Die britische Deutschlandpolitik in den Jahren 1945/46
Rolf Steininger
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Zusammenfassung
Die Entscheidung über das Schicksal des Industriegebietes an Rhein und Ruhr nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht nur untrennbar verbunden mit der Entscheidung über den inneren und äußeren Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands, sondern auch mit der Entscheidung über den Aufbau der europäischen Wirtschaft und damit mit der Nachkriegsordnung Europas insgesamt. Frankreich forderte als Radikallösung die Abtrennung des Rheinlandes und Westfalens einschließlich des Ruhrgebietes vom Deutschen Reich. Großbritannien befürwortete zunächst als Kompromiß die „ökonomische Internationalisierung", d. h. die Übernahme der Industrieunternehmen durch die Siegermächte, einschließlich der Sowjetunion (erster Ruhrplan v. März 1946). Unter dem Eindruck der sowjetischen Außen-und Deutschlandpolitik erwies sich spätestens im Frühjahr 1946 die noch über das Kriegsende hinaus gehegte Hoffnung, mit der Sowjetunion zu einer global angelegten Zusammenarbeit — auch in Deutschland — zu kommen, als Illusion. Das früh erwachte Mißtrauen führte zur Kurskorrektur der britischen Politik. Es galt nun, der neuen „russischen Gefahr" und der Gefahr vor einem kommunistischen, mit der Sowjetunion verbündeten oder von ihr beherrschten Deutschland zu begegnen. Allerdings war London noch nicht bereit, die alliierte Zusammenarbeit aufzukündigen und auf eine Spaltung Deutschlands hinzuarbeiten. Das Ziel blieb ein dezentralisiertes, föderalistisches Deutschland. Die erwartete — kommunistische — Zentralregierung sollte allerdings von vornherein durch die Bildung starker Länder weitestgehend geschwächt werden, während in der Zwischenzeit die antikommunistischen Kräfte in der eigenen Zone gestärkt werden sollten. Für die Ruhr wurde ein neuer Plan vorgelegt: Die Ruhrindustrie sollte deutsch bleiben, allerdings sozialisiert, d. h. in öffentlichen Besitz eines neu zu gründenden Landes — des späteren Nordrhein-Westfalens — übergehen. Mit der Bildung der Bizone wurde dann die entscheidende Grundlage für eine — bis zum Sommer 1946 in London noch schmerzlich vermißte — anglo-amerikanische Kooperation in Deutschland und Europa gelegt. Damit wurden gleichzeitig die Voraussetzungen geschaffen, um die langfristigen Ziele Großbritanniens in Deutschland zu erreichen, die dann allerdings nur noch für den Westen Deutschlands galten. Die Spaltung Deutschlands — in London zumindest als eine vorübergehende schon früh vorausgesehen — wurde damit zwar nicht Ziel britischer Politik, aber angesichts der sowjetischen Politik spätestens seit Herbst 1946 bewußt in Kauf genommen.
I. Forschungslage
Die vier Jahre zwischen der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 und der Verkündung des Grundgesetzes 1949 erscheinen erst in der Retrospektive als „Vorgeschichte” der Bundesrepublik. Die Erforschung der einzelnen Etappen und Phasen dieser heterogenen Periode ist seit geraumer Zeit Gegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung. Das wird u. a. sichtbar an der stetig steigenden Zahl an Publikationen und an bedeutenden Quelleneditionen
Der amerikanisch-sowjetische Konflikt und der vorherrschende Einfluß der USA auf die Entwicklung in (West-) Deutschland machen es u. a. verständlich, daß die amerikanische Politik in der Entwicklung des Kalten Krieges und die Probleme deutscher Politik unter amerikanischer Besatzungsherrschaft zunächst deutlich im Vordergrund des Forschungsinteresses standen und noch immer stehen. Dabei war und ist die relativ liberale Praxis amerikanischer Stellen bei der Freigabe von Archivalien von entscheidender Bedeutung.
Im Hinblick auf die französische bzw. sowjetische Seite besteht nach wie vor das Dilemma nicht zugänglicher Primärquellen.
Dagegen ist nunmehr — nachdem die britische Regierung die Sperrfrist für Akten auf 30 Jahre reduziert hat — britisches Material zugänglich Da jedoch die Akten der Control Commission for Germany (British Element), also der britischen Militärregierung, aus organisatorischen Gründen noch für einige Jahre nicht benutzbar sind, wird es vorläufig allerdings kaum möglich sein, britische Besatzungspolitik, vor allem auf der „unteren”, d. h. regionalen und lokalen Ebene, umfassend darzustellen. Dagegen ist es möglich, gültige Aussagen über die großen Linien der britischen Deutschland-politik zu machen, wie sie sich auf der „oberen" Ebene abgespielt hat und wie sie sich in erster Linie in den Akten des Foreign Office widerspiegelt. Zu diesem Bereich gehören auch jene Fragen, die im folgenden behandelt werden
Es gehört zu den bemerkenswertesten Erkenntnissen nach Durchsicht der britischen Akten, daß für London das Deutschlandproblem in den ersten sechs bis neun Monaten nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches keineswegs den Stellenwert einnahm, wie man das — insbesondere aus deutscher Sicht — angesichts seiner tat-sächlichen Bedeutung, aber auch angesichts der umfangreichen Planung während des Krieges wohl hätte erwarten können
Im Gegenteil, in London standen ganz andere Probleme im Vordergrund: das Land — mit dem Anspruch und den Verpflichtungen einer kolonialen Weltmacht — war 1945 finanziell und ökonomisch am Ende; dennoch galt es, innenpolitisch das Labour-Programm — Nationalisierung und Schaffung des welfare state — zu realisieren, mit dem man die Wahl gewonnen hatte; außenpolitisch ging es darum, das Empire bzw. Commonwealth über den mit voller Wucht einsetzenden Entkolonisierungsprozeß hinaus — Mittlerer Osten, Indien, Ostasien — zu erhalten (ganz abgesehen von dem Dauerproblem Palästina, vor dem die Labour-Regierung letztlich kapitulierte).
Auch wenn in den Monaten vor und nach Kriegsende gewichtige britische und amerikanische Stimmen meinten, vor der expansiven sowjetischen Politik warnen zu müssen, so wurde Deutschland für die Briten noch kein Thema, das ernsthaft Anlaß zum überdenken der eigenen Position gab. Im Gegenteil: die Sowjetunion behielt 1945 im außenpolitischen Kalkül Großbritanniens — im Sinne des Erhalts der Anti-Hitler-Koalition — zunächst jenen zentralen Stellenwert, den sie im Laufe des Krieges gewonnen hatte.
Dies wird nirgends so deutlich wie bei der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945). Für den britischen Premierminister Clement Attlee war diese Konferenz ein voller Erfolg und eröffnete erfreuliche Zukunftsperspektiven. Am 1. August 1945 informierte er in einem streng geheimen Schreiben die Regierungschefs der Dominien über Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen. Demnach hatte eine Atmosphäre des guten Willens und der Herzlichkeit geherrscht, verbunden mit „utmost freedorn and frankness of discussion"; die drei De-legationen seien sich ihrer Verantwortung für die Zukunft der Welt sehr bewußt gewesen. Die britische Haltung sei in allen wichtigen Fragen von dem Gedanken bestimmt worden, daß die Einheit der drei Alliiertenn und die Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit „the first and greatest essential" für den Erhalt des Weltfriedens seien. Man habe in Potsdam bedeutende Fortschritte auf dem Wege zu einem besseren Verständnis zwischen den drei Regierungen erzielt, und die getroffenen Entscheidungen, so Attlee, „will provide a firm basis for a further advance"
Der Ministerpräsident der Republik Südafrika, der greise Feldmarschall Smuts, war über so viel politische Kurzsichtigkeit geradezu erschüttert. Er warnte vor der sowjetischen Gefahr, die sich als neue Bedrohung für Europa und die Welt erhebe und auf die Potsdam ein blindes Auge zu werfen scheine. Auf der Konferenz sei größter Schaden angerichtet worden:
„Deutschland wird zum Notstandsgebiet in Europa mit einem niedrigen Lebensstandard werden. Dies wird auch auf die umliegenden Länder katastrophale Auswirkungen haben. So entsteht eine Infektionsquelle im Herzen des Kontinents ... „Potsdam“, so sein Resümee, „eröffnet eine erdrückende Aussicht"
Die Antwort Attlees vom 31. August läßt noch einmal die Grundprinzipien der britischen Politik erkennen: von „utmost importance“, so hieß es da, sei „the maintenance of Allied unity"
Die vielbeschworene „Einheit der Alliierten" wurde schon wenig später in London auf der Außenministerkonferenz einer ersten Belastungsprobe unterworfen. Das Streitobjekt war Osteuropa, und hier machte der sowjetische Außenminister Molotow deutlich, daß die Sowjetunion dieses Gebiet als ihren ausschließlichen Herrschaftsbereich betrachtete. In dieser Frage war er zu keinem Kompromiß bereit Der britische Außenminister Ernest Bevin sprach am 24. September im Kabinett zum erstenmal von „fundamentalen Meinungsverschiedenheiten" Die Verhandlungen wurden ergebnislos abgebrochen. Nicht einmal ein Kommunique kam zustande. Damit wurde das Scheitern der Konferenz auch öffentlich eingestanden Pierson J. Dixon, den Bevin als Privatsekretär von seinem Vorgänger Eden übernommen hatte, registrierte damals eine „slightly stunned atmosphere" im Foreign Office Potsdam erwies sich mehr und mehr als Illusion.
Diese ersten Zweifel am Kooperationswillen der Sowjets verstärkten sich in den folgenden Monaten und wurden schließlich zur Gewißheit: Am 3. Mai 1946 legte Bevin seinen Kabinettskollegen ein Memorandum vor, in dem es unmißverständlich hieß: „The danger of Russia has become certainly as great as, and possibly even greater than, that of a revived Germany"; als schlimmste aller möglichen Konstellationen für Großbritannien sah Bevin nun „a revived Germany in league with or dominated by Russia“ In London war der Kalte Krieg ausgebrochen, längst bevor dies der Offentlichkeit bewußt wurde
Diese Einschätzung der „russischen Gefahr" stand am Ende einer Entwicklung, die in der britischen Deutschlandpolitik bereits zu weit-reichenden Konsequenzen geführt hatte. Dies wird besonders deutlich an einem Problem, dessen Lösung für Deutschland und Europa von überragender Bedeutung war: der Ruhrfrage.
II. Die „russische Gefahr" — Erster und zweiter Ruhrplan
Die Entscheidung über das Schicksal des Industriegebietes an Rhein und Ruhr war nicht nur untrennbar verbunden mit der Entscheidung über den inneren und äußeren Aufbau Nachkriegsdeutschlands, sondern auch mit der Entscheidung über den Aufbau der europäischen Wirtschaft und damit der Nachkriegsordnung Europas insgesamt. Die Einsichten in die Komplexität der Rhein-Ruhr-Frage führten insbesondere bei den Briten schon früh zu einer intensiven Diskussion über die Zukunft des Ruhrgebietes, von dem im übrigen spätestens seit der Konferenz in Quebec im September 1944 feststand, daß es Teil der britischen Besatzungszone werden würde. Dennoch gab es bei Kriegsende keinen vom Kabinett beschlossenen Ruhrplan.
