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Europäische Industriepolitik — eine Antwort auf weltwirtschaftliche Herausforderungen *) | APuZ 7-8/1982 | bpb.de

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APuZ 7-8/1982 Europäische Industriepolitik — eine Antwort auf weltwirtschaftliche Herausforderungen *) Japan ohne Illusionen Stand und Perspektive der Arbeitsbeziehungen Artikel 1

Europäische Industriepolitik — eine Antwort auf weltwirtschaftliche Herausforderungen *)

Horst-Dieter Westerhoff

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der seit nahezu einem Jahrzehnt zu beobachtende Rückgang der Dynamik der europäischen Industrie — der von Arbeitslosigkeit, Inflation und Unternehmenszusammenbrüchen begleitet wird — hat nicht allein konjunkturelle Gründe. Er muß vielmehr auch, ja möglicherweise dominierend, mit einem Stau unbewältigter Strukturwandlungen eines Teils der europäischen Industrien erklärt werden. Neben einer Vielzahl binnenwirtschaftlicher Ursachen sind es aber auch weltwirtschaftliche Entwicklungen, die die europäische Industrie mit Anpassungsproblemen belasten. Währungsund Ölkrisen, die japanische Exportoffensive und vor allem die fortschreitende Industrialisierung der Entwicklungsländer sind Herausforderungen, an die sich die europäischen Unternehmen noch nicht in jedem Fall ausreichend angepaßt haben. Die dem wirtschaftlichen Wandel innewohnenden Chancen sowohl für die Entwicklungsländer als auch für Europa werden nicht genutzt; vielmehr betreiben sowohl die EG-Kommission als auch die Mitgliedstaaten eine mehr oder weniger starke Politik gegen den Markt. Die Staaten der Gemeinschaft, aber auch die Gemeinschaft selbst, greifen mehr und mehr zu sektorspezifischen Interventionen und vertrauen in steigendem Maße auf die den internationalen Handel beschränkenden protektionistischen Maßnahmen verschiedener Art. Diese Politik löst keines der wirtschaftlichen Probleme in Europa; vielmehr ist sie dazu geeignet, langfristig die Schwierigkeiten noch zu vergrößern. Dieser Politik wird das Konzept einer gemeinschaftlichen europäischen Industriepolitik entgegengestellt, die den Protektionismus und die einzelwirtschaftlichen Interventionen stoppt, den unausweichlichen Anpassungsprozeß erhält und stärkt sowie den Marktprozeß so beeinflußt, daß der strukturelle Wandel in seinem Tempo, seiner Intensität und seinen Nebenwirkungen nicht zu unvertretbaren sozialen Härten führt Die politische Realisierung dieser Politik erfordert einen Umdenkungsprozeß in den wirtschaftlichen Zielen und Vorstellungen der Politiker und Sozialpartner in den Mitgliedstaaten. Entscheidend für die Realisierung einer gemeinschaftlichen Industriepolitik ist jedoch die Überwindung der Krise der EG mit den Rückschrittstendenzen zur Renationalisierung ihrer Politiken.

I. Europas Industrien in der Krise

INHALT I. Europas Industrien in der Krise II. Geänderter weltwirtschaftlicher Rahmen 1. Währungs-und Ölkrisen 2. Die japanische Exportoffensive 3. Die Industrialisierung der Entwicklungsländer III. Die Chance des Wandels IV. Europäische Wirtschaftspolitik gegen den Markt V. Elemente einer europäischen Industrie-politik 1. Zielsetzung 2. Die Leistungsfähigkeit des Marktes 3. Die Politik der Reglementierung stoppen 4. Die Anpassungsfähigkeit der Industrie erhöhen 5. Sozialpolitische Absicherung VI. Die politi酪r

Sieht man die derzeitige Wirtschaftsentwicklung in Europa nicht unter dem Gesichtspunkt der Probleme und Erfordernisse einer kurzfristigen Stabilisierungspolitik, sondern in einer längerfristigen Perspektive, so scheint die Dynamik der Wirtschaft Europas seit Anfang der siebziger Jahre erlahmt zu sein. Sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung ist eine deutliche Zunahme der Inflation, eine ebenso deutliche Abnahme des Wachstums des Sozialprodukts und der Investitionen in der Gemeinschaft sowie entscheidend der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosenzahlen und Firmenzusammenbrüche seit 1970.

Diese seit einem Jahrzehnt andauernde Entwicklung kann nicht primär als kurzfristig konjunkturelles Phänomen, also als Konsequenz einer vorübergehenden globalen Nachfrageschwäche, erklärt werden. Schon die Rezession von 1975 und mehr noch die gegenwärtige Krise sind, anders als ihre Vorgänger, nicht allein „herkömmliche Stabilisierungskrisen", die durch die „Weltrezession" verschärft wurden Sie müssen vielmehr auch, ja möglicherweise dominierend, mit einem Stau unbewältigter Strukturwandlungen eines Teils der europäischen Industrien erklärt werden

Daß die notwendige Anpassung der europäischen Industrien an sich wandelnde Umwelt-bedingungen nicht mehr befriedigend funktioniert, ist unzweifelhaft daran zu sehen, daß die Gemeinschaft hohe Arbeitslosenziffern ausweist, aber gleichzeitig ein ungewöhnlich hoher Bedarf an Arbeitskräften besteht. Es fehlt aller Orten in Europa an qualifizierten Arbeitskräften, insbesondere im technischen und handwerklichen Bereich. Auch die nach wie vor unbefriedigende Investitionstätigkeit in vielen Branchen der Europäischen Industrie ist ein Zeichen ungenügender Anpassung. Denn sinkende Investitionen sind u. a. auch gleichbedeutend mit einer sinkenden Wandlungsfähigkeit und mit einer Überalterung der technischen Produktionskapazitäten.

Seit Jahren bestehen Überkapazitäten in der Stahlindustrie, der Werftindustrie, Teilen der Chemie, der Textil-, Leder-und Bekleidungsindustrien. über Wettbewerbsschwierigkeiten klagen die feinmechanische, optische und elektrotechnische Industrie. Neuerdings treten der Maschinenbau und die Automobilindustrie hinzu. Folgerichtig geht auch das Wachstum der Industrieproduktion zurück. Ist der Index der Produktion des europäischen „Kernsektors" in dem Jahrzehnt von 1963 bis 1973 um mehr als 41 v. H. gestiegen, so nahm er seither nur um wenig mehr als 10 v. H. zu. Ein Symptom für die Struktrurprobleme des industriellen Sektors ist teilweise auch in der zunehmenden Inflation zu sehen. Denn für alle Länder der Gemeinschaft gilt mehr und mehr, daß ein Teil der Inflationsursachen auf der Angebotsseite der Wirtschaft zu suchen ist. Verringerte Flexibilität der Arbeitsmärkte, sektorielle Ungleichgewichte und strukturelle Anpassungsverzögerungen zwischen den vorhandenen Kapazitäten und den neuen Nachfragebedingungen führen heute schon deutlich vor Erreichen der Kapazitätsgrenzen zu inflationären Entwicklungen

II. Geänderter weltwirtschaftlicher Rahmen

1. Währungs-und Ölkrisen Die sich kumulierenden Schwierigkeiten, vor die sich die europäische Industrie gestellt sieht, haben eine Vielzahl von Ursachen lange Zeit verharmloste Inflation, daraus resultierende binnenwirtschaftliche Fehlentscheidungen, das Niveau und die Struktur der •Lohnkosten die sich teilweise beschleunigende technologische Erneuerung, eine Veränderung in der Nachfragestruktur, ein die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft übersteigendes Anspruchsdenken und damit verbunden eine überzogene Verschuldung der Staaten. Diese insbesondere in der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten begründeten Anpassungsprobleme werden überlagert und verstärkt durch die grundlegenden Veränderungen der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Allein die Verteuerung der Energie und der Rohstoffe erfordert bereits durch die Auswirkungen, die sie auf die Produktionskosten, auf die Zahlungsbilanzen und auf die Veränderung der Terms of Trade hat, einen hohen Anpassungsbedarf der europäischen Industrie.

