dem „Phänomen"; und eine zweite Welle der Coluche-Debatte überrollte Frankreich. Coluches Manager erlag einem mysteriösen Mordanschlag und dem Künstler wurden mit Hinweis auf seine Qualität als Politiker langfristig vereinbarte Kabarettauftritte aus dem Fernsehprogramm gestrichen; dies löste prompt eine breite öffentliche Diskussion der Kontrolle des Elyse über den staatlichen Rundfunk aus. Das war der „effet Coluche". Michel Rocard wollte Mitterrand zu einer Entscheidung zwingen und setzte alles auf eine Karte. Am Abend des 19. Oktober 1980 erkärte er in einem nervös und unruhig wirkenden — vom Fernsehen direkt übertragenen — Auftritt im Rathaus von Conflans-Sainte-Honorine, wo er Bürgermeister ist, seine „Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur der Sozialistischen Partei“. Mitterrand ließ am 8. November 1980 das Comite directeur, den Parteirat des PS, beschließen, wer diese Aufgabe wirklich übernehmen solle. Er kündigte an, er werde mit seinem Wahlkampf nicht vor Februar 1981 beginnen und gab den Druckauftrag für sein zentrales Wahlplakat: „Francois Mitterrand — la force tranquille", die ruhige Kraft. Rocard, der in Metz 1979 erklärte hatte, er werde „selbstverständlich nicht gegen Francois Mitterrand kandidieren“, verzichtete. Das war der „effet Rocard“. Bei sieben Nachwahlen zur Nationalversammlung am 23. und 30. November 1980 fielen wichtige Vorentscheidungen: Die UDF verlor die drei zuvor von ihr gehaltenen Parlamentssitze, zwei an den PS, einen an das RPR; aber noch entscheidender war die Tatsache, daß die kommunistischen Wähler des ersten Wahlgangs (11, 3%) im zweiten gegen die Empfehlung der Parteiführung dem vom PS unterstützten linksliberalen Kandidaten im früheren Wahlkreis von Robert Fabre zum Sieg gegen den Kandidaten des PR verhalfenb
Am 3. Februar 1981 betritt Jaques Chirac offiziell die Bühne des Wahlkampfes. Das aufgeregt-aggressive Image, mit dem er seinen Europawahlkampf verloren hatte, ist verschwunden. Gelassen, aber unübersehbar entschlossen, greift er Giscards Politik an und verkündet vom ersten Augenblick an den Franzosen: „Wenn Ihr nicht mich, statt Mitterrand, in den zweiten Wahlgang schickt, wird Mitterrand Präsident. Dann beginnt das kollektivistische Zeitalter." Er hat das Amt des RPR-Chefs niedergelegt und läßt am 5. Februar einen außerordentlichen Parteitag mit 99 % seine Kandidatur billigen und unterstützen. Michel Debr, der seine Anhänger aufgelordert hat, dem Ereignis fernzubleiben, geißelt die aus der IV. Republik stammende Unsitte, daß „Parteivertreter für das höchste Staatsamt kandidieren" Spät, am 2. März 1981 erst, proklamiert Valery Giscard dEstaing offiziell seine Kandidatur für „ein neues Septennat" und versichert, nach Ablauf desselben nicht mehr kandidieren zu wollen. Zwei Tage zuvor hat er, ganz nach de Gaulle, in einem Interview das regime despar-tis und die efahr seiner Wiederauferstehung angeprangert In seiner Wahlkampfkonzeption kommen denn auch die Politiker und Führungsriegen der Parteien seiner UDF kaum zum Vorschein. Von ihm persönlich ausgewählte und geförderte Technokraten, aus der Regierung und dem Beraterstab im Elysee beurlaubt, beziehen ein Wahlkampfhauptquartier, wo er nachmittags als „citoyen-candidat" wirkt. Vormittags arbeitet er im Elysee als Präsident der Republik. Sein Stab beginnt mit einer Todsünde professionellen Marketings: Sie bauen seine Kampagne zentral auf seinen Schwachstellen auf (issue Arbeitslosigkeit und Zielgruppe Jugend). Er räumt ein, das Problem der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit, in seiner ersten Amtszeit nicht haben lösen zu können und verspricht große Anstrengungen auf diesem Gebiet zu machen. Als die Umfragen bald zeigen, daß Giscard „nicht abhebt" und er sich der Erfahrung und Wahlkampfroutine der Führungsgruppen seiner Parteien erinnert und diese einsetzt, ist es zu spät: l'opinion, die öffentliche Meinung kommt nicht mehr in Bewegung. Er propagiert die positive „Bilanz der Septennats" und nennt seine Konkurrenten „neun lamentierende anti-Giscards". (Für den Titel „candidat antiGiscard" reklamiert Georges Marchais seit Monaten ein Monopol.) Der Präsident-Kandi-dat läßt ein zusätzliches Plakat auf alle verfügbaren Werbeflächen kleben: „Valery Giscard dEstaing — paix et scurit", Frieden und Sicherheit. Aber die Franzosen haben sich schon an das Hauptplakat seiner Kampagne gewöhnt, welches seine Selbsteinschätzung mit dem lakonischen Text treffend wiedergibt „II laut un president pour la France — Valry Giscard dEstaing“ — Frankreich braucht einen Präsidenten! Allerdings sind viele Exemplare seit Wochen mit einem kleinen, aber gut lesbaren Zettel überklebt: „Alors, adieu! — Na denn adieu! Das war der effet Giscard. Francois Mitterrand weiß, daß er drei wunde Punkte entkräften muß: Er versteht nichts von Ökonomie. Er hat das Image des ewigen Verlierers. Er sei abhängig von den Kommunisten. Punkt eins: Eines seiner beiden Hauptplakate zeigt ihn umringt von einer ganzen Schar als prinzipientreu, aber pragmatisch eingeschätzter, hochkarätiger Technokraten, wie Jacques Delors oder Claude Cheysson Sie sind zwar unbestritten effizient, aber wenig bekannt. Dies ändert sich rasch; die Massenmedien erledigen es in Tagen.
