Trend zur Dienstleistungsgesellschaft oder Re-Industrialisierung? Zu einer Fragestellung der Strukturberichte
Gerhard Voss
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Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, ob sich das Industrieland Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft befindet. Zur Klärung dieser Frage werden die Theorieansätze, nach denen sich die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zwangsläufig immer mehr auf die Dienstleistungsbereiche konzentriert, auf ihren Realitätsgehalt hin überprüft. Dabei wird auf die Ergebnisse der „Strukturberichterstattung'', die die Bundesregierung bei fünf wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten in Auftrag gegeben hatte, zurückgegriffen. Anhand dieser Ergebnisse wird gezeigt, daß dem Dienstleistungssektor im ökonomischen Sinne kaum eine besondere Leitfunktion zukommen kann. In einer modernen Industriegesellschaft kommt dem Dienstleistungssektor erst im Zusammenwirken mit den anderen Sektoren der Volkswirtschaft, insbesondere mit der Industrie, eine wichtige Bedeutung zu. Der Aufsatz verdeutlicht, daß die „sanfte“ Dienstleistungsgesellschaft, in der letztlich nur noch „Blaupausen“ produziert und exportiert werden, eine Utopie ist Mit diesem Beitrag werden zugleich aber auch die Möglichkeiten der Strukturberichterstattung als Informationsinstrument der Wirtschaftspolitik aufgezeigt. Die Analysen der Institute hinsichtlich der Bedeutung des Dienstleistungssektors in der Gesamtwirtschaft machen deutlich, wie wenig Strukturanalysen auf abgesicherten Strukturtheorien aufbauen können. Die Strukturberichterstattung muß mehr als in anderen Bereichen der wirtschaftswissenschaftlichen Diagnose „theorielos" arbeiten, so daß sie kaum die Grundlage seriöser Prognosen oder Projektionen über die strukturelle Entwicklung der Wirtschaft schaffen kann. Auch in kontroversen wirtschaftspolitischen Fragen wird den Strukturberichten kaum die Rolle eines Schiedsrichters zukommen können. Sie kann jedoch Informationslücken schließen und so zur besseren wissenschaftlichen Fundierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen beitragen.
I. Fragestellung
In dem diagnostischen Teil der „Strukturberichterstattung" sind die fünf beteiligten wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute zu einem einheitlichen Ergebnis gekommen: Alle Institute stellen für die zurückliegenden zwei Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland einen Trend zum Dienstleistungssektor fest. Produktion und Beschäftigung in vielen Dienstleistungssparten sind im Vergleich zu den Sparten der anderen Wirtschaftsbereiche überdurchschnittlich schnell gewachsen. Diese Diagnose bestätigt die Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher, die, wie J. Fourasti 6 in den Dienstleistungsbereichen die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts sehen.
Die einheitliche Diagnose der Forschungsinstitute beschreibt aber auch einen negativen Trend der letzten zwei Jahrzehnte. Im Gefolge der Expansion des Dienstleistungssektors ist der industrielle Sektor der Bundesrepublik Deutschland nicht nur relativ, sondern auch absolut geschrumpft. Vor allem ist die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie zurückgegangen, woraus in der letzten Zeit Forderungen nach einer „Re-Industrialisierung" der Bundesrepublik Deutschland abgeleitet werden.
Hinter dem aktuellen wirtschaftspolitischen Disput, ob eine den Verbrauch stützende „Nachfragepolitik" nach dem Muster des Key nesianismus oder eine die Produktionskostei verbessernde . Angebotspolitik" neoklassi scher Prägung aus der wirtschaftlichen Flaut heraushelfen könnte, steht demnach eine wei tere polarisierende wirtschafts-und gesell schaftspolitische Problematik: Der These vor wachsenden Dienstleistungssektor, die heut vor allen Dingen auch von Kritikern der mo dernen Industriegesellschaft zum Leitbild de wirtschaftlichen Entwicklung erhoben wird* steht die Forderung gegenüber, eher da Wachstum des industriellen Sektors zu begün stigen. Eine Begünstigung des industrielle! Sektors wird dabei hauptsächlich von denjeni gen gefordert, die auch für eine „Angebotspoli tik" eintreten. Aus dieser Sicht ist . Angebots Politik" in erster Linie eine Wirtschaftspolitil die die Entwicklungsmöglichkeiten des indu striellen Sektors fördert.
An der These eines Trends zur Dienstlei stungsgesellschaft gemessen, muß . Angebots politik" als ein gefährlicher Pragmatismus ei scheinen, der angesichts vermeintlicher Gren zen des industriellen Wachstums nur de Weg in die Dienstleistungsgesellschaft vei sperrt. Wieweit jedoch die These vom wach senden Dienstleistungssektor wirtschafts theoretisch überhaupt abgesichert ist, soll i diesem Beitrag untersucht werden.