Die Ölkrise der Jahre 1973/74 hatte in den meisten Industrieländern nur einen „EinmalEffekt", weil die ölpreise das damalige Spitzenniveau nicht gehalten haben. Daher ist es erklärlich, daß bis in das Jahr 1979 hinein aus der Entwicklung der Energiemärkte heraus keine nachhaltigen Preis-und Verknappungssignale auftraten, die Investoren und Verbraucher entweder zum knapperen Verbrauch des Öls oder zur verstärkten Suche nach Alterna-tivenergien veranlaßt hätten Um so mehr ist den verantwortlichen Politikern in Europa der Vorwurf zu machen, daß sie aus der politisch motivierten Ölkrise der Jahre 1973/74 — und deren prinzipiellen Wiederholbarkeit — keine Schlüsse gezogen haben und nicht die politischen und ökonomischen Daten gesetzt haben, um einen sparsameren Umgang mit öl anzuregen. Dadurch ging ein halbes Jahrzehnt für den Strukturwandel in Richtung energie-sparender Technologien in der europäischen Industrie verloren.

Die Ölkrise des Jahres 1979 unterscheidet sich von der des Jahres 1973, weil heute vieles dafür spricht, daß die realen ölpreise hoch bleiben und noch steigen werden. Von den Vertretern der Ölförderländer ist geäußert worden, sie wollten öl zur „Luxusware" machen. Und so kann man davon ausgehen, daß „die anhaltende reale Verteuerung der Energie ein bleibendes Charakteristikum der achtziger Jahren sein" wird.

Die Auflösung der bis Anfang der siebziger Jahre existierenden internationalen Währungsordnung — des Festkurssystems von Bretton-Woods — und der Übergang zu teils flexiblen, teils manipulierten Wechselkursen stellt eine weitere, die tatsächliche Wandlungsfähigkeit der europäischen Industrie übersteigende Herausforderung dar Einerseits muß auch heute noch der aufgestaute Anpassungsbedarf der Industrien aus der Zeit der — für manche Länder dauerhaft fehibewerteten — festen Wechselkurse abgebaut werden. Andererseits besteht weiterhin die Gefahr, daß die Unruhe auf den internationalen Finanzmärkten anhält, was die interna-tionalen Währungsbeziehungen gefährdet und so den weltweiten Handel behindert. Solange die amerikanische Exportschwäche und Ölimportlastigkeit — mit entsprechenden Zahlungsbilanzdefiziten — nicht dauerhaft überwunden sind, kann es keine Stabilität der internationalen Währungs-und Finanzbeziehungen geben, die wiederum eine wichtige Vorbedingung für ein ausreichend hohes Wachstum der Weltwirtschaft ist. Die Einführung der ersten Stufe des Europäischen Währungssystems vermindert die durch flexible Wechselkurse bedingten unternehmerischen Risiken im Absatz-und Investitionsverhalten nur zum Teil; und dies auch nur bei relativer Preisstabilität in den Mitgliedstaaten. 2. Die japanische Exportoffensive Die Wettbewerbsposition der Industrien der EG wird weiter dadurch beeinträchtigt, daß einige traditionelle Konkurrenzländer verstärkt eine weltweit offensive Verkaufspolitik betreiben, es aber gleichzeitig verstehen, ihren eigenen Markt gegenüber Produkten aus Drittländern, so auch aus der EG, zu schützen. Die USA halten z. B. immer noch am Buy-American-Act fest. Sie werfen der EG andererseits Dumpingpreise für Agrarerzeugnisse auf den Weltmärkten und „unfaire" Exportpraktiken im Stahlsektor vor.

Weit mehr als die handelspolitischen Probleme mit den USA werden von der europäischen Öffentlichkeit die japanischen Exporterfolge in Europa beachtet und kritisiert, mit der Folge, daß die EG-Kommission im Februar 1981 bereits eine selektive nachträgliche Einfuhrüberwachung für japanische Güter eingeführt hat. Die Sorgen der europäischen Industrien, die manchmal das Gefühl einer existentiellen Bedrohung anzunehmen scheinen, sind zunächst nicht recht verständlich, wenn man bedenkt, daß von der gesamten Wahreneinfuhr der EG im Durchschnitt nur gut 2 v. H. (ohne EG-Binnenhandel 5 v. H.) auf Lieferungen aus Japan entfallen, der EG-Raum derzeit unter den Hauptabnehmern japanischer Exporte hinter den USA (ca. 25 v. H.), den asiatischen Schwellenländern (ca. 16 v. H.) und den OPEC-Ländern (ca. 15 v. H.) mit ca. 11 v. H. nur auf dem vierten Platz liegt und Japan mit Abstand hinter der EG und den USA im Export von Industriegütern immer noch den dritten Rang einnimmt.

Allerdings wurde in der Vergangenheit von der japanischen Konkurrenz über die Märkte in Drittländern ein beachtlicher Anpassungsdruck auf die europäische Industrie ausgeübt. Nach einem vielfach einheitlichen Muster sind in den letzten drei Jahrzehnten die japanischen Exporteure zunächst in den asiatischen Ländern — insbesondere in den benachbarten Schwellenländern — aktiv geworden, sind dann in den USA vorgedrungen und haben Anfang der siebziger Jahre den lateinamerikanischen Markt erschlossen. In der vierten Phase dieser Entwicklung schließlich — und das ist das Neue — lassen sich verstärkte Exportanstrengungen auf europäischen Märkten beobachten so daß die japanische Konkurrenz heute der europäischen Industrie mehr und mehr auch auf heimischen europäischen Märkten zu schaffen macht.

Verstärkt wird der japanische Wettbewerbs-druck dadurch, daß mit der regionalen Ausweitung des japanischen Handels eine sektorale Spezialisierung einherging. Mit der zunehmenden Orientierung an den Märkten der Industrieländer verschwand die noch 1963 bestehende Spezialisierung auf Konsumgüter. Heute ist der japanische Export überwiegend auf Investitionsgüter und hochwertige dauerhafte Konsumgüter spezialisiert. Dies entspricht auch der europäischen Exportstruktur mit dem Unterschied, daß sich der japanische Export vornehmlich auf die Branchen Eisen-und Stahlerzeugung, Maschinenbau, Straßen-fahrzeugbau, Schiffbau, Elektronik sowie Feinmechanik und Optik konzentriert. Diese Branchen produzieren etwa drei Viertel des gesamten japanischen Industriegüterexports In diesen Bereichen gelang es den japanischen Herstellern, strukturverändernde technologische Entwicklungen schneller und umfassender zu nutzen, als dies insbesondere die Produzenten innerhalb der EG vermochten, mit der Folge einer bemerkenswert schnellen Durchdringung der entsprechenden Märkte mit japanischen Produkten. So verdoppelte sich z. B.der Anteil der Zulassungen japanischer PKWs an den Gesamtzulassungen in der Bundesrepublik innerhalb des Jahres 1980. 3 Die Industrialisierung der Entwicklungsländer Entscheidend für die langfristige Entwicklung der Europäischen Wirtschaft, für die Lösung des Arbeitslosenproblems und letztlich auch für die Entwicklung im Nord-Süd-Dialog sind jedoch die revolutionären Veränderungen in den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern — insbesondere den „Schwellenländern'1 — und den westlichen Industrieländern in den zurückliegenden 25 Jahren. Selbst die sonst eher zurückhaltende Weltbank hält diese Veränderungen für „dramatisch“. Nach ihren Angaben ist die Export-abhängigkeit der Industrieländer von den Märkten der Entwicklungsländer so stark gestiegen, daß 1975 25 v. H. ihres Gesamtexports und 30 v. H.der industriellen Fertigwaren in den Entwicklungsländern abgesetzt wurden. Für die Vereinigten Staaten und Japan beträgt dieses Verhältnis sogar 34 und 45 v. H. Parallel dazu haben sich die Netto-Kapitalströme aus privaten Quellen in die Entwicklungsländer von 4, 7 Mrd. Dollar im Jahre 1970 auf 12, 7 Mrd. Dollar im Jahre 1975 erhöht, während die offiziellen Ströme im gleichen Zeitraum nur von 1, 3 auf 3, 4 Mrd. Dollar an 7 Mrd. Dollar im Jahre 1975 erhöht, während die offiziellen Ströme im gleichen Zeitraum nur von 1, 3 auf 3, 4 Mrd. Dollar angewachsen sind. Seither hat sich diese Entwicklung nicht verlangsamt. Andererseits sind unter stärkster Mithilfe der Industriestaaten auch in den Entwicklungsländern moderne Industrien aufgebaut worden, so daß diese heute nicht nur Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte, sondern auch verstärkt Industrieprodukte auf den Weltmärkten anbieten: „Erstmals in der Geschichte der Weltwirtschaft kann heute im großen und wachsenden Umfang auch in den Entwicklungsländern im Bereich der verarbeitenden Industrie rentabel für den Weltmarkt produziert werden. 11) Die Entwicklungsländer selbst haben sich zum Ziel gesetzt, ihren derzeitigen Anteil von fast 11 v. H. an der Weltjahresproduktion auf 25 v. H. im Jahre 2000 zu steigern 12). Auch wenn dieses Ziel sehr hoch gesteckt ist, setzen die Entwicklungsländer schon heute ihre wachsende Produktion auf den Weltmärkten einschließlich der Europäischen Gemeinschaft zu Preisen ab, mit denen die Produzenten in Europa angesichts des eigenen hohen Kostenniveaus nur schwer mithalten können. Die Industrie-und Entwicklungsländer sind in eine sich ausweitende wechselseitige Abhängigkeit geraten; manche Beobachter sprechen von einer „Interessenverflechtung"