Punkt zwei: Mit Willy Brandt der nach zwei vergeblichen Versuchen 1961 und 1965 erst im dritten Anlauf 1969 Kanzler wurde, macht er eine Reise durch die DDR und die Bundesrepublik auf genau jener Strecke, die er 1942 zu Fuß zurücklegte; damals hatte er nach zwei vergeblichen Versuchen im dritten Anlauf aus deutscher Kriegsgefangenschaft entkommen können.
Punkt drei: In seinem Zweifrontenkrieg gegen Giscard und Marchais empfängt er am 13. März 1981 ein Geschenk des Kreml. Die Prawda signalisiert vorsichtig, aber unmißverständlich Sympathie für Giscard und Abneigung gegen Mitterrand. Mitterrand ergreift das einmalige Angebot und trifft mit einem einzigen Stoß nach zwei Seiten genau ins Ziel. Der Sozialist, der das Treffen Giscards mit Breschnew in Warschau verurteilt hatte nennt den Prawda-Artikel im Fernsehen „le salaire de Varsovie", Giscards „Lohn für Warschau". Da Giscard vor dem Weltgipfel von Venedig als einziger westlicher Staatsmann eine Botschaft Breschnews erhalten und damit die harte Haltung des Westens ins Wanken gebracht hatte, bezeichnet Mitterrand ihn als „le petit facteur de Venise“, den kleinen Brief-boten von Venedig. Das war der effet Mitterrand. Mit einem maximalistischen 131-Punkte-Programm zielt Marchais monatelang, unterstützt von den wohlorganisierten Apparaten der Partei und der CGT bei allen Angriffen gegen Giscard eigentlich auf Mitterrand, der „mit der Rechten regieren" wolle Mit heftig umstrittenen Methoden bei der Thematisierung des Einwanderer-und des Drogenproblems versucht der PCF chauvinistisches und law-and-
order-Wasser auf seine Mühlen zu lenken.
Marchais’ Umfrageergebnisse bleiben lange tief unter den kommunistischen „Normalwerten" -Wenige Tage, nachdem die Wirkung von Mitterrands Antwort auf die Prawda deutlich wurde, schwenkt die KP am 23. März 1981 um. Im Fernsehen gab Marchais auf die bisher von ihm konsequent ignorierte Frage nach dem Votum der Kommunisten im zweiten Wahlgang eine Antwort „Es ist ausgeschlossen, daß ich für Giscard stimme. Enthalten möchte ich mich eigentlich nicht. Für Francois Mitterrand zu stimmen, stellt mich vor ein ernstes Problem: seine politische Linie ... weil darin eine reelle Gefahr liegt: daß er morgen, wenn er die Hände frei hat, mit der Rechten regiert." Nur ein massives Wahlergebnis der Kommunisten könne Mitterrand kontrollieren. Marchais fordert kommunistische Minister und droht unterschwellig mit sozialen Unruhen. Zum ersten Mal seit 1978 eröffnet der PCF da-mit die Perspektive einer Unterstützung Mitterrands im zweiten Wahlgang, obwohl Mitterrand unmißverständlich die Beteiligung von Kommunisten an der Regierung (nach der Parlamentswahl) von der Änderung ihrer Positionen zu Afghanistan und Polen und von einer Beendigung der unablässigen Beschimpfungen des PS abhängig gemacht hatte. Wenige Tage vor der Wahl erhält Marchais darüber hinaus noch einen Schlag aus dem eigenen Politbüro: In einem Rundfunkinterview nennt der neue Fraktionsvorsitzende Andre Lajoinie jedes Ergebnis für Marchais „unter 20% nicht gut" (diese Zahl lag eindeutig so hoch, daß es sich nur um einen Maßstab zur Messung des Mißerfolgs handeln konnte). Das war der „effef'iür Marchais. Jacques Chirac, „le bulldozer" durchquert inzwischen Frankreich in allen Himmelsrichtungen mit einem Wirtschaftsankurbelungs-Programm„ä la Reagan" Seit er aktiv Wahlkampf betreibt, steigt sein score in den Umfragen unaufhörlich. Debre und Garaud schrumpfen rasch. Frankreich, von ihm nichts anderes gewöhnt, ist fasziniert vom „effet Chirac"! Da nach einem Gesetz von 1977 in der letzten Woche vor einer Wahl keine Umfrageergebnisse mehr veröffentlicht werden dürfen, kann niemand die Behauptung überprüfen, die er in die Medien und über die „machine RPR" direkt in die Versammlung und Bistrots einspeist: Chirac ist ganz kurz davor, Mitterrand zu überrunden und in den zweiten Wahlgang zu kommen Die Presse des In-und Auslandes ist am Vorabend der Wahl voll von dieser Spekulation. Zweifellos hat dies Wirkung gehabt: weitere Debr-und Garraud-Anhänger geraten in seinen Sog vor allem aber: viele Unentschiedene, viele Crüpeau-, Bouchardeäu-, Laguiller-, Lalonde-, insbesondere jedoch Marchais-Anhänger werden nachdenklich. Mitterrand bringt seine Organisation noch einmal auf Hochtouren, er setzt sogar Michel Rocard im Fernsehen ein! Der linke NOUVEL OBSERVATEUR vor der Wahl verkündet die Parole: „Le vote utile — Mitterrand!" Nicht bis zum 10. Mai warten! Kein Risiko eingehen! Das war der effet Chirac.