II. Abgrenzung des Dienstleistungssektors
In wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Analysen haben die Dienstleistungsbereiche lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Wohlstand und Wachstum wurden ein-seitig unter dem Gesichtspunkt der Sachgi terproduktion gesehen. Dienstleistungen we ren allenfalls in der Kombination mit Sachle stungen relevant (indirekte, vorleistungsbezogene Dienstleistungen)
In der nichtmarxistischen Wirtschaftstheorie ist der Dienstleistungsbereich mit der Fortentwicklung der englischen klassischen Nationalökonomie in die wirtschaftliche Analyse einbezogen worden. Von J. B. Say, der die frühe klassische Nationalökonomie weiterentwickelte, wird die Unterscheidung zwischen einer „materiellen" und einer „immateriellen" Produktion in die Nationalökonomie eingeführt Dabei umfaßt die „immaterielle" Produktion auch solche Dienstleistungen, die nicht mit der Produktion materieller Güter verknüpft sind, also auch ärztliche, rechtliche oder wissenschaftliche Dienste, die ohne Zwischenschaltung der materiellen Produktion direkt vom Verbraucher konsumiert werden (direkte, verbrauchsbezogene Dienstleistungen). In der modernen Nationalökonomie stehen die indirekten, vorleistungsbezogenen sowie die direkten, verbrauchsbezogenen Dienstleistungen gleichrangig neben den Sachgütern. Der Produktionsbegriff umfaßt alle Leistungen, die ökonomisch relevant sind, das heißt, die auf einem Markt nachgefragt werden können. Dieser umfassende Produktionsbegriff, der sowohl die Produktion materieller Waren als auch immaterieller Dienstleistungen umfaßt, bildet in den westlich orientierten Staaten auch die Grundlage der Sozialproduktberechnungen. Das große Raster der Wirtschaft besteht dabei aus den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Handwerk sowie dem Dienstleistungsbereich einschließlich Staat Diese Produktionsbereiche werden in der Wirtschaftsstatistik zu drei Sektoren zusammengefaßt:
Primärer Sektor:
Unternehmungen der Urproduktion (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei);
Sekundärer Sektor:
Unternehmungen der verarbeitenden Fabrikation (Warenproduzierendes Gewerbe, das sich zusammensetzt aus: Energie-und Wasserversorgung, Bergbau, Verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe)
Tertiärer Sektor:
Unternehmungen der verschiedenen Dienstleistungszweige. Bei dieser Sektorenbildung werden in dem tertiären Sektor — im Gegensatz zu den einigermaßen homogenen landwirtschaftlichen und industriellen Produktionsbereichen — sehr vielschichtige Wirtschaftsbereiche zusammengefaßt. Im einzelnen wird zum tertiären Sektor in der Gliederung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gerechnet:
a) Handel mit Großhandel, Handelsvermittlung und Einzelhandel;
b) Verkehr und Nachrichtenübermittlung mit Eisenbahnen, Schiffahrt, Wasserstraßen, Hä-, fen, übriger Verkehr, Deutsche Bundespost;
c) Dienstleistungsunternehmen mit Kreditinstituten und Versicherungsunternehmen;
f) der Staat mit den Gebietskörperschaften und der Sozialversicherung;
g) private Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbscharakter.
Bei den Bereichen a) bis c) handelt es sich um Dienstleistungen, die die „tertiäre Infrastruktur“ abdecken, auf die eine moderne Industriegesellschaft nicht verzichten kann. Ohne ein funktionierendes Handels-, Verkehrs-und Kommunikationssystem kann kein Industrieland auskommen. Entsprechendes gilt für das Bankensystem und die Dienstleistungen der Versicherungsunternehmen.
Wenn nach der Bedeutung der Dienstleistungen im wirtschaftlichen Strukturwandel gefragt wird, dann kommt es allerdings nicht so sehr auf die großen Blöcke des klassischen Dienstleistungsgewerbes, auf Handel und Verkehr, auf die Banken und das Versicherungswesen an, sondern auf die Dienstleistungszweige, die von den Statistikern etwas abfällig als „Sonstige Dienstleistungen" bezeichnet werden. Gemeint sind hier die kleinen und mittleren Dienstleistungsbetriebe einschließlich der freien Berufe.
Die Gruppe „Sonstige Dienstleistungen" umfaßt eine ungeheuer breite Palette von Dienstleistungen. Es werden diesem Dienstleistungszweig sowohl verbrauchernahe Dienstleistungen, wie das Gaststätten-und Beherbergungsgewerbe, als auch vorleistungsbezogene Dienstleistungen, wie zum Beispiel die Rechts-und Wirtschaftsberatung oder Ingenieurbüros, hinzugerechnet. Aber auch der kulturelle Bereich mit dem Kunst-, Theater-und Filmbetrieb oder mit dem Verlagswesen wird von diesem Zweig abgedeckt.
Dieser Dienstleistungsbereich ist unter dem Gesichtspunkt des Strukturwandels der Wirtschaft deshalb besonders relevant, weil hier letztlich ein großer Teil des „Know-how“ der Industriegesellschaft zu finden ist und zugleich der kulturelle Standard eines Landes repräsentiert wird. In der Literatur werden diese Dienstleistungszweige auch zu einem „Quartiären Sektor“ zusammengefaßt. Gemeint ist damit der konzeptionelle Bereich der Dienstleistungswirtschaft, der den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt trägt. Der Schwerpunkt liegt hier bei der Forschung, Entwicklung, Planung und Organisation. Zum anderen schließt der „Quartiäre Sektor“ alle Dienstleistungen ein, die aufgrund des steigenden Wohlstandes und der vermehrten Freizeit verstärkt nachgefragt werden. Es han-delt sich dabei vor allem um die Wirtschaft zweige, die für die Freizeitgestaltung und ft die Aus-und Fortbildung tätig sind. Insgesan repräsentieren die „Sonstigen Dienstleistu: gen“ das gewisse „Etwas" einer Industriegesei schäft, von der wesentliche Entwicklungsir pulse ausgehen. Heute hat dieser Dienstle stungsbereich einen Anteil am Bruttoinland produkt von rund zehn Prozent — mit wacl sender Tendenz. Außerdem gehört diesi Zweig zu den offensten Bereichen unser Volkswirtschaft. Der Phantasie der Möglic keiten für ein wirtschaftliches Engagemei sind hier keine Grenzen gesetzt, wodurc auch die Palette der Anbieter einem ständige Wechsel ausgesetzt ist.
Die Gliederung der Volkswirtschaft in dr Sektoren hat aber nicht nur statistisch bi schreibende Hintergründe. Die Strukturi rung der Wirtschaft in einen primären, sekui dären und tertiären Sektor bringt auch eir ganz spezielle wirtschafts-und gesellschaft politische Fragestellung zum Ausdruck, d mit der allgemeinen These umschrieben wir die Industrieländer und mit ihnen die Bunde republik Deutschland befänden sich auf de: Weg in eine „Dienstleistungswirtschaft", in d „nachindustrielle Gesellschaft". Die Grundlag dieser These bilden die sogenannten Sekto und Stufentheorien Sie beschreiben de wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß als eir kontinuierliche Verschiebung der Produl tions-und Beschäftigungsstruktur von di Landwirtschaft über die Industrie und di Handwerk zum Dienstleistungsbereich.