III. Die Chance des Wandels

Die Fortsetzung des Prozesses der internationalen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern ist notwendig, weil alle Beteiligten davon profitieren können: Die industrielle Entwicklung ist neben dem Nahrungsmittelproblem für die Entwicklungsländer eine Frage des Überlebens. In ihrem Weltentwicklungsbericht 1979 hat die Weltbank darauf hingewiesen, daß auch im Jahre 2000 noch 600 Millionen Menschen in absoluter Armut leben dürften. In den Entwicklungsländern wird die Zahl der Arbeitskräfte im letzten Viertel dieses Jahrhunderts um eine Milliarde Menschen zunehmen. Die Bevölkerung der Städte wird im gleichen Zeitraum um eine Milliarde Menschen wachsen. Und in ihrem Bericht für 1981 ergänzt die Weltbank: Ein Drittel der Weltbevölkerung ist chronisch unterernährt; etwa 200 Millionen Kinder in der Welt hungern dauernd.

Aber auch die Europäische Gemeinschaft hat als größter Welthandelspartner genau wie Japan ein elementares Interesse an der Aufrechterhaltung und dem Ausbau des weltwirtschaftlichen Austausches mit den Entwicklungsländern. Für diese Regionen gilt nicht nur, daß sich ein Teil ihres Wohlstandes auf dem internationalen Handel gründet; sie verfügen darüber hinaus nicht über ausreichende Energie-und Rohstoffreserven, so daß sie darauf angewiesen sind, durch Handel die Devisen zum Kauf dieser Güter zu erlangen. Diese Exportabhängigkeit macht es notwendig, daß sich überall in der Welt ausreichend Wohlstand heranbildet und Kaufkraft entsteht, damit die von ihr angebotenen Güter bezahlt werden können

Dies führt aber dazu, daß mehr und mehr Anbieter aus Entwicklungsländern auf Märkten konkurrenzfähig werden, die früher fest in der Hand der Industrieländer waren, mit der Folge von Anpassungsschwierigkeiten in einer Reihe von Branchen der Gemeinschaft. Die europäischen Industrien müssen sich dieser Herausforderung stellen, denn der von interessierter Seite propagierte Verzicht auf strukturellen Wandel und Wachstum ist keine Alternative. Diese Ideologie ist vor dem Hintergrund des Durchschnittseinkommens deutscher Arbeitnehmer unverständlich, vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen weiter Teile Europas Zynismus und vor dem Hintergrund der Dritten Welt blanker Hohn. Aber nicht allein wirtschaftliche Gründe sprechen für die Anpassung Europas an sich wandelnde Bedingungen. Unter politischen Gesichtspunkten muß sich der freie Teil der Welt darüber im klaren sein, daß er sich im Ringen mit den totalitären, insbesondere den sozialistisch-marxistischen und kommunistischen Gesellschafts-und Machtgruppen auf Dauer nur wird behaupten können, wenn sich der Dritten und Vierten Welt unser politisches System als das humanere und damit eng verbunden unser Wirtschaftssystem als das leistungsfähigere erweist.

Die Herausforderung, der sich die Verantwortlichen in Europas Wirtschaft und Politik zu stellen haben, ist ein struktureller Wandel in der europäischen Industrie und eine weltweite internationale Arbeitsteilung, wobei jedes Land das in diese internationale Arbeitsteilung einbringen sollte, was seine besondere Leistungsfähigkeit ausmacht. Bei den einen wird es hochwertige Technologie sein, bei den anderen günstigere Arbeitskosten. Die Anstrengungen der Gemeinschaft sollten sich auf die Produktion der modernsten Güter und auf die Anwendung der modernsten Produktionsverfahren konzentrieren. Da wir trotz der vorhandenen Arbeitslosigkeit langfristig von der weitgehenden Ausschöpfung der klassischen Arbeitskraftreserven ausgehen müssen, ist wirtschaftliches Wachstum eng mit der Steigerung der Produktivität verknüpft. Ständige Innovation, nicht nur der Produkte, sondern vor allem auch der Produktionsverfahren, wird damit zur obersten Maxime.

Europa hat in den vergangenen hundert Jahren einen ungeahnten sozialen Fortschritt erreicht, der ohne technischen und strukturellen Wandel nicht möglich gewesen wäre. Auch heute leben wir in einer Zeit ständiger technischer Revolution, die keineswegs abgeschlossen ist. Ein Elektrokonzern hat kürzlich festgestellt, daß 43 v. H.seines Umsatzes aus Produkten besteht, die nicht älter als fünf Jahre sind. Diese Feststellung dürfte sich auf viele andere Branchen übertragen lassen. Vieles spricht z. B. dafür, daß im Büro-und Verwaltungsbereich — wie heute schon im Bereich des Pressewesens — durch neue Übermittlungsverfahren wesentliche Personalfreisetzungen zu erwarten sind. Die „Studie Büro 1990" weist darauf hin, daß 45 v. H. aller Büro-leistungen formalisierbar und 25 bis 30 v. H. automatisierbar sein dürften. Es wird Personaleinsparungen geben. Aber durch das Wachstum des tertiären Sektors werden auch immer mehr Büro-und Verwaltungsarbeiten anfallen. Die Erarbeitung und Produktion eben dieser neuen Produktionsverfahren werden gleichzeitig neue Arbeitskräfte in den vorgelagerten Bereichen binden. Die Beschäftigung kann selbst in rationalisierenden Betrieben steigen, wenn die Nachfrage nach den Produkten dieses Betriebes aufgrund der Neuerung stärker steigt als die Arbeitsproduktivität. So werden z. B. für die Herstellung eines neuartigen elektronischen Fernschreibers zwar weniger Arbeitskräfte benötigt als für die Herstellung der herkömmlichen Fernschreiber. Die diese Maschinen herstellende Firma hat aber infolge der vielfältigen Verwendungsmöglichkeit der elektronischen Fernschreiber ihren Absatz so stark erhöhen können, daß noch zusätzlich Arbeitskräfte eingestellt werden konnten Völlig neue Techniken entstehen in der Informatik, beispielsweise in der Umwandlung und Verarbeitung von Sprachen, Texten und Daten. Mit den Mikroprozessoren ist eine revolutionäre Entwicklung in Gang gekommen, deren arbeitsplatzbeschaffende Wirkungen durchaus größer sein können als der zu erwartende Rationalisierungseffekt. Das Kabelfernsehen steht erst am Anfang seiner Entwicklung. Bei Luft-und Raumfahrt hat die Europäische Gemeinschaft erhebliche Zukunftschancen. Im Bereich Energie und Umwelt bieten sich völlig neue Entwicklungsprozesse an.

Dabei wird es für Europa nicht darum gehen, traditionelle Industrien und deren Arbeitsplätze gänzlich verschwinden zu lassen und durch völlig neue zu ersetzen. Auch die traditionellen Branchen wie Textil, Schuhe, Leder, Bekleidung haben immer noch Chancen, über Spezialisierung und Leistungssteigerung ihren Exportanteil zu vergrößern. Das gilt in gleicher Weise für die Bereiche Chemie, Papier, Automobile, Optik, Feinmechanik. Im Maschinenbau sind der Spezialisierung kaum Grenzen gesetzt.