Zu unklar schien die Situation im Hinblick auf Deutschland. Auf Wunsch Stalins war nach der Konferenz in Jalta Anfang Februar 1945 ein Ausschuß eingesetzt worden, der die Frage einer Zerstückelung Deutschlands in mehrere Staaten untersuchen sollte. Die britischen Stabschefs forderten seit Ende 1944 mit Nachdruck aus sicherheitspolitischen Gründen eine Spaltung Deutschlands an der Elbe. In Voraussicht zukünftiger Entwicklungen betrachteten sie schon sehr früh die Sowjetunion als den neuen Gegner in Europa und ein Zusammengehen ganz Deutschlands mit der Sowjetunion nach Kriegsende für Großbritannien — so der Stabschef der Luftwaffe, Portal — als „the greatest danger in our history".
Im Foreign Office setzte man dagegen voll auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auch über das Kriegsende hinaus; eine Zerstückelung Deutschlands wurde abgelehnt, da man sich davon keine dauerhafte Lösung des deutschen Problems versprach. Als die Sowjets dann Ende März auch auf diese Linie einschwenkten und sich für die Einheit Deutschlands aussprachen, wurde dies im Fo-reign Office mit Erleichterung und ungläubigem Staunen aufgenommen. Außenminister Eden wörtlich: „The Russian change is extraordinary. They are bewildering people".
Auf der Konferenz in Potsdam forderten die Sowjets dann Ende Juli zur Überraschung der Briten eine Viermächte-Kontrolle für das Ruhrgebiet Damit sollte u. a. die Nutzung der Ruhrindustrie für Reparationszwecke sichergestellt werden. Der neue britische Außenminister Ernest Bevin konnte die Behandlung dieses Antrages aber mit dem Hinweis verhindern, daß Frankreich an der Konferenz nicht beteiligt sei.
Damit hatte Bevin jenen Partner angesprochen, der schon im August 1944 durch seinen Vertreter in London, Massigli, sein besonderes Interesse an der Zukunft des Ruhrgebietes angemeldet hatte. Demnach sollte das Rhein-Ruhr-Gebiet ohne zeitliche Begrenzung militärisch besetzt und einer internationalen Kontrolle unterworfen werden. Diese Forderungen waren genauso unpräzise wie die im Februar und März 1945 vom Führer der provisorischen französischen Regierung, General de Gaulle, öffentlich erhobenen Forderungen nach Abtrennung des linksrheinischen Gebietes und des Ruhrgebietes vom übrigen Deutschland und Stationierung französischer Truppen entlang des gesamten Rheins.
Zu diesem Zeitpunkt war der Entscheidungsprozeß in Paris noch in vollem Gang. Ende März gelangte das Foreign Office auf dem Umweg über die kanadische Botschaft in Paris und den kanadischen Hochkommissar in London in den Besitz eines streng geheimen Memorandums aus dem Quai dOrsay, in dem die französischen Überlegungen präzisiert waren. Zum erstenmal hatte man damit schriftlich, wie man sich an der Seine die Zukunft an Rhein und Ruhr vorstellte. Vorgesehen waren demnach Gebietsabtretungen in großem Maßstab: das Ruhrgebiet bis etwa Soest, die gesamten westrheinischen Gebiete, ergänzt durch Brückenköpfe auf dem Ostufer des Rheines bei Köln, Mainz und Mannheim; ein etwa 30 km breiter Streifen von Karlsruhe bis zur Schweizer Grenze und ein ebenso breiter Streifen von der Nordsee bis zur Lippe entlang der holländischen Grenze. Dahinter folgte entlang einer Linie Bremen, Kassel, Würzburg, Ulm eine militärische Sicherheitszone, die allerdings politisch und wirtschaftlich bei Deutschland verbleiben sollte. Das von Deutschland abgetrennte Gebiet war in drei Zonen eingeteilt. Die erste Zone unter französischer Herrschaft mit Beteiligung Belgiens reichte von Köln bis zur Schweizer Grenze, die zweite Zone umfaßte das Ruhrgebiet, das von einer interalliierten Regierungskommission verwaltet werden sollte; die dritte Zone entlang der holländischen Grenze war den Briten unter Beteiligung der Holländer zugewiesen. Die Kommentare im Foreign Office waren eindeutig: „depressing", hieß es da; die Franzosen versuchten, „to bite off more than they can chew“, dieser Plan sei „quite unworkable as a permanent arrangement", er bringe „weder Sicherheit noch Reparationen". Die Überlegungen in London konzentrierten sich auf die Provinzen Rheinland und Westfalen. Von Deutschland abgetrennt, sollten sie nach den Vorstellungen der Franzosen ein neuer Staat „Rhenania" werden. Es gab im Mai 1945 Stimmen im Foreign Office, die die Abtrennung dieses Gebietes für möglich hielten; es sei nach Westen orientiert, und solange es unter Kontrolle gehalten werden könne, sei auch das Problem einer möglichen deutschen Aggression gelöst; denn „without the Ruhr how could Germany fight?“
Für Sir Orme Sargent, der wenig später zum ranghöchsten Beamten im Foreign Office aufsteigen sollte, war es zu diesem Zeitpunkt — 4. Mai 1945 — allerdings kaum vorstellbar, aus dem Ruhrgebiet — „the greatest heap of rubble the world has ever seen“ — einen unabhängigen Staat z machen, wie groß dieser Staat auch immer sei.
In den folgenden Wochen und Monaten verfolgte London in der Ruhrfrage eine Politik des Abwartens. Im Mittelpunkt sämtlicher Planungen stand zunächst die Potsdamer Konferenz
Es war die provisorische französische Regierung unter General de Gaulle, dessen Vertreter Bidault — mit Zustimmung der französischen Kommunisten — auf der Außenministerkonferenz in London im September 1945* einen radikalen Plan zur Lösung der Ruhrfrage vorlegte. In dem berühmten Memorandum vom 13. September 1945 forderte Frankreich die politische Abtrennung des Rheinlandes und Westfalens — einschließlich des Ruhrgebietes — vom Deutschen Reich als „unerläßlich für den Schutz der französischen Grenze und als wesentliche Voraussetzung für die Sicherheit Europas und der Welt"
Wenig später präzisierte Paris gegenüber dem Foreign Office seine Vorstellungen: Das linksrheinische Gebiet sollte demnach in ein, zwei oder drei unabhängige Staaten aufgeteilt und von 50 000 alliierten Soldaten kontrolliert werden. Für das Ruhrgebiet verlangte Frankreich ein völkerrechtlich neuartiges Gebilde, das „Ruhr-Territorium". Fünf Millionen Bewohner sollten die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, das neugeschaffene Territorium von den vier Alliierten und Belgien, Luxemburg und den Niederlanden mit ebenfalls 50 000 Soldaten besetzt und von einer alliierten Neunerkommission regiert werden, unterstützt von zehn Bomberstaffeln. Die Industrie-konzerne sollten vollständig in den Besitz der Besatzungsmächte übergehen, Rüstungsbetriebe sollten zerstört und die Produktionskapazitäten, mit Ausnahme der Kohleförderung — hier war eine Steigerung vorgesehen —, abgebaut werden.
Bevin bezeichnete diesen Plan später zwar als ein „clear-cut, logical scheme which has the merit of finality", der ohne jene Kompromisse sei, die sich beim Versailler Vertrag als so erfolglos erwiesen hätten, aber es war auch klar, daß die Briten damit in ein Dilemma besonderer Art geraten waren
Auf der einen Seite wurde Frankreich von London als Stützpfeiler britischer Politik auf dem Kontinent angesehen, zumal man davon ausging, daß die USA ihr Engagement in Deutschland und Europa so schnell wie möglich abbauen würden. Würde man Frankreich verärgern, die französischen Forderungen ablehnen oder sie zu sehr verwässern, würde London seinen Einfluß in Paris gänzlich verlieren und die Hoffnung aufgeben müssen, enge Beziehungen mit Frankreich aufrechtzuerhal-ten, mit der Konsequenz, daß sich die Franzosen ihre Sicherheit woanders suchen würden, „probably in Moscow"
Auf der anderen Seite sah der französische Plan für die Bevölkerung an der Ruhr kein politisches Mitspracherecht vor; die „Regierungskommission" war den ausländischen Staaten verantwortlich. Dies aber war mit den demokratischen Prinzipien, unter denen die Briten in Deutschland angetreten waren, kaum zu vereinbaren. Man befürchtete zudem eine Irredenta-Bewegung und den erbitterten Widerstand aller politischen Parteien, Gewerkschaften und deutschen Sympathisanten im Ausland gegen eine politische Abtrennung des Ruhrgebietes Die wirtschaftlichen Folgen wurden sowohl für die Ruhr als auch für Restdeutschland als katastrophal bezeichnet. „Rumpf-Deutschland, ohne Rheinland, Ruhr, Saar, Schlesien und die Agrargebiete im Osten, verarmt und unfähig, sich selbst am Leben zu erhalten, würde sich unweigerlich an Rußland anlehnen und von diesem abhängig werden; weder Frankreich noch irgendein anderes westliches Land könnten sich aber sicher fühlen, wenn der russische Einfluß bis an das Ruhrgebiet und das Rheinland heranreichen würde.
Bei den Vertretern der Kontrollkommission, insbesondere beim stellvertretenden Militär-gouverneur Sir Brian Robertson und dem politischen Berater des Militärgouverneurs, Sir William Strang, stießen die französischen Pläne auf schärfste Ablehnung.
Auf Wunsch Bevins legten sie einen Alternativplan vor, der im einzelnen vorsah:
1. Militärische Besetzung der Provinzen Nordrhein und Westfalen für 50 Jahre.
2. Leitung der Industrie durch deutsches Management („The Germans should be allowed to run their own affairs"). 3. Kontrolle durch ein internationales Gremium. 4. Enteignung der Schlüsselindustrien und Übertragung der Besitzrechte an öffentliche Gesellschaften („public holding Companies"), mit entsprechenden Besitzanteilen für die beteiligten Staaten (ausdrücklich hieß es, auch eine deutsche Zentral-oder Länderregierung sollte Anteile erhalten).