III. Empirische Befunde der Strukturberichte
Alle Institute sind in ihren Forschungsberichten zur Strukturberichterstattung der Frage nachgegangen, wie weit in der Bundesrepublik Deutschland ein Trend zur Dienstlei-stungsgesellschaft wirklich stattgefunden hat. Dabei sind die Institute auf nicht unerhebliche statistische Schwierigkeiten gestoßen. Schon in dem Vorbericht zur Strukturberichterstattung weist das Kieler Institut für Weltwirtschaft darauf hin, daß „in wirtschaftssystematischer Hinsicht die statistischen Lücken beim Dienstleistungssektor besonders groß und gravierend" sind. Das gilt besonders für solche Dienstleistungen, die zwar ständig und in wachsendem Maße konsumiert werden oder als Vorleistungen in die industrielle Produ tion eingehen, aber nicht marktmäßig geha delt werden, wie z. B. die Nutzung öffentlich Einrichtungen durch Konsumenten und Pr duzenten.
1. Der Dienstleistungssektor in der Gesamtwirtschaft
In allen Forschungsberichten zur Strukturberichterstattung wird für die zurückliegenden zwanzig Jahre ein kontinuierlicher Trend zum Dienstleistungssektor festgestellt Als empirischer Beleg für diese Entwicklungslinie werden die Veränderungen bei der Produktion und der Beschäftigung herausgestellt. Besonders anschaulich wird der Trend zum Dienstleistungssektor bei Produktion und Beschäftigung in dem Gutachten des Instituts für Wirtschaftsforschung, Hamburg — HWWA — dargestellt. Es wird empirisch belegt, daß ne-ben den besonderen Entwicklungen in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren langfristig sich eine deutliche Verschiebung zunächst von primären zum sekundären und später zum tertiären Sektor durchgesetzt hat Diese Entwicklungsrichtung wird auch durch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Ta-belle 1) bestätigt. Vor allem die Erwerbstätigkeit hat sich eindeutig zum tertiären Sektor hin verlagert. 1980 waren gut die Hälfte der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor beschäftigt. 1960 waren es erst rund 38 Prozent.
In den Strukturberichten wird diese Entwicklung so quantifiziert
— in den fünziger und sechziger Jahren sind per saldo rund zwei Millionen Arbeitskräfte aus dem primären. Sektor abgewandert und bei insgesamt wachsender Zahl an Arbeitsplätzen im sekundären und tertiären Sektor in neuen Arbeitsplätzen untergekommen;
— in den siebziger Jahren sind im primären und sekundären Sektor zusammen fast ebensoviel Arbeitsplätze vernichtet worden, was jedoch nur begrenzt vom tertiären Sektor kompensiert werden konnte;
— von 1970 bis 1979 sind im Dienstleistungssektor rund 1, 2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden, verglichen mit einem Verlust von 1, 5 Millionen Arbeitsplätzen im warenproduzierenden Gewerbe.
Auch hinsichtlich der nominellen Produktionsentwicklung (Zeile B in Tabelle 1) scheint die These vom wachsenden tertiären Sektor Gültigkeit zu besitzen. In jeweiligen Preisen gemessen, lag der Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt des tertiären Sektors bereits 1975 über dem Anteil des sekundären Sektors. Dieses Muster wird auch bestätigt, wenn die 57 Wirtschaftsbereiche, nach denen in der Strukturberichterstattung differenziert wird, in Wachstumsund Schrumpfungsbereiche aufgegliedert werden Werden diese Branchen in drei Gruppen eingeteilt, und zwar in Bran-chen mit überdurchschnittlicher, durchschnittlicher und unterdurchschnittlicher Produktionsentwicklung, so ist der teritäre Sektor überwiegend in der oberen Gruppe, der sekundäre Sektor überwiegend in der mittleren Gruppe und der primäre Sektor ausschließlich in der unteren Gruppe vertreten. Dabei sind folgende Dienstleistungsbereiche überdurchschnittlich gewachsen: übrige Dienstleistungen, Gesundheitsund Veterinärwesen, Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen, Gebietskörperschaften, Nachrichtenübermittlung. Dieses scheinbar eindeutige Bild ist aber korrekturbedürftig. Zum einen ist es stark von dem überdurchschnittlichen Preisanstieg von tertiären Leistungen, also von inflationären Entwicklungen geprägt. Zum anderen kann aus der überdurchschnittlichen Expansion der genannten Dienstleistungszweige kein zwangsläufiger Entwicklungstrend abgeleitet werden, weil es sich zu einem großen Teil um staatlich getragene Dienstleistungen handelt. Alle Gutachter stellen fest, daß die Expansion der Dienstleistungen sowohl auf Seiten der Produktion als auch besonders auf Seiten der Beschäftigung von einem Trend zu staatlichen Dienstleistungen getragen war. Das gilt vor al-lem für die Bereiche Bildungs-und Gesundheitswesen sowie für die Verteidigung. Inzwischen ist nahezu jeder sechste Arbeitsplatz (und nahezu jeder dritte Arbeitsplatz im tertiären Sektor) von einem öffentlichen Bediensteten besetzt.