VI. Erster Wahlgang: die KP in der Sackgasse
Abbildung 7
Wähleranteile der Kommunisten und Sozialisten 1924 bis 1981
Quelle: NOUVEL OBSERVATEUR no. 859. v. 28. 4. 1981. S. 40 und Wahlergebnis vom 14. 6. 1981
Wähleranteile der Kommunisten und Sozialisten 1924 bis 1981
Quelle: NOUVEL OBSERVATEUR no. 859. v. 28. 4. 1981. S. 40 und Wahlergebnis vom 14. 6. 1981
„Das Kalkül ist aufgegangen!" stellt man im Wahlkampfhauptquartier Giscards angesichts des Ergebnisses aus dem ersten Wahlgang zunächst zufrieden fest: Giscard liegt vorn, der „effet Chirac“ war ein Propagardatrick. Der Abstand Giscard-Chirac beträgt mehr als 10 Prozentpunkte. Rechnet man jeweils alle rechten und linken Kandidaten zusammen, dann liegt die Rechte mit 49, 3 % vor der Linken mit 46, 7 %; die 3, 9% des Umweltschützers Lalonde, das weiß man, werden nicht alle dem Kandidaten der Linken zugute kommen. Das Ergebnis ist zwar knapp, aber wenn der Wahlkampf den bewährten „Reflex in der Wahlkabine" gut vorbereitet, dürfte nichts mehr schiefgehen. Schon in seiner ersten Stellungnahme am Abend des ersten Wahlgangs wendet sich der Staatspräsident vor allem an die gaullistischen Wähler, appelliert an ihre legitimistischen und „majoritären" Gefühle und zeigt sich bereit, den programmatischen Forderungen der gaullistischen Kandidaten weit entgegenzukommen; er beschwört die Abhängigkeit Mitterrands von der Kommunistischen Partei und die institutionelle Turbulenz im Falle einer Parlamentsauflösung. Aber genau dieses Argument, so spürt man auf den zweiten Blick, ist weitaus weniger gewichtig als bisher: Die wirkliche Sensation des Ergebnisses ist der freie Fall von Georges Marchais auf 15, 3%. Das schlechteste Wahlergebnis der Kommunisten seit 45 Jahren! Die regionale Analyse zeigt: der PCF verliert überall vor allem und enorm in seinen Hochburgen. Der Abstand Mitterrand-Marchais ist mit 10, 5 Prozentpunkten noch größer als der Ab-stand Giscard-Chirac. Der Abstand Giscard-Mitterrand/Crpeau aber ist praktisch gleich Null! Die 25, 8% Mitterrands sind das beste Ergebnis der französischen Sozialdemokratie in ihrer ganzen Geschichte. Wie seit mehreren Jahren, macht der PS vor allem in seinen Diasporagebieten enorme Fortschritte, er „nationalisiert“ sich. Insgesamt hat die Linke im Vergleich zu 1974 nicht nennenswert dazugewonnen, im Vergleich zum ersten Wahlgang von 1978 (49, 7%) sogar verloren! „France de gauche, vote ä droite", Frankreich ist links, aber es wählt die Rechte 44% der Wahlberechtigten sind Anhänger einer linken, 37% einer rechten Partei; 41 % wählen auch links, aber 44% rechts Neben der im Mehrheitswahlsystem von Wahlkreis zu Wahlkreis verschiedenen Konstellation die das Wahlverhalten im ent-scheidenden zweiten Wahlgang von Parlamentswahlen maßgeblich mitbestimmt, liegt die signifikanteste Erklärung im „effet patrimoine", in der Tatsache, daß der Besitz ererbten Vermögens entscheidenden Einfluß auf das Wahlverhalten hat, während er für die Erklärung der Entwicklung einer Parteipräferenz „praktisch überhaupt keine Rolle spielt 85). Alain Lancelot bezeichnet ihn als „eine neue Schlüsselvariable der Wahlforschung". .