Diese — beliebig verlängerbare — Liste zeigt, daß ungeachtet eines technologischen Nachholbedarfs in einigen Branchen gegenüber Japan und den USA auch in Europa ein ausreichend großes Potential an Innovationen vorhanden ist, um sich bei entsprechender Anpassungsfähigkeit sowohl auf den europäischen Märkten als auch auf den Weltmärkten zu behaupten. Damit bestehen gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung der „Reallokation der Ressourcen" in dem Sinne, daß die vorhandenen Arbeitskräfte und das vorhandene Kapital an die produktivsten Stellen . in der Europäischen Volkswirtschaft gelangen. Diese bildet aber die entscheidende Bedingung für die Stärkung der europäischen Wettbewerbsposition, für die Rückkehr zu Expansionsraten der Nachfrage und des Angebots, die ausreichen, um sich dem Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes wieder annähern zu können.

Allerdings reicht ein hohes Innovationspotential zur Bewältigung industriellen Strukturwandelns nicht aus, wie die Europäische Kommission in einem Bericht an den Europäischen Rat über Fragen des Wachstums zu Recht hingewiesen hat:

„Europa hat sich jedoch nur allzuoft unfähig gezeigt, den Innovationsprozeß durch wirtschaftliche und kommerzielle Anwendung und Nutzung wirksam und rasch zu vollenden. Die Hauptursachen hierfür sind folgende:

— das Fehlen eines für kleine und mittlere Unternehmen günstigen Klimas;

— das Fehlen eines offenen Marktes für Ideen, wie man ihn in den Vereinigten Staaten findet; — die Nicht-Verfügbarkeit von Risikokapital und der unzureichende Informationsfluß zwischen demjenigen, der eine Innovation nutzen möchte, und den Besitzern von anlagesuchendem Kapital;

— ein steuerlicher und sogar kultureller Rahmen, der von riskanten Initiativen abschreckt; — das zu langsame Entstehen eines hinreichend großen homogenen Marktes;

— der Widerstand der Arbeitskräfte gegen die Innovation wegen der sozialen Probleme, die sie nach sich ziehen könnte."

Dies bedeutet, daß sich die europäische Politik und Wirtschaft zwar technisch, aber noch nicht psychologisch und ökonomisch genügend auf die veränderten Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft eingestellt hat.

IV. Europäische Wirtschaftspolitik gegen den Markt

Statt sich den Erfordernissen einer erhöhten Mobilität der Produktionsfaktoren mit einem strukturpolitischen Konzept zu stellen, wird mit dem Argument, daß strukturelle Anpassungsprozesse zum Abbau von Anlagekapazitäten und zu politisch wie sozial nicht vertretbarer Arbeitslosigkeit führe, für viele Industriebranchen eine strukturkonservierende Politik betrieben. Die Staaten der Gemeinschaft, aber auch die Gemeinschaft selbst greifen mehr und mehr zu sektorenspezifischen Interventionen und vertrauen in steigendem Maße auf die den internationalen Handel beschränkenden Maßnahmen verschiedener Art. Die Industrie-und Handelskammer zu Koblenz stellt in einer Dokumentation fest: „Bemerkenswert ist, daß protektionistische Forderungen und Maßnahmen nicht nur von Entwicklungsländern oder sozialistischen Staaten kommen. Sie werden vielmehr verstärkt auch von Industrieländern mit markt-wirtschaftlichem Wirtschaftssystem erhoben bzw. getroffen. Auch und gerade die EG-Länder spielen hierbei eine unrühmliche Rolle."

Neben den bekannten Formen des Protektionismus — erhöhte Zölle oder andere Import-gebühren, Importquoten, Zollkontingente — werden heute von allen Mitgliedstaaten der EG auf die eine oder andere Art neue Formen der Handelsbeschränkung gegenüber Dritt-ländern entwickelt Da ist zunächst die Abwehr vom Meistbegünstigungsprinzip und die Hinwendung zu selektiven Beschränkungen auf Kosten dynamischer und bis jetzt noch relativ kleiner Lieferländer.

Durch diese Politik sollen wettbewerbsschwache heimische Industriezweige begünstigt werden, indem die Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten, aber auch und besonders aus Drittländern, gebremst werden. Dieses Phänomen des Protektionismus ist an sich nicht neu. Die in den letzten Jahren beträchtlich angewachsene Zahl von solchen Fällen, der Umfang der davon betroffenen Produkte und ihr Auftreten in allen Ländern der Gemeinschaft geben jedoch diesem Problem eine neue, gefährliche Dimension. Eine Untersuchung des GATT hat festgestellt, daß der Welthandel seit dem Jahre 1977 um H. größer sein 5v. hätte können, wenn nicht protektionistische Maßnahmen und gezielte Handelshemmnisse den Warenaustausch behindert hätten. Vom Generalsekretär des GATT die Feststellung, daß die Spannungen durch den Protektionismus heute so stark seien, sie den eigentlichen Kern der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Handelspolitik nach dem Krieg in Frage stellen.

der greift Auch innerhalb Gemeinschaft der Protektionismus um sich. Verschärfte überwachungs-und Schutzmaßnahmen gemäß Art. 115 EWG-Vertrag, die Forderung nach Vorlage von Ursprungszeugnissen und -markierungen sowie die Handelshemmnisse, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Warenverkehr stehen (schleppende Grenzabfertigung, Vorlage einer Vielzahl von Dokumenten usw.), gefährden den Gemeinsamen Markt Zur Zeit werden bei der Kommission mehr als vierhundert Fälle von Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft bearbeitet. Diese Zahl, die das Vierfache der vor vier oder fünf Jahren geprüften Fälle ausmacht, vermittelt allerdings nur ein schwaches Bild der wirklichen Situation Die „Neue Zürcher Zeitung" schreibt dazu: „Der . gemeinsame Markt'ist stellenweise weder gemeinsam noch ein Markt mehr."

Die unmittelbare Wirkung protektionistischer Maßnahmen ist ein absoluter oder relativer Preisanstieg für die importierten Güter auf dem Markt des Importlandes. Dieser Anstieg gibt den inländischen Produzenten des mit dem Importgut konkurrierenden Produkts einen Preisvorteil, der ausreichen kann, zunächst die einheimischen Umsätze anzuregen oder wenigstens den Marktanteil zu sichern. Dies kann vorübergehend die Arbeitskräfte vor Entlassungen schützen oder den Gewinn der Anteilseigner der geschützten Firmen erhöhen. Allerdings entstehen dabei auch volkswirtschaftliche Kosten:

— Erstens steigen die Preise der Güter auf dem inländischen Markt. Die Kosten des Protektionismus müssen also vom Konsumenten getragen werden.

— Zweitens ist zu bedenken, daß Protektionismus immer auch mehr Bürokratie bedingt. Zunehmende protektionistische Eingriffe werden durch zusätzliche bürokratische Regelungen „abgesichert". Einmal eingeführte protektionistische tendieren überdies Maßnahmen dazu, auf bestehen zu bleiben, begünstigten da die Sektoren alles daran setzen, ihre Beseitigung zu verhindern

— Sofern es sich bei den Produkten um Halb-erzeugnisse oder Vorprodukte handelt, wird die inflationäre Wirkung von Importbeschränkungen den Absatz der die Vor-bzw. Halbfabrikate verarbeitenden Industrien erschweren. Dies wiederum begründet die Forderung nach Schutz vor ausländischer Konkurrenz in den weiterverarbeitenden Industrien.

— Importbeschränkungen verringern die Kauffähigkeit der Ausländer, so daß dadurch die Exportchancen und die Arbeitsplätze in der Exportindustrie gefährdet werden.

— Schließlich bedeutet Protektionismus, daß relativ ineffiziente Industrien Ressourcen an sich ziehen, während die Volkswirtschaft auf ein höheres Einkommens-und Beschäftigungsniveau verzichtet, das sich beim Freihandel durch die dann effizienteren Industrien ergeben würde.

Mit dieser Politik kann aber keine wirkliche Lösung für die Probleme der geschützten Industrien erreicht werden. Nach aller Erfahrung werden im Gegenteil die Schwierigkeiten bei der Suche nach langfristigen Lösungen erhöht. Denn der Protektionismus ignoriert die wirklichen Ursachen für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Industrien gegenüber ausländischen Konkurrenten. Der protektionistische Schutz veranlaßt die konkurrierenden ausländischen Industrien zu einem verstärkten Engagement auf den freien Märkten der Drittländer, so daß sich, zumindest beim Export, die geschützten Unternehmen ihrer Konkurrenz weiterhin stellen müssen. Erlöseinbußen der geschützten und nicht wettbewerbsfähigen Industrien sind die Folgen, was entweder mit einer neuen Runde des Protektionismus oder mit verstärkter Arbeitslosigkeit bezahlt werden muß. Dies aber führt Schritt um Schritt dazu, daß die geschützten Industrien immer weniger wettbewerbsfähig werden.