5. Bildung eines Beirates („Council for Industry"), der sicherstellen sollte, daß die Ressour-cen des Ruhrgebietes für den Wiederaufbau Europas genutzt würden
Anfang Januar beauftragte Bevin den interministeriellen Planungsstab für Wirtschaft und Industrie (EIPS: Economic and Industrial Planning Staff), einen Plan auszuarbeiten, bei dem die Vorstellungen der Kontrollkommission berücksichtigt werden sollten. Am 4. Februar schloß der Planungsstab seine Arbeiten ab. EIPS übernahm wesentliche Elemente des Plans der Kontrollkommission, ging jedoch in einem entscheidenden Punkt einen Schritt zurück: einer deutschen Regierung sollte erst am Ende einer mindestens 50jährigen Besatzungszeit die Möglichkeit gegeben werden, Stimmrechte an der internationalen Dachgesellschaft zu erwerben
Die britischen Akten machen deutlich, daß im Februar 1946 eine Diskussion im Foreign Office begann, die von Zweifel und Mißtrauen gegenüber der sowjetischen Deutschlandpolitik geprägt war. Mehr und mehr setzte sich die Überzeugung durch, daß es nunmehr Ziel der Sowjets war, mit Hilfe der ihnen ergebenen deutschen Kommunisten die Kontrolle über ganz Deutschland zu erringen, mit einer kommunistischen Zentralregierung in Berlin als Ausgangspunkt.
Indizien schien es genug zu geben:
1. die forcierte Kampagne zur Zwangsfusion von KPD und SPD zur SED
2. die Haltung bei der Festlegung des zukünftigen deutschen Industrieniveaus 3. zwar „cintinuos looking and requisitioning" in ihrer Zone, aber gleichzeitiger Aufbau der Industrie in Thüringen und Sachsen — zum eigenen Nutzen und als „Schaufenster" für den Erfolg kommunistischer Arbeit;
4. Teilnahme kleiner Nazis am politischen Leben und deren Aufnahme in die KPD — während im Westen Zigtausende in Internierungslagern saßen;
5. Unterstützung zentralistischer Gewerkschaften; 6. verschärfte Angriffe gegen die britische Besatzungspolitik; 7.der Beginn einer intensiven Propaganda der Kommunisten für die Einheit Deutschlands und gegen die Abtrennung des Ruhrgebietes
Ob es ähnliche Befürchtungen auf französischer Seite gegeben hat oder ob Bidault nur sehr geschickt die Situation ausnutzte, muß offenbleiben. Jedenfalls vertrat die französische Regierung nun den Standpunkt, in Wirklichkeit verfolge man mit der Abtrennung von Rheinland und Ruhr nur das Ziel, diese Gebiete für Westeuropa zu erhalten und vor dem Zugriff der Sowjetunion zu sichern Offensichtlich war der Zeitpunkt gekommen, wo in London Entscheidungen getroffen werden mußten. Vom ranghöchsten Beamten im Foreign Office, Sir Orme Sargent, wurden damals verschiedene Denkmodelle durchgespielt. 1. Sollte man, um die Wiedervereinigung Deutschlands unter russischem Einfluß zu verzögern, den gegenwärtigen Zustand — Militärregierungen, militärische Besetzung — solange wie möglich aufrechterhalten und die Bildung einer deutschen Zentralregierung verhindern? War dies angesichts der Ernährungssituation in der britischen Zone überhaupt möglich?
2. Mußte man weiter von der Annahme ausgehen, daß die Sowjets alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um eine früher oder später zu errichtende deutsche Zentralregierung zu beherrschen — und zwar mit Hilfe deutscher Kommunisten? 3. Wenn dies so war, konnte London eine solche Entwicklung verhindern, indem es die demokratischen Parteien unterstützte, um sie als Gegengewicht zu den von den Sowjets kontrollierten Parteien aufzubauen? Falls man dies nicht tun würde, konnte man dann von diesen Parteien erwarten, daß sie dem kommunistischen Druck standhielten, insbesondere dann, wenn Briten und Amerikaner ihre Truppen abgezogen hätten und durch das niedrige Industrieniveau in Deutschland chronische Arbeitslosigkeit herrschen würde?
4. Falls London aber die Bildung einer kommunistischen deutschen Zentralregierung nicht verhindern konnte, sollte man dann nicht wenigstens versuchen, um jeden Preis das Ruhrgebiet für den Westen zu retten, indem man es der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle einer solchermaßen kommunistisch beherrschten deutschen Regierung entzog?
Die Gedankenspiele gingen noch weiter. Die Frage lautete: War es angesichts der sowjetischen Politik ratsam, auf eine Spaltung Deutschlands hinzuarbeiten, einen Teil Westdeutschlands, d. h. das Ruhrgebiet, oder ganz Westdeutschland in einen letztlich gegen die Sowjetunion gerichteten Westblock zu integrieren, mit der Möglichkeit, daß die Westdeutschen bei langsamer demokratischer Entwicklung — unter Anleitung des Westens — eines Tages fähig wären, „to reconquer the East for Western ideas?"
Für den Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, Sir John Troutbeck, war eine solche Politik zu diesem Zeitpunkt ein „gefährliches Spiel 1'. Die Einbeziehung des Ruhrgebietes allein betrachtete er eher als eine Belastung. Die Einbeziehung ganz Westdeutschlands dagegen hielt er für möglich, auch wenn er gewisse Gefahren sah, die seiner Meinung nach im Charakter des deutschen Volkes angelegt waren. Der größte Teil der Deutschen, insbesondere in Westdeutschland, sei zwar für eine Bindung an den Westen, aber, so warnte er, man solle sich darauf nicht zu sehr verlassen. Die Deutschen hätten einmütig Hitlers Angriff auf die westliche Zivilisation unterstützt, sie würden auch jetzt unter den gegebenen Umständen zuerst an Deutschland denken. Wenn sie sich dabei etwas von Rußland versprächen, würden sie nicht zögern, mit Rußland zusammenzugehen. Um die Westdeutschen im westlichen Lager zu halten, müsse man ihnen materielle Zugeständnisse machen, die bis zur Aufgabe aller Sicherheitsmaßnahmen gehen könnten. Westdeutschland würde wohl als erstes die Bildung einer Armee als Preis für eine solche Zusammenarbeit fordern. Troutbeck kam zu dem Schluß, wenn London bereit sei, diesen Preis zu zahlen, könnte die Politik erfolgreich sein, falls ganz Westdeutschland im westlichen Lager integriert werde, nicht jedoch das Ruhrgebiet allein Auch für Sir Oliver Harvey, der wenig später zum stellvertretenden Staatssekretär ernannt wurde, war der Gedanke, Deutschland an der Elbe zu teilen und Westdeutschland in einem gegen die Sowjetunion gerichteten Westblock aufzubauen, „not unattractive", wenn es ihm auch im Februar 1946 noch verfrüht schien, darüber ernsthaft nachzudenken Ernste Bedenken äußerte nur der frankophile britische Botschafter Duff Cooper in Paris. „Frankenstein“, so warnte er, „learned that it does not pay to manufacture monsters“
Bevin legte am 11. März dem „Ausschuß für deutsche Industrie" ein umfangreiches Memorandum vor, in dem die Beratungen der vergangenen Wochen zusammengefaßt waren. Er nannte darin als Ziele britischer Politik:
1. Sicherheit vor einem Wiederaufleben deutscher Aggression.
2. Einigermaßen stabile wirtschaftliche Verhältnisse in Deutschland und Europa.
3. Reduzierung der britischen Besatzungskosten einschließlich der Kosten für die Ernährung der Deutschen.
4. Ein demokratisches und nach Westen orientiertes Deutschland.
5. Die Beschränkung des sowjetischen Einflußbereichs so weit östlich wie möglich.
6. Wiederaufstieg Frankreichs als stabiles Mitglied der westlichen Demokratien. Ausdrücklich wies er auf das große Interesse der Sowjetunion an der Ruhr hin. Die Sowjets würden dort in jedem Fall eine wichtige Rolle spielen, sei es als Mitglied eines internationalen Regimes oder als die Macht „hinter der KPD“. Die Fragen, die Sargent gestellt hatte, wurden jetzt beantwortet: „Wenn Berlin Sitz einer deutschen Regierung wird, wird sie starkem kommunistischen und sowjetischen Druck ausgesetzt sein. Die Kommunisten werden sich im Osten eingraben und ihre Offensive gegen die Parteien im Westen fortsetzen. Ich befürchte, wir müssen weiter von der Annahme ausgehen, daß die sowjetische Regierung auch in Zukunft alles daransetzen wird, um sicherzustellen, daß eine deutsche Regierung kommunistisch und von ihr kontrolliert wird."
In Deutschland würden die Sowjets die gleichen Methoden anwenden wie in Osteuropa. Unter diesen Umständen hielt Bevin es für angebracht, die Errichtung einer Zentralregierung solange wie möglich hinauszuschieben, um Zeit zu gewinnen, „for the democratic parties to grow and for completion of our arrangements in the Ruhr". Die Frage blieb nach wie vor, ob die demokratischen Parteien im Westen langfristig dem kommunistischen Druck widerstehen würden — insbesondere nach Rückzug der britischen und amerikanischen Truppen und bei Durchführung des Industrie-planes (Verringerung der deutschen Industrie auf etwa 50% der Vorkriegszeit; Stahlproduktion 5, 8 Mio. Tonnen). Angesichts sowjetischer Präsenz — und selbst nach einem Rückzug der Sowjets bis an die Oder — zweifelte Bevin daran: „The German character predisposes them to totalitarian parties“.
Wenn aber die Errichtung einer kommunistischen und von den Sowjets kontrollierten deutschen Zentralregierung nicht zu verhindern sei, dann, so Bevin, „müssen wir aus schwerwiegenden sicherheitspolitischen Gründen versuchen, die Ruhr um jeden Preis zu halten, indem wir sie der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle Berlins entziehen", denn, „falls Deutschland unter sowjetische Kontrolle gerät, ist es besser, die Ruhr ist nicht Teil dieses Deutschland". Über das von Deutschland abgetrennte, von den Alliierten — einschließlich der Sowjets — besetzte Ruhrgebiet habe man mehr Kontrolle als über ein Ruhrgebiet, das Teil eines Deutschland sei, in dem eine kommunistische und von den Sowjets beherrschte Regierung an der Macht sei. Sollte sich eine kommunistische deutsche Regierung gemeinsam mit den Sowjets gegen die Abtrennung der Ruhr oder auch nur der Ruhrindustrie stellen, dann müsse man entweder nachgeben und sich nur mit Wirtschaftskontrollen zufrieden-geben, oder aber man müsse gemeinsam mit den Franzosen — mit amerikanischer Unterstützung sei nicht zu rechnen — die Rückgabe des Ruhrgebietes verhindern,'„in the face of combined German and Soviet pressure"
All dies waren höchst unerfreuliche Aussichten; dennoch wurde am 15. März eine erste Entscheidung getroffen. Der Kabinettsausschuß für deutsche Industrie billigte nach kurzer Diskussion den ElPS-Plan für die Ruhr; man hielt ihn für „more promising than any alternative so far suggested" -
Vier Wochen später gab es einen neuen Plan. Mitentscheidend für diese Entwicklung war das wachsende Mißtrauen gegenüber der sowjetischen Politik, zumal auch aus Moskau beunruhigende Analysen kamen. Der Charg d’Affaires der Botschaft, Frank Roberts, bezeichnete die Außenpolitik des Kreml als „alarmierend". Sie werde ohne Rücksicht auf die Alliierten und bestehende vertragliche Verpflichtungen betrieben und richte sich gegen lebenswichtige britische Sicherheitsinteressen. Und dann wurde aufgezählt: In Griechenland forderten die Sowjets einen Stützpunkt auf den Dodekanes, in Persien hätten sie einen pro-sowjetischen Ministerpräsidenten gefunden, der ihnen helfen werde, das Erreichte zu sichern; in der Türkei unterstützten sie territoriale Forderungen der Armenier und Georgier, ihre Propaganda richte sich gegen die britischen Interessen in Ägypten, in der gesamten arabischen Welt, in Indien und in den fernöstlichen Kolonien.