Bis zur Präsidentschaftswahl gilt — auch das Ergebnis vom 26. April 1981 ändert daran nichts — „la France est dj sociologiquement etculturellement ä gauche .... et pourtant eile vote 4 droite". Soziologisch und kulturell unübersehbar ist „la formidable poussee de la gauche", der unaufhaltsame Anstieg der Lin-ken seit -1967 und 1973 Die unter Pompidou massiv betriebene weitere Industrialisierung und die mit anderen Industrieländern vergleichbare Postindustrialisierung (Lancelot spricht von „tertialisation") hat die sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Offenheit der französischen Wählerschaft für die „alternance“, für den demokratischen Wechsel von rechts nach links geschaffen (aber auch „zurück", wie die Wahlergebnisse von 1973 bis 1981 klar erkennen lassen). Konjunktur, Regierungsleistung, politische Strategie, letztlich auch die Wahlkampftaktik bestimmen in diesem Rahmen eine Entscheidung durch den Wähler. Welcher Kontrast zur III. und IV. Republik, wo die innerparlamentarische Taktik kleiner Politikercliquen zu häufigen Regierungswechseln, nicht aber zu politischen Alternativen führte!
Die IFOP-Nachwahlumfrage vom 28. April zeigt, in welchem Maße die Strategie Mitterrands auch die andere, die politische Strukturhypothek, die in der IV. Republik eine alter-nance blockierte abgetragen hat: eine iso-lierte und sich selbst isolierende, aber sehr starke kommunistische Partei Zum ersten Mal hat die Sozialdemokratie mehr Anhänger in der Arbeiterschaft als die Kommunisten! Die Umfrage zeigt auch deutlich, wie unvorteilhaft das Wählerprofil Valöry Giscard d'Estaings geworden ist: Er führt nur noch in einer einzigen Berufsgruppe: bei den inactifs („nicht Erwerbstätige", d. h. Hausfrauen und Rentner bzw. Pensionäre); nur noch in einer Altersgruppe: bei den über 65-jährigen; und bei den Frauen. Die Landwirtschaft und der alte Mittelstand stehen mehrheitlich hinter Chirac Wie die Herabsetzung des Wahlalters durch die sozialdemokratisch-liberale Koalition der SPD 1972 den ersten Rangplatz vor der CDU/CSU sicherte so hat sich Präsident Giscard mit der Herabsetzung des Wahl-alters 1974 sein, eigenes Grab geschaufelt: 24, 5% der Erstwähler (im Vergleich zur Europawahl 1979) sind bei Chirac, und sie sind im Wahlkampf besonders intensiv antigiscardistisch aufgeladen worden, 60% stehen ohnehin links. Es bleiben 14% für Giscard
VII. La lutte finale — das „letzte Gefecht"
Abbildung 8
Parlamentswahlergebnisse (Assemblee Nationale und Europäisches Parlament) seit 1958 (nur europäisches Frankreich, ohne Terrritoires und Departements d'outre-mer) (Parteianteile an den abgegebenen gültigen Stimmen des ersten Wahlgangs, Sitze nach dem Endergebnis)
Quelle: Francois Goguel und Alfred Grosser, La Politique en France, Neuausgabe Paris 1980, S. 264 ff. und LE MONDE no. 11315, 17. 6. 81, S. 10; LE MONDE no. 11320, 23. 6. 81, S. 1
Parlamentswahlergebnisse (Assemblee Nationale und Europäisches Parlament) seit 1958 (nur europäisches Frankreich, ohne Terrritoires und Departements d'outre-mer) (Parteianteile an den abgegebenen gültigen Stimmen des ersten Wahlgangs, Sitze nach dem Endergebnis)
Quelle: Francois Goguel und Alfred Grosser, La Politique en France, Neuausgabe Paris 1980, S. 264 ff. und LE MONDE no. 11315, 17. 6. 81, S. 10; LE MONDE no. 11320, 23. 6. 81, S. 1
Wie verhalten sich Chirac und Marchais? Das ist die entscheidende Frage vor dem zweiten Wahlgang, nachdem die „kleinen" Kandidaten ihre Präferenzen erwartungsgemäß zu erkennen gegeben haben. Am Tag nach der Wahl erklärt Jacques Chirac, er werde persönlich für Monsieur Valry Giscard d'Estaing stimmen. Seine Wähler jedoch seien alle mündige Bürger, und er würde sich hüten, ihnen etwas vorschreiben zu wollen. Eine für Giscard ungünstigere Stellungnahme war nicht vorstellbar. Der schlagkräftige Apparat des RPR rührte vor dem zweiten Wahlgang keine Hand ... Dienstag erklärt das Zentralkomitee des PCF die „Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Partei auf allen Ebenen“ und empfiehlt allen Kommunisten, Francois Mitterrand zu wählen. Bedingungen werden keine gestellt. Die Organisation des PCF macht Wahlkampf „pour le changement", für den Wechsel.