Eine Analyse der Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (Zeile A in Tabelle 1) stützt die These des Trends zur Dienstleistungsgesellschaft nur noch mit großen Einschränkungen. Trotz absoluter Produktionszuwächse waren — jedenfalls bis 1970 — die relativen Beiträge des tertiären Sektors zum re-alen Bruttoinlandsprodukt wie die Beiträge des primären Sektors rückläufig. Erst mit dem starken gesamtwirtschaftlichen Wachstums-einbruch seit 1973 ist der relative Anteil des tertiären Sektors etwas gestiegen. Auf lange Sicht gesehen ist dabei der Anstieg des tertiären Produktionsanteils von rund 45 Prozent 1960 auf rund 47 Prozent 1980 aber fast ausschließlich auf das Konto des primären Sektors gegangen. Der sekundäre Sektor ist mit 50 Prozent praktisch konstant geblieben, was im Gegensatz zu der These vom Trend in die Dienstleistungsgesellschaft auf Kosten des sekundären Sektors steht.
2. Dienstleistungssektor und Entwicklung der Nachfrage
Die Strukturberichte befassen sich auch mit der zentralen These der Stufen-und Sektor-theoretiker,die Entwicklung der Nachfrag begünstige einen Trend zu den Dienstleistun gen. Hinsichtlich der Entwicklung der End nachfrage mit ihren Auswirkungen auf di strukturelle Entwicklung der Wirtschaft wir dabei von den Instituten ein Trend zur Dienst leistungsgesellschaft bestätigt. Denn die Insti tute stellen übereinstimmend fest, daß de Staat „insbesondere seit Beginn der siebzige Jahre einen immer größeren Teil der volks wirtschaftlichen Leistung der unmittelbare privaten Verfügung entzieht und für sein Aufgaben einsetzt" Dies bestätigt insofer einen Trend zu den Dienstleistungen, als de mit eine Umlenkung von Ressourcen in de tertiären Sektor verbunden war. Das gilt nicht nur, wie das IfW feststellt, für die Produktionsleistungen, die der Staat selbst erbringt Es gilt auch für die Leistungen, die er von anderen Bereichen bezieht, zum Beispiel für die Käufe der Sozialversicherung beim Gesundheitswesen oder durch das Engagement im Be-reich von Bildung und Wissenschaft.
Mit den Impulsen, die von der Verschiebung der Endnachfrage zum Staat auf die Wirtschaftsstruktur ausgegangen sind, ist aber die „Nachfragehypothese" der Sektor-und Stufentheoretiker keineswegs belegt. Denn ihre These läßt entsprechende Impulse von der privaten Nachfrage, dem privaten Konsum, erwarten. In diesem Punkt sind aber die Ergebnisse der Strukturberichterstattung kaum in Einklang zu bringen mit den Thesen der Stu-fen-und Sektortheoretiker. Zwar läßt sich ein klarer Trend des privaten Verbrauchs von geringwertigen zu höherwertigen Gütern und Dienstleistungen feststellen. Alle Institute stellen einen Trend zu höherwertigen Gebrauchsgütern fest. Von diesem Prozeß haben aber nicht nur Dienstleistungen profitiert, sondern die verschiedensten Branchen. Wegen der vielschichtigen Wirkungsrichtung der Entwicklungen beim privaten Konsum stellt das RWI fest, „daß die traditionelle Drei-Sekto-ren-Hypothese — zumindest für den privaten Verbrauch — der Komplexität der tatsächlich eingetretenen Strukturwandlungen nicht gerecht wird"
Direkt konträr zu den Thesen der Sektor-und Stufentheoretiker ist die Diagnose des Ifo-In-stituts: „Der Preismechanismus förderte in den letzten zwei Jahrzehnten einen Strukturgewinn der langlebigen Gebrauchsgüter zu Lasten vieler Dienstleistungen. Die Drei-Sekto-ren-Hypothese, die den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft behauptet, fand keine Bestätigung. Eine Ausnahme bildet nur die relative Ausdehnung des Staates und von Unternehmensbereichen wie Versicherungen, Ban-ken und Post."
Die Diagnose des Trends zu langlebigen Gebrauchsgütern zu Lasten vieler Dienstleistungen hat allerdings auch etwas mit dem Konsum von Dienstleistungen zu tun. An dieser Stelle zeigen sich die Schwächen, die in der Statistik mit der unrealistischen Abgrenzung zwischen Sachgütern und Dienstleistungen vorgenommen wird. Denn hinter diesem Trend verbirgt sich eine Verlagerung von Dienstleistungen in die Haushalte, die mit Hilfe von Sachgütern erreicht wird. Viele langlebige Gebrauchsgüter sind „Produzenten“ von Dienstleistungen, was speziell auch für die langlebigen Konsumgüter für die Haushaltsführung gilt. So hat die zunehmende Ausstattung mit langlebigen Gebrauchsgütern (z. B. Fernsehapparate oder Waschmaschinen) etwa die Nachfragenach Kino-und Sportveranstaltungen, Leistungen der Wäscherei und Reinigungen, der Friseure und Leistungen des Gaststättenund Beherbergungsgewerbes zurückgedrängt. Diese Diagnose belegt weniger einen Trend zur Dienstleistungsgesellschaft als vielmehr zur „Selbstbedienungswirtschaft". In diesem Prozeß werden traditionelle Dienstleistungen durch den Erwerb von Gebrauchsgütern in die Haushalte zurückverlagert. Der Prozeß läuft also nicht von Sachgütern zu Dienstleistungen, sondern umgekehrt von Dienstleistungen zu Sachgütern
Die Zurückdrängung oder Verlagerung von Dienstleistungen in die Haushalte ist, wie das Ifo-Institut und das Kieler Institut für Weltwirtschaft gemeinsam feststellen, nicht zuletzt auch ein Ergebnis der relativen Preise. So waren in der letzten Zeit industriell gefertigte Güter von einer relativen Verbilligung begünstigt, während die meisten Dienstleistungen im Preis anzogen: Zum Beispiel wurden Waschmaschinen immer billiger, die Leistungen des Textilreinigungsgewerbes dagegen immer teurer, was den Verlagerungsprozeß begünstigte.