Hand in Hand mit zunehmendem Protektionismus gehen sektorenspezifische staatliche Interventionen bereits auf der Produktionsseite vornehmlich in Gestalt strukturkonservierender Subventionen. Diese Methoden schützen ebenfalls nicht vor Arbeitslosigkeit. Sie verlagern sie nur. Denn die Verluste, die aus unternehmerischem Fehlverhalten resultieren, treffen bei staatlichen Interventionen nicht die Unternehmen, sondern sie werden — genau wie die Kosten des Protektionismus — sozialisiert. Das geschieht zunächst dadurch, daß drohende Verluste mit Hilfe von Subventionen — die „Kapitalerhöhungen'', „temporäre Beschäftigungsprämie", „Fiskalisierung von Soziallasten" heißen, in Wirklichkeit aber Steuergelder sind — ausgeglichen werden. Darüber hinaus machen isolierte staatliche Eingriffe in die Entwicklung einzelner Branchen, wie sie derzeit von einzelnen Mitgliedstaaten, aber auch von der Kommission, vorgenommen werden, stets weitere Eingriffe in vor-oder nachgelagerte Bereiche unausweichlich. Auf Dauer wird so die Wirtschaft mit einem die Initiative und die Leistung hemmenden Netz staatlicher Eingriffe und Reglementierungen überzogen.

V. Elemente einer europäischen Industriepolitik

1. Zielsetzung Diese den strukturellen Wandel und das Wachstum behindernde Politik in Europa ist nur möglich, weil eine gemeinschaftliche Industriepolitik in den Römischen Verträgen nicht umfassend und systematisch geregelt ist und die bisherigen Versuche eines globalen Ansatzes zur Industriepolitik gescheitert sind Es gilt auch heute noch die Bemerkung aus dem Memorandum der EG-Kommission „Industriepolitik der Gemeinschaft" aus dem Jahre 1970: „Wenn es ein Gebiet gibt, auf dem die Gemeinschaft...der Stärkung und Vertiefung bedarf, so ist es das der Industriepolitik." Es sollte daher von den Mitgliedstaaten und der Kommission auf eine umfassende und zukunftsbezogene Industrie-und Gewerbepolitik für die Europäische Gemeinschaft hingearbeitet werden, die darauf angelegt ist, die Anstrengungen aller gesellschaftlichen Kräfte in der Gemeinschaft in Richtung auf einen zielstrebigen Strukturwandel der europäischen Wirtschaft zu koordinieren und zu ermutigen. Dabei stellen sich im einzelnen die Aufgaben, — wie die Politik des Protektionismus und der einzelwirtschaftlichen Interventionen gestoppt, — der unausweichliche Anpassungsprozeß erhalten und gestärkt werden kann — und der Marktprozeß zu beeinflussen ist, damit der strukturelle Wandel in seinem Tempo, seiner Intensität und seinen Nebenwirkungen nicht zu unvertretbaren sozialen Härten führt.

In diesem Sinne ist Industriepolitik — in Ergänzung zur Wettbewerbspolitik — eine globale Flexibilitäts-und Anpassungspolitik, die den Betroffenen genügend Zeit verschaffen soll, zukunftsweisende Alternativen zu entwickeln oder wahrzunehmen. 2. Die Leistungsfähigkeit des Marktes Bei der Frage, wie die anstehenden Probleme des Strukturwandels am besten zu lösen sind, ist es zunächst notwendig, die unternehmens-relevanten Eigenschaften zu kennen, die zur Meisterung des Anpassungsprozesses notwendig sind. Nach aller wirtschaftlichen und politischen Kenntnis sind dies die folgenden: Marktnähe, dezentrale Willensbildung und Entscheidungsfindung, der Verzicht auf tief-gegliederte Hierarchien, kurze Kommunikationswege. Diese Eigenschaften zusammen ermöglichen es, Änderungen relevanter wirtschaftlicher Daten rasch zu erkennen und in ihren Konsequenzen für das Unternehmen zutreffend einzuschätzen. Hinzutreten muß aber ein unverfälschter Wegweiser, der genau anzugeben vermag, in welcher Richtung sich die industriellen Strukturen in Europa verändern. Die Erfahrung der gesamten neueren Wirtschaftsgeschichte in Europa und anderen hochindustrialisierten Ländern zeigt, daß die zuerst geforderten Eigenschaften vor allem von privatwirtschaftlichen Unternehmen mittlerer Größe in ausreichendem Maße erfüllt werden können. Nur sie bieten die Freiheitsvoraussetzungen, daß dynamische Unternehmer in ausreichender Zahl auftreten können, die Innovationen durchführen, die Kosten senken, neue Güter auf den Markt bringen (die Bedürfnisse besser befriedigen als die alten Güter) oder aber neue Märkte im In-und Ausland erschließen. Durch Innovation erhalten sie einen vorübergehenden Marktvorteil, der jedoch nicht auf der Einschränkung des Wettbewerbs, sondern auf Leistung beruht. Die übrigen Unternehmer der Branche werden gezwungen, sich entweder der Innovation anzuschließen und sie zu übernehmen, eigene neue Innovationen durchzuführen oder ihren Marktanteil zu verlieren.

Die geforderten Eigenschaften werden hingegen nur unvollkommen hervorgebracht von übergroßen Unternehmenskomplexen und von staatlichen Behörden. Deshalb ist auch äußerste Skepsis geboten gegenüber — notwendigerweise alle europäische Industrien umfassend — staatlicher Investitionslenkung und der Festlegung von Investitionsquoten durch den Staat, gegenüber Strukturräten und staatlicher Strukturplanung. Frankreich und Großbritannien haben in der Vergangenheit besonders schlechte Erfahrungen mit der staatlichen Lenkung der Investitionen in den einzelnen Branchen der Volkswirtschaft gemacht. Auch ist es kein Zufall, daß die verstaatlichten Industrien der Gemeinschaft in der Regel die teuersten und unproduktivsten sind. Das Beispiel der kommunistischen Staaten — derzeit insbesondere Polen und Rumänien — führt uns vor Augen, daß die gelenkte Wirtschaft in der Regel zu Lasten aller Schichten der Bevölkerung geht und nur eine wesentlich geringere Finanzmasse für Verteilungszwecke zur Verfügung steht.

Der Indikator, der die Richtung von Strukturänderungen anzeigen soll, ist in den zukünftigen Gewinnchancen der Unternehmen zu sehen, die sie aus ihren geplanten Investitionen erwarten. Unverfälschte Gewinnentwicklungen sind aber nur dann möglich, wenn alle Preise in der Volkswirtschaft die realen Knappheitsverhältnisse wiederspiegeln. Nur wenn in einer dezentralisierten Wirtschaft das Signalsystem der Preise in ausreichendem Maße funktioniert, wird erreicht, daß alte und neue Bedürfnisse der Verbraucher befriedigt, Engpässe und Angebotsüberschüsse abgebaut und unternehmerische Fehlentscheidungen durch den Markt korrigiert werden. 3. Die Politik der Reglementierung stoppen Mit der Forderung nach den genannten volkswirtschaftlichen Voraussetzungen, die zur Meisterung des strukturellen Wandels notwendig sind, ist zugleich auch die Rolle der Staaten in der Gemeinschaft und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gekennzeichnet. Wenn auch der strukturelle Anpassungsprozeß nach dem Gesagten weitgehend Aufgabe der betroffenen Unternehmen ist, so hat der „Staat" doch eine Reihe von Aufgaben, ohne deren Erfüllung in unserer heutigen Wirtschafts-und Sozialordnung eine strukturelle Anpassung — zumal ohne soziale Härten — unmöglich wäre. Damit unterscheidet sich die angestrebte europäische Industriepolitik grundlegend von einer Wirtschaftspolitik des laissez faire.