Mitterrand selbst spricht nur noch auf wenigen der großen Schlußkundgebungen des PS. Mit großem publicity-Aufwand findet am Sonntag unter der Leitung von Pierre Mends-France eine „interne Konferenz" der ökonomischen Berater und Spezialisten des PS statt. Michel Rocard ist „durch eine Kundgebung in Beifort verhindert"
Giscard d'Estaing führte über die ganzen zwei Wochen eine intensive. Kampagne für die Einheit der majorit und für die Rettung der V Republik vor dem ökonomischen Desaster und dem kommunistischen Einfluß. Er macht Tag für Tag mehr Forderungen, die Chirac ge-gen ihn vertreten hatte, zu seinen eigenen. Eine Umfrage vom 27. /28. April wird veröffentlicht: Mitterrand 52%, Giscard 48% Der 1. Mai verläuft ruhig. Das bei weitem wichtigste Ereignis in diesen zwei Wochen ist die Fernsehdebatte zwischen den beiden Kandidaten. 1974 hatte das klar von Giscard „gewonnene" Fernsehduell den Ausschlag gegeben Die von allen Rundfunk-und Fernsehanstalten life übertragene Debatte am 5. Mai dauert zweieinhalb Stunden Nur LE FIGARO und FRANCE SOIR sehen, zusammen mit der TIMES und dem Großteil der deutschen Pres-se, in Giscard den klaren „Sieger nach Punk-ten". Die sozialistische Presse arbeitet die Überlegenheit Mitterrands heraus. Mit LE MONDE (pro-Mitterrand) ist die gesamte „unabhängige“, meist klar bürgerlich orientierte französische Presse einig: unentschieden Unveröffentlichte Meinungsumfragen mit 55% für Mitterrand werden kolportiert. Die Börse bleibt ruhig. In den letzten Tagen vor dem zweiten Wahlgang verhärtet sich der Ton. Giscard greift die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des PS-Programmes „Projet Socialiste" mit bedrohlichen Zahlen scharf an. Mitterrand kontert hart und zählt einzeln im Fernsehen die „zwölf Lügen" auf. Er ruft Michel Rocard (sic), der in der vorletzten Wahlsendung Mitterrands darlegt, das PS-Programm sei „nur ^ine der Komponenten einer breiten Plattform des Kandidaten, in der die verschiedenen Strömungen seiner Mehrheit Berücksichtigung" fänden. Dann „widerlegt“ er die Behauptungen Giscards mit eigenen Zahlen Punkt für Punkt.
Von „compagnons de r^sistance" Giscards wird Mitterrand zum Kollaborateur des Vichy-Regimes gestempelt. Resistance-Kompagnons Mitterrands antworten: Die Auszeichung, die Mitterrand für die Gründung und Leitung einer Hilfsorganisation für ehemalige Kriegsge-fangene verliehen worden sei, habe er aul Empfehlung des Chefs seiner Widerstandsgruppe angenommen, um deren Aktivitäten nicht zu gefährden. Die Presse beklagt die Entgleisungen der letzten Tagei Die Prawda gibt noch einmal deutlich die Präferenz der Sowjetunion für den amtierenden Präsidenten zu erkennen. Die Börse bleibt ruhig.
VIII. Das Endergebnis: Mitterrand president
Abbildung 9
Tabelle 3
Tabelle 3
Nicht ganz überzeugend verkündet Georges Marchais am Abend des 10. Mai: „Nous avons gagnös!" Wir haben gewonnen ... 90 % seiner Wähler haben für Mitterrand gestimmt, allerdings fällt auf, daß in einigen Städten mit kommunistischen Bürgermeistern die Anzahl der Stimmen Mitterrands am 10. Mai niedriger ist als die Gesamtzahl der Stimmen der Linken vom 26. April
Valöry Giscard d'Estaing schickt dem Sieger wenige Minuten nach der ersten Hochrechnung ein Glückwunschtelegramm, worin er auch ankündigt, sich weiterhin für das Wohl Frankreichs einsetzen zu wollen.
Chirac reagiert sofort. Um 20. 45 Uhr ruft er alle Kräfte der „majorit" auf, sich ohne Parteiengesinnung um ihn zu scharen und für die anstehenden Parlamentswahlen überall gemeinsame Kandidaten aufzustellen.
Giscard kündigt tags darauf die Gründung einer „großen liberalen Partei der Mitte" an und erklärt, die Niederlage sei Folge „vorbedachten Verrats". Nur 70 % der Chirac-Wähler haben Giscard gewählt. Die Wahlenthaltung ist in den Hochburgen der Rechten größer als im Durchschnitt. Weitaus die meisten Lalonde-Wähler sind dessen persönlichem Beispiel gefolgt -
24 Stunden später stimmen UDF-Präsident Jean Lecanuet und die giscardistischen Abgeordneten dem Bündnisangebot Chiracs zu. Giscard ist allein.