überall würden sogenannte „nationale Befreiungsbewegungen" gefördert, die Entwicklung guter Beziehungen zu Polen verhindert, der britische Einfluß in Jugoslawien geschwächt, Ungarn und Österreich starkem politischen und wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, in Italien und ganz besonders in Frankreich die kommunistischen Parteien unterstützt und die kommunistische Propaganda gegen Großbritannien gerichtet. Kurz: „We are being attacked at all points at once“. Moskau, so lautete die Interpretation, wolle vom Nachkriegs-chaos in Europa und der Welt nur profitieren. Es verfolge die gleiche national-imperialistische Politik wie Iwan der Schreckliche, Peter der Große oder Katharina die Große, wobei hinzukomme, daß die Führer im Kreml nicht nur nicht an die gleichen Werte wie die der westlichen Demokratien glaubten, sondern dazu auch absolut unfähig seien
In Berlin und der sowjetischen Zone trieb die SPD-KPD-Vereinigungskampagne ihrem Höhepunkt zu. Acting Secretary O’Neill im Foreign Office bezeichnete es angesichts dieser Entwicklung als wichtigstes Ziel, „die Ausbreitung des Kommunismus und des russischen Einflusses auf unsere Zone" und die übrigen Westzonen zu verhindern und Sargent stellte die Frage:
„Sollen wir die antikommunistischen Kräfte organisieren und unterstützen und, wenn ja, wie soll dann unsere Taktik aussehen und welche Mittel stehen uns zur Verfügung? Sollen wir weiter wie bisher von der Annahme ausgehen, daß wir mit einer deutschen Regierung rechnen müssen, die ganz Deutschland von Berlin aus regiert, oder sollen wir unsere Bemühungen lediglich darauf konzentrieren, die antikommunistischen Kräfte in unserer Zone •fest zu etablieren?"
In einer Besprechung am 3. April 1946 im Foreign Office wurde das weitere Vorgehen festgelegt: keine Aufgabe des Potsdamer Abkommens, aber durch die Bildung starker Länder größtmögliche Schwächung einer zukünftigen, kommunistisch beherrschten Zentralregierung: einer Zentralregierung durften „unter keinen Umständen solche Rechte zugestanden werden, die die Länder in ihrem autonomen Status einschränken könnten".
In der Zwischenzeit würde man zwar keine prinzipiellen Einwände gegen die Errichtung zentraler deutscher Verwaltungsstellen erheben, vor dem Auf-und Ausbau deutscher Länder aber auch keine Eile zeigen, an der Bildung dieser Zentralstellen in Berlin mitzuwirken — und dann wurde die schon eingangs erwähnte „russische Gefahr" beschworen
Was bedeutete dies für den EIPS-Ruhrplan?
über die technischen und politischen Schwierigkeiten bei seiner Realisierung hatte man sich von Anfang an keine Illusionen gemacht. Hinzu kam, daß er nur mit Zustimmung er Sowjets funktionieren konnte. Dabei schloß er die Beteiligung der Roten Armee an der militärischen Kontrolle des Ruhrgebietes nicht ausdrücklich aus, auch wenn Bevin jetzt die Meinung vertrat, gerade mit Hilfe dieses Planes habe er gehofft, die Stationierung sowjetischer Truppen im Westen zu verhindern. Die Stabschefs sprachen sich am 5. April mit einem gewissen Zögern für den ElPS-Plan aus, gaben aber zu bedenken, daß es schwierig sei, den Sowjets die militärische Mitarbeit zu verwehren, falls sie entsprechende Wünsche äußern würden. Wenn das aber eintreten würde, war es ihrer Meinung nach ziemlich unmöglich, sie daran zu hindern, im Ruhrgebiet eine „russische Zone" zu errichten und sich damit eine sichere Ausgangsbasis „for the conduct of Communistic activities“ zu schaffen
Die entscheidende Frage lautete: Gab es eine Alternative zum ElPS-Plan? Gab es einen Plan, mit dem die britischen Ziele an der Ruhr besser erreicht werden konnten und mit dem gleichzeitig die Sowjets zumindest bis zur Klärung der politischen Verhältnisse in Deutschland vom Ruhrgebiet ferngehalten werden konnten — ohne daß dies den Briten von Moskau als anti-sowjetischen Schritt und Aufkündigung der Vier-Mächte-Verwaltung vorgeworfen werden konnte — und mit dem außerdem noch die Gefahr, die von einer kommunistischen Regierung in Berlin ausgehen würde, so gering wie möglich gehalten werden konnte? Wie konnte man die betroffenen Deutschen zu größerer Mitarbeit gewinnen? Wie konnte man mehr Sicherheit erreichen und dennoch das Industriepotential an der Ruhr besser nutzen als beim ersten Ruhrplan und gleichzeitig noch einen sichtbaren Beweis dafür liefern, daß man bei der Lösung des Ruhrproblems Fortschritte erzielte?
Eine Gruppe im Foreign Office war nach Rücksprache mit Vertretern der Kontrollkommission in Berlin davon überzeugt, daß es eine Lösung gab. Dazu mußte man den ursprünglich von der Kontrollkommission vorgelegten Plan nur ein wenig variieren. Der entscheidende Unterschied zum ElPS-Plan lautete dann: 1. „We drop the idea of the Industries being owned internationally." 2. Ein neues deutsches Land sollte gegründet werden, das das Ruhrgebiet einschloß. 3. Die Schlüsselindustrien sollten sozialisiert werden, d. h.seinen alten Besitzern nicht zurückgegeben werden, aber dennoch in deutschem Besitz blei-ben und von deutschem Management geführt werden. Sie sollten in eine durch deutsches Gesetz zu errichtende Gesellschaft überführt werden, wobei das Verhältnis dieser Gesellschaft zur Regierung des neugegründeten Landes mit dem des National Coal Board zur britischen Regierung verglichen wurde. Erst am Ende der Besatzungszeit sollten die Verpflichtungen Deutschlands im Friedensvertrag festgelegt werden; ihre Einhaltung sollte dann von einer internationalen Behörde und einer internationalen Besatzungstruppe überwacht werden
Dieser Plan schloß zwar eine sowjetische Beteiligung nicht aus, aber im Gegensatz zum ElPS-Plan, der die Internationalisierung zu einem möglichst frühen Zeitpunkt vorsah, war jetzt bis zum Ende der Besatzungszeit, von dem niemand wußte, wann es sein würde, das russische Problem gelöst. Sollten die Sowjets dann eine Beteiligung fordern, sollte das nur auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit geschehen, d. h. sowjetische Beteiligung an einer internationalen Kontrollbehörde sollte nur zugestanden werden, wenn die westlichen Staaten in gleichem Umfang an einer ähnlichen Organisation in der sowjetischen Zone beteiligt würden — eine Idee, die immer stärker in den Vordergrund rückte. Und noch ein Punkt war wichtig: Der vom Kontrollrat verabschiedete Industrieplan machte den Wiederaufbau der Ruhrindustrie (die Briten dachten an 30 Mio. Tonnen Stahl jährlich) unmöglich. Würden aber eines Tages diese Beschränkungen fallen, dann war eine solche Entwicklung eher möglich als bei einer wirtschaftlichen Internationalisierung der Industrie an Rhein und Ruhr.
In einer letzten Besprechung am 15. April im Foreign Office, an der auch Brian Robertson teilnahm, wurde dieser Plan gebilligt Noch am selben Tag wurde eine zweite Kabinetts-vorlage gedruckt und den Ministern für die zwei Tage später stattfindende Kabinettssitzung zugestellt
In dieser Sitzung erläuterte Bevin zunächst beide Pläne, um dann festzustellen, daß er nunmehr den zweiten Plan favorisiere. Er bat sodann um die Meinung seiner Kollegen. Diese müssen zweifelsohne einigermaßen überrascht gewesen sein von dem eher ungewöhnlichen Vorgehen des Foreign Office, so kurzfristig einen völlig neuen Plan vorzulegen, nachdem wochenlang nur der ElPS-Plan zur Diskussion gestanden hatte. Das Kabinett war sich daher zwar einig in der Ablehnung der französischen Vorschläge, über Vor-und Nachteile der eigenen Pläne gingen die Meinungen aber auseinander. Die Gruppe, die für die Annahme des neuen Plans plädierte, trug im wesentlichen folgende Gründe vor:
1. Im Gegensatz zu einer sozialisierten, im Besitz des deutschen Staates verbleibenden Industrie werde eine internationale Behörde, in der Vertreter verschiedener Regierungen säßen, wenig produktiv arbeiten.
2. Britische Politik dürfe nicht von der Annahme ausgehen, daß man Deutschland durch internationale Kontrolle für ewige Zeiten niederhalten könne. Es sei besser, in Deutschland die Errichtung einer aufgeklärten, sozialen Demokratie („enlightened social democracy“) zu fördern, die es Deutschland erlauben werde, in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker zurückzukehren. Mit diesem Ziel vor Augen sei es besser, wenn diese Industrien in deutschem Besitz verblieben.
3. Sowjetische Beteiligung an der Kontrolle werde auf das gleiche Maß beschränkt, wie man umgekehrt an der Kontrolle der Wirtschaft in der Ostzone, z. B. in Sachsen, beteiligt würde.