Darin spiegelt sich auch die unterschiedliche Produktivitätsentwicklung in den einzelnen Wirtschaftssektoren wider, die die Preise beeinflußt, überdurchschnittliche Produktivitätsfortschritte in der Industrie haben einen größeren Preisspielraum geboten, als es in arbeitsintensiven Dienstleistungsbetrieben möglich war.
Dagegen sind aber vom industriellen Sektor durchaus positive Entwicklungsimpulse auf den Dienstleistungssektor ausgegangen, eine Entwicklung, die allerdings von den Sektor-und Stufentheoretikern gar nicht gesehen wurde. Die Strukturberichte zeigen, daß neben den positiven Impulsen, die von der Ausweitung und Verschiebung der staatlichen Nachfrage auf die Dienstleistungsbetriebe ausge-gangen sind, vor allem auch die Entwicklung der Nachfrage im industriellen Sektor das Wachstum vieler Dienstleistungen begünstigt hat. Nach Feststellungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft haben „die produktionsbezogenen Dienstleistungen stärker zugenommen als die konsumbezogenen Dienstleistungen" womit zum Ausdruck kommt, wie sehr die Entwicklung in den Dienstleistungsbereichen mit den Vorgängen im industriellen Sektor verknüpft sind.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß ohnehin die Hälfte der Dienstleistungsproduktion in der Bundesrepublik Deutschland vorleistungsbezogen ist, also unabhängig vom privaten Verbrauch produziert wird. Alles in allem können die Ergebnisse der Strukturberichterstattung kaum belegen, daß die Nachfrageentwicklung in den hochindustrialisierten, Ländern einen autonomen Trend zu den Dienstleistungen auslöst.
3. Dienstleistungssektor und Angebotsbedingungen
Kontrovers beantworten die Strukturberichte jedoch die Frage, in welcher Richtung die Angebotsbedingungen der letzten zwanzig Jahre die strukturelle Entwicklung der Wirtschaft beeinflußt haben. Sehr unterschiedlich sind zu dieser Frage vor allem die Ergebnisse des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Essen, und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Aber auch zwischen den Gutachtern des Münchener Ifo-Instituts und des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel gibt es Unterschiede bei der Einschätzung der Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor. Neben den kontroversen Urteilen gibt es aber auch hier gleichlautende Ergebnisse, die vor allen Dingen die undifferenzierte „Produktivitätshypothese''der Sektor-theoretiker widerlegen.
Die zentrale These der Sektortheorie von Fourasti besagt, der Dienstleistungssektor ziehe Arbeitskräfte an sich, weil seine Produktivitätsentwicklung hinter der in den anderen Sektoren zurückbleibt. Kein Institut findet eine Bestätigung dieser These. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hatte schon in dem Zwischenbericht zur Strukturberichte: stattung dargelegt, daß auch im Dienstle stungssektor nicht generell arbeitsintensi produziert wird und daher dort nicht unbe grenzt freigesetzte Arbeitskräfte aus den ar deren Sektoren aufgenommen werden köi nen. Das Kieler Institut für Weltwirtscha stellt in seinem Gutachten sogar eine „Hir Wendung zu sachkapitalintensiven Produl tionsverfahren" im Dienstleistungssekt fest. Die Strukturberichterstattung komm deshalb auch zu dem generellen Ergebnis, da auch in den Dienstleistungszweigen die Prduktivitätssteigerungen gerade in der letzte Zeit beachtlich waren. Dabei haben nach de Analysen des Instituts für Weltwirtschal Kiel, hauptsächlich folgende Faktoren zu bi achtlichen Produktivitätssteigerungen beig tragen
— der Einsatz neuer Technologien, allem vo aus die Mikroelektronik;
— die Anwendung neuer Management-un Finanzierungsmethoden wie das Leasing ode das Franchising;
— das höhere Qualifikationsniveau der A beitskräfte;
— das Ausscheiden intermarginaler Anbieti als Folge des verschärften Wettbewerb drucks.
Mehr als in den warenproduzierenden Bert chen wird heute nach Meinung des Kieler I stituts das Bild vom Nebeneinander produkl vitätsstarker und produktivitätsschwach Dienstleistungen bestimmt, womit die Thei vom „produktivitätsschwachen Dienstle stungssektor“ widerlegt wird.
Im Gegensatz zu der Auffassung der Gutac ter des Ifo-Instituts begründen die Gutacht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft mit di ser Diagnose aber keineswegs eine gerin „Absorptionsfähigkeit“ des Dienstleistung Sektors hinsichtlich der Beschäftigung. Im G genteil, sie meinen, daß die Entwicklung! „gegen die These von der geringen Absor tionsfähigkeit des Dienstleistungssektors“ sprechen würden. Diese Gegenthese wird d mit begründet, daß „die Veränderung der B schäftigung im Dienstleistungssektor weita enger mit der Nachfrage korreliert als mit d Produktivität" Aufgrund dieser Abhängigkeit folgern die Kieler Gutachter, daß weniger in den produktivitätsschwachen Dienstleistungszweigen als vielmehr in den expandierenden Branchen mit einem steigenden Produktivitätstrend die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze zu erwarten ist. Niedrige Produktivitäten seien kein Garant für mehr Beschäftigung. Dabei ist für die Kieler Gutachter in der Bundesrepublik Deutschland durchaus noch ein großer Spielraum für eine Expansion vor allem privatwirtschaftlich organisierter und produktivitätsstarker Dienstleistungszweige gegeben. Ausschlaggebend für diese Position ist die wiederholt von diesem Institut geäußerte Auffassung, die Bundesrepublik Deutschland sei überindustrialisiert: „Zu den bemerkenswerten Ergebnissen internationaler Strukturvergleiche gehört, daß die deutsche Wirtschaft über eine Produktionsstruktur verfügt, die — gemessen an ihrem Entwicklungsniveau — durch einen relativ großen sekundären und relativ kleinen tertiären Sektor gekennzeichnet ist. Niedrige Lohnsteigerungsraten und verzerrte Wechselkurse haben lange Zeit den exportintensiven sekundären Sektor begünstigt, was — insbesondere in der Zeit des Arbeitskräftemangels — die Wachstumschancen des tertiären Sektors beeinträchtigte.“ Außerdem verweisen die Kieler Gutachter auf Angebotsbeschränkungen, die bis heute einer Expansion von Dienstleistungszweigen entgegenwirken würden. Dazu gehören nach dem Kieler Forschungsbericht
— Wahrnehmung eines staatlichen Angebotsmonopols im Medien-und Kommunikationsbereich; — kein kostendeckender Angebotspreis bei staatlichen Dienstleistungen, insbesondere des Bildungsbereichs und somit Unterdrük-kung der potentiellen Konkurrenz;
— arbeitsund wettbewerbsrechtliche Regelungen (Ladenschlußzeiten, wettbewerbshemmende Regelungen im Handwerk, Werbeverbot für freie Berufe).