Die Aufgabe der Staaten und der Kommission ist es zunächst, vereinheitlichte Rahmenbedingungen festzulegen, innerhalb derer sich die Wirtschaftssubjekte bewegen können und mit denen sie durch die Gewähr von Kontinuität der wirtschaftlichen Ordnung den privaten Sektor in die Lage versetzen, seinerseits langfristig zu disponieren. Dazu ist die Schaffung eines einheitlichen politischen Willens und einer einheitlichen Verantwortung in Europa für den Bereich der Industriepolitik unerläßlich. Vorrangige Aufgabe dieser Instanz ist die Harmonisierung der wirtschaftlichen Rahmenbell dingungen in Europa, insbesondere die Schaffung eines gemeinsamen Wettbewerbs-und Kartellrechts sowie die Angleichung des Handels-und Gesellschaftsrechts, wie sie schon im Programm für eine Industrie-und Technologiepolitik der Kommission vom Mai 1973 gefordert wurde. Damit sorgt sie für den Erhalt des Wettbewerbs und verhindert eine übermäßige Konzentration, die dem Wettbewerb entgegensteht Es kommt darauf an, den Zugang zu den Märkten Europas offen zu halten. Der Strukturwandel gelingt um so besser, je stärker durch den Druck des Wettbewerbs die Unternehmen zur sinnvollsten Allokation der Ressourcen, zum Erkunden neuer Wachstumschancen und zur raschen Anpassung und Innovation gezwungen werden. Es gilt auch heute noch der von Müller-Armack: „Der Satz Wettbewerb muß primär als eine Einrichtung verstanden werden, den und ökonomischen Fortschritt möglichst ungehindert zu realisieren."

Die Aufrechterhaltung des Gemeinsamen Marktes ist eine dauernde Aufgabe. Dies gilt nicht nur für die Freizügigkeit der Arbeit, der Produkte und der Dienstleistungen. Es ist bedauerlich, daß die völlige Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Europa immer noch nicht hergestellt ist und in einigen Ländern Maßnahmen zur Einschränkung der Konvertibilität der Währungen ergriffen wurden. Wettbewerb im Kreditwesen ist für die wirtschaftliche Entwicklung ebenso wichtig wie Wettbewerb in der Industrie. Die zunehmende Diskriminierung ausländischer Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge verstößt gegen die Römischen Verträge.

Zu den von zentraler Stelle aufrechtzuerhaltenden Rahmenbedingungen der europäischen Wirtschaft gehören auch die Sicherung der Bedingungen für einen funktionierenden internationalen Freihandel und eine ausreichende internationale Arbeitsteilung. Die EG wird den industriellen Strukturwandel nur meistern können, wenn sie die Reglementierungen in diesem Bereich nach außen und innen abbaut und wenn die gemeinsame Außenhandelspolitik gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit aller Mitgliedstaaten des allgemeinen Zoll-und Handelsabkommens an der Öffnung der Märkte und damit am Wettbewerb als Motor des Strukturwandels und der Wohlstandsmehrung festhält. Im Sinne dieses Abkommens wird die Gemeinschaft ihre im Rahmen des GATT gegebenen Möglichkeiten voll ausschöpfen, um sich gegen Dumping und Diskriminierungspraktiken zur Wehr zu setzen.

Auch sollte sich die EG verstärkt vertraglich gegen diese Praktiken absichern, wie sie es erstmals im Handelsabkommen mit der Volksrepublik China unternommen hat. Andererseits sollte es die Gemeinschaft unterlassen, beim GATT auf die Einführung selektiver Schutzklauseln zu dringen, die dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung widersprechen. Auch die exzessive Anwendung des Artikels 115 EWG-Vertrag steht einer offenen Außenhandelspolitik entgegen.

Allerdings muß beachtet werden, daß sich der strukturelle Wandel und die internationale Arbeitsteilung auf unterschiedliche Art entwickeln können. Einmal gibt es die intrasektorale Arbeitsteilung, bei der die Güter international in der gleichen Branche ausgetauscht werden. Andererseits kann die Arbeitsteilung hier intersektoral ablaufen; wird die Produktion ganzer Branchen in einem Land eingestellt und dem anderen Land überlassen. Eine Strukturanpassung, die in kurzer Zeit die Stillegung ganzer Branchen zur Folge hätte, würde für Europa unüberwindliche wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten bringen — insbesondere weil diese Branchen meist regional sehr konzentriert sind —, so daß die Gemeinschaft in begründeten Ausnahmefällen freiwillige Abmachungen zur Ordnung bestimmter Märkte mit Drittländern abschließen sollte. Dabei dürfen die Wettbewerbsmöglichkeiten auf den Märkten jedoch nicht unangemessen eingeschränkt werden, nicht zuletzt, weil die Industrialisierung der Entwicklungsund Schwellenländer zu einem beachtlichen Teil über die intersektorale Arbeitsteilung erfolgt. Zur Herstellung einer für einen funktionierenden internationalen Wettbewerb unerläßlichen Gleichgewichtigkeit der Marktmacht der Wettbewerber sollten die Gemeinschaft und die Mitgliedsländer ein gemeinsames Instrumentarium erarbeiten, das auch mittelständische Unternehmen verstärkt in die Lage versetzt, sich innerhalb und außerhalb der Europäischen Gemeinschaft neue Märkte zu erschließen, einen Kundendienst aufzubauen und Produktpflege betreiben zu können. Von gleicher Wichtigkeit ist, daß gemeinsame Anstrengungen zur Entwicklung und zur Stärkung der Wirtschaftskraft der Länder der Dritten Welt unternommen werden, damit sich diese zu gleichwertigen Handelspartnern entwickeln können.

Geht man davon aus, daß Strukturwandel unverzerrte Preisrelationen und unternehmerische Gewinnchancen voraussetzt, dann sind entgegen der heute üblichen Praxis dauernde Hilfen und Subventionen für bestimmte Unternehmen, Branchen und Sektoren nicht zu akzeptieren. Sie sind nur in Ausnahmefällen als vorübergehende und zeitlich begrenzte Anpassungshilfen an veränderte Rahmenbedingungen zu verstehen. Um den durch Markt und Wettbewerb erzwungenen Strukturwandel nicht zu behindern, müssen Anpassungshilfen während der Zeit ihrer Gewährung degressiv gestaltet und auf europäischer Ebene harmonisiert werden. Insbesondere die fehlende Harmonisierung der bestehenden Beihilfepraxis Ärgernis herausge hat sich ein -stellt, diese häufig Gegensatz zu zumal im Art. 92 ff.des EWG-Vertrages stehen. Weiterhin muß sichergestellt werden, daß im Staats-besitz befindliche Unternehmen durch Staats-zuwendungen im Wettbewerb bessergestellt sind als Privatunternehmen. 4. Die Anpassungsfähigkeit der Industrie erhöhen Folgt man der dargestellten Meinung der Kommission, daß zwar die technischen, aber weniger die ökonomischen und psychologischen Voraussetzungen für den Strukturwandel vorhanden sind, ist es sinnvoll, ein Angebot strukturfördernder Maßnahmen, insbesondere für die Bereiche mit hohem Anpassungsbedarf, bereitzustellen. Dabei kommt es darauf an, die Bereitschaft und den Willen zu fördern, die im Wandel liegenden Chancen zu nutzen. Wenn auch die Mehrzahl dieser Maßnahmen entsprechend dem augenblicklichen Integrationsgrad der Europäischen Gemeinschaft in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben muß, so ist auch hier eine intensive europäische Abstimmung notwendig. Denn ein Wettlauf der Staaten um die wirkungsvollste Strukturförderung der eigenen Industrien wirkt genauso wettbewerbsverzerrend wie der Subventionswettlauf oder die Unterbindung des Freihandels durch protektionistische Maßnahmen.

Die Erkenntnis, daß der Strukturwandel zunächst über die Kapitalbildung erfolgen sollte, legt Maßnahmen nahe, die investitionserleichternd wirken. Im Bereich der Steuerpolitik sind steuerfreie Rücklagen für Investitionszwecke anzustreben, die die Eigenkapitalbasis insbesondere der unterkapitalisierten Unternehmen in Europa stärken und die Realisierung gefaßter Investitionsplanungen erleichtern. Das gleiche gilt für eine Verkürzung und Variierung der Abschreibungsfristen, Abschreibungsmöglichkeiten über den Anschaffungswert hinaus oder Sonderabschreibungen für Investitionen, die dem raschen technischen Wandel Rechnung tragen. Denkbar ist auch eine geringere Besteuerung der Gewinne, wenn sie zur Investition im Unternehmen verbleiben.

der über die Kostenentlastungen im Bereich Besteuerung hinaus können europäisch abgestimmte gezielte Förderungen insbesondere der mittelständischen Unternehmen durchgeführt werden, vor allem durch Bereitstellung und von technischem Know-how von Kapital zu günstigen Bedingungen zum Zwecke der Innovation. Erheblich größere Anstrengungen für die Entwicklung und Forschung in den Zukunftsbereichen der Wirtschaft sind zu unternehmen und für die entsprechende Bereitstellung von Gemeinschaftsmitteln, am zweckmäßigsten durch ein Sonderprogramm unter Einschaltung der Europäischen Investitionsbank, ist zu sorgen.