4. Hier wurde die später von britischer und deutscher Seite, insbesondere der SPD, vertretene „Magnettheorie", wonach die Westzonen so aufgebaut werden müßten, daß sie den Ost-teil Deutschlands eines Tages wie ein Magnet anziehen würden, vorweggenommen: Der neue Plan werde der Tatsache gerecht, daß Europa in zwei Einflußzonen geteilt werde. Er biete die Chance zu beweisen, „that we could build up in Western Germany, under a democratic System, an efficient industrial Organisation which challenged comparison with that which was being created under a different System in Eastern Germany“. 5. Wahrscheinlich werde das Risiko einer neuerlichen nationalistischen Bewegung in Deutschland, die sich auf Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gründe, verringert werden. Noch ohne Kenntnis des Meinungsumschwungs im Foreign Office hinsichtlich der Sowjetunion und, wie sich später zeigen sollte, auch ohne die Bereitschaft, diesen Umschwung sofort ohne weiteres mitzuvollziehen, sahen denn auch einige Kabinettsmitglieder weiter im ElPS-Plan die entscheidenden Vorteile, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Eine der größten Gefahren für den zukünftigen Frieden in Europa liege darin begründet, daß wahrscheinlich im Laufe der Jahre die Siegermächte mehr und mehr in ihrem Bemühen nachlassen würden, in Deutschland eine Kontrolle auszuüben, die notwendig sei, um die Deutschen vom Wiederaufbau eines Kriegs-potentials abzuhalten. Die Internationalisierung würde eine solche fortdauernde Kontrolle garantieren.
2. Es werde schwierig sein, in Deutschland Sozialdemokraten zu finden, die genügend Wissen und Erfahrung hätten, um die Gesellschaften zu führen, in die die sozialisierten Betriebe eingebracht werden sollten. Höchstwahrscheinlich werde die Leitung dieser Gesellschaften in die Hände von Industriellen geraten, die dem Wiederaufbau einer extrem nationalistischen Bewegung in Deutschland wohlwollend gegenüberstünden. 3. Die vorgesehene Staatsgesellschaft könne eine für die britische Wirtschaft nachteilige Politik betreiben. In einer internationalen Dachgesellschaft, in der Großbritannien mitbestimmen würde, sei es dagegen eher möglich, eine Politik zum Vorteil der britischen Industrie durchzusetzen.
4. Eine Internationalisierung werde mit dazu beitragen, Frankreich als große Industrienation wiederaufzubauen und werde gleichzeitig für wachsenden Wohlstand in Holland und Belgien sorgen.
Angesichts der Meinungsverschiedenheiten gab Bevin zu verstehen, daß noch nichts entschieden werden müsse; gleichzeitig räumte er ein, daß auch er gezögert habe, den ursprünglichen Plan aufzugeben. Mit Nachdruck wies er jedoch auf einen wichtigen Punkt in dem neuen Plan hin, den er als ganz bedeutend bezeichnete: die Schaffung eines neuen deutschen Landes. Er schlug vor, in den Sondierungsgesprächen, die er mit den befreundeten Regierungen über die Ruhr führen wolle, beide Pläne zur Diskussion zu stellen und, falls man sich doch für die Internationalisierung entscheide, dies mit der Errichtung eines neuen Landes zu kombinieren. Bevin wurde daraufhin ermächtigt, über die Ruhrfrage und das deutsche Problem insgesamt auf der Grundlage der beiden Pläne mit den Regierungschefs der Dominien und der besonders interessierten Staaten, in erster Linie Frankreich, Belgien und Holland, zu beraten, wobei allerdings als erstes versucht werden sollte, „to secure agreement in principle to the establishment of a new German Province in the Ruhr"
III. Das neue Land Nordrhein-Westfalen
In den folgenden Wochen ging es zunächst um die Bildung dieses neuen Landes — sichtbarer Beweis dafür, daß die Briten bei der Lösung des Ruhrproblems Fortschritte erzielten. Die entscheidende Frage war dabei die Größe des Landes. Sollte es (A) entsprechend dem ursprünglichen französischen Plan lediglich das Ruhrgebiet im engeren Sinne östlich des Rheins umfassen, (B) westlich des Rheins um einen Korridor bis zur holländischen Grenze erweitert werden oder (C) sehr viel größer sein, nämlich die Provinzen Nordrhein und Westfalen umfassen.
Von den Befürwortern der kleinen Lösung (A bzw. B) — zu denen die Vertreter des Foreign Office und hier mit Nachdruck auch Bevin gehörte — wurden im wesentlichen folgende Gründe vorgetragen:
1. Für den Zweck einer internationalen Kontrolle der Ruhrindustrie sei ein kleines Gebiet völlig ausreichend, da darin etwa 90% der ganz Deutschland nach dem Ende der Reparationen verbleibenden Kohle-und Stahlproduktion konzentriert seien. 2. Je kleiner das unter internationaler Kontrolle stehende Gebiet sei, um so eher würden die Deutschen diese Kontrolle akzeptieren.
3. Es sei wünschenswert, daß die im Zusammenhang mit der Kontrolle notwendigen Maßnahmen auf ein Gebiet beschränkt werden sollten, dessen besonderer Charakter klar erkennbar sei und daher eine besondere Kontrolle auch als gerechtfertigt erscheinen lasse.
4. Die Grenzen des neuen Landes sollten mit dem Gebiet übereinstimmen, das zur Unterstützung der internationalen Kontrolle militärisch besetzt werden würde. An der Besetzung müßten britische Truppen beteiligt werden. Angesichts des Personalmangels müßte aber diese Verpflichtung auf ein geringes Maß reduziert werden. Die einfachste Lösung sei da-her, das neue Land so klein wie möglich zu halten.
5. Für den Fall, daß eine deutsche Zentralregierung oder die Landesregierung ihre aus dem Friedensvertrag resultierenden Verpflichtungen hinsichtlich der internationalen Kontrolle verletzen würde, war als eine der Sanktionen die Übernahme der Regierungsgewalt vorgesehen. Eine andere Sanktion sah vor, daß die internationale Besatzungstruppe sämtliche Kommunikations-und Transportmittel an sich ziehen würde, um die Lieferung von Kohle und Stahl aus dem Ruhrgebiet in das übrige Deutschland zu verhindern. Je kleiner das Gebiet sei, um so besser könnten beide Formen der Sanktion mit wenig Truppen und Material durchgeführt werden.
6. Noch immer wurde nicht offiziell ausgeschlossen, daß nach Beendigung der allgemeinen Besetzung Deutschlands auch die Sowjetunion an der internationalen Kontrolle beteiligt würde (vorausgesetzt, die Sowjetunion würde ihrerseits die Westmächte an ähnlichen Kontrollen in Ostdeutschland und Osteuropa beteiligen), wobei man gleichzeitig allerdings hoffte, die Stationierung sowjetischer Truppen im Ruhrgebiet verhindern zu können. Unabhängig davon würde allein schon die Präsenz russischer Funktionäre und Experten gefährlich sein, da mit der Ausbreitung kommunistischen Einflusses und kommunistischer Propaganda zu rechnen sei. Aus „allgemeinen strategischen" Gründen sei es daher notwendig, das russische Einflußgebiet so klein wie möglich zu halten und auf gar keinen Fall über den Rhein nach Westen auszudehnen. 7. Ein großes Land könne zu mächtig werden und die aggressive, zentralistische Politik Preußens wieder aufleben lassen.
Dem setzten die Befürworter der „großen" Lösung — in erster Linie die Vertreter der Militärregierung — folgende Argumente entgegen: 1. Da es die Absicht der Briten sei, Deutschland auf föderalistischer Grundlage aufzubauen, mit starken Ländern, sei es wünschenswert, daß jedes Land so weit wie möglich eine ausgeglichene Wirtschaftseinheit darstelle. Es werde Zwar nicht beabsichtigt, die Ländergrenzen zu Handelsschranken zu machen, obwohl sie natürlich bis zu einem gewissen Grade eine solche Funktion ausüben würden, insbesondere in einem Land, das den besonderen Maßnahmen einer internationalen Kontrolle unterworfen sei. Das Industriegebiet im Nordwesten Deutschlands beschränke sich aber nicht auf das im französischen Plan vorgesehene Gebiet, sondern reiche bis in die Provinzen Westfalen und Nordrhein hinein. Diese Gebiete enthielten zusätzlich noch Landwirtschaft und würden so zu einer ausgewogenen Wirtschaft beitragen.
2. Ein kleines, hochindustrialisiertes Gebiet werde besonders stark unter Konjunkturschwankungen leiden. Im Fall einer Krise in der Kohle-und Stahlindustrie werde jeder Bewohner dieses Gebietes im gleichen Moment ein Opfer dieser Krise werden. Ein größeres und augewogeneres Gebiet könne mit diesen Schwankungen viel besser fertig werden. 3. Das angestrebte föderalistische System sehe für die Länder ein sehr hohes Maß an Steuer-autonomie vor; wenn nun die Länder auch für die Sozialversicherung zuständig seien, werde das für ein kleines, sehr stark industrialisiertes Land große Schwierigkeiten mit sich bringen. 4. Falls die Grenzen des neuen Landes nicht teilweise mit den Grenzen Deutschlands übereinstimmten, könnte eine deutsche Reichsregierung dazu neigen, das Land wie eine Enklave zu isolieren und Handelsbeziehungen und den Kontakt zur Außenwelt unterbrechen. 5. Tradition und Gefühle der Deutschen würden für das Land sprechen, dessen Grenzen in enger Beziehung zu den bestehenden Grenzen stünden und die in gewisser Weise historisch gewachsen seien. In einem vollkommen künstlichen Gebilde wie dem angestrebten kleinen Gebiet könnte es keinen Lokalpatriotismus geben. Allgemein werde davon ausgegangen, daß die internationale Kontrolle ohne ein Minimum deutscher Kooperationsbereitschaft nicht funktionieren werde; selbst dieses Minimum werde man aber nicht erreichen, wenn bei der Festlegung des neuen Landes die Gefühle der Deutschen einfach übergangen würden. Die demokratischen Elemente in Deutschland — SPD und CDU —, die es im Hinblick auf die Ziele, die man in Deutschland verfolge, zu unterstützen gelte, könnten davon überzeugt werden, eine Reorganisation, die auf traditionellen Grenzen aufbaue, zu akzeptieren; ein neues, künstliches Gebilde würden sie dagegen vollkommen ablehnen.
6. In dem kleinen Gebiet würden ausschließlich Arbeiter wohnen, die in ihrer Mehrheit zweifelsohne entweder schon kommunistisch seien oder aber würden. Unabhängig davon, ob die Sowjets an der Kontrolle beteiligt würden, werde das Gebiet so zu einem Zentrum kommunistischen Einflusses und kommunistischer Propaganda. In einem großen Land würden die Kommunisten dagegen zahlenmäßig unterle39 gen sein und es werde kein vollkommen von der kommunistischen Partei beherrschtes politisches Gebilde geben.
7. Ein Land, das die Provinzen Westfalen und Nordrhein umfasse, könne, da es auf der Grundlage der bestehenden Grenzen und Verwaltungseinheiten aufgebaut sei, buchstäblich über Nacht errichtet werden. Dagegen werde es erheblich länger dauern, ein kleines, künstliches Land zu schaffen.
8. Den militärischen Argumenten wurde entgegengesetzt, daß eine Truppe nicht besser operieren könne, wenn sie auf ein kleines Industriegebiet beschränkt sei, sondern im Gegenteil große Flächen benötige, wo sie sich auf den Ernstfall vorbereiten könne.