Aufgrund dieser Argumente hält es das Kieler Gutachten auch für eine normale Entwicklung, wenn unter veränderten binnen-und außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren die warenproduzierenden Bereiche sowohl bei der Produktion als auch bei der Beschäftigung deutliche Anteilsverluste hinnehmen mußten.
Mit dieser Diagnose stehen die Kieler Gutachter aber in einem direkten Gegensatz zu den Ergebnissen, die das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, Essen, gefunden hat. Das Essener Institut ist der Auffassung, „daß der Staat die Dienstleistungsbereiche und die Landwirtschaft überwiegend begünstigt und das verarbeitende Gewerbe überwiegend belastet hat“ Grundlage dieses Urteils bildet der Versuch der Essener Gutachter, die Wirkungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen auf den Strukturwandel aufzuzeigen. Es wird we-niger auf „prozeßtechnische Defekte“ in marktwirtschaftlichen Anpassungsprozessen abgehoben, sondern die strukturellen Wirkungen staatlicher Interventionen bewertet.
Das Bewertungsraster bildet dabei eine „Politikmatrix", mit der der Einfluß des Staates auf den Produktionsablauf und auf die sektoral differenzierten Angebotsbedingungen der Unternehmen gemessen wird In die Matrix werden fünf Politikbereiche einbezogen: Umweltschutz, Bildungspolitik, Allgemeine Steuerpolitik, Forschungs-und Energiepolitik sowie spezielle Strukturpolitik mit insgesamt acht Maßnahmebündeln.
In der Gesamtwertung dieser Wirkungsmatrix stellt das Institut fest, „daß unter den 15 besonders stark begünstigten Branchen mit Ausnahme der Energieund Wasserwirtschaft, des Luft-und Raumfahrzeugbaus und des Bergbaus nur Dienstleistungsbereiche zu finden sind, während unter den besonders stark belasteten Branchen nahezu ausschließlich Bereiche des Verarbeitenden Gewerbes zu finden sind" Die positiven Effekte in den Dienstleistungsbereichen sind nach den Recherchen des Instituts vor allem das Ergebnis der staatlichen Bildungspolitik, der Subventionspolitik und der Preisadministration.
Herausgehoben werden von den Essener Gutachtern vor allem die Interventionen bei der Preisbildung im Dienstleistungssektor, weil damit das gesamte volkswirtschaftliche Knappheitsgefüge zu Lasten insbesondere der gewerblichen Wirtschaft verfälscht würde. Die Beschäftigten würden dort unter einen besonderen Rationalisierungsdruck gestellt. Der sektorale Produktivitätsprotektionismus der geschützten Bereiche werde finanziert mit ei-nem sektoralen Produktivitätsdruck der belasteten Branchen
Aufgrund dieser Ergebnisse stellen die Essener Gutachter die Frage, „ob eine solche systematische — wenn auch ungewollte — Schwächung des Verarbeitenden Gewerbes auf Dauer nicht zu erheblichen strukturellen Dis-
IV. Zusammenfassende Wertung
Die Ergebnisse der Strukturberichterstattung haben die Hypothese vom „Trend in die Dienstleistungsgesellschaft", wie sie von den Sektorund Stufentheoretikern formuliert wurde, nicht bestätigen können. Gemessen an den vielschichtigen strukturellen Entwicklungsprozessen, die in den Strukturberichten der Wirtschaftsinstitute dargestellt werden, sind die genannten Theorieansätze unbrauchbar. Einen eigengesetzlichen Verlauf des Wachstums in Richtung einer zunehmenden Konzentration der wirtschaftlichen Aktivitäten im Dienstleistungssektor können sie nicht begründen. Als allgemeingültige Strukturtheorien, auf denen die Strukturberichterstattung weiter aufbauen könnte, sind sie widerlegt. Sie können deshalb auch nicht für Prognosen oder Projektionen über die strukturelle Entwicklung der Wirtschaft herangezogen werden.
1. Wertung der theoretischen und empirischen Ergebnisse
In den Strukturberichten konnten weder die nachfrageorientierten noch die angebotsorientrierten-Erklärungsansätze der Sektor-und Stufentheorien empirisch belegt werden. Die Theorieansätze können deshalb auch keine Orientierung in der Frage bieten, ob eine mehr die Nachfrage anregende oder die Angebotsfaktoren verändernde Wirtschaftspolitik aus der wirtschaftlichen Flaute heraushelfen kann.
Als besonders unrealistisch hat sich aber die These erwiesen, die Entwicklung des privaten Konsums als wichtigster Block der Endnachfrage begünstige bei wachsenden Einkommen einseitig die Dienstleistungszweige. Als richtig erwiesen hat sich nur die These, daß sich mit wachsenden Einkommen die Nachfrage immer mehr zu qualitativ besseren Gütern verschiebt. Von dieser Entwicklung werden aber nicht nur die Dienstleistungszweige, son-Paritäten im sektoralen und indirekt auch in stungen die ökonomische Basis für nahezu all« Dienstleistungsaktivitäten darstellen." dem praktisch alle Sektoren der Volkswirt schäft begünstigt. Wie die Strukturberichte zeigen, haben von diesem Entwicklungstrenc aber vor allem auch die Produzenten langlebi Dienstleistungen aus.