Die Bildungs-, Aus-und Weiterbildungsmöglichkeiten spielen eine immer wichtigere Rolle, damit die den strukturellen Wandel tragenden Arbeitnehmer sich in einer veränderten Welt behaupten können. Es ist vor allem eine Frage an die Schul-und Berufsbildungssysteme, inwieweit sie auf einen leichteren Berufs-wechsel innerhalb eines Landes, aber auch über die Grenzen hinweg, vorbereiten. Es bleibt auch zu prüfen, inwieweit das deutsche Arbeitsplatzförderungsgesetz ein Modell für ein ähnliches Instrument der Kommission abgeben könnte. Neben die berufsmäßige Vorbereitung auf den Wechsel muß eine Einkommenspolitik treten, die — orientiert am gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt — Einkommensunterschiede zwischen den wachstumsschwachen und hochproduktiven Bereichen aufrechterhält, um so den Anreiz zum Arbeitsplatzwechsel zu fördern. Schließlich ist eine Steuerpolitik zu verwirklichen, die dem Arbeitnehmer zeigt, daß Leistungsbereitschaft lohnend ist. 5. Sozialpolitische Absicherung Das Gesamtkonzept einer europäischen Strukturpolitik ist nur dann zu verwirklichen, wenn es gelingt, den strukturellen Wandel auch sozialpolitisch abzusichern. Angesichts der bisherigen Integration der Sozialpolitik in Europa dürfte auf diesem Gebiet ein abgestimmtes Vorgehen der Mitgliedstaaten am schwierigsten sein. Trotzdem sollte für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, daß durch die Erstellung von Sozialplänen in den Unternehmen eine ausreichende Umstellungszeit für die Arbeitnehmer geschaffen wird. Dies gilt auch für eine verstärkte betriebliche Vermögensbildung und eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmensertrag, die die wirtschaftliche Situation der Arbeitnehmer langfristig besser absichern, aber auch die Kostenbelastung in den Unternehmen mindern. Ein abgestuftes System einer Basisbeteiligung der EG an den nationalen Arbeitslosenversicherungen ist zwar denkbar und wünschenswert, scheint aber wegen der Haushaltslage verschiedener Mitgliedstaaten und der erreichten Belastung der Arbeitnehmer und Unternehmen mit Steuern und Sozialabgaben derzeit nicht realisierbar zu sein. Das gleiche gilt für die Bildung von abgestimmten Sozialfonds zur Existenzsicherung, wenn Arbeitnehmer von struktureller Arbeitslosigkeit auf lange Sicht betroffen werden. Darüber hinaus scheint es wenig sinnvoll zu sein, parallel zu einer Harmonisierung der Arbeitslosenversicherung eine zweite, national ausgerichtet Institution zu schaffen, die das Risiko Arbeitslosigkeit abdeckt.

Die Gefahr darf nicht übersehen werden, daß sich die Umstrukturierung der Wirtschaft zu Lasten der ohnehin schwachen Regionen der Gemeinschaft und deren Bewohner vollzieht. Es muß daher gefordert werden, daß die Industriepolitik mit der Regionalpolitik abgestimmt wird. Dazu gehört u. a., daß die Mittel des Regional-und Sozialfonds aufgestockt werden und daß bei der Vergabe von Mitteln aus dem Sozialfonds regionalpolitische Gesichtspunkte stärker als bisher berücksichtigt werden, um Investitionen in strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit anzuregen. Die soziale Absicherung der Arbeitnehmer ist auch die einzige Rechtfertigung für Einzel-maßnahmen in besonders gefährdeten Industriebranchen. Von allen relevanten politischen Kräften in Europa sind daher z. B. bisher zeitlich befristete und an strenge Auflagen gebundene Staatshilfen und Staatseingriffe in der Stahlindustrie gebilligt worden. Der derzeitige Kampf der EG-Mitgliedstaaten, durch ausufernde Subventionen ihrer Stahlindustrie Marktanteile zu sichern, hat jedoch mit einer sozialen Sicherungsfunktion nichts zu tun.

V I. Die politische Realisierung

Die Durchführung einer gemeinschaftlichen Industriepolitik im dargestellten Sinne erfordert einen Umdenkungsprozeß in den wirtschaftlichen Zielen und Vorstellungen der Politiker und Sozialpartner der Mitgliedstaaten. Das Bemühen um mehr Transparenz, die nicht nur die bestehende Situation, sondern auch die weltweit bedingten, vor uns liegenden und unausweichlichen Anpassungsprozesse einschließt, ist daher vorrangige politische Aufgabe. Sie muß sich zum Ziel setzen, daß das „öffentliche Bewußtsein" mehr von den Ursachen und dem Zwang zur Veränderung, von den Chancen und Risiken und von den internationalen Verantwortlichkeiten der Gemeinschaft Kenntnis nimmt. Die Überwindung des nationalen Provinzialismus und ein zukunftsorientiertes Denken in überregionalen und kontinentalen Maßstäben bei allen gesellschaftlichen Gruppen erleichtert die schwierigen Anpassungsprozesse in der europäischen Industrie. Ohne dieses öffentliche Bewußtsein kann die sehr reservierte, vielfach ablehnende Haltung mancher Unternehmer, aber auch mancher europäischer Gewerkschaften zum strukturellen Wandel nicht verändert werden. Denn struktureller Wandel ist in ihren Augen stets mit einer Rationalisierung verbunden, und sie wehren sich gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Dem ist entgegenzuhalten, daß — empirische Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland gezeigt haben, daß die Arbeitsplatzgewinne aus wachsenden Industriegüterexporten in die Entwicklungsländer die Arbeitsplatzverluste aufgrund von Industriegüterimporten aus der Dritten Welt weitgehend kompensiert haben

— die Vernichtung von Arbeitsplätzen langfristig um so höher sein wird, je länger man durch eine rückwärts gewandte Wirtschaftspolitik Europa daran hindert, die Kreativität seiner Bevölkerung zu entfalten;

— Innovation und Rationalisierung die einzigen realen Möglichkeiten darstellen, das hohe Kostenniveau, das Ausdruck unseres großen Wohlstandes und unseres sozialen Sicherheitsnetzes ist, zu neutralisieren.

Die notwendige Transparenz über den unabwendbaren Strukturwandel der europäischen Industrie muß aber auch denjenigen vermittelt werden, die sich einerseits auf eine freiheitliche Wirtschaftsordnung berufen, andererseits aber den strukturverändernden Wettbewerb ausgerechnet dann außer Kraft setzen wollen, wenn er dabei ist, das zu bewirken, was seine Aufgabe ist und was wir von ihm erwarten. Es wird nur den Gegnern der Marktwirtschaft in die Hände gespielt, wenn Unternehmen in guten Zeiten ihre Gewinne kassieren und in schlechten Zeiten nach dem Staat rufen und dabei die Politik mit dem Hinweis auf soziale Folgewirkungen des Wettbewerbs unter Druck setzen.