9. Mit den verwaltungstechnischen und politischen Schwierigkeiten, die mit Sicherheit bei der Errichtung eines kleinen, künstlichen Landes entstehen würden, müßten im gegenwärtigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit allein die britischen Besatzungsbehörden in Deutschland fertig werden.
10. Es müsse das Bemühen der britischen Politik sein, Organisationen in Deutschland zu schaffen, die auch langfristig Bestand hätten. Bei einem großen, politisch und wirtschaftlich ausgewogenen Land mit historischer Tradition werde das der Fall sein, bei einem kleinen, künstlich geschaffenen dagegen nicht.
11. Was die Gefahr eines „neuen Preußen" anging, so wurde betont, ein starkes Land sei gerade deshalb vorteilhaft, weil es nach größerer Unabhängigkeit streben werde — und das wiederum entspreche genau den britischen Vorstellungen von einem stark föderalistischen Deutschland.
Schließlich setzten sich die Vertreter der Kontrollkommission, „the people on the spot" auch in dieser Frage durch Bevin modifizierte das Modell C — die große Lösung — noch insofern, als innerhalb Nordrhein-Westfalens nun noch ein besonderes Gebiet ausge-wiesen wurde, in dem sich die Schlüsselindustrien befanden und das einer internationalen Kontrolle unterworfen werden sollte. Dieses Gebiet umfaßte das engere Ruhrgebiet — so wie es im französischen Plan vorgesehen war — mit Erweiterungen im Norden, Süden und Westen, einschließlich der Kohlenreviere von Köln und Aachen. Im Fall von Sanktionen sollte das Militär dieses Gebiet abriegeln; hier sollte es auch in erster Linie operieren, wobei es aber gleichzeitig berechtigt war, Operationen auch auf das ganze Land auszudehnen. Die Truppen sollten dort stationiert werden, wo es für die Erfüllung ihrer Aufgaben am zweckmäßigsten war; dafür war das Ruhrkontrollgebiet vorgesehen, insbesondere für den Fall, daß das Gebiet westlich des Rheins für militärische Übungszwecke benutzt werden konnte. Von der Beschränkung der Kontrolle auf ein bestimmtes Gebiet erhoffte man sich zum einen Vorteile für die übrige Bevölkerung des Landes, die auf diese Weise besonderen Belastungen entging, zum anderen würde die wirtschaftlich und politisch ausgewogene Struktur des Landes erhalten bleiben. Sitz der Landesregierung sollte eine Stadt innerhalb des Kontrollgebietes sein (Düsseldorf). Das hatte den Vorteil, daß bei Sanktionen die Übernahme der Verwaltung erleichtert werden würde. Mit Nachdruck wies Bevin darauf hin, daß das Ruhrkontrollgebiet nicht eine besondere Verwaltungseinheit darstellen sollte. Gesprächspartner der internationalen Kontrollbehörde könne nicht einfach eine Bezirksregierung („county council"), es müsse vielmehr die Landesregierung sein, „because this will be the smallest unit possessing important power of administration and having a reasonable measure of independence"
Der dem linken Flügel der Labour Party angehörende Deutschlandminister Hynd schlug in der Sitzung des Overseas Reconstruction Committees am 21. Juni 1946 die Bildung von zwei Ländern vor, entsprechend den beiden Provinzen Nordrhein und Westfalen. Er wies auf die parteipolitische Situation in dem vorgesehenen Land Nordrhein-Westfalen hin: Seiner Meinung nach würde es von der CDU beherrscht werden, durch die die Industriellen und Kapitalisten dort das Sagen haben würden. Hynd erhielt eine Abfuhr: Die Minister wollten sich bei der Festlegung von Landes-grenzen nicht von möglichen Ergebnissen zukünftiger Wahlen in Deutschland leiten lassen
Die deutschen Parteiführer erfuhren am 15. Juli zum erstenmal von dem Entschluß der Briten, Nordrhein und Westfalen zu einem Land zu vereinigen. Robertson informierte Schumacher, Adenauer und Kaiser vertraulich in Berlin. Robertson berichtet, Schumacher sei über die Entscheidung zunächst nicht erfreut gewesen, und es habe anfangs so ausgesehen, als ob er sie nachdrücklich ablehnen würde; seine Erklärungen und insbesondere seine Versicherung, es sei keine politische oder wirtschaftliche Abtrennung geplant, hätten Schumacher dann jedoch offensichtlich beeindruckt. Noch nachträglich sah sich Robertson in der Entscheidung für die „große" Lösung bestätigt. Er sei sicher, das Schumacher jeden Plan für ein Land, das nur die Ruhrindustrie umfaßt hätte (Plan A), abgelehnt hätte. Im Gegensatz zu Schumacher begrüßten Adenauer und Kaiser die Entscheidung. Sie waren vollkommen davon überzeugt, daß es aus praktischen und politischen Gründen keine Alternative gegeben habe
Am 17. Juli ließ der britische Militärgouverneur, Luftmarschall Sir Sholto Douglas, die Presse unterrichten. Es dauerte dann noch bis zum 23. August, bis mit der Verordnung Nr. 46 die preußischen Provinzen aufgelöst und die selbständigen Länder Nordrhein-Westfalen, Hannover und Schleswig-Holstein gebildet wurden
Damit erhielten die neuen Länder ihre rechtliche Grundlage. Nicht ohne Sinn für Humor wählten die Briten für die Bildung Nordrhein-Westfalens aus den Provinzen Nordrhein und Westfalen den Codename „Operation Marriage"
Bizone und Sozialisierung
Zu diesem Zeitpunkt war auf der am 12. Juli 1946 in Paris zu Ende gegangenen Außenministerkonferenz eine für die Zukunft Deutschlands weitreichende Vorentscheidung gefallen: hier waren die Weichen für die Bildung der Bizone, dem wirtschaftlichen Zusammenschluß der britischen und amerikanischen Zone, und damit für das Zusammengehen der Briten und Amerikaner in Deutschland gestellt worden; damit aber war eine Entscheidung getroffen worden, die sich als irreversibel herausstellte und durch die die Teilung Deutschlands präjudiziert wurde. Die Entscheidung für die Bizone bedeutete auf britischer Seite gleichzeitig das Ende der auf Abwarten hinsichtlich der sowjetischen Politik angelegten Deutschlandpolitik, d. h. praktisch das Ende der Viermächteverantwortung.
Auf der Außenministerkonferenz in Paris wurden in diesem Sinne grundsätzliche Positionen geklärt. In der ersten Phase der Konferenz (25. April bis 16. Mai 1946) kam man jedoch über einen unverbindlichen Meinungsaustausch nicht hinaus
Im Foreign Office wurde dies zum Anlaß genommen, um erneut über das weitere Vorgehen im Hinblick auf Deutschland nachzudenken. Dies schien um so wichtiger, als am 15. Juni die zweite Phase der Pariser Konferenz begann, auf der, wie vereinbart, „long term problems of Germany" auf der Tagesordnung standen.
Wieder wurde die Frage einer möglichen Teilung Deutschlands diskutiert. Sir Oliver Harvey legte am 24. Mai eine hochinteressante Analyse vor. Darin bezeichnete er es jetzt als „unlikely in the extreme", daß sich das deutsche Volk jemals mit mehr als einer nur vorübergehenden Spaltung abfinden werde. Es sei „utopisch", einen westdeutschen Staat ins Auge zu fassen, „which would not end by reunion with Eastern Germany“. Die unterschiedliche Besatzungspolitik — die Ostzone „sovietised", in den drei Westzonen „Western democracy" — werde nicht in einer endgülti-gen Spaltung Deutschlands enden, denn der Nationalismus des deutschen Volkes „can be counted on to resist any partition". Das Problem sei daher, Europa vor einem geeinten Deutschland zu schützen.
Tatsächlich sei man in der Deutschlandpolitik an einem toten Punkt angekommen: Die Sowjets fürchteten Deutschland und dessen „capacity of war" und daß es zur Speerspitze eines westlichen Angriffs auf Rußland werden könne; sie würden den Eisernen Vorhang nicht eher öffnen, bis sie zuversichtlich seien, Deutschland kontrollieren zu können. Selbst sei man gleichermaßen besorgt über das deutsche Kriegspotential und die Gefahr, daß es von einer sowjetisch-kontrollierten Arbeiterpartei gegen den Westen eingesetzt werde. Es bestünde die ernste Gefahr, daß dieser Zustand andauern werde; jede Seite werde Lippenbekenntnisse für ein geeintes Deutschland ablegen, aber aus Mißtrauen gegeneinander die Kontrolle in der eigenen Zone nicht lok-kern. Was, so fragte Harvey, könne geschehen, wenn es in der Deutschlandfrage auf absehbare Zeit nicht zu einer Lösung mit den Sowjets komme? Wie könne man dann die Kosten des britischen Steuerzahlers reduzieren? Seine Antwort nahm die spätere Entwicklung voraus: Handels-und Bewegungsfreiheit und „pooling resources" in den drei Westzonen. — Die Ruhr sei der Schlüssel zur Überwindung des toten Punktes: „Wir haben gute Karten in der Hand für ein eventuelles Geschäft mit der sowjetischen Regierung: Öffnung des Ostens als Gegenleistung für sowjetische Beteiligung an einer Ruhrkontrolle.“
Dies, so befürchtete Harvey, könne eine langwierige Sache werden; vielleicht würden die Sowjets hoffen, „to wear us out by delay", oder auf die öffentliche Meinung in den USA und Großbritannien, die eines Tages den Rückzug aus Deutschland fordern würde. Ein Rückzug aber sei verhängnisvoll, denn, „if we go out the Soviet Government go in". Selbst £80 Mio. (Kosten für die eigene Zone) im Jahr seien nur ein geringer Preis, „to keep Communism beyond the Elbe“
Die Frage war, wie Molotow in Paris reagieren würde. Bevin ging mit der festen Absicht in die zweite Konferenzrunde, seinen sowjetischen Kollegen in der Frage der Einhaltung des Potsdamer Abkommens in dem für Großbritannien entscheidenden Punkt, nämlich der Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit, zu einer eindeutigen Aussage zu veranlassen.
Politisch, wirtschaftlich und finanziell befand man sich in einer höchst ungünstigen Situation; eine Fortsetzung dieses Zustandes, so Bevin in einem Memorandum für das Overseas Reconstruction Committee, „bringt ausschließlich Rußland Vorteile und verschlechtert unsere eigene Lage".
Daher sei nunmehr eine „urgent and positive action“ notwendig. Diese ziele nicht auf eine endgültige Spaltung Deutschlands ab, aber werde es dennoch dazu kommen, dann müsse die Verantwortung dafür „placed squarely on the Russians and not on ourselves". Es gehe um die Einhaltung des Potsdamer Abkommens durch die Sowjets.