Mit den Sektorund Stufentheorien kaum er samt. Die Strukturberichte machen deutlich frage zum Staat eine Umlenkung der Ressour Diese Begünstigung des Dienstleistungssek tors beruht jedoch nicht auf ökonomischer Entscheidungen.
Auch die Thesen der Sektortheoretiker, die ei nen Trend zu den Dienstleistungen von Kon stellationen des Angebotes her begründeten haben sich als nicht haltbar erwiesen. Die Vor Stellung, der Dienstleistungssektor sei „pro realitätsfern. Gerade heute holt der Dienstler stungssektor in der Produktivitätsentwick lung auf, wobei der Einsatz neuer Technolo berichte machen deutlich, daß auch die personelle Expansion des Dienstleistungssektors Kontrolle eines weitgehend auf politischer Entscheidungen beruhenden Wachstums der Dienstleistungsproduktion beschränkt.
Als regelrecht widerlegt gelten müssen die Sektorund Stufentheorien aber, wenn die zunehmenden Verflechtungen zwischen der Sektoren der Volkswirtschaft gesehen werden. Es ist ein besonderes Verdienst der Struk-B turberichte, daß sie aufzeigen, wie sehr mit wachsendem Entwicklungsniveau einer Volkswirtschaft auch die Arbeitsteilung zunimmt. Das gilt nicht nur weltweit, sondern auch binnenwirtschaftlich. Vor allem sind in einer arbeitsteiligen Wirtschaft aber auch die Verflechtungen zwischen dem industriellen und dem Dienstleistungssektor sehr groß. Sehr deutlich haben die Strukturberichte gezeigt, daß das Wachstum der tertiären Produktion zu einem großen Teil aus einer reinen Funktionsverlagerung aus dem gewerblichen oder familiären Bereich in den öffentlichen Bereich und den Markt besteht. So hat vor allem die Expansion staatlicher Dienste auf Kosten der eigenwirtschaftlichen Versorgung kaum etwas zu tun mit der Erschließung neuer Wachstumsbereiche.
Vor allem ist aber die zunehmende Verknüpfung der Dienstleistungsproduktion und des Dienstleistungskonsums mit industriellen Produktionselementen eine Entwicklung, die gar nicht in das Raster der drei Sektoren nach den Sektor-und Stufentheorien paßt.
Jede Strukturanalyse muß deshalb auch sehen, daß in einer modernen Volkswirtschaft die Landwirtschaft, die Industrie und der Bereich der Dienstleistungen wenig scharf voneinander abgrenzbar sind. Es erscheint deshalb zweckmäßig, mit dem Gedanken von der Aufteilung der Wirtschaft in Sektoren nicht direkt typische Entwicklungstendenzen zu verknüpfen, sondern diese Einteilung nur als ein Hilfsmittel zu betrachten, das sich allenfalls für eine wirtschaftsstrukturelle Bestandsaufnahme eignet.
Insgesamt können die Strukturberichte keine besondere, autonome volkswirtschaftliche Leitfunktion des Dienstleistungssektors bestätigen. Dem Dienstleistungssektor kommt erst im Zusammenwirken mit den anderen Sektoren eine wichtige Bedeutung zu. Das gilt ganz besonders für das Zusammenwirken mit dem industriellen Sektor, wo es letztlich um die Fortentwicklung von Wissenschaft und Technik geht. Das ist jedoch eine Aufgabe, die nicht allein einem Sektor, dem Dienstleistungssektor, zugeordnet werden kann. Denn schon allein die Umsetzung von Forschung und Entwicklung in die industrielle Praxis ist ohne eine leistungsfähige Industrie nicht möglich. Die „sanfte“ Dienstleistungsgesellschaft, in der letztlich nur noch „Blaupausen" produziert und exportiert werden, ist eine Utopie.
2. Strukturberichterstattung als Schiedsrichter?
Die Ergebnisse der Strukturberichterstattung zum Thema „Trend in die Dienstleistungsgesellschaft" spiegeln auch die Möglichkeiten dieses neuen Informationsinstruments der Wirtschaftspolitik wider. Die Berichte der Institute machen deutlich, wie wenig Struktur-analysen auf gesicherten Strukturtheorien aufbauen können. Die Strukturbericherstattung muß mehr als in anderen Bereichen der wirtschaftswissenschaftlichen Diagnose „theorielos" arbeiten. Die Strukturberichterstattung kann deshalb auch nicht die Basis seriöser Prognosen oder Projektionen bilden, an denen sich wirtschaftspolitische Entscheidungen ausrichten lassen. In kontroversen wirtschaftspolitischen Fragen wird der Struktur-berichterstattung auch in Zukunft kaum die Rolle eines Schiedsrichters zukommen können. Sie kann jedoch Informationslücken schließen und so zur besseren wissenschaftlichen Fundierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen beitragen.
Wegen der unzureichenden theoretischen und empirischen Absicherung von Struktur-analysen können die Strukturberichte auch nur sehr begrenzt die wirtschaftlichen Realitäten widerspiegeln. Die empirischen Ergebnisse sind nur so gut, wie die Theorien, die ihnen zugrunde liegen. Bei Strukturanalysen beginnen die großen Schwierigkeiten schon bei der Abgrenzung von Wirtschaftssektoren oder -bereichen, weil es kaum eine Abgrenzung gibt, die die arbeitsteilige Wirtschaft einer hochindustrialisierten Volkswirtschaft richtig widerspiegelt. Ganz deutlich zeigen das die Strukturberichte hinsichtlich der Einteilung der Volkswirtschaft in einen primären, sekundären und tertiären Sektor. Diese Einteilung ist letztlich willkürlich, weil die Theorien, auf denen die Dreigliederung der Volkswirtschaft aufbaut, den wirtschaftlichen Realitäten nicht gerecht werden.