IX. Ca y est?
Abbildung 10
IFOP-Umfrageergebnisse
IFOP-Umfrageergebnisse
Die Amtsübergabe findet erst elf Tage nach •der Wahl statt Die lange Dauer dieses „Interregnum" wird von verschiedenen Seiten kritisch beurteilt, zumal die Bank von Frankreich schon einen beträchtlichen Teil ihrer ansehnlichen Devisenreserven zur Stützung des ins Rutschen geratenen Francs hat aufwenden müssen, bevor nach Amtseinführung, Regierungsbildung und erster Begegnung mit dem deutschen Bundeskanzler der Druck auf den Franc wieder nachläßt. Börse und Ausland nach der unerwarteten Niederlage Giscards zunächst sehr irritiert, beruhigen sich vorerst Alles wartet das Ergebnis der Neuwahl zur Nationalversammlung am 14. und 21. Juni ab. Diesmal rechnet allerdings kaum jemand mit einer Niederlage Mitterrands. Alle Maßnahmen des Präsidenten und der sozialistischen Parteiführung sind dazu angetan, ein günstiges Wahlergebnis zu fördern. Sogar die in kürzester Zeit nach seinem Amtsantritt von Mitterrand, der sich im Wahlkampf eindeutig für die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt hatte, ausgesprochene Begnadigung eines zum Tode Verurteilten dient diesem Ziel. Mitterrand, der weiß, daß zwei Drittel aller Franzosen die Todesstrafe befürworten, demonstriert Prinzipientreue und Verzicht auf billige Publikumsgunst.
Die Regierung unter dem für seine „nordische Gelassenheit" und seine innerparteiliche Integrationskraft bekannten „sozialdemokratischen" Bürgermeister von Lille, Pierre Mauroy, berücksichtigt alle verschiedenen Strömungen innerhalb des PS. Ihr gehören selbstverständlich keine kommunistischen Minister an. Zur Beruhigung des PCF sind mehrere prominente CERES-Vertreter genau so berücksichtigt worden wie andererseits Michel Rocard und seine Anhänger sowie die verschiedenen Komponenten der Mitterrandisten und die Frauen. Sechs der acht sozialistischen Regionalratsvorsitzenden haben Kabinettsrang erhalten, alle Regionen Frankreichs, mit Ausnahme des obstinat giscardistischen Elsaß, sind in der Regierung vertreten.
Es fällt auf, wie die Schlüsselpositionen besetzt sind. Verteidigungsminister ist Charles Hernu, in der IV. Republik „mendsistischer" Liberaler, hochangesehen im Offizierkorps, Abschreckungstheoretiker Außenminister ist der von Pompidou in die EG-Kommission entsandte Karrierediplomat Claude Cheysson. Justizminister der iinksliberale (MRG-) Parlamentarier Maurice Faure’ Außenhandels-
minister ist Michel Jobert, Kabinettsdirektor des Ministerpräsidenten Pompidou unter de Gaulle, Generalsekretär des Elyse unter Staatspräsident Pompidou und schließlich des-sen letzter Außenminister — ein überzeugt gaullistischer Antigiscardien und Antichiraquien. Wirtschafts-und Finanzminister ist der ehemalige christliche Gewerkschafter und Wirtschaftsberater des gaullistischen Ministerprä-sidenten Jacques Chaban-Delmas, Jacques Delors; Innen-und Polizeiminister schließlich Gaston Deferre, Bürgermeister von Marseille, Präsidentschaftsbewerber einer gescheiterten antikommunistischen Mitte-Links-Koalition gegen Charles de Gaulle im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1965 und Zählkandidat der SFIO am Tiefpunkt ihrer Geschichte bei der Präsidentschaftswahl 1969. Deferre und Mauroy sind die einzigen in diesem Kreis (auch bei Berücksichtigung des neuen Staatspräsidenten selbst), die die Kontinuität der französischen Sozialdemokratie repräsentieren. Der neue Generalsekretär des Elyse, Pierre Brgovoy hat alle Stufen der antikommunistischantisozialdemokratischen Regeneration der französischen Sozialisten absolviert: SFIO, PSA, PSU, PS. Seine Reputation als härtester Verhandler hat er sich bei dem Versuch einer Aktualisierung des Programme commun de gouvernement de la gauche im Sommer 1977 erworben.
Das neue Klima erweist sich in den auf Einladung Mitterrands zustande gekommenen Gesprächen des Staatspräsidenten mit den Vorsitzenden der drei großen Gewerkschaftsverbänden, Georges Seguy, von der kommunistischen CGT, Edmond Maire, von der linksunabhängigen CFDT, und Andr Bergeron, von der rechtssozialdemokratischen FO. (Der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft FEN, Andr Henry, ist mittlerweile Regierungsmitglied als Minister für Freizeit.) „Pas tout toute de suite!" Maßvolle, aber überlebensfähige Fortschritte! Das ist die Devise.