Um sie dazu zu zwingen, hatten die Amerikaner schon am 3. Mai einen generellen Stopp weiterer Reparationslieferungen sowohl für die Sowjetunion als auch für die übrigen Staaten angekündigt Bevin war von der Wirkung dieses Schrittes nicht überzeugt: „Something more will probably be needed to force the Russians’hand", d. h.den Russen müsse klargemacht werden, daß angesichts ihrer Politik der ausgehandelte Industrieplan neu überdacht werden müsse; in der britischen Zone müsse genügend industrielle Kapazität erhalten bleiben, um zu einer ausgeglichenen Bilanz zu kommen; westliche Länder sollten weiter Reparationen erhalten, die Sowjetunion dagegen nicht mehr
In Paris trat dann genau das ein, was Bevin erwartet hatte. Molotow lehnte u. a. die Ernennung von Sonderbeauftragten ab, die das Problem der Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit untersuchen sollten. In dieser Situation gab Bevin am 10. Juli, wie er es später formulierte, aus „politischen Gründen" und „in order to bring matters to a head“ die offizielle Erklärung ab, daß, falls es nicht zu einer Einigung zwischen den vier Mächten komme, seine Regierung gezwungen sei, „to organize the British Zone", und zwar so, daß der britische Steuerzahler nicht weiter belastet werde Gleichzeitig legte er einen Antrag vor dessen Annahme durch den Außenministerrat seiner Meinung nach die Basis für die Schaffung dieser Wirtschaftseinheit bilden würde. Am nächsten Tag wiederholte er seine Erklärung und präzisierte, was er mit seiner Warnung gemeint hatte: Die britische Zone werde für den Export produzieren, da die britische Regierung nicht länger gewillt sei, sich Dollar zu leihen, um damit Nahrungsmittel nach Deutschland einzuführen Als unmittelbare Antwort darauf gab der amerikanische Außenminister Byrnes die Erklärung ab, die USA seien bereit, sich mit jeder anderen Besatzungsmacht oder mehreren Besatzungsmächten zusammenzutun, um die Zonen als wirtschaftliche Einheit zu behandeln Als einziger der so angesprochenen reagierte zwei Tage später Bevin. Seine Regierung, so versicherte er, werde den Vorschlag „vorrangig und wohlwollend" prüfen
In dem Memorandum, das Bevin dem Kabinett am 23. Juli vorlegte, plädierte er mit Nachdruck für die Fusion der beiden Zonen, ökonomische und politische Notwendigkeiten geboten die Annahme des Vorschlages. Den Briten war ihre Zone mehr und mehr zur finanziellen Belastung geworden Um den britischen Steuerzahler zu entlasten, wäre es theoretisch möglich gewesen, die britische Zone in relativ kurzer Zeit ökonomisch unabhängig zu machen, wenn man für sämtliche Exporte — auch in die übrigen drei Zonen — sofortige Bezahlung in Dollar verlangen würde. Die von diesen Maßnahmen unmittelbar Betroffenen wären aber in erster Linie die westeuropäischen Staaten und die USA gewesen — nicht aber die Sowjetunion. Damit verbot sich dieser Weg von selbst („obvious political objections to this course").
Das Foreign Office war davon überzeugt, daß man mit den Amerikanern zusammengehen müsse, denn „we fully share the reasons underlying the American proposals", und ein Zögern würde so interpretiert, „that we are leaving them in the lurch". Gegen die Zusammenlegung der beiden Zonen, so argumentierte Bevin, könne nur ein ernsthafter Einwand vorgebracht werden, es könne so aussehen, „als ob wir mit den Amerikanern gemeinsame Sache gegen die Russen machten und Europa in zwei Teile spalteten". Für die Russen sei es aber ganz heilsam, wenn sie merkten, daß man dies tun könne, wenn man wolle, „and that we mean business". Und dann gab er zu verstehen, daß es nicht Absicht der britischen Regierung war, dies zu tun, man hoffe im Gegenteil darauf, daß die Russen früher oder später auch ihre Zone anschließen und zu einer wirtschaftlichen Einheit Deutschlands zurückfinden würden Es gab allerdings auch andere Stimmen im Foreign Office. Ein Mitarbeiter notierte, es sei doch wohl müßig, darauf zu beharren, ein solcher Schritt sei nur der Auftakt zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands und werde Deutschland nicht teilen. In Wirklichkeit komme dieser Schritt dem offenen Bekenntnis nahe, daß die Viermächtekontrolle gescheitert sei. Daraus folgerte er: „Wenn Deutschland wirtschaftlich geteilt wird, wird die politische Teilung mit Sicherheit folgen, auch wenn dies nicht notwendigerweise sofort geschehen muß."
Drei Monate später — im Oktober 1946 — wurde dann auch Bevin deutlicher. In einer Kabinettsvorlage stellte er klipp und klar fest: Um die im Potsdamer Abkommen geforderte „wirtschaftliche Einheit" Deutschlands herzustellen, sollte von der Sowjetunion die Erfüllung von fünf Bedingungen gefordert werden:
1. gleichmäßige Verteilung sämtlicher Ressourcen aller Zonen;
2. Beteiligung an einem gemeinsamen Export/Import-Programm für ganz Deutschland; 3. keine Entnahme von Reparationen aus der laufenden Produktion, solange es noch Handelsdefizite in einer der vier Zonen gab;
4. Übernahme des in der amerikanischen und britischen Zone aufgelaufenen Defizits in Höhe der von den Sowjets bereits entnommenen Reparationen;
5. Übernahme der Investitionskosten in Deutschland zu gleichen Teilen.
Große Chancen wurden diesem Vorgehen allerdings nicht eingeräumt. Die Russen, so hieß es, würden die 4. Bedingung niemals, die 5. höchstwahrscheinlich nicht, die 3. wahrscheinlich auch nicht akzeptieren. Würde man mit den Russen zu einem Kompromiß hinsichtlich der wirtschaftlichen Einheit kommen, dann nur auf der Basis der 1. und 2. Forderung und — mit Einschränkungen — auf der Basis der 3., was wiederum zur Folge haben werde, daß die finanzielle Belastung für Großbritannien in je-dem Fall größer sein würde als bei einer Fusion nur mit der amerikanischen Zone. Bei freiem Warenaustausch in Deutschland werde Rußland, so befürchtete man, weiter Reparationen aus seiner Zone entnehmen, während gleichzeitig Waren, die nach Westdeutschland importiert oder dort produziert würden, mit Sicherheit in den Osten fließen würden, um dort das entstandene Vakuum zu füllen. Auf der anderen Seite werde man gezwungen, die US-UK-(United Kingdom-) Zonen vom Rest Deutschlands abzutrennen, und es sei zweifelhaft, ob man sie erfolgreich organisieren könne ohne die Errichtung zentraler politischer und wirtschaftlicher Verwaltungsstellen und möglicherweise die Einführung einer eigenen Währung; das aber wäre gleichbedeutend mit „Splitting Germany into two". Auf der anderen Seite, so wurde weiter festgestellt, müsse klar erkannt werden, daß die wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen der Russen in der Sowjetzone praktisch schon zur Errichtung eines separaten Staates geführt hätten. Selbst wenn die Russen der wirtschaftlichen Einheit zustimmen würden, so sprächen doch alle Anzeichen dafür, daß sie ein entsprechendes Abkommen nicht einhalten würden; andererseits habe man wenig Möglichkeit, die Russen in ihrer Zone zu kontrollieren oder sie zur Erfüllung des Abkommens zu zwingen. Es komme hinzu, daß die wirtschaftliche Einheit den Sowjets freien Zugang nach Westdeutschland ermögliche, in ein Gebiet, das angesichts der gegenwärtigen schwierigen ökonomischen Situation und nicht vorhandener politischer Einheit „highly vulnerable to Communist infiltration" sei.
Die Russen ihrerseits seien ängstlich um die Einheit bemüht, allerdings nur zu ihren Bedingungen, d. h. Beherrschung einer deutschen Zentralregierung und durch diese wiederum Kontrolle „or at least an equal voice, in the administration of the Ruhr". Die Russen würden die Wirtschaft in ihrer Zone in einem solchen Maße überstrapazieren, daß sie zu einer ernsten finanziellen und politischen Belastung werde, falls nicht die Ressourcen Westdeutschlands mit herangezogen werden könnten. Aus dieser Situation wurde der Schluß gezogen, daß „if, therefore, we and the Americans stood fast on the non-acceptance of unity except on our own conditions, it is at least possible that the Russians might change their tune and make a considerable advance towards us". Selbst wenn das nicht ausreiche, „and the Separation of Western Germany resulted", würden die Russen dies nur als eine vorübergehende Maßnahme betrachten. In jedem Fall sei es nicht klug, jetzt auf wirtschaftliche Einheit zu drängen, es sei denn, die Russen würden die fünf Bedingungen akzeptieren (evtl, mit Aus-; nähme der vierten). Sollte die Entwicklung zur Spaltung Deutschlands führen, so die abschließende Analyse, „this need not necessarily be permanent. It would however provide an exceedingly valuable opportunity to rebuild the economy of the British and American Zones“.