Entscheidend für die Realisierung einer gemeinschaftlichen Industriepolitik ist die Über-windung der Krise der EG mit den Rückschrittstendenzen zur Renationalisierung ihrer Politiken. Eine auf eine verstärkte Integration gerichtete Politik scheint deshalb nicht möglich, weil die für eine verstärkte europäische Zusammenarbeit, insbesondere im Bereich der Wirtschaftspolitik, notwendigen politischen Kompromisse in den einzelnen Mitgliedstaaten derzeit nur schwer zu vertreten und durchzusetzen sind. Dies hat seine Ursache in der mangelnden Handlungsfähigkeit der meisten europäischen Regierungen, die z. T. von knappen Wahlergebnissen, in der Hauptsache jedoch von der wirtschaftlichen Situation der Mitgliedstaaten abhängt. Es bedarf einer politischen Tat, die Spirale nationale Wirtschaftsprobleme, Gegenmaßnahmen durch nationale Alleingänge und Protektionismus, europäische Stagnation und Desintegration, Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen, verschärfte nationale Wirtschaftsprobleme usw. zu überwinden. Gleichzeitig wäre damit bereits ein wichtiges Element der europäischen Industriepolitik installiert. Allerdings haben sich die Bedingungen für eine so geartete Politik in der Gemeinschaft in den letzten Monaten durch die Regierungswechsel in Frankreich und Griechenland stark verschlechtert. Eine Konvergenz der Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft ist nämlich nicht vorstellbar ohne eine Übereinstimmung der grundlegenden wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen in den Mitgliedstaaten. Der Ratsbeschluß vom Dezember 1977, der feststellte, daß die Lösungen für die anstehenden Wandlungen der europäischen Wirtschaftsstruktur mehr und mehr auf Gemeinschaftsebene gesucht werden müssen, war ein erster Schritt zu einer gemeinschaftlichen Industriepolitik. Dem steht heute die offizielle französische Politik der „Rückeroberung des nationalen Marktes" entgegen. Wie sehr sich die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen Frankreichs geändert haben, mögen zwei Zitate verdeutlichen. So stellte der frühere französische Staatspräsident Giscard dEstaing im Juni 1978 fest: „Wenn gewisse Kreise glauben, diese Aufgaben (der Struktur-wandel d. V.) müßten vom Staat oder gar vom Staat ganz allein und ohne die Franzosen gelöst werden, so ist das eine sonderbare Illusion, denn diese Anstrengungen müssen von den Franzosen selbst erbracht werden, und so dezentralisiert wie nur möglich, weil die wirtschaftlichen Kapazitäten eines Landes nur auf der Ebene seiner Regionen und seiner Unternehmen, nicht aber mittels staatlicher, zentralistischer Entscheidungen erhöht werden." Sein Nachfolger Mitterrand führte am 24. September 1981 vor der Presse zum gleichen Thema aus: „Die Verstaatlichung ist auch ein Instrument der Verteidigung der französischen Produktion, um Frankreich nicht dem Diktat einer anderswo entschiedenen internationalen Arbeitsteilung zu unterwerfen.“

Eine Industriepolitik, die versucht, die Mobilität des Kapitals, des Managements und der Arbeitnehmer zu erhöhen, kann natürlich nicht alle Probleme der Wirtschaft Europas lösen. Denn nicht alle Arbeitslosigkeit, auch nicht alle inflationären Tendenzen kommen aus dem unbewältigten wirtschaftlichen Struktur-wandel. Ein nicht geringer Teil der heutigen Arbeitslosigkeit kommt aus den überhöhten Ansprüchen, die der Staat und die Verbraucher an die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft stellen. Bestehen für die Unternehmen Überwälzungsmöglichkeiten, so wird sich diese Anspruchsinflation in steigenden Preisen, andernfalls in einer Kompression der Erlöse, einem Abbau der Kapazitäten und der Arbeitsplätze und in verstärkten Rationalisierungsmaßnahmen niederschlagen.

Es hieße, die Möglichkeiten gemeinschaftlicher Industriepolitik total überfordern, wenn man mit ihr auch diese Probleme beseitigen wollte. Dies kann nur Aufgabe einer stabilitätsorientierten Konjunkturpolitik sein. Die Beachtung der Grenzen der wirtschaftspolitischen Instrumente ist um so wichtiger, weil ungerechtfertigte Erwartungen, die in sie gesetzt werden, notwendigerweise enttäuscht werden müssen. Das kann aber den sich ausbreitenden Zweifel an unserer angeblich nicht funktionierenden marktwirtschaftlichen und demokratischen Ordnung in Europa nur erhöhen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Ausführungen stellen die persönliche Meinung des Verfassers dar.

  2. Vgl. etwa G. Fels, Der Standort der Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb, in: Weltwirtschaft im Übergang. Beiträge zu einer Vortragsveranstaltung des Instituts für Weltwirtschaft. Kieler Diskussionsbeiträge 45, Kiel 1976, S. 9.

  3. Vgl. O. Schlecht, Die Weltwirtschaft in den achtziger Jahren, Jahresversammlung des Ifo-Instituts am 26. Juni 1979, in: Ifo-Schnelldienst Nr. 21/79, S. 18.

  4. Diese sind bereits vielfältig an anderer Stelle behandelt worden. Vgl. etwa den Bericht der Mc Crakken-Gruppe bei der OECD „Toward Full Employment and Price Stability". Mai 1977.

  5. Vgl. O. Graf Lambsdorff, Die Bewältigung des Strukturwandels in der Marktwirtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/78, 25. Nov. 1970.

  6. Vgl. O. Schlecht, Die Weltwirtschaft, a. a. O., S. 16.

  7. Ebenda.

  8. Vgl. z. B. W. Lamberts, Langfristige Entwicklungsbedingungen der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Mitteilungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Essen, Jg. 29 (1978), S. 1 ff.

  9. Vgl. H. Blau, K. Faust, H. Schedl, Japans Wettbewerbsposition im Industriegüterexport, in: Ifo-Schnelldienst Nr. 28/81, S. 3ff.

  10. Ebenda.

  11. Vgl. Unido, Erklärung und Aktionsprogramm über industrielle Entwicklung und Zusammenarbeit, Lima 1975.

  12. So z. B. Mahbub ul Haq, Into Phase Two: The Next Critical Step, in: International Development Review 1978, Nr. 2.

  13. O. Matzke, Entwicklungspolitik als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Verflechtung mit der Dritten Welt und die Öffnung der Märkte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/79, 28. April 1979'S. 16.

  14. So wurde das Wort vom „Süden als Wachstums-maschine’' geprägt; vgl. J. W. Lewell u. a„ Can the Rich Prosper Without the Progress of the Poor?, in: International Development Review, 1978, Nr. 2.

  15. Vgl. auch E. Dürr, Wachstumspolitik durch mehr staatlichen Dirigismus?, in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung, Nr. 3/1978, 17. Jg.

  16. Protektionismus und Bürokratie auf dem Vormarsch. — Auch im internationalen Handel wird der Paragraphendschungel immer undurchdringlicher. Eine Dokumentation der Industrie-und Handelskammer zu Koblenz, März 1979, S. 4. Vgl. auch R. Blackhurst, N. Marian, J. Tumlir, Trade Liberali-zation Protectionism and Independence, GATT Stu-dies in International Trade, Genf 1977. B. Nowzad, The Rise in Protectionism. International Monetary Fund, Washington 1978. „EG-Protektionismus“, Dokumentation des Bundesverbandes des Deutschen Groß-und Außenhandels (BGA), Bonn, Juni 1978. Non-tariff barries, nichttarifäre Handelshemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel, DIHT, Bonn 1981.

  17. Zu Einzelheiten vgl. P. Korn, Zunehmender Protektionismus in der EG, in: Wirtschaftsdienst, Wirtschaftspolitische Monatsschrift, Nr. 10, 1981, S. 508ff.

  18. Vgl. Euroforum Nr. 39/78, 7. 11. 1978, Anhang 2/

  19. Protektionismus und Bürokratie auf dem Vormarsch, a. a. O., S. 1.

  20. Zu einzelnen Vorschlägen vgl. E. Müller-Hermann, Strukturpolitik der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen einer weltoffenen Handelspolitik, Arbeitspapier für die Studientage der EVP-Fraktion (Christliche Demokraten) im Europaparlament, 2. bis 4. 10. 1978 in Regensburg.

  21. So blieb das „Memorandum zur Strukturpolitik" der EG-Kommission ohne Folgen. Auch der Kommissionsvorschlag zur Einrichtung eines Ausschusses für Industriepolitik" aus dem Jahre 1971 scheiterte. Das . Aktionsprogramm auf dem Gebiet der Industrie-und Technologiepolitik" des Rates aus dem Jahre 1973 blieb ohne Ergebnis.

  22. D. Schumacher, Verstärkter Handel mit der Dritten Welt: Eher Umsetzung als Freisetzung deutscher Arbeitskräfte, in; DIW-Wochenbericht Nr. 5/77; ders., 800 000 Erwerbstätige für den Export in Entwicklungsländer beschäftigt, in: DIW-Wochenbericht Nr. 5/78.

Weitere Inhalte

Horst-Dieter Westerhoff, Dr. rer. pol., geb. 1941; Studium der Wirtschaftswissenschaften in Münster; 1969— 1974 wissenschaftlicher Referent im Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung Essen; 1975— 1978 im Planungsstab der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Wirtschafts-und Finanzpolitik zuständig; seit 1978 Leiter des Europabüros der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Verschiedene Monographien und Aufsätze zu wirtschaftspolitischen, wirtschaftstheoretischen und statistischen Fragestellungen.