„Ni collaboration, ni Sabotage!" überschreibt die bürgerlich-unabhängige Wochenzeitschrift LE POINT die Haltung des Unternehmerverbandes CNPF und seines Vorsitzenden Francois Ceyrac Auch die Gewerkschaft leitender Angestellter, CGC, die Giscard im vergangenen November mit der Drohung einer eigenen Präsidentschaftskandidatur ihres Vorsitzenden Jean Menu unter Druck gesetzt hatte, verhält sich auf ihrem Kongreß in Nanterre Mitte Mai 1981 freundlich-wachsam-abwartend
Die Erfahrungen der Meinungsforscher mit dem Vertrauensüberschuß des Siegers in den ersten Wochen nach einer entscheidenden Wahl die Simulationen der Politologen auf der Basis unterschiedlicher Annahmen über die Stabilität der neuesten Verschiebungen im Elektorat genauso wie die Kalküle der aus RPR und UDF (LE POINT: „unit sans illusions") neugebildeten Wahlbündnisformation UNM (Union pour la nouvelle majorM) gingen davon aus, daß die „dritte und vierte Runde“ der französischen Präsidentschafts-wahlen 1981 ebenfalls zugunsten Mitterrands ausgehen würden.
Und doch: der harte Test des berühmten „reflex de lisoloire" stand noch ins Haus! Wovor würde „Marianne“ am 21. Juni 1981 am meisten Angst haben: vor der „kommunistischen Gefahr“ — oder vor der Verfassungskrise Abschluß des Manuskripts: 1. Juni 1981
Nachtrag
37, 6 Prozent für PS und MRG im ersten Wahlgang der Wahlen zur Nationalversammlung, 56, 1 Prozent für die Linke insgesamt; 289 Abgeordnete der nichtkommunistischen Linken im zweiten Wahlgang und 333 (von 491) für die Linke insgesamt: ein Erdrutsch für die Sozialisten, wie er in der Geschichte der V. Republik nur mit dem gaullistischen Ergebnis der „Angstwahlen" vom Juni 1968 (unmittelbar nach den Unruhen des „Mai '68“) vergleichbar ist
Das Ergebnis sei „nur für jene überraschend, die nicht an Meinungsumfragen glauben", kommentierte Raymond Aron lakonisch im EXPRESS Zu ihnen hatte auch Francois Mitterrand gehört, der — Umfragen gegenüber traditionell skeptisch — mit „etwa 31 oder 32 Prozent" für den PS gerechnet und sich in den (beim geltenden Wahlrecht politisch unumgänglichen) Wahlabsprachen mit dem PCF auf die mögliche Notwendigkeit einer sozialistisch-kommunistischen Koalitionsregierung eingestellt hatte. Nun war er mit einem Ergebnis konfrontiert, das — oberflächlich betrachtet — sogar eine Regierungsbeteiligung von Kommunisten und/oder Kräften der „linken Mitte“ (gaullistischer und/oder liberaler Herkunft) entbehrlich machte. Auch in den Juniwahlen ist nicht das Ergebnis von Gaullisten und Giscardisten (jeweils die Halbierung ihrer Parlamentsfraktion) oder der Sozialisten (ein Sprung von 103 auf 269 Abgeordnete) das Entscheidende, sondern die Tatsache, daß jene früheren PCF-Wähler, die Marchais am 26. April ihre Stimme versagt hatten, auch am 14. Juni dem PS Mitterrands treu blieben 115). Der PCF, vor wenigen Jahren noch die nicht nur organisatorisch, sondern auch wählerstärkste Partei des Landes, war auf den vierten Rang zurückgefallen.
Verständlich, daß die meisten Franzosen angesichts solcher politischer Tatsachen die sehr ernste ökonomische Situation ihres Landes einstweilen in den Hintergrund ihres Bewußtseins drängten. Auch die Börse, die sich nach dem Sturz am 10. Mai auf niedrigerem Niveau gefangen hatte, signalisierte verhaltenen Optimismus.
Mit dem Sieg des PS bei den Parlamentswahlen und der darauffolgenden Umbildung der Regierung Mauroy in einigen Positionen ist der Prozeß des demokratischen Machtwechsels abgeschlossen, der der V. Republik des Generals de Gaulle den letzten noch fehlenden Baustein unbestrittener Legitimität lieferte.