Genau das aber werde die Verhandlungsposition gegenüber den Russen verbessern, so daß sie wahrscheinlich eher bereit seien, „to accept our conditions for unity in return for the economic benefits which unity would bring them“. Bei den Verhandlungen in Washington gehe es darum, die Amerikaner zu einer ähnlichen Politik zu bewegen
Die Bildung der Bizone war der entscheidende Wendepunkt in der britischen Deutschland-politik im Hinblick auf die Sowjetunion. Sie hatte aber auch in anderer Hinsicht weitreichende Konsequenzen. „Die Zeit ist gekommen", so formulierte es Bevin im Oktober 1946 im Kabinett, „um erneut Inventur zu machen" Und das Ergebnis dieser Inventur war nicht besonders günstig. Großbritannien war nicht mehr imstande, das anfallende Defizit seiner Zone zu tragen. In einem Memorandum des Foreign Office heißt es deutlich: „This is beyond this country's capacity to pay." Einig war man sich darin, daß die USA den weitaus größten Teil des Defizits und der zu erwartenden Investitionen (£375 Mill.) übernehmen sollten, etwa im Verhältnis 4:1
über die Konsequenzen war man sich dabei im klaren: Man würde auch offiziell zum Juniorpartner der USA in Deutschland, und das wie-j derum war gleichbedeutend mit der Aufgabe einer eigenständigen Deutschlandpolitik. Mit den Worten Bevins: „Wir können die Politik der Amerikaner beeinflussen", aber „we must be prepared to make sacrifices to their point of view"
Eines dieser Opfer wurde die Sozialisierung der Schlüsselindustrien in der britischen Zone, die am 22. Oktober 1946 von Bevin im Unterhaus angekündigt wurde Ausgangspunkt für die Sozialisierung waren sicherheitspolitische Überlegungen im Zusammenhang mit der Ruhrfrage gewesen. Im Herbst 1946 kamen noch weitere Überlegungen hinzu. Der neue Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, Patrick Dean, sah in der So-zialisierung die einzige fortschrittliche Alternative zum Kommunismus in Deutschland. Er warnte damals: „Wenn wir mit der Sozialisierung scheitern, rechtfertigen wir die Kritik der SPD und der Russen an uns und treiben die SPD in die Arme der KPD und ermöglichen so die sowjetische . Penetration'Deutschlands.“
Darüber hinaus erhoffte sich Dean von der Sozialisierungspolitik eine Annäherung des linken Flügels der CDU an die SPD. Auf gar keinen Fall könne man sich auf den extrem reaktionären rechten Flügel der CDU stützen. Genau dies müsse den Amerikanern klargemacht werden
Am 21. Oktober beschloß das britische Kabinett offiziell die Sozialisierung der Schlüsselindustrien in ihrer Zone. Dabei wurde auf die Bedeutung der entsprechenden Absichtserklärung hingewiesen, die Bevin am nächsten Tag im Unterhaus abgeben wollte: Sie werde die sozialistischen Parteien in Europa stärken und die Sozialdemokraten in Deutschland ermutigen. Die CDU, so hieß es, sei bei den Kommunalwahlen zwar erfolgreich gewesen und werde wahrscheinlich die stärkste Partei in zwei von drei Ländern in der britischen Zone werden — darüber hinaus werde sie auch noch durch die Fusion mit der amerikanischen Zone weiter gestärkt—, ohne Zweifel sei jedoch die SPD die in sich gefestigtere („more solidly grounded") Organisation und ein besserer Schutz gegen das Wiederaufleben eines deutschen Nationalismus
Die Sozialisierung sollte demnach in drei Stufen geschehen. Stufe A sah die Einsetzung deutscher Treuhänder vor; nach den Landtagswahlen sollten dann die Körperschaften gegründet werden, die die sozialisierten Betriebe übernehmen sollten (Stufe B). Im Hinblick auf die einzurichtende internationale Kontrolle (Stufe C) wollte man sich auch jetzt nicht festlegen: „We are in control at present“ — und diese Kontrolle sollte jetzt nicht ohne Zwang aufgegeben werden
Am 19. November 1946 beschloß das Kabinett, mit der Stufe A der Sozialisierung zu beginnen und Treuhänder für die inzwischen beschlagnahmten Schlüsselindustrien zu ernennen.
Dies sei ein „wichtiger Schritt Vorwärts“ auf dem Weg „in which future progress was to be made"
Die Truman-Administration war nicht davon überzeugt, daß der Fortschritt auf diesem Weg lag, wie sich schon bald zeigen sollte. Auch in anderer Hinsicht gab es zunächst für die Briten ein böses Erwachen. Bei den Finanzverhandlungen im Hinblick auf die Fusion der beiden Zonen im November 1946 in Washington waren die Amerikaner nur unter einer Bedingung bereit, mehr als 50% der anfallenden Kosten zu übernehmen: Großbritannien sollte dem Tausch der Zonen zustimmen Damit hätten die USA das Problem der Sozialisierung an Rhein und Ruhr schon 1946 auf elegante Weise in ihrem Sinne gelöst. In London gab es damals dramatische Kabinettsitzungen. Was sollte man angesichts der starren Haltung Washingtons tun? Fünf Alternativen wurden auf interministerieller Ebene durchgespielt: 1. Vollständiger Rückzug aus Deutschland. Dies wurde gleichgesetzt mit dem totalen Verzicht, auch weiterhin als europäische Macht zu gelten, wobei bezweifelt wurde, ob die Amerikaner die britische Zone mitübernehmen oder nicht eher auch ihre Zone aufgeben würden. In dem Fall, so wurde befürchtet, würden Frankreich und die UdSSR wahrscheinlich ganz Deutschland besetzen „and the day could scarcely be far distant when the whole of North West Europe passed under Soviet control“, und dann würde die Verstärkung der eigenen Verteidigung mehr kosten als die vorgeschlagene 50: 50 Aufteilung.
2. Tausch der Zonen. Schon Bevin hatte dies als „politisch unmöglich" bezeichnet. Dies, so hieß es jetzt, käme einem öffentlichen Eingeständnis gleich, in der Zone gescheitert zu sein, die man vorher mit Nachdruck gefordert habe, um die Kontrolle über das Ruhrgebiet zu erhalten. Weitere Argumente kamen hinzu: Ein Tausch würde mit ungeheuren verwaltungstechnischen Schwierigkeiten verbunden sein und so die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands weiter verzögern. Wenn die Amerikaner einmal das Ruhrgebiet übernommen hätten, dann würden sie es nach kapitalistischen Gesichtspunkten aufbauen.
3. Eine voneinander unabhängige Verwaltung der Zonen. Der mögliche Vorteil, auf Dollarbasis zu exportieren, würde weitgehend dadurch aufgehoben, daß die USA Nahrungsmitteleinfuhren aus Amerika drosseln würden. Es wurden außerdem die außerordentlich negativen Auswirkungen eines solchen Schrittes auf die anglo-amerikanischen Beziehungen befürchtet.
4. Zusammenschluß der beiden Zonen über das geplante Maß hinaus. Auch in diesem Fall wurde ein zu großer Einfluß der Amerikaner befürchtet.
5. Hinausschieben der Entscheidung bis zur Klärung der Haltung des neugewählten amerikanischen Kongresses. Dies wurde angesichts des Drängens der Amerikaner auf Abschluß des Abkommens für unmöglich gehalten. Das Ergebnis war eindeutig: „We have no alternative but to accept the American proposal.“
Energieminister Shinwell plädierte am 25. November dafür, auf die Fusion zu verzichten und sich somit die Handlungsfreiheit in der eigenen Zone zu erhalten. „Das Bizonenabkommen", so warnte er, „wird die wirtschaftliche Abhängigkeit dieses Landes von den USA noch vergrößern." Die übrigen Minister aber sahen keine Alternative zum amerikanischen Vorschlag: Aufteilung der Kosten zu gleichen Teilen Von Washington aus drängte Bevin auf sofortigen Abschluß des Abkommens, das er in den größeren Rahmen der neu-begründeten anglo-amerikanischen Kooperation gestellt sehen wollte Am 2. Dezember 1946 wurde das Abkommen dann unterzeichnet, ab 1. Januar 1947 gab es das „Vereinigte Wirtschaftsgebiet“, die Bizone. Den Briten blieb die — falsche — Hoffnung, daß sie mit ihrer Sozialisierungspolitik wie geplant fortfahren könnten
V. Schlußbetrachtung
Unsere Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
I. Angesichts seiner in kolonialer Tradition begründeten weltweiten Verpflichtungen nahm das Deutschlandproblem in der außenpolitischen Rangskala Großbritanniens nach Kriegsende zunächst nur einen untergeordneten Platz ein.
II. Die britische Deutschlandpolitik war in erster Linie Sicherheitspolitik. Außenminister Bevin fand dafür Anfang 1947 die Formel: „If we had to define in a single word our aims with regard to Germany security would be this word" Unter diesem Aspekt sind als langfristige Ziele der britischen Politik zu nennen:
1. In Deutschland politische Verhältnisse zu schaffen, die die Welt vor der Neuauflage deutscher Diktatur und aggressiver Politik sicherten;
2. in Deutschland ökonomische Verhältnisse zu schaffen, die Deutschland und der übrigen Welt gleichermaßen zum Nutzen gereichten, ohne daß damit gleichzeitig die wirtschaftlichen Grundlagen für eine aggressive Politik gelegt wurden;
3. in Deutschland ein parlamentarisches System zu errichten, das die Realisierung dieser Absichten am ehesten ermöglichte und das gleichzeitig von den Deutschen akzeptiert wurde und somit die beste Gewähr für eine dauerhafte Lösung bot;
4. ein Deutschland zu schaffen, das nach Westen orientiert war;
5.den Einfluß der Sowjetunion soweit wie möglich auf den Osten zu beschränken;
6. Frankreich den Wiederaufstieg zu einem stabilen Mitglied der westlichen Demokratien zu ermöglichen;
7. die USA zum frühest möglichen Zeitpunkt fest an Deutschland und Europa zu binden;
8. so schnell wie möglich in der eigenen Zone aus den roten Zahlen herauszukommen.
III. Unter dem Eindruck der sowjetischen Außen-und Deutschlandpolitik erwies sich spätestens im Frühjahr 1946 die noch über das Kriegsende hinaus gehegte Hoffnung, mit der Sowjetunion zu einer global angelegten Zusammenarbeit — auch in Deutschland — zu kommen, als Illusion. Das früh erwachte Mißtrauen führte zur Kurskorrektur der britischen Politik insgesamt. Es galt nun, der neuen „russischen Gefahr" und der Gefahr vor einem kommunistischen, mit der Sowjetunion verbündeten oder von ihr beherrschten Deutschland zu begegnen.
IV. Im Frühjahr 1946 war London allerdings noch nicht bereit, Potsdam, d. h. die alliierte Zusammenarbeit auch offiziell aufzukündigen und auf eine Spaltung Deutschlands hinzuarbeiten. Die Devise lautete zunächst noch: abwarten. Das Ziel blieb ein dezentralisiertes, föderalistisches Deutschland. Durch die Bildung starker Länder sollte eine potentiell-kommunistische Zentralregierung allerdings von vornherein größtmöglichst geschwächt werden; in der eigenen Zone sollten in der Zwischenzeit die antikommunistischen Kräfte gestärkt werden.
V. Die Bildung der Bizone bedeutete die Wende in der britischen Deutschlandpolitik. Mit ihr wurde die entscheidende Grundlage für eine — bis zum Sommer 1946 in London noch schmerzlich vermißte — anglo-amerikanische Kooperation in Deutschland und Europa gelegt. Damit wurden gleichzeitig die Voraussetzungen geschaffen, um die langfristigen Ziele Großbritanniens in Deutschland zu erreichen, die dann allerdings nur noch für einen Teil Deutschlands galten. Die Spaltung Deutschlands — in London zumindest als eine vorübergehende schon früh vorausgesehen — wurde damit zwar nicht Ziel britischer Politik, aber angesichts der sowjetischen Politik spätestens seit Herbst 1946 bewußt in Kauf genommen.
Rolf Steininger, Dr. phil., geb. 1942; Professor für Neuere, Neueste und Angloamerikanische Geschichte an der Universität Hannover. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Besiegt — Besetzt — Geteilt: Deutschland 1944— 1949, Oldenburg 1979 (zus. m. H. Schwan); Als der Krieg zu Ende ging, Berlin 1981 (zus. m. H. Schwan) (= Ullstein Dokumente zur Zeitgeschichte, Band 1); Entscheidung am 38. Breitengrad: Die USA und der Korea-Krieg, in: Amerikastudien, 1981; L'Internationale Socialista dopo la seconda guerra mondiale. Germania, Piano Marshall, Italia, in: La sinistra europea nel secondo dopoguerra 1943— 1949, Florenz 1981.
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