Unter diesen Bedingungen ist es auch nicht sinnvoll, die Strukturberichterstattung der Wirtschaftsforschungsinstitute in eine „Gemeinschaftsdiagnose", wie es bei der Konjunkturdiagnose heute noch praktiziert wird, einmünden zu lassen. Die unzulängliche theoretische und empirische Ausgangslage fordert bei der Strukturdiagnose zur Methodenvielfalt geradezu heraus. Die Praxis der Strukturberichterstattung, wonach die Strukturberichte von den einzelnen Instituten gesondert im Wettbewerb erstellt werden müssen, ist deshalb angemessen. Eine serienmäßige Fertigung von Strukturberichten mit feststehenden Analysemethoden und Fragestellungen erscheint wenig sinnvoll.
Die Methodenvielfalt, die bei der Strukturberichterstattung praktiziert wird, führt natürlich auch zu den unterschiedlichsten Ergeb45 nissen bei gleichlautenden Fragestellungen. Das ist auch an den Ergebnissen der Analysen des Dienstleistungssektors deutlich geworden. Bei der Interpretation der unterschiedlichen Ergebnisse muß dann aber auch vermieden werden, sie gleich als kontroverse wirtschaftspolitische Empfehlungen zu werten. Die unterschiedlichen Ergebnisse der Strukturberichte beruhen zu einem großen Teil auf der Anwendung unterschiedlicher Analysemethoden. Auch die unterschiedlichen Ergebnisse, die das Kieler Institut für Weltwirtschaft und das Essener Institut für Wirtschaftsforschung bei der Analyse der Entwicklungen des Dienstleistungssektors gefunden haben, sind vorwiegend das Ergebnis unterschiedlicher Analysemethoden. Genaugenommen können die Ergebnisse gar nicht verglichen werden, weil ihnen ganz unterschiedliche Referenzsysteme zugrunde liegen. Während das Kieler Institut aus einer internationalen Querschnittsanalyse eine „Überindustrialisierung''der Bundesrepublik ableitet, sprechen die Essener Gutachter von „Entindustrialisierung 11 wegen der die Industrie belastenden binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Das eine Ergebnis widerlegt nicht das andere Ergebnis. Beide Analysemethoden enthalten dazu noch große Schwächen. Bei der Kieler Analyse werden die international stark abweichenden Angebots-und Nachfragestrukturen nur unzulänglich berücksichtigt, bei der Essener Analyse wird eine willkürliche Beschränkung auf bestimmte Politikbereiche vorgenommen. Aus beiden Gutachten lassen sich jedoch plausible Hypothesen gewinnen, deren vertiefende Analyse Aufgabe künftiger Strukturberichte sein sollte.
Die Methodenvielfalt der Strukturberichterstattung schließt allerdings gleichlautende Ergebnisse verschiedener Gutachten nicht prinzipiell aus. Auch dafür liefern die Gutachten aus Kiel und aus Essen ein Beispiel. Beide Institute begründen ihre These vom zu großei bzw. zu kleinen Industriesektor mit dem Ein fluß hemmender Rahmendaten, die der Staa setzt Die jeweils unerwünschte Strukturbil düng (zu großer oder zu kleiner Industriesek tor) wird mit einer unzureichenden marktwirt schaftlichen Anpassungsflexibilität begrün det. Dieses Ergebnis beleuchtet eine Diagnose die alle fünf Gutachter bei der Analyse der Einwirkungen der staatlichen Wirtschaftspoli tik auf die Strukturentwicklung unterstrei chen: der Staat hat den Strukturwandel ehei gehemmt als gefördert. Alle Institute geben ir ihren Berichten die Empfehlung, Investitions hemmnisse abzubauen, wobei vor allen Din gen die Bereiche Energie, Kommunikations technik, Verkehr und Wohnungsbau genann werden.
Aus dieser Sicht kann die Strukturberichter stattung auch als ein Beleg für die Forderung nach mehr Marktwirtschaft herangezoger werden. Speziell zum Thema „Dienstleistungs gesellschaft" lassen die Gutachten aber zu gleich erkennen, daß die zukünftige wirt schaftliche Entwicklung in der Bundesrepu blik nur bedingt von einer Expansion der Dienstleistungsbereiche getragen sein kann Ein blindes Vertrauen auf einen sich selbs tragenden Trend zur Dienstleistungsgesell schäft, für den es schon wirtschaftstheoretisd keine Begründung gibt, würde zu einer fal sehen Einschätzung der aktuellen Probleme der Wirtschaftspolitik führen. Gar töricht wäre es, wollte man aus den Strukturberichter eine selektive Förderung irgend eines Sektors der Volkswirtschaft ableiten. Die entscheiden den Impulse für die Konsolidierung und Stei gerung des Lebensstandards in der Bundesre publik müssen auch in Zukunft von einen: sinnvollen Zusammenwirken der verschiede nen Teile der Volkswirtschaft ausgehen. In ei nem erfolgreichen Industrieland müssen da bei natürlich auch dem industriellen Sektoi möglichst günstige Rahmenbedingungen ge boten werden.
Gerhard Voss, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, geb. 1940; Leiter des Referates Strukturanalysen, Strukturpolitik und Energiewirtschaft im Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Soziales Bodeneigentum und Bodenmarkt, Köln 1973; Trend zur Dienstleistungsgesellschaft?, Köln 1976; Sektorale Strukturpolitik — Anspruch und Praxis, Köln 1977; Strukturveränderungen im Wirtschaftswachstum, Köln 1978; Energie, Wege aus der Krise, Köln 1981.