Er verlief unter institutionellen Bedingungen, die der Konstruktionslogik des Verfassungssystems vollkommen entsprechen
„La Nouvelle Ve Republique", die Neue Fünfte Republik, überschrieb Raymond Aron mit Recht die neue Ära weil sowohl in der Persönlichkeit des Präsidenten als auch in der Eindeutigkeit der Parlamentsstärke „seiner"
Partei, die Präsidentschaft Mitterrands „plus gaullien" ist — mehr an die Zeiten des Generals unmittelbar anknüpft — als die Präsidentschaften Pompidous oder gar Giscards. Zu deren Beginn war — nicht ohne Grund — von manchen die „VI. Republik" ausgerufen worden
Dennoch gibt es einen markanten Unterschied zu verzeichnen: Stärker als je zuvor in der V. Republik haben politische Parteien wieder einen legitimen und unmittelbaren Anteil an der staatlichen Macht Zwar ist der PS 1971 bis 1981 ohne Francois Mitterrand nicht denkbar und vor dessen Abtreten von der politischen Bühne, vor dem innerparteilichen Führungswechsel also nicht dauerhaft konsolidiert. Aber dennoch ist der neue Präsident mehr als Charles de Gaulle, Georges Pompidou oder Valry Giscard d'Estaing vom eindeutigen Rückhalt seiner Partei abhängig Die Börse wurde erst wieder nervös, als — für viele schon nicht mehr erwartet — Mitterrand Kommunisten in seine Regierung aufnahm. Zwar handelt es sich nur um vier recht unbedeutende Posten in einem Kabinett mit 44 Positionen aber Mitterrand zwang die PCF-Führung dafür zu einem kompletten „Gang nach Canossa": Sie mußte in jedem einzelnen Punkt, den Mitterrand während des Präsidentschaftswahlkampfes zur Vorbedingung einer (von ihm ja nie ausgeschlossenen) Regierungsbeteiligung des PC gemacht hatte, schriftlich ihren bisherigen Positionen abschwören und sich den seinen fügen: Afghanistan, Polen, SS 20, Beschränkung der Verstaatlichungen auf die (im Vergleich zum Programme Com-mun von 1972 oder gar zu den PC-Aktualisierungsforderungen von 1977) kurze Liste Mitterrands, ausdrückliche Abhängigkeit der Geschwindigkeit ökonomischer Reformen (insbesondere der Verstaatlichungen) vom Tempo der (erhofften) Gesundung der französischen Wirtschaft
Wie bei jeder politischen Partei, kann man erst recht beim PCF nicht davon ausgehen, daß ein solches Papier ihn daran hindern wird, die Koalition zu verlassen und zur Konfrontation mit den Sozialisten zurückzukehren, sobald er in einem solchen Schwenk mehr Vorteile für seine eigene politische Zielsetzung erkennt als in der recht kläglichen gegenwärtigen Rolle. Aber Mitterrand ist für diesen Zeitpunkt mit einem gewichtigen politisch-moralischen Propagandainstrument gegenüber den kommunistischen Wählern ausgestattet, die ihm immer mindestens genauso wichtig sind wie die Kommunistische Partei und deren Führung. über den öffentlich verkündeten Grundsatz hinaus, alle Kräfte an der Regierung beteiligen zu wollen, die am 10. Mai und danach ihn und sein Programm unterstützten, waren für die Entscheidung Mitterrands wohl vor allem drei Gründe ausschlaggebend: (1.) Mit Koalitionspartnern rechts und links des PS konnte er am sichersten hoffen, die drei innerparteilichen Richtungen der sozialistischen Partei selbst im Gleichgewicht zu halten. (2.) Mit Kommunisten in der Regierung konnte er, zumindest für eine gewisse Zeit, die Kooperation der PCFund CGT-Führung in den ökonomisch absehbar kritischen kommenden Monaten, wenn nicht Jahren, sichern (3.) Bis 1986 werden, über die versprochenen neueinzuführenden Direktwahlen zu den Conseils Regionaux hinaus, jedes Jahr allgemeine Wahlen in Frankreich stattfinden Die Ergebnisse des PS waren 1981 so ungewöhnlich hoch, daß es nur darum gehen kann, symbolisch zu drastische Rückgänge zu vermeiden. Den früher oder später wohl unvermeidlichen „Zweifrontenkrieg" gegen Kommunisten und bürgerliche Parteien möglichst lange hinauszuschieben, muß das zentrale Interesse einer Sozialistischen Partei sein, die sich über die Bedeutung von Nebenwahlen für das Meinungsklima eines Landes mit aktiv Reformen anpackender Regierung im klaren ist.
Die Beteiligung des PCF an der Regierung löste heftige Diskussionen aus. Dabei war die Erregung im Inland gedämpfter als im Ausland. Zwar hielten die Unternehmer, die bürgerlichen Parteien und Zeitungen, aber auch die antikommunistische Gewerkschaft Force Ouvrire mit ihrer Ablehnung nicht hinter dem Berg, aber im Vergleich zu 1973, 1974 oder 1978 hatten sich die Kräfteverhältnisse PS : PC so eindeutig geändert, daß den meisten Franzosen nicht mehr richtig Angst zu machen war. Hinzu kam, daß gerade die Gaullisten in ihrer Tradition der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität — insbesondere den Supermächten gegenüber — angesichts der offensichtlichen Abneigung der Sowjetunion gegen das Koalitionspapier von PS und PC und der gleichzeitigen „ernsten Beunruhigung“ der Regierung der Vereinigten Staaten dem Hinweis des Premierministers, die französische Regierung werde für Frankreich und nicht für das Ausland gebildet, wenig überzeugendes entgegenzusetzen hatten. Darüber hinaus hatte auch der rechte Flügel der Sozialisten mit der Ersetzung des marxistischen Industrieministers Pierre Joxe durch den Markt-wirtschaftler und erfolgreichen früheren Renault-Generaldirektor Pierre Dreyfus eine Stärkung im zweiten Kabinett Mauroy erfahren. Was der neuen majorite bleibt, ist es, den Beweis zu führen, daß Frankreich gleichzeitig seinen sozialpolitischen Rückstand aufholen und die Wirtschaftskrise überwinden kann Herausforderung genug.
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